Diagnose: Judenhass - Eva Gruberová - E-Book

Diagnose: Judenhass E-Book

Eva Gruberová

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Beschreibung

Bis vor wenigen Jahren hieß es in Deutschland stets, jüdisches Leben sei ein selbstverständlicher Teil der Normalität. Aber spätestens nach dem Überfall auf die Synagoge in Halle 2019 und der massiven Ausbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen in der Corona-Krise bekam dieses Bild tiefe Risse. Eva Gruberová und Helmut Zeller sind durch Deutschland gereist und haben zugehört – von Rostock über Berlin bis Dortmund und nach München, mit einem Abstecher nach Wien. Dabei zeigt sich, dass Juden hierzulande kein normales Leben führen können, es sei denn, man hält Polizei und Sicherheitszäune vor jüdischen Kindergärten, Brandanschläge auf Synagogen, oder perfide Witze für etwas, das zur deutschen Normalität gehört. Jüdinnen und Juden erleben Übergriffe und Anfeindungen auch aus muslimisch geprägten Milieus. Was aber viele nicht sehen: Antisemitismus kam und kommt aus der "bürgerlichen Mitte". Die Reportagen, Interviews und Analysen machen sichtbar, dass der Judenhass tief in der Gesellschaft verwurzelt ist – und uns alle angeht.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Eva GruberováHelmut Zeller

Diagnose: Judenhass

Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit

C.H.Beck

Zum Buch

Bis vor wenigen Jahren hieß es in Deutschland stets, jüdisches Leben sei ein selbstverständlicher Teil der Normalität. Aber spätestens nach dem Überfall auf die Synagoge in Halle 2019 und der massiven Ausbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen in der Corona-Krise bekam dieses Bild tiefe Risse. Dieses Buch macht in Reportagen, Interviews und Analysen sichtbar, wie tief er in der Gesellschaft verwurzelt ist. Eva Gruberová und Helmut Zeller sind durch Deutschland gereist und haben zugehört – von Rostock über Berlin bis Dortmund und nach München, mit einem Abstecher nach Wien. Denn was in der Debatte über Antisemitismus meistens untergeht, sind die Stimmen der Betroffenen. Wenn man fragt, wie Jüdinnen und Juden die deutsche Realität erleben, zeigt sich, dass sie hierzulande kein normales Leben führen können, es sei denn, man hält Polizei und Sicherheitszäune vor jüdischen Kindergärten, Brandanschläge auf Synagogen oder perfide Witze für etwas, das zur deutschen Normalität gehört. Jüdinnen und Juden erleben Übergriffe und Anfeindungen auch aus muslimisch geprägten Milieus. Was aber viele nicht sehen: Antisemitismus kam und kommt aus der «bürgerlichen Mitte». Die Reportagen, Interviews und Analysen machen sichtbar, dass der Judenhass tief in der Gesellschaft verwurzelt ist – und uns alle angeht.

Über die Autoren

Eva Gruberová arbeitet als Autorin, freie Journalistin und als Bildungsreferentin am Max Mannheimer Studienzentrum sowie in der KZ Gedenkstätte Dachau. Von ihr und Helmut Zeller erschienen bei C.H.Beck «Taxi am Shabbat. Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas» (2017) und «Geboren im KZ» (32016).

Helmut Zeller leitet die Dachauer Redaktion der Süddeutschen Zeitung und publiziert zu Zeitgeschichte und Politik. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Ich sang für die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst» (2018), die Erinnerungen des Shoah-Überlebenden Abba Naor, der seit 2017 Vizepräsident des Comité International de Dachau ist.

Inhalt

Vorwort

1. Das Kröpelin-Syndrom: Über das Schweigen und die Gewalt von rechts

Allein gegen rechts. Unterwegs in Kröpelin und Rostock

In der Neonazihochburg des Westens

Gedenken im Nazi-Kiez

Man wird ja wohl noch leugnen dürfen!

Die Ruhestörer von Laatzen

Halle war nicht der Anfang. Die Marginalisierung der rechten Gefahr

Ein Jude, der mit Rechtsextremisten redet

«Halle hätte auch bei uns passieren können»

«Ich war ein Nazi und Antisemit»

Ein Gebet für Deutschland

2. Ein politisches Minenfeld: Antisemitismus unter Muslimen

Angst vor einer Zunahme des Judenhasses

«Prinzipiell ist es den Leuten schwer zu vermitteln»

Drohen «französische Verhältnisse»?

Jüdische Einwanderer: «Wir hatten keine Willkommenskultur»

Ein skandalöses Urteil: Der Fall Wuppertal

Ein altes Feindbild wirkt fort

Burak Yilmaz: «Im Land der Shoa gibt es keinen importierten Antisemitismus»

Wer Rassismus bekämpft, darf bei Antisemitismus nicht schweigen

3. «Sie verstehen nicht, was das Land für uns bedeutet»: Wie israelbezogener Antisemitismus Juden in Deutschland belastet

«Ich höre immer dieses, ja, aber was ihr da macht …»

«Spekulanten», «Imperialisten», «Zionisten»: Antisemitismus von links

Petra Pau: «Ich habe Antisemitismus lange unter der Überschrift Rechtsextremismus gesehen.»

BDS: Mit Hass für noch mehr Hass

Mit zweierlei Maß

Die Arroganz der späten Geburt

Kurze Gebrauchsanleitung für «Israelkritik»

4. Der Krankheitsherd: Erkundungen in der gesellschaftlichen Mitte

Allein in der bayerischen Provinz

Fremde im eigenen Land

Verschwörungsmythen in Zeiten von Corona

Es kommt aus der Mitte

Wagner, Luther, Judensau

Schöne Reden, wenig Taten

Neues Selbstbewusstsein, alte Ängste

«Du Jude!» Alltag in deutschen Schulen

Antisemitismusprogramme sind nur Feuerlöscher

Plädoyer für eine demokratische Schule

Nazivergangenheit: Der Schock ist vorbei

Ein Abstecher nach Wien: «Eigentlich haben wir wenig erreicht»

«Wir möchten einfach nur unsere Ruhe haben»

Anmerkungen

1. Das Kröpelin-Syndrom: Über das Schweigen und die Gewalt von rechts

2. Ein politisches Minenfeld: Antisemitismus unter Muslimen

3. «Sie verstehen nicht, was das Land für uns bedeutet»: Wie israelbezogener Antisemitismus Juden in Deutschland belastet

4. Der Krankheitsherd: Erkundungen in der gesellschaftlichen Mitte

Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Vorwort

«Wir fühlen uns im Stich gelassen», sagte uns Baruch Babaev, als wir ihn zum ersten Mal in Dortmund besuchten. So empfinden die meisten Juden und Jüdinnen, mit denen wir auf unseren Reisen durch Deutschland sprachen. Justiz und Polizei gehen meist nicht entschieden genug gegen antisemitische Übergriffe vor, im Bundestag sitzt eine Partei, in der antisemitische und die Shoah relativierende Ansichten offen ausgesprochen werden, und die Mehrheitsgesellschaft schaut weg. Rabbiner Babaev warnte: «Wenn sich nicht etwas ändert, und zwar schnell, kann es für die Juden ganz schlimm enden.» Das war im Herbst 2018. Einige Wochen zuvor hatten wir mit der Recherche für dieses Buch begonnen. Im Zentrum der medialen und politischen Debatte stand der «importierte» Antisemitismus von Geflüchteten aus Ländern, in denen die Juden- und Israelfeindlichkeit stark ausgeprägt ist. «Im Land der Shoah gibt es keinen importierten Antisemitismus», widersprach der Duisburger Sozialpädagoge Burak Yilmaz, ohne den Antisemitismus unter arabischstämmigen und muslimischen Einwanderern kleinzureden, die selbst unter Diskriminierung leiden. Ein Jahr später verübte ein deutscher Rechtsextremist einen Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale). Der Fokus der Wahrnehmung verschob sich auf das rechtsextreme Spektrum. Politiker bezeichneten den Terrorakt als «unvorstellbar» und als ein «Alarmzeichen». Unsere Gesprächspartner waren nicht überrascht. Der rechte Terror gegen Juden hat hierzulande schließlich eine jahrzehntelange Kontinuität, nur wurde er von Politik und Sicherheitskräften lange ignoriert. Auch davon handelt dieses Buch.

