Diagnose: Frau - Christina Pingel - E-Book

Diagnose: Frau E-Book

Christina Pingel

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Beschreibung

Christina Pingel ist neun Jahre alt, als ihre Mutter durch ein unbehandeltes Herzleiden klinisch tot aufgefunden wird. Nach erfolgreicher Reanimation kommt sie schwerbehindert ins Pflegeheim, einige Jahre später verstirbt sie. Als Christina bei sich ähnliche Symptome feststellt, beginnt eine Odyssee, denn auch im 21. Jahrhundert wird die Gendermedizin unzureichend gelehrt, Medikamente werden meist nur an Männern getestet, und Frauen werden vorschnell als psychisch krank oder hysterisch abgetan. Mit ihrem Buch rüttelt Christina Pingel auf und macht klar: Medizin muss für alle da sein.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Disclaimer

Ich spreche im Text von Männern und Frauen, bin mir jedoch sehr bewusst, dass jegliche weiblich und männlich gelesenen Personen jenseits der Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit von der Problematik der unzureichenden medizinischen Behandlung betroffen sind und mit den Folgen dessen zu kämpfen haben.

Für Mama, Lindi, Sinni, Stef, Wiebke, Pati

und alle anderen Superheld:innen

© Rechteinhaberin Christina Pingel, 2024

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog: Ein Sommertag 1995

1 Mutter und Tochter

2 Damals wie heute?

3 Blaue Haare, erste Periode und das Leben

4 Mutausbruch

5 Neonlicht

6 Das Mädchen und seine Superheldin

7 Raubtiere

8 Der Linoleumboden

9 Zwölf Wochen

10 Der Schmetterlingseffekt

11 Ein (un-)erwartetes Kapitel

12 Nur eine Frau?

13 Tell him

14 Die Psychotherapeutin

15 Silvester for one

16 Die Untersuchung

17 Die Diagnose

18 Der Anruf

19 Das Glücksarmband

20 Die Herzstation

21 Die Bushaltestelle

22 Alle guten Dinge sind angeblich drei

23 Papierblumen

24 Aus dem Rhythmus

25 Der Taxifahrer

26 Kleine Schritte und ein Rollstuhl namens Buddy

27 A (Love) Story

28 Herzsportgruppe vs. Yogakurs

29 Station 7, same same but different

30 Klappe, die Zweite

31 Paris, je t’aime

32 Happiness comes in waves

Epilog

QR-Code zur Spotify-Playlist

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog: Ein Sommertag 1995

Triggerwarnung: plötzlicher Herzstillstand, Krankheit, Verlust

Es ist einer der heißesten Sommertage des Jahres. Aus einem Autoradio ertönen die seichten Klänge des Hits Streets of Philadelphia von Bruce Springsteen, der im Jahr 1994 mehrere Wochen Platz 1 der Charts belegte. Zur gleichen Zeit, einige Straßen weiter in einem kleinen Büro: Eine junge Frau liegt leblos auf dem Boden, ihr Herz hat plötzlich aufgehört zu schlagen. Um sie herum ein Rettungsteam und die vor Schock erstarrten Kollegen:innen. Nach mehreren Wiederbelebungsversuchen gibt es ein Lebenszeichen, das Herz der jungen Frau beginnt wieder zu schlagen, sie ist reanimiert. Doch die Schäden an ihrem Hirn sind bereits hochgradig und irreparabel ausgeprägt. Das menschliche Gehirn arbeitet nach einem Herzstillstand maximal noch 30 Sekunden weiter, vergleichbar mit dem Herunterfahren eines Computers. Die Frau wird sofort auf die Intensivstation eines nahe gelegenen Krankenhauses gebracht und in ein künstliches Koma versetzt.

Plötzlicher Herztod, wahrscheinlich ausgelöst durch einen Schlaganfall. Die junge Frau ist zu diesem Zeitpunkt gerade mal 33 Jahre alt. Ursachen von Tragödien wie dieser gibt es viele, so wie im Leben manchmal einzelne Ereignisse und scheinbare Zufälle aufeinandertreffen und Kettenreaktionen auslösen. Im Fall der jungen Frau sind es einzelne Puzzleteile, die ihr Leben und das ihres Kindes für immer verändern werden. Wenige Monate nach der Geburt ihrer Tochter im Jahr 1986 treten die ersten Herzprobleme auf. Aufgrund einer akuten, nicht behandelten Herzbeutelentzündung muss die junge Frau noch im Spätsommer des gleichen Jahres von ihrem Vater ins Krankenhaus eingewiesen werden. Ihre Tochter ist zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt. Das kleine Mädchen kommt für einige Wochen in die Obhut der Tante und des Onkels, dem Bruder der jungen Frau. Ihr Mann und Vater des Kindes ist Berufssoldat und zu diesem Zeitpunkt bei der Marine im Ausland stationiert.

