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Mehr als 75 Jahre nach Beginn des Holocaust reisen zwei Journalisten an die Orte, die vor dem Zweiten Weltkrieg Zentren des osteuropäischen Judentums waren. Sie wollen wissen, wie sich jüdisches Leben nach 1945 in sieben ehemals kommunistisch beherrschten Ländern im Osten Europas entwickelt hat.
Wurden Juden wieder in ihren Rechten anerkannt, ihr Eigentum restituiert und die Täter zur Rechenschaft gezogen? Verschwand der Antisemitismus oder wurde er verdrängt? Wie spielt sich jüdisches Leben heute ab in Krakau, Prag oder Budapest? Sie sprechen mit den letzten Überlebenden, mit Rabbinern, Gemeindevertretern, jüdischen Intellektuellen, Museumsgründern, Friedhofswärtern, mit den Heimkindern in Odessa und den Bewohnern von Altersheimen, sie erzählen von den Respekt und Bewunderung einflößenden Lebenserfahrungen im Strom der Regimewechsel, der Tauwetter und Repressionen, bis hin zur Auflösung der Sowjetunion und ihren Folgen. Für die jüdischen Gemeinden wird heute viel davon abhängen, ob die Länder Osteuropas bereit sind, der jüdischen Geschichte den ihr zustehenden Platz in den nationalen Erinnerungskulturen einzuräumen. Danach sieht es allerdings nicht aus. Manche glauben zwar an eine „Renaissance des Judentums“. Aber in das Europa des noch jungen 21. Jahrhunderts ist der Hass zurückgekehrt.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Eva Gruberová Helmut Zeller
Taxi am Shabbat
Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas
C.H.Beck
Die Länder Ostmitteleuropas sind von enormer Bedeutung für die Geschichte des Judentums: die meisten heute lebenden Juden haben ihre Wurzeln in dieser Region. Zwar wissen wir inzwischen viel über den Massenmord an den europäischen Juden, doch die Schicksale derer, die überlebt haben und in ihrer alten osteuropäischen Heimat blieben, sind uns fast unbekannt. Eva Gruberová und Helmut Zeller haben sich auf Spurensuche begeben, sie sind zu den Überlebenden und ihren Nachkommen gefahren und haben recherchiert, wie sich jüdisches Leben nach 1945 in sieben kommunistisch beherrschten Ländern im Osten Europas entwickelt hat. Erfuhren Sie Gerechtigkeit, wurden ihr Eigentum restituiert und die Täter zur Rechenschaft gezogen? Verschwand der Antisemitismus oder wurde er nur verdrängt? Wie spielt sich jüdisches Leben heute ab in den früheren Zentren des Judentums, in Krakau, Prag oder Budapest? Die «Unsichtbaren» gewinnen in vielen Gesprächen, in ihren Lebensgeschichten und Erzählungen für uns Konturen, sie dokumentieren eine wechselhafte, aber immer prekäre Existenz, die für uns schier unglaublich ist.
Eva Gruberová arbeitet als Buchautorin und freie Journalistin, darunter mehrere Jahre für das ZDF in Prag. Helmut Zeller ist Redakteur der Süddeutschen Zeitung und spezialisiert auf zeitgeschichtliche Themen; zuletzt erschien von ihm und Abba Naor in der Reihe Beck Paperback: Ich sang für die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst. München 2014. Eva Gruberová und Helmut Zeller verfassten gemeinsam: Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I. München ³2015 (Beck’sche Reihe).
Vorwort
Tschechien – «Ich hatte keine Ahnung, dass es irgendwo eine Synagoge gibt»
Prag, vielfach umkämpft
Der Angeklagte bittet um die Todesstrafe
Glanz und Trauer der Prager Judenstadt
1989: Wiedergeburt und Touristenattraktion
Vom Dissidenten zum Landesrabbiner
Die Kinder der Maiselgasse
«Ich bade im Judenhass», warnte einst Franz Kafka
Karlsbad: Vom Nehmen und Geben auf der Welt
«Unsere Familie war eine der reichsten in der Stadt»
Karlsbad und das jüdische Leben bis 1938
«Juden, hier sind noch Juden!»