Die Externalisierung des Problems ist symptomatisch für die deutsche Debatte: So bleibt es immer der Antisemitismus der anderen. Der Antisemitismus war nach 1945 nicht verschwunden. Er blieb nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte, aus der er immer gekommen war, und tritt in Wellen hervor. Judenhass ist ein jahrhundertealtes Phänomen, das tief in die Kultur der abendländisch-christlichen Gesellschaften eingewoben ist und sich an verschiedene Situationen anpasst. Antisemitismus ist ein globales Problem, es gibt aber eine spezifisch deutsche Tradition, die man immer mitdenken muss: den Vernichtungsantisemitismus, der in die Shoah geführt hat. Nach 1945 entwickelten sich neue Formen der Judenfeindschaft: der Schuldabwehr-Antisemitismus, der mit dem Wunsch nach einer positiven nationalen Identität einhergeht, sowie der israelbezogene Antisemitismus, der die alte Judenfeindschaft auf den 1948 gegründeten Staat Israel projiziert. In keinem anderen EU-Land werden Juden so oft für die Politik israelischer Regierungen angefeindet – in der Bundesrepublik 41 Prozent der Befragten, im europäischen Durchschnitt sind es 28 Prozent. Massive Sicherheitszäune vor jüdischen Einrichtungen, antisemitische Klassenchats, «Jude» als Schimpfwort an Schulen, verbale und körperliche Übergriffe auf der Straße gehören für Jüdinnen und Juden zum Alltag. Jüdische Schülerinnen und Schüler sprachen mit uns darüber, was das mit ihnen macht, wenn in ihrem Beisein Shoah-Witze erzählt werden und Lehrkräfte sie für israelische Politik haftbar machen. «Ihre Identität befindet sich in einer Art Belagerungszustand», sagte uns der Sozialwissenschaftler Konstatin Seidler in Hannover. Gleichzeitig fordern immer mehr nichtjüdische Deutsche einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit.

Auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung verhöhnen Menschen, die sich in der «bürgerlichen Mitte» verorten, die Shoah-Opfer mit einem gelben Stern mit der Aufschrift «ungeimpft» auf ihrer Kleidung. Corona-Leugner tragen gestreifte, an KZ-Häftlinge erinnernde Uniformen, berufen sich auf die Weiße Rose, ziehen Parallelen zum Leiden von Anne Frank. Auch das erweckt Zweifel an der «Erinnerungskultur» in diesem Land, das auf die «Aufarbeitung» seiner Geschichte so stolz ist. Die Pandemie bietet den perfekten Nährboden für das «Gerücht über die Juden», wie Adorno den Antisemitismus nannte: In den Verschwörungsmythen, deren antisemitischer Kern meist hinter Codes wie «Rothschild», «George Soros», «QAnon» oder «globale Eliten» versteckt wird, finden Rechtsextreme, Neonazis und sogenannte Mitte zusammen; die Zahl der Anhänger im Internet und in den sozialen Medien geht in die Millionen. Antisemitisches Gedankengut ist salonfähig geworden.

Die Stimmen derer, gegen die sich der Hass richtet, gehen in den öffentlichen Debatten meistens unter. Wie erleben Jüdinnen und Juden die deutsche Realität? Um das zu erfahren, reisten wir durch das Land und hörten ihnen zu. Unsere Gesprächspartner waren jüdische Schüler*innen und Student*innen, Künstler*innen, Blogger*innen, Gemeindevorsitzende wie einfache Mitglieder, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen sowie Rabbiner. Sie erzählten uns von ihren Ängsten, ihrer Resignation aber auch ihrer Wut und ihrem Widerstand. Andere sprachen über das neue jüdische Selbstbewusstsein und die Empowerment-Arbeit in ihren Gemeinden. Entstanden ist daraus ein vielstimmiger Chor mit auch widersprüchlichen Meinungen, getragen von der gemeinsamen Sorge um die Zukunft des Judentums in Deutschland. Für das Vertrauen, das unsere Gesprächspartner uns schenkten, danken wir ihnen herzlich. Mehrere von ihnen gehen in Schulen, klären über jüdisches Leben auf, engagieren sich in interreligiösen Dialogen. Das alles ist enorm wichtig. Antisemitismus ist aber nicht das Problem der etwa 150.000 bis 200.000 Juden in Deutschland, der Kampf dagegen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir finden, dass wir über den Antisemitismus mitten unter uns reden müssen, statt darüber, ob Juden nicht besser einige Gegenden meiden und in der Öffentlichkeit auf Davidsterne und Kippot verzichten sollten. Jüdinnen und Juden werden nicht deswegen verbal oder körperlich angegriffen, weil sie sich als solche zeigen, sondern weil die Angreifer*innen antisemitisch denken und fühlen. Doch die Mehrheitsgesellschaft hat ein Wahrnehmungsproblem: Sie sieht nicht, will auch nicht sehen. Viel wird darüber verhandelt, ob eine Äußerung, eine Karikatur oder ein Artikel antisemitisch oder doch nicht so gemeint sind, und Wissenschaftler streiten darüber, wem die Deutungshoheit über den Antisemitismus zusteht. Währenddessen geht der Fokus in den Gemeinden nach innen. Man sei am liebsten unter sich, auch aus Schutz vor der Welt da draußen, sagte uns eine 19-jährige Münchner Jüdin. Das sagt viel über den Zustand der Gesellschaft aus.

Vielleicht ist uns der moralische Kompass abhandengekommen, im Land der Stolpersteine, Mahnmäler und Gedenkrituale. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft hat noch nicht einmal richtig begonnen. Der Hohe Kommissar John J. McCloy erklärte 1949, dass das Wohlergehen der Juden in Deutschland ein Prüfstein seiner demokratischen Entwicklung sein wird. Daran gemessen, fällt das Zeugnis schlecht aus. «Eine Gesellschaft, in der sich Antisemitismus und andere Vorurteile einnisten, ist keine gesunde Gesellschaft. Es beginnt häufig mit dem Juden, aber es endet nicht mit den Juden», warnt die Shoah-Forscherin Deborah Lipstadt. Antisemitismus und Zerstörung der Demokratie gingen in der Geschichte immer miteinander einher. Das muss endlich erkannt und zur Richtschnur des politischen Handelns gemacht werden – bevor es zu spät ist.