Der gesundheitliche Zustand der jungen Mutter ist schlecht, und ihr Herz muss über längere Zeit im Krankenhaus kardiologisch behandelt werden. Von ihrem größten Wunsch, einem zweiten Kind, wird ihr wenig später dringend abgeraten, ihr Herz sei zu schwach. In den nächsten neun Jahren verstärken sich die anhaltenden Symptome der jungen Frau deutlich. Zu den stark ausgeprägten Herzrhythmusstörungen kommt Abgeschlagenheit hinzu. Ihr Leben wird nach und nach immer stärker beeinträchtigt. Die Herzschwäche schreitet kontinuierlich voran. Doch trotz ihrer medizinischen Vorgeschichte werden die Beschwerden der jungen Frau nicht ernst genug genommen. Sie finden fatalerweise keine größere Beachtung. Ihre Symptome werden weder eingehend untersucht noch ausreichend behandelt. Meist bekommt sie gesagt: »Sie sind doch noch eine junge Frau.«

Immer wieder kämpft die junge Mutter in den darauffolgenden Jahren um Hilfe oder medizinische Untersuchungen. Ohne sichtlichen Erfolg oder eine Verbesserung ihres gesundheitlichen Zustandes. Bis zu dem Tag, als ihr Herz aufhört zu schlagen und sie den Rest ihres Lebens im Pflegeheim verbringt. Ihrem Mann wird nur wenige Monate danach von einem Professor einer Spezialklinik mitgeteilt: »Der Zustand Ihrer Frau hätte verhindert werden können. Sie hätte bereits dringend einen Herzschrittmacher benötigt.«

Die junge Frau im Pflegeheim weiß weder, wer sie ist, noch, dass sie Mann und Tochter hat. Die irreparablen Hirnschäden haben sie wieder zu einem kleinen Kind werden lassen. Die Jahre vergehen, die Tochter ist zur jungen Frau herangewachsen, und nun ist sie es, die diesen Satz immer wieder hört. Diesmal aber nicht in Bezug auf ihre Mutter, sondern auf sich selbst: »Sie sind noch eine junge Frau. Die Geschichte Ihrer Mutter ist nicht Ihre Geschichte.«

1 Mutter und Tochter

Triggerwarnung: Krankheit, Verlust

Ich weiß nicht mehr viel von meiner Mutter, an einige Dinge werde ich mich aber immer erinnern. Zum Beispiel an ihren Geruch, wenn sie im Winter nach Hause kam. Es war eine Mischung aus kühler Winterluft, Parfum und etwas Unbestimmtem, ihrem Eigenen – einfach ihrem Geruch. Manchmal habe ich noch immer diesen beruhigenden und angenehmen Duft in der Nase, wenn ich besonders intensiv an sie denke. Meine Mutter liebte den Film Dirty Dancing, wir sahen ihn uns mehrmals zusammen an, als ich noch kleiner war. Noch heute verbinde ich mit dem Soundtrack diese wunderbare Erinnerung an sie. Achtung! Es folgt für euch an dieser Stelle ein garantierter Ohrwurm, in drei, zwei, eins: »(I’ve had) the time of my life …« Na, wer summt gerade alles mit?

Meine Mutter war eine Kämpferin, vor allem wenn es um mich ging. Schon die Schwangerschaft, stellte ein erhebliches Risiko für ihre Gesundheit dar. Auch wenn ich nicht viel Zeit mit ihr verbringen konnte, bin ich ihr unendlich dankbar, dass sie mir das Leben geschenkt hat. Wir haben oft nur eine begrenzte Zeit mit den Menschen, die uns wichtig sind und die wir lieben. Und um genau diese Augenblicke und Erinnerungen geht es im Leben. Denn sie geben uns Kraft, Halt und machen die wichtigsten Momente unseres Daseins aus. Neben all diesen schönen Erinnerungen verbinde ich mit meiner Mutter vor allem aber auch Krankenhäuser, Intensivstationen und Pflegeheime. Dies sind die Orte meiner späten Kindheit.