Dreharbeiten in Theresienstadt
Nach 1945: Bloß kein Deutsch reden
Die Kommunisten kommen
Slowakei – «Hören Sie auf Gottes Stimme und helfen Sie uns in unserem tiefsten Unglück»
Ein Grab in Bratislava
In der Wohnstätte Davids
Bánovce nad Bebravou. Die letzte Jüdin von Bánovce
Die Wächterin über die Toten
Nachkriegszeit in der slowakischen Provinz
Ungarn – «Ich bin die Renaissance des Judentums»
Plötzlich bist du Jude
Befreit, aber nicht frei
Wie Geschichte umgeschrieben wird
Geschichtsstunde im Haus des Terrors
Der Horthy-Kult und seine sterblichen Überreste
Ein Rabbiner und seine Mission
Die Renaissance beginnt jetzt
Mit der Freiheit kam der Judenhass zurück
Rückkehr nach Budapest
Auf der Flucht vor den Pfeilkreuzlern
Die Philosophin und die Stadt
Ganz Europa steht auf dem Spiel
Der Wächter der Synagoge
Die Einsamkeit des Gábor Szilágyi
Polen – «Wir erinnern uns, aber wir schauen in die Zukunft»
Auf dem Weg nach Majdanek
Das Gespenst des Antisemitismus
Leere Seiten im Buch der Stadt
«Wir schauen in die Zukunft»
Erinnerung an eine jüdische Straße
Krakau, die Wiedergeburt des Judentums
Taxi am Shabbat
Die Schatten der Vergangenheit
Mit den Alten geht die Religion verloren
Gegenläufige Erinnerung in Europa
Abschied
Weißrussland – «In jedem Weißrussen steckt im Grunde ein Jude»
Tag des Gedenkens: Malyj Trostenez
Minsk, eine jüdische Stadt
Der Neubeginn
In der Suppenküche, dem Treffpunkt jüdischer Bedürftiger
«Sprechen Sie überhaupt Weißrussisch?»
«Jetzt können Sie nach Israel oder nach Amerika gehen»
Ein Besuch in Nowogrudok
Der Streit um die Bielski-Partisanen
Litauen – «Die hübschesten Mädchen sind schon weg»
Das Gedächtnis der Stadt
Lügen im Haus der Mörder
Wer die Wahrheit sagt, ist ein Verräter
«Alles, was war, das ist noch …»
Ein Jude ist wie ein Sechser im Lotto
Das Dreieck des Hasses
100 Kilogramm menschliche Knochen
Der Hüter der Katzen und Hunde
Vielleicht hat Putin seine Hände im Spiel
Juden sind auch nur Menschen
Das jüdische Kaunas
Tagebuch aus der Hölle
Die Farben einer Stadt: Vilnius
Ein Pelzmantel für eine Kuh
Verordnetes Vergessen
Verschüttetes Erbe
«Kapitän auf dem sinkenden Schiff»
Partisanin und Bibliothekarin
Ukraine – «Ich will die Kinder nicht nur für Odessa, sondern für die Welt retten»
Neuer Nationalismus in einer alten Stadt
Von Banderisten, Juden und Zhidobanderisten
«Jeder in der Stadt wusste es»
«Es gibt niemand, der die Tradition fortführen will.»