Wir danken der Volksbank Raiffeisenbank Dachau eG und ihrem Vorstand Thomas Höbel für die großzügige Förderung unserer Arbeit, ebenso Bezirksheimatpfleger Dr. Norbert Göttler vom Bezirk Oberbayern, der Stiftung «Die Schwelle» sowie der Ursula Lachnit-Stiftung. Unser Dank geht auch an Barbara Schenk vom Euro-Trainings-Centre ETC e.V. in München sowie Käthe Springer-Dissmann und Bruno Dissmann in Wien. Unserer Lektorin Dr. Christine Zeile, die uns über alle Hindernisse hinweg begleitet und fachlich wie menschlich in bester Weise betreut hat, gilt ein großes Dankeschön, auch dem Verlag C.H.Beck und seinem Lektor für Neuere Geschichte, Zeitgeschichte und Politik, Dr. Sebastian Ullrich, der die Idee zu diesem Buch hatte.

1. Das Kröpelin-Syndrom: Über das Schweigen und die Gewalt von rechts

Zeichen grassierender Judenfeindlichkeit – Schmierereien auf dem jüdischen Friedhof in Kröpelin, Mecklenburg-Vorpommern

Allein gegen rechts. Unterwegs in Kröpelin und Rostock

Kein Mensch kennt Kröpelin. Anna schaut uns fragend an. Ein Abend im September 2019, tropische Hitze, die Straßencafés am Weinbergsweg quellen über. Im «Gorki-Park» zwängt sich auf der Terrasse ein gepierctes Paar mit grünen Strähnen im Haar zu einer freien Tischecke. In dreißig Jahren soll Berlin so heiß wie Melbourne sein. Das haben Schweizer Klimaforscher berechnet. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchen den Platz in ein warmes Licht. Anna wartet.

Eine Kleinstadt, zwei, drei Stunden Zugfahrt entfernt.

Nie gehört.

Wir bisher auch nicht.

Was wollt ihr dann dort?

Anna, unsere Zufallsbekanntschaft, hört interessiert zu. Die meisten jedoch, denen wir von unserem Buch erzählen, setzen einen Tunnelblick auf, sobald wir das «A-Wort» aussprechen. Gar noch wachsender Antisemitismus. Wenn ich das schon höre, sagte eine Kollegin und verdrehte die Augen. Davon, erklären uns viele ungläubig, hätten sie persönlich nichts bemerkt. Das liegt vielleicht daran, dass sie nicht jüdisch sind, oder eher noch an der Gleichgültigkeit in diesem Land, die Papst Franziskus anprangert. Die Gleichgültigkeit durchdringe, sagt das geistige Oberhaupt von 1,3 Milliarden Menschen weltweit, die Gegenwart wie ein Virus. Da beunruhigt sie schon eher der Klimawandel. Der macht vielen Sorge, aus gutem Grund, steht doch die Zukunft des Planeten auf dem Spiel. Die Klimakatastrophe hat längst schon begonnen. Die Vereinten Nationen rechnen mit 200 Millionen Klimaflüchtlingen bis 2050. Vielleicht gelingt es noch, die verheerenden Auswirkungen der fortschreitenden Erderwärmung abzumildern. Auch die Demokratie würde vermutlich nicht überleben, wenn sie weiter durch völkisches und nationalistisches Denken geschwächt wird. Antisemitismus und Rassismus waren nach 1945 nie verschwunden. Sie führten auch nie nur eine Randexistenz, wie die Politik das lange Zeit glauben machen wollte, nicht nur Rechtsextreme sind es, es wabert und gärt auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Einer Studie zufolge ist jeder vierte Deutsche gegen Juden eingestellt, von diesen mehr als 20 Millionen Frauen und Männern kann man schwerlich behaupten, dass sie eine unbedeutende Minderheit sind. Das Nachleben des Nationalsozialismus offenbart sich auch in der zunehmenden Zahl von Hasskommentaren ganz gewöhnlicher Alltagsuser im Internet, die damit die demokratische Maske fallen lassen.

Auf jeden und jede der etwa 150.000 Juden und Jüdinnen in der Bundesrepublik kommen also 133 Antisemiten, wie uns ein Freund, ein pensionierter Ingenieur aus München, vorrechnet. Er weiß nicht, was ihn mehr belastet, die Antisemiten, die ihn auf der Straße scheel anschauen, beleidigen oder gar Schlimmeres antun würden, wenn er etwa eine Kippa tragen würde, als Jude sichtbar wäre. Oder die anderen. Die 62 Millionen, die im Umkehrschluss des Umfrageergebnisses nichts gegen Juden haben, von denen aber die meisten ihren Blick von der Gewalt abwenden. Von großen Protesten gegen die alltäglichen Übergriffe auf jüdische Kinder, Frauen und Männer sehen und hören wir nichts auf unserer Deutschlandreise. Eine Million Menschen demonstriert in dieser Zeit gegen das Artensterben, und das findet die Münchner Psychotherapeutin Eva Umlauf, die als zweijähriges Kind Auschwitz überlebt hat, auch gut so. Nur wünschte sie, dass einmal wenigstens halb so viele gegen den Judenhass auf die Straße gingen. Wir leben in einer Gesellschaft, die ungerecht ist, weil sie Diskriminierungen akzeptiert. Der Hass ist allgegenwärtig. Er trifft Juden, Geflüchtete, Muslime, Schwarze, Sinti und Roma, Frauen, Schwule …. Vor ein paar Tagen hat uns ein Spießertyp, weiß und dumpf, in der Berliner U-Bahn wüst beschimpft, weil wir einem bettelnden Obdachlosen einen Euro gaben. Was ist los in diesem Land?

Dass wir ausgerechnet in Kröpelin, 4800 Einwohner zählt die Stadt zwischen Rostock und Wismar, darauf Antworten finden, daran zweifeln wir selbst, als wir vor dem verlassenen Bahnhofsgebäude stehen. Die Fenster des roten Backsteinbaus von 1883 sind zugemauert, weit und breit kein Mensch, in der Stille hören wir die Blätter der Bäume rascheln. Doch dann kommt es anders. Wir lernen Hubertus Wunschik, 1957 in Meppen geboren, kennen. Er ist einer der wenigen, die sich einmischen, die Deutschland nicht den Rechten überlassen wollen. Seine Geschichte gibt Antworten darauf, was in dieser Republik los ist. Der frühere parteilose Bürgermeister wurde nach sechs Jahren Amtszeit weggemobbt. Das lag auch daran, dass er den alten jüdischen Friedhof am Stadtrand erhalten wollte und nach jeder Schändung wieder restaurieren ließ. Deshalb gilt er in Kröpelin auch als «Jude». Aber das sind nach allgemeinem Sprachgebrauch in der Stadt alle, die geschäftlich erfolgreich sind oder einem intellektuellen oder künstlerischen Beruf nachgehen. Einem Kommunalpolitiker gegenüber nannte Hubertus Wunschik einmal die, die das behaupten, Nazis. Dieser erwiderte:

Nein, das sind keine Nazis.

Dann halt Antisemiten.

Das kann sein.

Im mecklenburgischen Kröpelin gehen rechtsextremer Rand und bürgerliche Mitte fast nahtlos ineinander über. Und das ist beileibe nicht allein in Ostdeutschland so, diese weit verbreitete Annahme entpuppt sich auf unserer Reise als Vorurteil. Schon 2002 konstatierten Forscher, dass rechtsextremes Denken in allen Teilen der Republik in erheblichem Maße verbreitet sei. Auch in der gesellschaftlichen Mitte.[1] Hubertus, schlaksige Figur und leicht ergrautes Haar, steht im Türrahmen. Wenn er lacht, geht ein warmes Leuchten über sein Gesicht. Jetzt lacht er nicht. Er ruft uns nach, was er am Abend zuvor am Lagerfeuer im Garten seines Hauses schon gesagt hat.

