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Zwischen der 1921 veröffentlichten ersten Fassung des Vortrags ›Goethe und Tolstoi‹ und der überarbeiteten, erweiterten Essayfassung von 1925 hatte sich die politische Haltung Thomas Manns bedeutend weiterentwickelt. Mann, der stets um die Herstellung einer inhaltlich stringenten Entwicklung in seinem Werk bedacht war, diente dabei ein Aufsatz von Ernst Troeltsch als wichtige Legitimationsquelle. Bereits für die Vorbereitung von ›Naturrecht und Humanität‹ hatte er Troeltsch herangezogen. Der vorliegende Text entstand auf Initiative der französischen Zeitschrift L'Europe Nouvelle im Februar 1925 und fällt so zeitlich mit der Verbesserung der deutschen Beziehungen zu den westlichen Nachbarländern zusammen, die ihren konkreten Ausdruck in den Verträgen von Locarno fanden. Am 14. März wurde der Text zunächst auf Französisch abgedruckt; eine gekürzte Version erschien am Tag darauf in der Neuen Freien Presse (Wien).
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Seitenzahl: 20
Thomas Mann
Deutschland und die Demokratie.
Die Notwendigkeit der Verständigung mit dem Westen
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
DIE NOTWENDIGKEIT DER VERSTÄNDIGUNG MIT DEM WESTEN
Man wünscht von mir einige Aeußerungen über den seelischen und geistigen Zustand des heutigen Deutschland. Ich bitte, dabei an gewisse vergleichende Studien anknüpfen zu dürfen, die ich kürzlich den pädagogischen Ideen Goethes und Tolstois widmete.
Aller westlich-marxistische Einschlag, den die große Umwälzung im Lande Tolstois an den Tag legt – an jenen Tag, der die Oberfläche der Dinge bescheint – hindert uns nicht, in der bolschewistischen Umwälzung das Ende der Epoche Peters, der westlich-liberalisierenden, der europäischen Epoche Rußlands zu sehen, welches mit dieser Revolution sein Angesicht wieder nach Osten wendet. Keiner europäischen Fortschrittsidee ist Zar Nikolai gefallen. In ihm wurde Peter der Große ermordet, und sein Sturz gab der russischen Volkheit nicht etwa den Weg nach Europa, sondern den Heimweg nach Asien frei. Aber ist nicht genau seit dem Zeitpunkt dieser Wende, deren Prophet Leo Tolstoi war, obgleich man es in Moskau nicht sieht – ist nicht auch im europäischen Westen die Empfindung lebendig, daß auch für ihn, für uns, für alle Welt und nicht nur für Rußland eine Epoche sich endigt: die bürgerlich-humanistisch-liberale, die, in der Renaissance geboren, mit der französischen Revolution zur Macht gelangte und deren letzten Zügen und Zuckungen wir anwohnen? Die Frage ist heute gestellt, ob die mediterran-klassisch-humanistische Ueberlieferung eine Menschheitssache und darum menschlich-ewig, oder ob sie nur Geistesform und Zubehör einer Epo{939}che, nämlich der bürgerlich-liberalen war und mit ihr sterben kann.
Europa scheint diese Frage bereits beantwortet zu haben. Der antiliberale Rückschlag ist mehr als klar, er ist kraß. Er äußert sich politisch in der überdrußvollen Abkehr von Demokratie und Parlamentarismus, in einer mit finsteren Brauen vollzogenen Wendung zur Diktatur und zum Terror. Der Fascismus Italiens ist das genaue Gegenstück zum russischen Bolschewismus, und seine antikische Geste und Mummerei kann nicht über die Humanitätsfeindlichkeit seines Wesens hinwegtäuschen. Auf der iberischen Halbinsel, wo die Verderbnis des liberalen Systems noch augenfälliger war, haben die Dinge denselben Weg noch entschiedener genommen: soldatische Befehlshaberschaft hält sich dort zu Lande schon merkwürdig geraume Zeit. Ueberall aber sind – als zugehöriges Zeichen antiliberaler Verfassung und als Folge des Krieges – die Wasser des Nationalismus mächtig angeschwollen