Noch heute kann ich mich genau an den Moment im Jahr 1995 erinnern, der mein Leben schlagartig veränderte. Der Tag, an dem das Herz meiner Mutter plötzlich aufhörte zu schlagen. Es war kurz vor Ende der Sommerferien. Wir waren am Tag zuvor zu dritt mit unserem Boot, einer kleinen Jolle, auf dem See in meiner Heimatstadt segeln. Es war ein schöner Sommertag auf dem Wasser zusammen mit meinen Eltern. Gleichzeitig ist dies meine letzte Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, noch eine beschützende Familie und eine liebende Mutter zu haben. In all den Jahren ist dieses Gefühl nie in mir verblasst, doch genauso präsent ist der Schmerz bei dem Gedanken daran.

Der Tag, der mein Leben für immer verändern sollte, begann wie viele andere zuvor. Ich war neun Jahre alt, als ich hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Es war früh am Nachmittag, und meine Eltern waren für gewöhnlich beide um diese Uhrzeit arbeiten. Ich lief von meinem Kinderzimmer in den Flur und fand dort meinen Vater verloren und verwirrt vor. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Langsam ging er zu seinem Sessel im Wohnzimmer. Dann bat er mich, sich zu ihm zu setzen. Er nahm mich fest in die Arme und sagte: »Mama ist heute Morgen etwas im Büro passiert.«

Ich bemerkte, wie seine Stimme brach. Die Tränen in seinen Augen konnte ich zwar sehen, doch ich versuchte, sie zu ignorieren. Es machte mir Angst, meinen eigenen Vater so zu sehen. Er hatte den Anruf von der Intensivstation des Krankenhauses wenige Stunden zuvor während der Arbeit erhalten. Seitdem war er den ganzen Vormittag bei meiner Mutter im Krankenhaus gewesen. Nachdem er sich etwas gefasst hatte, sagte er: »Mama wird für eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen und wahrscheinlich nicht mehr zu uns zurückkehren.« Die letzten Worte fielen ihm dabei so schwer, dass er kaum noch sprechen konnte. Ich hatte meinen Vater in meinem ganzen Leben noch niemals weinen sehen. Bis zu diesem Moment in unserem Wohnzimmer.

Noch heute kann ich mich ganz genau an seine Worte und die damalige Situation erinnern. Ich war noch zu jung, um verstehen zu können, was mein Vater mir versuchte zu sagen. Warum hätte meine Mutter nicht zu uns zurückkommen sollen? Sie war doch da, zwar nicht zu Hause, aber im Krankenhaus. Ich dachte, sie hätte sich vielleicht ein Bein gebrochen und könnte nicht mehr richtig laufen. Deswegen müsste sie vielleicht erst einmal im Krankenhaus bleiben, aber irgendwann würde sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden.

 

An einiges, was ich damals während der vielen Besuche auf der Intensivstation erlebte, hatte sich mein kindliches Ich schnell gewöhnt. Ich erinnere mich noch an den blauen Schutzkittel, der mir als kleines Kind deutlich zu groß war, oder an die Schuhüberzieher und die Haarhauben, die mein Vater und ich uns jedes Mal überziehen mussten. Das war der immer wiederkehrende Ablauf, bevor wir meine Mutter in ihrem mit Maschinen überwachten Krankenzimmer besuchen durften. Um sie herum waren eine Vielzahl von piependen Überwachungsgeräten. An all das, selbst an den Anblick des Luftröhrenschnitts in der Mitte ihres Halses, durch den sie künstlich beatmet wurde, hatte ich mich gewöhnt. Vieles davon machte mir nach den wochenlangen Besuchen auf der Intensivstation immer weniger Angst. Schließlich war die Frau, die dort vor mir im Koma lag, meine Mutter.

Heute als erwachsene Frau ist mir deutlich bewusst, wie traumatisch diese Erfahrungen für mich als Kind waren. Um das, was ich dort sah, besser verarbeiten zu können, stellte ich mir damals immer wieder vor, meine Mutter würde sich in einer Art tiefem Dornröschenschlaf befinden und viele spannende Abenteuer in ihren Träumen erleben. So wie ich es aus den Märchen meiner Kindheit kannte. Für mich war meine Mutter zu diesem Zeitpunkt keine schwer kranke Frau, sondern noch immer meine schlafende persönliche Superheldin. So wie sie es schon mein ganzes Leben für mich gewesen war.

Was die Worte künstliches Koma bedeuteten, konnte ich noch nicht verstehen. Dafür war ich zu klein, und vermutlich war das auch besser so. Doch an manches konnte ich mich trotz der vielen Besuche nicht gewöhnen. Das, was ich auf der Intensivstation roch, sah und hörte, erschreckte mich jedes Mal aufs Neue. Diese unheimliche Ruhe auf den Gängen und in den Zimmern, sie wirkte wie ein Übergang vom Leben in den Tod. Und viele der Patient:innen befanden sich genau auf dieser Schwelle. Das war für mich schon damals deutlich spürbar. Dieser Ort strahlte von Anfang an etwas Unheimliches und gleichzeitig sehr Beruhigendes auf mich aus.