Wir müssen uns bewaffnen.

Was sagst Du da?

Bewaffnen!

Aber warum?

Falls die uns mal angreifen.

Ein ungewöhnlicher Satz aus dem Mund eines ehemaligen Polizeibeamten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Hubertus Wunschik will nicht wirklich eine Waffe tragen, er ist alles andere als gewalttätig, ein nachdenklicher, künstlerischer Kopf, ein Galerist, der in Kröpelin ein Kulturzentrum gegründet hat. Doch die Gefahr, die heute Kommunalpolitikern und Bürgern droht, die sich gegen Rechte engagieren, schätzt er richtig ein. Einige Wochen vor unserem Besuch wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha von einem Rechtsextremisten erschossen. Er wollte noch eine Zigarette rauchen, bevor er sich schlafenlegt, an dem Tag passte er auf seinen einjährigen Enkel auf. Der Schuss kam aus nächster Nähe. Gegen den CDU-Politiker war im Internet gehetzt worden, weil er die demokratische Kultur in unserem Land verteidigt hatte. Der Bürgermeister der rheinländischen Kommune Kamp-Lintfort, ein Sozialdemokrat, beantragte im Januar 2020 einen Waffenschein, weil ihn Rechtsextreme bedrohen, seitdem er im Wahlkampf Plakate der Partei «Die Rechte» abhängen ließ. Darauf stand «Israel ist unser Unglück» und «Wir hängen nicht nur Plakate». Auch andere Kommunalpolitiker kündigten an, sich aus Angst vor Neonazis bewaffnen zu wollen, einige traten von ihrem Amt zurück. Mehr als 40 Prozent der kommunalen Verwaltungen waren bereits Hass-E-Mails und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt, in acht Prozent kam es auch zu körperlichen Übergriffen. Das ergab 2019 eine Umfrage für Report München unter mehr als 1000 Bürgermeistern.[2]

Am 9. Oktober 2019 folgt der Anschlag auf die Synagoge in Halle, am 19. Februar 2020 die Attacke auf zwei Shisha-Bars in Hanau, der zehn Menschen zum Opfer fallen, neun von ihnen hatten einen Migrationshintergrund. Am 5. Oktober 2020 greift ein Antisemit einen jüdischen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg an und verletzt ihn schwer. Hubertus Wunschik und seine Frau Christine haben die Ohnmacht von Menschen erfahren, die sich in Deutschland dem Rechtsruck entgegenstemmen. Sie stehen allein da. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck – und so ähnlich reden viele Politiker – hat einmal gesagt, die Demokratie benötige beides: mutige Bürger, die nicht wegschauten, aber vor allem einen Staat, der fähig sei, Würde und Leben zu schützen. Die Realität sieht anders aus. Tote Ratten vor der Haustür, aufgeschlitzte Autoreifen, daran haben sich Hubertus und Christine schon fast gewöhnt. Aber er besitzt ein Foto, das er im Mai 2014 gemacht hat – zwei Glatzköpfe erheben nach einem Streit mit ihm in seinem Kulturzentrum die rechte Hand zum Hitlergruß. Die Staatsanwältin in Rostock hat offenbar ihrem Bundespräsidenten nicht zugehört. Sie schrieb an Hubertus Wunschik: «Die von Ihnen getätigten Angaben, der Beschuldigte habe Sie am Jackenkragen ergriffen und geäußert: ‹Wir kennen dich, Wunschik, auch wenn du als Bürgermeister abgewählt bist, und beobachten dich›, sind zum einen nicht unter den Tatbestand der Bedrohung, der Beleidigung oder der vorsätzlichen Körperverletzung zu sehen. Zum anderen ist dem Beschuldigten das Zeigen des sog. Hitlergrußes nicht nachweisbar. Der Beschuldigte selbst hat den Tatvorwurf bestritten.» Das ist nicht alles. «Auch das von Ihnen am Tattag gefertigte Lichtbild spricht gegen das Zeigen des Hitlergrußes. Im Rahmen eines solchen Grußes ist der Daumen jedenfalls nicht von der zeigenden Hand weggespreizt. Auf dem Lichtbild ist aber genau dieses ersichtlich, so dass davon auszugehen ist, dass der Beschuldigte seine Hand lediglich zum Winken erhoben hat.» Auf das Wohl dieser Staatsanwältin werden die Neonazis mit einigen Gläsern Bier angestoßen haben.

Am 26. September 1937 waren die Daumen der hochgereckten rechten Hände nicht abgespreizt. Damals gab es auch absolut keinen Anlass für ein solches Versteckspiel. Überhaupt waren das noch Zeiten in Kröpelin, Hitler und Mussolini versetzten die etwa 2700 Einwohner in Hochstimmung. Die Menschen drängten sich am Bahnhof und schrien sich die Seele aus dem Leib, als die beiden auf ihrem Weg zu einem Wehrmachtsmanöver in der Stadt Halt machten. «Auch die Hitlerjugend überschlug sich in Jubelrufen», liest man auf der Homepage der Stadtgemeinde. Der ehemalige SPD-Fraktionssprecher Thomas Wendt rief 2012 ältere Bürger dazu auf, von ihren Erinnerungen an den großen Tag der kleinen Stadt Zeugnis abzulegen. Er fand, dass der Besuch Hitlers und Mussolinis, eines der «bedeutendsten Ereignisse der Stadtgeschichte», nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Der Sozialdemokrat wollte Wunschik auch verbieten lassen, Spenden für die Restaurierung des jüdischen Friedhofs über ein städtisches Bankkonto einzuwerben. Nach Kröpelin hat uns aber etwas anderes gebracht. Es war ein Foto, das wohl bekannteste der Stadt: ein großes, blaues Hakenkreuz auf einem jüdischen Grabstein. Diese Aufnahme illustriert regelmäßig Zeitungsberichte über Friedhofsschändungen in Deutschland. Mindestens fünfmal wurde die jüdische Begräbnisstätte in Kröpelin schon geschändet. 2011, dann im Juni 2012, nachdem Hubertus Wunschik sie hatte sanieren lassen, im September 2012 wieder, diesmal besonders brutal. Grabplatten wurden zerbrochen, Grabsteine aus der Verankerung gerissen und umgeworfen. Für die Rostocker Polizei stand schnell fest: Ein rechtsextremer Hintergrund der Tat könne ausgeschlossen werden. 2013 und am 27. Januar 2016, dem Holocaust-Gedenktag, schlugen Unbekannte erneut zu. Antisemiten, Rechtsextreme? «Wir wissen es doch nicht. Da kann man überhaupt keine Meinung dazu sagen», sagte die stellvertretende Bürgermeisterin Sylvia-Marina Kühl der Ostsee-Zeitung. Leserbriefschreiber Ulrich Cramer hatte schon zuvor konstatiert, «(…) dass man weit davon entfernt ist, gemeinsam gegen den vorhandenen Rechtsextremismus anzugehen.»