Kiew: Der lange Weg nach Babij Jar
Auf der Treppe eines Waisenhauses
«Über Babij Jar, da steht kein Denkmal»
Juden auf dem Majdan
Vom Komsomolchef zum Rabbiner
Wassilijs Lebensretterinnen
«Odessa trauert seinen Juden nach»
Die Kinder von Odessa
Bibliographie
Tschechien
Slowakei
Ungarn
Polen
Weißrussland
Litauen
Ukraine
Bildnachweis
Karte
«Für den Westen waren wir nach der politischen Wende unsichtbar, bestenfalls stellte man sich uns als tanzende Chassiden vor.» Der tschechische Landesrabbiner Karol Sidon, ein ehemaliger Dissident, kennt nur zu gut die Klischees und Vorurteile, die osteuropäischen Juden noch heute, ein Vierteljahrhundert nach der Wende, begegnen. Auf unseren Reisen nach Ungarn, Tschechien, Polen, Litauen, Weißrussland, in die Slowakei und die Ukraine wollten wir die Schicksale der Menschen in Erfahrung bringen, die den Holocaust überlebt hatten, nach ihrer Rückkehr aus den Lagern aber unerwünscht waren und erneut litten: Ihr Eigentum hatten sich andere angeeignet, von kommunistischen Regimen wurden sie verfolgt und zur Assimilation gezwungen. Vielerorts mussten Überlebende wieder um ihr Leben fürchten, allein in Polen kamen bei Pogromen nach 1945 etwa 1500 Juden ums Leben. Als Reaktion darauf änderten viele ihre Namen, wendeten sich vom Glauben ab, heirateten Nichtjuden und verschwiegen ihre jüdische Herkunft. Der Niedergang der kommunistischen Regime brachte eine Wende, doch die Rückbesinnung auf die eigene Tradition und Geschichte fällt schwer. Erst jetzt entdeckten viele junge Osteuropäer ihre jüdischen Wurzeln, so manchen stürzte das in eine Identitätskrise. Für den Rabbiner Karol Sidon liegt die Zukunft des Judentums in Osteuropa in der Orthodoxie. Dagegen spielen etwa in Krakau die halachischen Gebote keine so große Rolle mehr. Nichtjüdische Mitglieder sind willkommen, gerade auch in kleineren Städten mit ihren überalterten Gemeinden. Die Alten fahren mit dem Taxi vom Shabbat-Abendessen im Jüdischen Gemeindezentrum JCC – der Fußweg wäre unzumutbar – zu ihren Wohnungen am Stadtrand. Manche Beobachter sprechen von einem virtuellen Judentum, kritisieren auch die Kommerzialisierung des jüdischen Erbes. Aber hinter all dem «jüdischen Kitsch», der in Städten wie Prag oder Krakau angeboten wird, gibt es ein wirkliches jüdisches Leben. Wir haben den Aufbruch gesehen: in Krakau, Budapest, Prag, Kiew oder Odessa. Wird es aber so bleiben? Viele Junge sehen ihre Zukunft aus wirtschaftlichen Gründen und auch wegen der zunehmenden Judenfeindlichkeit eher in den USA oder in Israel. Von einer Renaissance des jüdischen Lebens, wie vielerorts behauptet, würden wir deshalb nur bedingt sprechen.
Unsere Reisen führten uns in eine durch den nationalsozialistischen Massenmord verloren gegangene Welt, das einstige Herzland der jüdischen Diaspora in Europa. 80 Prozent der heutigen Juden haben ihre Wurzeln in Ostmitteleuropa. Heute leben in den postkommunistischen Ländern nur noch ungefähr drei bis vier Prozent der weltweit insgesamt 14,2 Millionen Juden. Wie sehen sie sich, welche Zukunft erhoffen sie sich? Viel hängt davon ab, ob die jüdische Geschichte den ihr zustehenden Platz in den nationalen Erinnerungskulturen einnehmen wird. Danach sieht es nicht aus: In den postkommunistischen Staaten, die um ihre Selbstbestimmung und Identität ringen, erstarken nationalistische, fremdenfeindliche und antisemitische Bewegungen. Ein Opferstreit trübt den Blick auf die schmerzvolle Geschichte: Die ethnischen Mehrheitsgesellschaften stellen ihr Leid im 20. Jahrhundert über das der Juden, Diskussionen über die Kollaboration mit den Deutschen und die Beteiligung nicht weniger Ukrainer, Slowaken, Polen oder Ungarn am Holocaust lösen eine starke emotionale Abwehr aus. Wer hätte gedacht, dass 26 Jahre nach der wieder gewonnenen Freiheit ins slowakische Parlament eine rechtsextreme antisemitische Partei einzieht, oder dass der Westukrainer Stepan Bandera, dessen Organisation der Ukrainischen Nationalisten am Judenmord beteiligt war, zum Nationalhelden erklärt wird. Die hoch betagten Holocaust-Überlebenden im Altenheim Ohel David in Bratislava fragen sich ängstlich, ob es wieder einmal so weit ist? Erneut werden «die Juden» in einem Atemzug mit den kommunistischen Verbrechen genannt, womit man ihnen unterstellen will, sie selbst hätten Schuld am Holocaust gehabt. Seit den 1990er Jahren gibt es Versuche, den Genozid zu verharmlosen und zu relativieren. In das Europa des noch jungen 21. Jahrhunderts ist der Hass zurückgekehrt, im Westen gar mit tödlichen Anschlägen auf Juden. 2016 beklagte der Europarat einen schwelenden Antisemitismus, vor allem in osteuropäischen EU-Ländern. Doch Brüssel reagiert nicht. Diese Entwicklung gefährdet die viel beschworene demokratische Wertegemeinschaft in ihrem Kern. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Der Holocaust wurde von Deutschland geplant und systematisch ausgeführt. Osteuropa hat jedoch seine eigene mörderische Vergangenheit, der es sich stellen muss, fordert der Historiker Jan T. Gross. Deutschland hat dazu Jahrzehnte gebraucht. Ob das ohne Anstöße von außen geschehen wäre, ist fraglich.