Wahrscheinlich haben mich genau diese frühen Kindheitserfahrungen und das Trauma, das ich erlebt habe, als Mensch sehr sensibel und feinfühlig werden lassen. Ich habe manchmal das Gefühl, mehr um mich herum oder auch in mir wahrzunehmen, als es einige andere Menschen tun. Traurigkeit fühlt sich manchmal so an, als würde mich die Dunkelheit förmlich verschlingen. So als wäre sie Treibsand, der alles um sich herum bedeckt. Das Gefühl von Glück wiederum strahlt in mir manchmal so hell, als würde ich von innen heraus leuchten. Vieles um mich herum nehme ich sehr intensiv wahr, Geräusche, Licht, Gerüche, Stimmungen. Es ist, als hätte ich zwei unterschiedliche Wesen. Einerseits bin ich selbstbewusst und laut. Doch die andere Seite von mir ist in sich gekehrt und braucht viel Ruhe und Zeit für sich. Das liegt vor allem an den tagtäglichen Reizüberflutungen, denen wir Menschen ausgesetzt sind. Hochsensible Menschen sind sensibler gegenüber Geräuschen, Licht oder sozialen Reizen. Sie haben scheinbar offenere Filter als andere und nehmen kleinste Veränderungen oder Unterschiede in ihrer Umwelt direkt wahr, sind stärker emotional involviert und verarbeiten Reize tiefer als andere, indem sie zum Beispiel länger über Dinge nachdenken. Schätzungsweise 30 Prozent der Menschen sind davon betroffen.[1] Auch das Tagträumen oder immer wieder leichte Abschweifen meiner Gedanken gehört bei mir dazu. Das Ertönen von medizinischen Überwachungsgeräten in Krankenhäusern ist bis heute noch eines der unangenehmsten Geräusche für mich. Womöglich, weil ich es noch immer mit den Bildern meiner Vergangenheit assoziiere.

Der Moment, als unsere Familie einige Wochen später erfuhr, dass meine Mutter aus dem künstlichen Koma erwacht war, hat sich bis heute fest in meinem Gedächtnis verankert, obwohl seitdem über 28 Jahre vergangen sind. Nur zu gut kann ich mich noch daran erinnern, wie es sich anfühlte, für einen kurzen Augenblick voller Hoffnung zu sein. Die behandelnden Mediziner:innen im Krankenhaus hatten unsere Familie so gut wie möglich auf diesen Moment vorbereitet. Meinem Vater hatten sie zuvor immer wieder gesagt, dass die Hirnschäden meiner Mutter gravierend und irreparabel sein würden. Sie würde uns und wir sie nicht mehr wiedererkennen. Nach Wochen des Bangens und Wartens war der Tag gekommen. Wir waren uns nicht bewusst, was genau auf uns zukommen würde und wie sehr dieser Tag unsere weiteren Leben beeinflussen würde. Doch es war der Augenblick, auf den mein Vater, ich und der Rest unserer ganzen Familie voller Anspannung gewartet hatten. Endlich würde ich wieder mit meiner Mutter sprechen und sie umarmen können. Zumindest dachte ich, dass es so sein müsste. Für mich gab es keine andere Option. Kinder denken viel positiver und unbelasteter, anders als Erwachsene. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie groß meine Hoffnung war, dass das Beatmungsgerät und all die Schläuche am Körper meiner Mutter nicht mehr da sein würden, wenn wir sie dieses Mal besuchten. In meiner Vorstellung ging ich fest davon aus, dass sie freudestrahlend und genesen auf ihrem Krankenhausbett sitzen würde. Sie würde meinen Vater und mich anlächeln und mich kurz darauf, so fest, wie sie nur konnte, in ihre Arme nehmen. Ich würde wieder ihren Duft einatmen können und die Geborgenheit fühlen, die mir so sehr fehlte, seitdem sie weg war. Danach würden wir uns zu dritt auf den Weg nach Hause machen. Alles würde wieder so sein, wie es vorher war, unsere kleine Familie wäre wieder vollständig.

Wenn ich mich heute an meine ahnungslose, kindliche Denkweise zurückerinnere, fällt mir vor allem auf, wie sehr sie an ein mit Zuckerguss überzogenes Hollywoodmärchen erinnert. Und genau aus diesem Grund bin ich wohl noch immer ein großer Fan all dieser kitschigen Filme mit ihren unrealistischen Handlungen, ihren Feenstaubpupsen und Happy Ends. Denn genau dieses filmreife Ende hatte ich mir als Kind immer und immer wieder herbeigesehnt, inklusive bunter Farben und Glitzer. Wie hätte mein neunjähriges Ich diese Situation auch begreifen sollen? Trotz jahrelanger therapeutischer Aufarbeitung meiner Vergangenheit fällt es mir heute noch phasenweise sehr schwer, all diese prägenden Erinnerungen hinter mir zu lassen.