Juden gibt es schon lange nicht mehr in der Stadt. Der Judenhass ist geblieben. Ungefähr 2000 jüdische Friedhöfe gibt es in Deutschland, in vielen Regionen sind sie die letzten Zeugnisse jüdischen Lebens vor dem Nationalsozialismus. «Da in der Bundesrepublik kaum noch Juden leben, gegen die man handgreiflich werden könnte, tobt man sich an den Steinen aus – quasi als Judenersatz», schreibt der Historiker Julius H. Schoeps in einem Aufsatz von 1986 zu den Übergriffen auf die «beth olam», die Stätten zur Ewigkeit. Einer Studie des Frankfurter Historikers Adolf Diamant zufolge sind es zwischen 1945 und 1982 fast 600 Schändungsfälle gewesen. Die Dunkelziffer dürfte um vieles höher liegen, da nicht alle erfasst und viele «jugendlichem oder kindlichem Vandalismus» zugeschrieben werden. Warum sich der aber nur auf jüdischen Friedhöfen austobt, erklären die Sicherheitsbehörden nicht. 13 verwitterte Grabsteine im Schatten großer Bäume stehen am Stadtrand von Kröpelin, gleich hinter der Bundesstraße 105, auf der Autos vorbeirasen. Auf der Rückseite des 1825 angelegten Friedhofs erstrecken sich Wiesen und Felder bis zum Horizont. Für einen Fremden ist er nicht leicht zu finden. Die Stadtbibliothekarin freut sich über unser Interesse, weiß aber nicht viel über die jüdische Geschichte Kröpelins zu sagen. Aber nett und hilfsbereit, wie sie ist, will sie die Touristen nicht einfach wegschicken. Sie blättert lange in der zweibändigen, ungefähr tausend Seiten umfassenden Stadtchronik und wird fündig. Zehn, vielleicht zwölf Zeilen. 15 Familien gab es hier, die vor dem Naziregime abgewandert sein sollen.

Wohin?

Das weiß ich nicht.

Können Sie uns etwas über die Friedhofsschändungen sagen?

Das gab es mal, aber seit zwei Jahren nicht mehr.

Glauben Sie, die Täter stammen aus der Stadt oder der Umgebung?

Hm, dazu kann ich Ihnen wirklich nichts sagen.

Deutschland hat sich verpflichtet, verwaiste jüdische Friedhöfe dauerhaft zu sichern und zu bewahren – schleppende Ermittlungen, Desinteresse der Kommunalpolitik, das kennzeichnet jedoch die Realität. Und es hört nicht auf. 2018 ist in Deutschland im Schnitt mindestens jede zweite Woche ein jüdischer Friedhof geschändet worden. Seit 2000 stieg die Gesamtzahl auf 750. Das ergab eine parlamentarische Anfrage der Bundestagsvizepräsidentin und Linke-Politikerin Petra Pau, die seit 2007 regelmäßig Anfragen zu Schändungen von jüdischen Friedhöfen stellt. Wie viele es sind, weiß sie selbst nicht mehr. Sie gehören zum Alltag der Juden in Deutschland.

Hubertus Wunschik veranstaltet in Kröpelin deutsch-israelische Kulturtage. Das gefällt nicht jedem. Im Jahr 2012 fand er die israelische Fahne vor dem Friedhof – «Judenfriedhof», sagen Kröpeliner – zerfetzt und angebrannt. Vier Jahre danach die zweiten Kulturtage. Der israelische Botschafter ist gerade abgereist, da klettert ein Mann den Fahnenmast hoch und reißt die Fahne Israels herunter. Die «Scheißjuden», schreit er, haben hier nichts zu suchen. Was ist nur los in dieser Stadt? Das Rathaus wurde schmuck renoviert, Kirche und Fachwerkhäuser, alles proper hergerichtet. Jahre nach dem Raubzug der Treuhand in Ostdeutschland sind die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr so schlecht. Im Landkreis Rostock, zu dem Kröpelin gehört, lag die Arbeitslosenquote vor der Covid-Pandemie bei 5,1 Prozent, dem niedrigsten Wert in Mecklenburg-Vorpommern. In der Bundestagswahl 2017 hat die AfD in Kröpelin mit fast 21 Prozent die Grünen, Linke und SPD weit zurückgeschlagen und sich hinter der CDU als zweitstärkste Kraft etabliert. Eine Neonaziszene kann man der Stadt nicht zuschreiben, aber eine rechte Szene, sagt Hubertus, gibt es hier quer durch alle Parteien und Schichten. Auch etliche Reichsbürger gehörten dazu. «Hier hat man etwas gegen alles, was angeblich fremd ist. Geflüchtete, Ausländer, das sind für die alles ‹Fidschis›. Das ist ganz schlimm», sagt Christine. Er würde sich, sagt ihr Mann, nicht als Jude zu erkennen geben, wenn er einer wäre.

Hubertus Wunschik wurde von den Stadtvertretern gemobbt, Vorwürfe wegen seiner Amtsführung, Anzeigen wegen Unterschlagung – alles unbegründet und vor Gericht nicht haltbar gewesen. Auch ein Quorum, das die Stadtvertreter gegen ihn anstrengten, scheiterte. Dann wurde er aber schwer krank und 2016 in den Ruhestand versetzt. Christine und er haben sich entschieden. Sie bleiben in Kröpelin. Wo sollen sie auch hin? Als Fraktionssprecherin der Grünen im Kreistag von Rostock ist die 36-Jährige zum Lieblingsfeindbild der AfD geworden, die mit elf Sitzen vertreten ist. Einige Freunde hat das Ehepaar noch, aber sie fühlen sich in der Stadt nicht mehr wirklich wohl. «Du kriegst es doch alles mit», sagt Christine, «wenn dich jemand komisch anguckt. So was ist sehr belastend.» Einkäufe machen sie außerhalb von Kröpelin. Ihre heute neunjährige Tochter Johannah konnte nicht mehr in den Kindergarten am Ort gehen, denn die Eltern wollten ihr Kind vor dem Mobbing bewahren. Ein Arzt bescheinigte, dass Johannah keine Schule in Kröpelin besuchen kann, sie geht heute auf eine in Bad Doberan.

Wie geht Ihr damit um, Christine?

Manchmal frage ich mich, was mache ich eigentlich hier?

Und was ist die Antwort?

Wir haben uns gesagt, jetzt gehen wir mal ins Biedermeier, Rückzug ins Private. Es fiel uns aber auf, dass der Biedermeier sehr schnell in den Vormärz übergegangen ist. Man muss dann doch…irgendwie…weitermachen.

Sie lachen.

Viele Juden und Jüdinnen werden uns auf unseren Reisen noch von ihrem schwindenden Vertrauen in die Polizei erzählen. In Berlin gab es beim rechten Aufmarsch in Gedenken an Rudolf Hess, Hitlers früheren Stellvertreter in der Parteileitung, sogar ein «Polizistentaxi» für Neonazis. Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus zeigt uns ein paar Tage später einen Filmmitschnitt, wir waren zwar dort, haben es aber nicht mitbekommen. Einige Rechtsextreme wussten nicht Bescheid, dass die Demo von Spandau nach Friedrichshain verlegt worden war, und wurden von der Polizei dorthin gebracht. «Das ist Berliner Polizei», sagt Levi Salomon. Wir staunen ungläubig über das Video, das einen Neonazi zeigt, der aus dem Polizeiwagen steigt. «Ja, was soll denn das? Was soll denn das?», ruft Levi Salomon empört aus. «Die hätten sagen sollen, okay, Eure Kundgebung ist abgesagt, sie müssten sie aber nicht gleich zur nächsten kutschieren!» Die Polizei sei unverhältnismäßig hart gegen die Gegendemonstranten vorgegangen. «Ich habe gesehen, wie die Menschen festgenommen wurden. Sie wurden zu Boden gedrückt.» Andererseits konnten die Neonazis ungestraft Hitlergrüße zeigen und brüllen: «Wo man Juden deportiert, da ist das Rheinland.» Und zu Gegendemonstranten: «Wo ist eure Anne Frank?»

Ein rechter Kröpeliner hat einmal vor Hubertus Wunschik mit einem Messer herumgefuchtelt. Der herbeigerufene Polizist sah darin keine Drohung. «Dann könnten Sie sich auch von mir bedroht fühlen, ich trage eine Pistole», sagte er zu Hubertus. Hat er es ernst gemeint, oder sollte es nur ein Witz sein? Eine Hilfe war er jedenfalls nicht. In schöner Regelmäßigkeit schreckt die Öffentlichkeit auf, wenn bekannt wird, dass Beamte, die auf die Verfassung geschworen haben, Daten an Neonazis weitergaben, selbst ein rechtsextremes Netzwerk gegründet und Hasssprüche im Netz gepostet haben oder auch Gewalt anwenden gegen Menschen, deren Leben und Würde zu schützen sie verpflichtet sind. Es gibt keine aktuellen Studien, wie viele der insgesamt 240.000 Vollzugsbeamten rechtsextrem und rassistisch eingestellt sind. Professor Yitzhak Melamed ist 2018 Gast der Bonner Universität. Im Hofgarten des kurfürstlichen Residenzschlosses wird der 50-Jährige von einem 20-jährigen Deutschen angegriffen. Der Mann schlägt ihm die Kippa vom Kopf und auf die Schulter. «Kein Jude in Deutschland», brüllt er. Eine Kollegin ruft über Handy die Polizei. Als der Angreifer die Sirene hört, flüchtet er, Yitzhak Melamed verfolgt ihn und wird von den Beamten zu Boden geworfen und mehrmals ins Gesicht geschlagen, obwohl er beteuert, der Falsche zu sein. Die Deutsche Stimme, eine rechtsradikale Monatszeitung, meint freudig: Es sei gut zu wissen, «dass auch hierzulande die Mehrheit der staatlichen Waffenträger Sympathien für die politische Rechte hat», so in einem Artikel der Ausgabe vom September 2019. Das Eintreten für Volk und Land, Ordnung und Autorität gehöre nämlich zur DNA rechten Denkens.

Eine Studie der Polizeifachschule Aschersleben in Sachsen-Anhalt von 2014 zeigte, dass für Migranten und Geflüchtete nach einem rassistischen Angriff im Kontakt mit der Polizei die Gefahr einer Täter-Opfer-Umkehr besteht. Das mussten auch die Angehörigen der Todesopfer des NSU erfahren. Bis er 2011 aufflog, lebte die Terrorgruppe fast 14 Jahre lang im Untergrund und ermordete acht türkisch- und einen griechischstämmigen Deutschen sowie eine Polizistin. Die Behörden unterstellten zunächst den Opfern kriminelle Machenschaften und ermittelten gegen ihre Angehörigen. «Die Bundesregierung muss dringend den Verfassungspatriotismus in den Sicherheitsbehörden stärken», sagte Jörg Radek, Vizevorsitzender der Polizeigewerkschaft, der Rheinischen Post. «Da ist bei vielen Beamten etwas in Schieflage geraten, was sich in Sympathien für das rechtsnationale Parteienspektrum ausdrückt.» Ende 2018 wird ein Netzwerk rechtsextremer Polizisten in Frankfurt am Main aufgedeckt, das seine Drohbriefe mit «NSU 2.0» unterzeichnete. Einige erhielt die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die im Münchner NSU-Prozess eine Opferfamilie vertreten hatte. Insgesamt waren es fast einhundert Drohschreiben, das Netzwerk hat Verbindungen nach Hamburg, Berlin und Bayern. Bei der Berliner Polizei sollen 25 Beamte jahrelang rassistische und rechtsextreme Hetze in einem Chat ausgetauscht haben. In Mecklenburg-Vorpommern wurden zwei Polizisten wegen antisemitischer Nachrichten über ihre Privathandys vom Dienst suspendiert. In Lahr, Baden-Württemberg, wurden 2020 sieben Polizeischüler entlassen; ein 26-jähriger Polizeianwärter der Polizeihochschule Potsdam, der sich vor Zeugen rechtsextremistisch geäußert haben soll, klagte vor Gericht gegen seine fristlose Kündigung und gewann den Prozess. Die rechtsextreme «Gruppe S.» soll mit einem Polizeimitarbeiter im nordrhein-westfälischen Hamm kooperiert haben. Zur 2017 aufgeflogenen rechtsextremen Gruppe «Nordkreuz» gehören Verdächtige aus Polizei und Bundeswehr. Ein ehemaliges SEK-Mitglied wurde in Schwerin zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, der Beamte soll 50.000 Schuss Munition aus Beständen der Polizei und Bundeswehr entwendet und gehortet haben. Das ist nur ein Ausschnitt, Nordrhein-Westfalen ist auch dabei. Mitte September 2020 wurden in Mülheim an der Ruhr 30 Polizisten des Polizeipräsidiums Essen wegen rechtsextremistischer Hetze suspendiert, seit Anfang 2017 gab es in dem Bundesland einhundert Verdachtsfälle. In Mecklenburg-Vorpommern gehören Beamte und Bundeswehrsoldaten den sogenannten Preppern an. Sie horteten in großer Menge Munition für den Staatszusammenbruch am Tag X und bereiteten Listen mit Todeskandidaten vor. Ausnahmen, Einzelfälle – Politiker wiegeln noch immer ab. Für Rafael Behr, Wissenschaftler an der Polizeiakademie Hamburg, sind die statistisch erfassten Fälle nur «die Spitze des Eisbergs».[3] Bundesinnenminister Horst Seehofer sieht jedoch, wie er mehrmals betonte, kein strukturelles Problem und lehnt eine Rassismus-Studie bei der Polizei ab, weil sie alle Beamten unter einen Generalverdacht stellen würde. Wie viele es auch immer sein mögen, erschreckend ist, dass die Sicherheitsbehörden das Gewaltmonopol ausüben und deshalb großen Schaden anrichten können.

Hubertus, was sagst Du dazu, als ehemaliger Polizist?

Man muss fair sein.

Wie meinst Du das?

Rassistisch waren Beamte schon vor 40 Jahren, vor allem jüngere. Die verabschiedeten sich auf dem Revier in den Streifendienst mit den Worten: Wir gehen jetzt Türken klatschen.

Wir wundern uns, als wir im Sommer 2019 den Klingelknopf an der Haustür der Jüdischen Gemeinde in der Augustenstraße in Rostock drücken und ohne Kontrolle oder Nachfrage in das Haus gelassen werden. Das ist heute nicht mehr so. Im Flur hängt von der Decke ein Plakat. In russischer Sprache steht darauf geschrieben, dass in der Synagoge gerade ein Gottesdienst stattfindet. Frauen, Männer und Kinder eilen hin und her. Unsere vollgepackte Reisetasche dürfen wir in der Pforte abstellen, dem Mitarbeiter ist die Tasche keinen Blick wert. Juri Rosov, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Rostock mit 560 Mitgliedern, lacht, als wir ihn darauf ansprechen. Er erzählt uns eine Geschichte. Vor einigen Jahren war er mit Gemeindemitgliedern in Straßburg. Es war Shabbat und sie wollten in die Synagoge, doch die Wachleute verweigerten ihnen den Zutritt. «Wir haben dem Sicherheitspersonal unsere Dokumente gezeigt, darin stand auch, dass ich Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Rostock bin. Trotzdem durften wir nicht hinein.» Diese Erfahrung hat ihn geprägt. «Manchmal habe ich bei uns Juden das Gefühl, dass wir zwar bauen und bauen, am Ende haben wir aber doch nur ein Ghetto. Das will ich nicht.» Er will ein offenes Haus. Bei dem Gespräch ahnen weder er noch wir, was fünf Wochen später in Halle in Sachsen-Anhalt, dreieinhalb Autostunden von Rostock entfernt, geschehen wird. Ein bewaffneter Rechtsextremist versucht, in die Synagoge einzudringen, die nicht von der Polizei beschützt wird. Etwa 50 Menschen, die gerade Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, feiern, zittern in dem Haus um ihr Leben. Die Tür hält den Schüssen stand. Nur knapp entgehen Frauen, Männer und Kinder einem Massaker. Nach dem Terrorangriff wird Juri Rosov in der Jüdischen Allgemeinen zitiert: «Wir sind ein offenes Haus», aber das bedeute nicht, auf Sicherheit zu verzichten. «Ich sehe da keinen Widerspruch.»[4] Alles andere wäre unverantwortlich und dumm. Wir kommen auf Kröpelin und die Zerstörungen zu sprechen. Ein, zwei Mal im Jahr werden die Grabstätten im Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern geschändet, erzählt uns Juri Rosov.