Als mein Vater und ich zum ersten Mal nach dem Aufwachen meiner Mutter ihr neues Krankenzimmer betraten, war mir sofort klar, dass alle meine Träume weit entfernt von der Realität gewesen waren. Es war das genaue Gegenteil von all dem, was wir uns insgeheim erhofft hatten. Dieses verstörende Bild brannte sich wie ein schwarzer Fleck in mein Herz und meine Gedanken. Ich sah meine Mutter an, wie sie vermeintlich wach in ihrem Krankenhausbett vor mir lag, und stellte mir die unsagbar schmerzhafte Frage: Wer ist diese Frau? Mit ihrem verlorenen Blick konnte sie nicht meine Mutter sein. Ich machte dennoch entschlossen ein paar Schritte auf sie zu, bis ich ganz nah an ihrem Bett stand. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben all meinen Mut zusammennehmen musste und meine innere Superheldin an meiner Seite spürte. Ich griff zaghaft nach der kalten Hand meiner Mutter und umklammerte sie mit meiner kleinen Kinderhand. Dann sprach ich sie leise und behutsam mit Mama an, doch sie reagierte kaum. Als sie mich dann endlich ansah, war es, als würde sie durch mich hindurchblicken. Und zum ersten von vielen weiteren Malen unterdrückte ich den Schock, den dieser leere Blick in mir auslöste. Um mich herum wurde es plötzlich sehr dunkel und kalt, der Treibsand drohte mich zu verschlingen. Ich hoffte inständig, so schnell wie nur möglich aus diesem Albtraum zu erwachen. Mein Vater stand wie erstarrt auf der anderen Seite des Bettes.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich kurz danach für einige Zeit bei meinem Onkel, meiner Tante, meiner Cousine und meinem Cousin wohnte. Das waren die schönsten Tage für mich. Denn dort wurde ich aufgefangen, geliebt und durfte einfach das Kind sein, das ich ja immer noch war. Ich lebte in einer intakten Familie und wurde behütet. Dieses Gefühl, geliebt zu werden, ist unbezahlbar. Aus meiner Sicht hat sich mein Vater bis heute nicht von diesem Schock erholt. Seit jenem schicksalhaften Tag im Krankenhaus, als wir begriffen, dass meine Mutter nie mehr zu uns zurückkehren würde, war seine Welt eine dunklere. Im Grunde verlor ich damals nicht nur meine Mutter, sondern auch meinen Vater.

2 Damals wie heute?

Triggerwarnung: Depressionen, Suizid

Als meine Mutter mit ihrem leeren Blick durch mich hindurchsah, beschlich mich die leise Ahnung, dass ich von nun an die meiste Zeit auf mich allein gestellt sein würde. Durch jahrelange Fehleinschätzungen von Mediziner:innen hatte das Herz meiner Mutter viel zu früh aufgehört zu schlagen. Die traurige Tatsache daran war aus meiner Sicht noch immer, dass es hätte verhindert werden können.

Bei der Behandlung von verschiedenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden u. a. Beta-Blocker oder auch ACE-Hemmer eingesetzt. Sie dienen dazu, das Herz der Patient:innen zu entlasten, indem unter anderem der Blutdruck gesenkt wird. Auch meine Mutter nahm diese Medikamente gegen ihre Herzrhythmusstörungen ein, jedoch zeigten sie nicht die entsprechende Wirkung, ihr Herz wurde nicht ausreichend entlastet. Im Gegenteil, sie hatte zusätzlich mit den Nebenwirkungen der Medikamenteneinnahme zu kämpfen. Und das ist nicht verwunderlich, denn Frauen benötigen andere Dosierungen als Männer. Doch beachtet wird diese Tatsache in der Medizin auch heute immer noch selten. Frauen erleiden auffällig häufiger schwere und tödliche Nebenwirkungen durch die Einnahme und fehlerhafte Dosierungen von Medikamenten als Männer. Das könnte vor allem darin begründet liegen, dass Medikamente, wie beispielsweise Tabletten, im weiblichen Körper deutlich mehr Zeit benötigen, um vom Mund in den Magen zu gelangen. Zudem ist nicht nur das weibliche Herz, sondern auch die Leber kleiner als die von Männern. Einige Medikamente werden von Frauen wiederum zwischen 20 und 50 Prozent schneller abgebaut, weil die weibliche Leber fast doppelt so viel Cytochrom P450, ein Hämprotein, bildet wie die männliche. Und genau das beeinflusst, wie viel und wie lange einzelne Wirkstoffe im weiblichen Körper aktiv sind. Zudem kann es dadurch zu gefährlichen und tödlichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen. In der Vergangenheit gab es bereits zahlreiche Medikamentenskandale, von denen vorwiegend Frauen betroffen waren.

Die größten Skandale der Pharmaindustrie betrafen die Medikamente Contergan und Menocil in den 1950er- und 1960er-Jahren. Menocil wurde als Schlankheitspille verkauft, machte jedoch schwer krank und führte teilweise zu tödlichen Verläufen. Contergan wurde damals schwangeren Frauen als Schlaf- und Beruhigungsmittel empfohlen. Allein in Deutschland kamen daraufhin rund 5000 Kinder mit erheblichen Behinderungen auf die Welt. Viele der Kinder starben frühzeitig.[2] Nach der Einnahme des Schlafmittels Zolpidem verringerte sich die Fahrtauglichkeit und das damit erhöhte Unfallrisiko bei Frauen drastisch. Acht Stunden nach der Einnahme von 10 mg zeigten 15 % der Frauen und 3 % der Männer noch einen riskanten Blutspiegel über 50 ng/ml. Die US-Arzneibehörde FDA ordnete daraufhin an, die Dosis des auch in Europa meistverordneten Schlafmittels bei Frauen zu halbieren.[3]

In den 1990er-Jahren wurden Studien in allen drei Medikamenten-Erprobungsphasen ausschließlich an männlichen Probanden durchgeführt. Noch immer sind diese Untersuchungen Grundlage für viele der noch heute zugelassenen Medikamente.[4] Bereits 1993 forderte die US-Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) die Berücksichtigung beider Geschlechter bei klinischen Studien. In der EU ist die Ermittlung möglicher Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Rahmen klinischer Studien seit 2001 und in Deutschland seit 2004 vorgeschrieben.[5] Wir haben es zu einem großen Teil der Genderforschung zu verdanken, dass Studien für neue Medikamentenzulassungen die Ergebnisse für Geschlechter getrennt ausweisen müssen.

Meine Mutter wies ihre behandelnden Mediziner:innen immer wieder auf Symptome und Nebenwirkungen hin. Es wurde jedoch bei einer jungen Frau ihres Alters weder von ihrem Kardiologen noch ihrem Hausarzt ernsthaft in Betracht gezogen, welch schwerwiegende Folgen die Störung ihrer normalen Herzfrequenz haben könnte. Der bereits überfällige Herzschrittmacher, der den Stillstand ihres Herzens verhindern und ihren Herzrhythmus hätte kontrollieren können, wurde nicht einmal in Erwägung gezogen.

Bereits zu Beginn einer medizinischen Behandlung von Patient:innen gibt es noch zwei weitere entscheidende Faktoren, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben dürfen. Die Zeit und die Kommunikation. Zeit, die es in der Medizin oft nicht gibt oder die sich Mediziner:innen nicht nehmen (können). Eine gute Kommunikation ist vor allem wichtig für die Diagnostik und den weiteren Verlauf der Behandlung. Es gibt Studien, die zeigen, dass Frauen bei ausführlichen Schilderungen von Symptomatiken im Durchschnitt zum ersten Mal nach 14 bis 18 Sekunden von Mediziner:innen unterbrochen werden. Zudem werden Frauen von vielen Mediziner:innen im Gegensatz zu Männern als empfindlich angesehen und ihre Beschwerden psychischer Natur zugeordnet.[6] Nicht nur aufgrund meiner persönlichen Erfahrung weiß ich heute, dass Frauen gegenüber Männern in der medizinischen Versorgung deutlich benachteiligt sind und konsequent vernachlässigt werden.[7] Die Auswirkungen auf die Gesundheit sind dramatisch. Um diese Ignoranz zu beheben, brauchen wir dringend eine geschlechtergerechte Medizin. Die Sensibilität für die Gendermedizin muss bereits im Medizinstudium und in der Ausbildung von medizinischen Fachkräften geschaffen werden. Doch die Lehrpläne an den deutschen Universitäten zeigen deutlich, dass da noch sehr viel Luft nach oben ist. Dr. med. Werner Bartens bringt es in seinem Buch Gesundheitsrisiko weiblich mit einem Satz auf den Punkt: »Wenn wir der Medizin einen bestimmten Artikel zuordnen wollten, dann müsste es nicht ›die Medizin‹ heißen, sondern ›der Medizin‹. Denn die Medizin ist männlich.«[8] Und genau darin liegen die gefährdende Benachteiligung und das große Defizit in der medizinischen Versorgung zwischen Männern und Frauen. Ein Unterschied, der Menschenleben kostet.