Das ist wirklich feige und widerlich, weil sich das gegen jene richtet, die sich überhaupt nicht wehren können. Kröpelin ist für mich ein krasses Beispiel. Herr Wunschik hat wirklich versucht, den jüdischen Friedhof aufzubauen, dann wieder und wieder …

Und dann noch die Zerstörung der Israelflagge …

Das wundert mich nicht in dieser Stadt.

Juri Rosov leidet darunter, die Attacken offenbaren einen Hass, der klarmachen will: Ihr habt weder im Leben noch im Tod einen Platz in diesem Land. Genau deshalb wollte Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden von 1992 bis 1999, nicht in Deutschland beerdigt werden, sein Leichnam wurde in Tel Aviv beigesetzt. Juri Rosov will, wie er uns sagt, das jüdische Leben in Rostock aufbauen und sich nicht ständig mit den Gräbern der Toten beschäftigen. Die Gleichgültigkeit setzt ihm zu. «Ich kenne keinen Fall, wo jemand bestraft wurde. Viele Friedhöfe liegen doch mitten in der Stadt. Wie kann das sein, dass es keiner gesehen hat?» In Mecklenburg-Vorpommern mit seinen ungefähr 1,61 Millionen Einwohnern wird Antisemitismus von der nichtjüdischen Mehrheit kaum wahrgenommen. Dabei hat sich seit der Wiedervereinigung eine rechtsextreme Szene entwickelt, von der sich die bürgerliche Mitte – Politik, Vereine, Feuerwehr oder Sportverbände – nicht ausreichend abgrenzt. Besonders schlimm war es vor sechs, sieben Jahren, auf dem Höhepunkt der sogenannten Beschneidungsdebatte.

Ich erhielt jeden Tag bis zu zehn E-Mails mit antisemitischen Beleidigungen, besonders krasse leitete ich an die Polizei weiter.

Was geschah dann?

Ich war sehr überrascht, als ich hörte, das sei strafrechtlich irrelevant. Also, wenn jemand schreibt, dass die Juden wieder ins Gas gehörten, ist das strafrechtlich unbedeutend.

Sie können dagegen also nichts machen?

Vor fünf Jahren habe ich Firewall eingestellt. Ich lese die E-Mails nicht mehr, denn das macht einen kaputt.

Finden die Übergriffe nur im Netz statt?

Unsere Mitglieder werden auf der Straße, Gott sei Dank, oft für Russen gehalten. Da kann es zu rassistischen Bemerkungen kommen, aber nicht zu antisemitischen.

Einmal traf es die einzige nichtjüdische Gemeindemitarbeiterin, Ilona. Ein betrunkener Rostocker brüllte sie in der Nähe der Synagoge an und beleidigte sie, weil er sie in seinem blinden Hass für eine Jüdin hielt. Die Stadtpolitik bemüht sich, den Ruf der Stadt als Nazihochburg in der öffentlichen Wahrnehmung wegzubekommen. Im August 1992 verübten Rechtsextreme in Rostock-Lichtenhagen einen Anschlag. Sie attackierten ein Asylbewerberheim in einem Plattenbau mit Molotowcocktails und versuchten das Gebäude zu stürmen. Als die Polizei klein beigab und die Menschen mit Bussen wegbrachte, gingen die Neonazis auf ein Haus los, in dem vietnamesische Vertragsarbeiter mit ihren Familien wohnten. Hunderte Rostocker Bürgerinnen und Bürger klatschten begeistert Applaus und ließen die Feuerwehr nicht zum Brandort vor. Diese Ereignisse haben die jüdische Gemeinde, die erst zwei Jahre danach gegründet wurde, nicht wirklich geprägt. Die meisten Mitglieder stammen aus der ehemaligen Sowjetunion und fürchten islamistischen Terror mehr als den rechtsextremen. Juri Rosov unterschätzt die Gefahr von rechts nicht. Das Hasspotential, das Lichtenhagen auch in der bürgerlichen Mitte offenbart hat, stimmt ihn nachdenklich, er mag sich gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn sich einmal der Hass gegen seine Gemeinde richten würde. «Ein bisschen Hoffnung haben wir noch, dass das jüdische Leben in Rostock eine Zukunft hat», sagt er. Junge Gemeindemitglieder verlassen jedoch die Stadt, seine eigene Tochter arbeitet als Lehrerin in Saarbrücken, der Sohn ist noch hier, aber Juri Rosov weiß nicht, wie lange noch. Alleingelassen fühlt er sich, der Mann, dem 2014, als Deutschland Weltmeister im Fußball wurde, Freudentränen über die Wangen liefen. «Ich bin absolut davon überzeugt, dass die Mehrheitsgesellschaft das Problem des Antisemitismus überhaupt nicht wichtig findet. Und die Politik soll nicht mit hohlen Worten immer zu beruhigen versuchen.» Am Ende, sagt Juri Rosov, wird keiner bestraft. Keiner richtig bestraft. Das gilt sogar für Fälle, die über die Medien großes Aufsehen erregt haben. Zum Schluss erzählt uns der Gemeindevorsitzende eine kleine Geschichte. Ein Postbote aus einem Dorf in der Nähe Rostocks schrieb ihm neulich einen Brief. Er trage beim Austragen der Briefe, für alle im Dorf sichtbar, eine Kippa, teilte er ihm mit, als Zeichen der Verbundenheit mit Juden. Auch das gibt es. Juri Rosov lächelt über die schöne Geste. Doch noch viel mehr brauchen Juden und Jüdinnen in diesem Land konkrete Taten. Auf unseren Reisen werden wir noch von so vielen Beispielen hören, dass man fast schon von einem kompletten Versagen von Polizei, Justiz und Politik sprechen könnte. Die Warnungen und Ängste jüdischer Gemeinden werden vernachlässigt, Sicherheitsvorkehrungen dauern ewig, das Gerangel über Zuständigkeiten in den Behörden verzögert das Eingreifen – kurzum, der Staat sorgt bei weitem nicht für einen ausreichenden Schutz jüdischen Lebens. Das hat nicht nur das Beispiel Halle gezeigt.

Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund nehmen in Deutschland deutlich zu. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums erreichte die Anzahl antisemitischer Straftaten in Deutschland im Jahr 2019 mit mehr als 2000 Delikten den höchsten Wert seit Beginn der statistischen Aufzeichnung vor zwanzig Jahren. Gegenüber 2018 betrug der Anstieg 13 Prozent. Neun von zehn Straftaten hatten einen rechtsextremistischen Hintergrund.[5] Viel ist heute die Rede davon, dass die Gesellschaft verroht. War sie das nicht schon früher, in den Nachkriegsjahren? Am 24. Dezember 1959, 14 Jahre nach dem Untergang Nazideutschlands, erlebte die jüdische Gemeinde in Köln einen Schock. In der Weihnachtsnacht beschmierten der Bäckergeselle Arnold Strunk und der kaufmännische Angestellte Paul Schönen die gerade erst eingeweihte Synagoge mit schwarzen Hakenkreuzen und einem weißen Schriftzug: «Deutsche fordern: Juden raus». Während seiner Vernehmung erklärte der 25-jährige Schönen: «Ich wollte dagegen protestieren, dass artfremde Einflüsse in der Bundesrepublik Oberhand gewinnen. Die Juden sollen nicht alle führenden Stellen in der Politik und Wirtschaft besetzen.» Außerdem gab er zu Protokoll, dass NS-Mahnmale die «im Dritten Reich vorhandenen positiven Seiten» ignorieren würden. Sein gleichaltriger Kumpel Strunk meinte, er habe «unmissverständlich auf die Judenfrage hinweisen wollen.» Beide Männer gehörten der rechtsextremen Deutschen Reichspartei an, die zwischen 1950 und 1965 existierte und später in der NPD aufgegangen ist. Es folgte eine bundesweite antisemitische Schmierwelle, in deren Verlauf Synagogen, Schulen, Friedhöfe, Litfaßsäulen und Kirchen mit Hakenkreuzen und judenfeindlichen Parolen geschändet wurden. Bis Mitte Februar 1960 wurden bundesweit 833 Fälle registriert. Bundeskanzler Adenauer riet den Polizisten: «Wenn Ihr irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und gebt ihm eine Tracht Prügel.» Auch Bundespräsident Heinrich Lübke bagatellisierte die Taten. Er könne sich nicht vorstellen, sagte er in seiner Rede am 3. Februar 1960, «dass solche Menschen, die in aller Heimlichkeit im Dunkel der Nacht ihre Schmutzereien an Gebäuden und Denkmalen anbringen, die anderen heilig sind, normal sein können.»[6]

Ein Jahr nach dem Attentat von Halle schlägt ein Rechtsextremer vor der Hamburger Synagoge Hohe Weide mit einem Spaten auf einen jüdischen Studenten ein und verletzt ihn schwer. Und wieder die Frage: Wie konnte das geschehen?

In der Neonazihochburg des Westens

Im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in Dortmund Mitte trainieren zehn junge Männer und eine Frau. Sie laufen im Kreis, ihre Fäuste schützend vor das Gesicht haltend. Wenn der Trainer ein Signal gibt, wechseln sie abrupt die Richtung. Das wiederholen sie mehrere Male, danach machen sie Liegestützen. Die Gesichter glänzen von Schweiß, die junge Frau hat einen feuerroten Kopf. «Trinkt, sonst kostet es weitere zehn Liegestützen!», ruft Trainer Maxim Kolbasner. Nur ein paar treiben offenbar regelmäßig Sport. Die anderen würde man an einem herbstlich kühlen Montagabend wie diesem eher in einem Multiplex-Kino vermuten, mit einer XXL-Popcorntüte in der Hand. Das ist das Besondere an Krav Maga, wie auf Hebräisch der Kontaktkampf heißt: Die körperliche Fitness ist nicht entscheidend, mitmachen darf jeder, der gesund, mindestens 18 Jahre alt ist und keinen Eintrag in seinem polizeilichen Führungszeugnis hat. Wer einen Kurs bucht, will nicht etwa sein Gewicht reduzieren. Er will Attacken abwehren können, selbst dann, wenn der Angreifer mit einem Messer oder gezogener Pistole auf ihn losgehen sollte. Die Selbstverteidigungsmethode entwickelte in den 1930er Jahren der slowakische Jude Imrich Lichtenfeld, ein erfolgreicher Boxer. Die antisemitische Gewalt verbreitete sich damals wie ein Lauffeuer, auch in seinem mit Hitlerdeutschland verbündeten Land. Um sich zu wehren, gründete Imi, wie seine Freunde ihn nannten, die erste jüdische Selbstverteidigungsgruppe. 1940 gelang ihm die Flucht aus der Slowakei, zwei Jahre später erreichte er Palästina. Seine Kampferfahrung aus den Straßenschlachten in Bratislava wurde gebraucht. Er bildete Mitglieder der Untergrundorganisationen Haganah und Palmach im Nahkampf aus, später, nach der Gründung des Staates Israel, Angehörige der Armee. In Deutschland bieten immer mehr jüdische Gemeinden ihren Mitgliedern Selbstverteidigungskurse an, ein untrügliches Zeichen dafür, wie unsicher sich Juden und Jüdinnen hierzulande fühlen. «Imi sah Krav Maga als sein Vermächtnis für das jüdische Volk an, als ein Instrument, mit dem es sich schützen kann, damit sich vergangene Ereignisse niemals wiederholen», sagte sein einstiger Schüler Yaron Lichtenstein, als er 2008 in Bratislava eine Gedenktafel für den Meister enthüllte. Als hätte Lichtenfeld es vorausgesehen: Die Gewalt gegen Juden nimmt auf fast der ganzen Welt zu. Die tödlichen Mordanschläge in Paris, Brüssel, Kopenhagen, Pittsburgh oder Halle verunsichern, viele Juden trauen sich in deutschen Städten nicht mehr mit einer Kippa auf die Straße. Nach der Shoah war Antisemitismus für viele Jahre offiziell geächtet. Das ist vorbei. In sozialen Netzwerken und Internetforen lebt, wem danach ist, ungestraft seinen Hass aus. Die großen Plattformen Facebook, Twitter und YouTube löschen zwar inzwischen immer wieder Accounts, die Hetze verbreiten, aber Rechtsextremisten finden andere Kommunikationswege, um neue Anhänger zu rekrutieren. Vor allem Telegram ist bei extremen Rechten sehr beliebt. Der Messenger-Dienst reguliert die Inhalte nur wenig, es lassen sich dort Gruppen gründen, bei denen Meldungen an hunderttausende Anhänger verschickt werden können. Die deutschsprachige rechtsextreme Verschwörungsgruppe QAnon hat dort zum Beispiel mehr als 120.000 Anhänger. Auch der Berliner Vegan-Koch Attila Hildmann, der sich während der Corona-Pandemie radikalisiert hat, ist auf dem Nachrichtendienst Telegram aktiv und verbreitet dort Verschwörungsmythen. Viele Rechtsextreme, die von YouTube verbannt worden sind, laden ihre Videos auf der Videoplattform BitChute – unter ihnen der österreichische Sprecher der Identitären, Martin Sellner.[7] Die online ausgelebte Wut führt in der analogen Welt zu realen Taten, über das Internet entfalten Gewalt und Terror ihre weltweite Wirkung. Auch der 27-jährige Radiotechniker Stephan B. aus Sachsen, der Angreifer auf die Synagoge in Halle, wollte möglichst viele Gleichgesinnte erreichen, kündigte seinen Anschlag online an und streamte ihn live. In den 30 Minuten, bis sein englischsprachiges Video gelöscht wurde, erreichte er über Telegram 15.600 Nutzer.