Durch das, was geschehen war, wurde also aus einem neunjährigen Mädchen innerhalb kürzester Zeit ein erwachsenes Kind. Mein Vater war trotz des schlechten Zustandes meiner Mutter lange Zeit noch voller Hoffnung. Seine Liebe zu ihr ermöglichte das Verdrängen der Tatsachen für viele Jahre. Liebe und Hoffnung sind unsere stärksten Kräfte. Ich hingegen kämpfte mit der Hoffnungslosigkeit, dieser bitteren Realität, die ich als Kind schon sehr früh kennenlernte. Der Verlauf meines Lebens wurde durch diese prägende Erfahrung stark beeinflusst. Wie sehr, war mir damals noch nicht bewusst. Das Gefühl und die ausgeprägte Angst davor, dass auch mein Herz plötzlich stillstehen würde, suchte mich zum ersten Mal mit Mitte 20 heim.

Einige Wochen nachdem meine Mutter 1995 im Krankenhaus aufgewacht war, wurde sie in eine Spezialklinik nach Wedel verlegt, einen kleinen Ort in der Nähe von Hamburg. Mein Vater erhoffte sich davon eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes. Die Besuche fühlten sich für mich nie schön an, sie machten mich mit der Zeit immer trauriger. Ich wusste nicht, wie ich mit all dem umgehen sollte. Aus meiner heutigen Perspektive erscheint mir dies vollkommen logisch. Ich musste durch das Erlebte erwachsen werden. Für meinen Vater und vor allem für mich selbst. Das Schlimmste aber war, dass meine Mutter noch da war. So hart es für Außenstehende klingen mag, eine wirkliche Trauerverarbeitung ist kaum möglich, wenn der Mensch nicht gegangen ist. Um Abschied nehmen zu können, müssen wir alles Geschehene, die Vergangenheit und den Menschen selbst loslassen. Erst dann können wir die wunderbaren und gemeinsamen Erinnerungen an diesen besonderen Menschen bewahren. Für meinen Vater und mich gab es jedoch jahrzehntelang keine Chance, die fünf Phasen der Trauer zu durchleben.[9] Wir steckten über 20 Jahre in den ersten vier Phasen fest. Immer wieder schwankten wir zwischen Verdrängung, Wut, Verhandlung und Verzweiflung. Die letzte Phase, die der Akzeptanz, war für uns vorerst nicht möglich. Denn der Mensch, den wir verloren hatten, um den wir trauerten, war in gewisser Weise ja noch da.

Das äußere Erscheinungsbild meiner Mutter hatte sich stark verändert. Die Strapazen des künstlichen Komas und der starken Medikamente hatten deutliche Spuren hinterlassen und sie für immer gezeichnet. Ihr Körper wirkte ausgezehrt und schmächtig, und ihre Haut war fahl und blass. Ihre Augen hatten an Glanz verloren, und unter ihnen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Die Besuche im Pflegeheim kosteten meinen Vater und mich jedes Mal Überwindung und viel Kraft. Wir wurden immer wieder aufs Neue mit unserem Schicksalsschlag konfrontiert und konnten dadurch nicht loslassen oder nach vorn blicken. Meine Mutter schlug bei vielen meiner Versuche, sie zu umarmen, um sich oder schubste mich von sich weg. Sie wusste nicht mehr, dass ich ihre Tochter war, und sie würde sich auch für den Rest ihres Lebens nie wieder an mich erinnern.

Mit der Zeit entwickelte ich eine immer größere Angst vor diesen Besuchen. Für ein Kind war dieses Verhalten der eigenen Mutter kaum zu begreifen und auszuhalten. Ich war noch nicht in der Lage zu verstehen, was mit ihr passiert war. Ich wollte und konnte nicht wahrhaben, dass sie mich aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes nie wiedererkennen würde. Ihre starke Abwehr vermittelte mir das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich fühlte mich hilflos, verzweifelt, allein und ungeliebt. Heute ist mir bewusst, dass ich bereits an diesem frühen Punkt meines Lebens zum ersten Mal von Angst, Dunkelheit und imaginären Raubtieren heimgesucht wurde.

Zum damaligen Zeitpunkt wären eine psychologische Betreuung und therapeutische Aufarbeitung für meinen Vater und mich wichtig gewesen. Mein Vater musste sich von nun an um seine schwerbehinderte Frau, die Erziehung seines Kindes und um den eigenen Schmerz kümmern. Er musste weiterhin funktionieren und stark sein. Bisher hatte meine Mutter den größten Teil der Care-Arbeit verrichtet. Mein Vater trauerte still und heimlich für sich allein, es gab nicht viele Momente, in denen wir über den Schmerz und unseren gemeinsamen Verlust sprachen. Doch es gab einige Male, in denen ich ihn in der Küche oder im Wohnzimmer weinen hörte. Durch die fehlende Unterstützung des Gesundheits- und Sozialsystems entstanden große Defizite in unserer Beziehung miteinander sowie in unser beider Persönlichkeiten.

Diese Erinnerung aus meiner Kindheit zeigt auch auf, was nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn wir von einer gendersensiblen Medizin sprechen. Denn aufgrund der traditionellen Geschlechterrollen leiden Männer besonders, wenn es um die Behandlung von psychischen Erkrankungen geht. Prof. Dr. Marek Glezerman verdeutlicht es in seinem Buch Frauen sind anders krank, Männer auch anhand des Beispiels: »Jungen bekommen eher Hilfe, wenn sie Probleme verursachen, nicht wenn sie Probleme haben.«[10] Depressionen und auch andere psychische Erkrankungen werden im Gegensatz zu Frauen bei Männern deutlich weniger erkannt und behandelt. Was vor allem mit dem eher maskulinen Rollenbild und dem erschwerten Zugang zu den eigenen Gefühlen zusammenhängt. Einige der Symptome einer Depression, wie Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Grübeln oder auch starke Niedergeschlagenheit, können zu Beginn der Erkrankung deutlich von denen von Frauen abweichen. Oftmals zeigt sich eine Depression zu Beginn bei Männern durch exzessives Arbeiten, Reizbarkeit, Aggressionsbereitschaft oder auch vermehrten Alkohol- und Drogenkonsum und ein erhöhtes Suchtrisiko. Im Jahr 2022 starben in Deutschland insgesamt 10 119 Menschen durch Suizid. Männer nahmen sich deutlich häufiger das Leben als Frauen, 75 Prozent der Selbsttötungen wurden von Männern begangen.[11] Diese alarmierenden Zahlen verdeutlichen noch einmal mehr die dringende Notwendigkeit einer geschlechtergerechten Medizin in unserer Gesellschaft.

Während unserer Besuche im Pflegeheim ließ meine Mutter meinen Vater immer näher an sich heran, auch wenn sie ihn ebenso wenig erkannte wie mich. Ich erinnere mich noch genau an die erste Zeit, als meiner Mutter vom medizinischen Pflegepersonal langsam und behutsam beigebracht wurde, das Besteck wieder in den eigenen Händen zu halten. Ich sah jedes einzelne Mal den Schmerz in den Augen meines Vaters, wenn er mit ansehen musste, wie seine junge Frau nach und nach lernte, wieder selbstständig zu essen. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht einmal zehn Jahre alt, mein Vater war 37. Jedes Mal, wenn ein Besuch bei meiner Mutter im Pflegeheim anstand, bekam ich kurz davor Bauchschmerzen, oder mir wurde schlecht. Die Übelkeit hielt manchmal Tage an. Um mich von all dem etwas abzulenken, begann ich irgendwann damit, mich in fantasievolle Tagträume zu flüchten. Die langen Hin- und Rückfahrten im Auto waren schweigsam. Ich nahm meinen Vater die meiste Zeit sehr nachdenklich und ruhig wahr. Das Einzige, was mich auf den Fahrten glücklich stimmte, waren die Momente, in denen ich im Vorbeifahren auf den Hamburger Hafen und die Schiffe blicken konnte. Ich nahm den Flair der Stadt schon als Kind intensiv war. Noch ohne zu wissen, dass Hamburg nicht einmal zehn Jahre später mein Zuhause sein würde, knüpfte ich auf diesen Fahrten ein erstes Band zu dieser wunderbaren Stadt.

Über zwei Jahrzehnte verbrachte meine Mutter zuletzt in einem kleinen Pflegeheim nahe unserer Heimatstadt. Ein Ort, an dem sie hoffentlich glücklich war, sich zu Hause fühlte. Ein Ort, an dem Menschen sich so um sie kümmern konnten, wie sie es verdient hatte und brauchte. Als ich 16 oder 17 war, konnte ich sie irgendwann nicht mehr im Pflegeheim besuchen. Ich wollte es so sehr, aber der Schmerz über all das Geschehene war für mich kaum zu ertragen.