Wir sprachen mit Holocaust-Überlebenden, Rabbinern, Vertretern der jüdischen Gemeinden, jüdischen Intellektuellen und Studenten, Arbeitern und Rentnern. Für uns als Journalisten stehen die einzelnen Menschen im Vordergrund, ihre Schicksale betten wir in die Mikrogeschichten der Regionen ein, in denen sie heute leben. All unseren Gesprächspartnern, die uns ihr Vertrauen schenkten, möchten wir an erster Stelle danken. Für Rat und Hilfe danken wir Dr. Júlia Vajda, Ágnes Böhm, Prof. Ágnes Heller und Stefan Hajdu (Budapest), Dr. Boris Zabarko (Kiew), Roman Schwarcman (Odessa), Pavel Rubín und Milan Augustín (Karlsbad), Birgit Matuscheck-Labitzke und Katalin Szegö (München) sowie Jana Šplíchalová (Prag). Für aufklärende Gespräche danken wir zwei ehemaligen Botschaftern in Weißrussland: Yosef Shagal (Israel) und Miroslav Mojžita (Slowakei). Wir danken dem IBB «Johannes Rau» Minsk für seine Unterstützung. Unser großer Dank gilt unserer Lektorin, Dr. Christine Zeile. Sie hat uns über alle Hindernisse hinweg begleitet und fachlich wie menschlich in bester Weise betreut. Dem Verlag C.H.Beck danken wir für die Aufnahme ins Programm, dem Programmleiter des Bereichs C.H.Beck Paperback, Dr. Sebastian Ullrich, für seine Unterstützung, ebenso Carola Samlowsky für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Danken möchten wir auch der Robert Bosch Stiftung (und dem Literarischen Colloquium in Berlin), die die Arbeit an diesem Buch im Rahmen des Programms «Grenzgänger» großzügig gefördert hat, ebenso der Stiftung die schwelle in Bremen und der Ursula Lachnit-Fixson Stiftung in Berlin.
«Ich hatte keine Ahnung, dass es irgendwo eine Synagoge gibt»
Der lange Weg von «zionistischen Provokateuren» zu respektierten jüdischen Gemeindemitgliedern
Jüdisches Rathaus in der Maiselgasse in Prag
Seit gut zwanzig Minuten bahnt sich die Tram 18 schon ihren Weg durch die verstopften Prager Straßen. Dann hält sie an der Haltestelle «Zentrales Militärkrankenhaus» im Villenviertel Střešovice. Im vierten Stock eines seitlich gelegenen Pavillons klebt an der Tür die Aufschrift «Abteilung für Kriegsveteranen». Eine alte Frau mit Brille und prüfendem Blick öffnet die Tür. «Miloš wartet schon», sagt sie. Ihr Lebensgefährte bekommt gerade seine tägliche Insulinspritze und scherzt gut gelaunt mit der jungen Krankenschwester. Miloš Kocman wirkt gebrechlich, aber sein Gedächtnis und seine geistige Frische sind beeindruckend. «Kennen Sie den Unterschied zwischen der Gestapo und dem kommunistischen Geheimdienst?», fragt der 91-Jährige und grinst erwartungsvoll. Die Antwort gibt er gleich selbst. «Die Gestapo wollte von den Menschen die Wahrheit wissen. Der kommunistische Geheimdienst zwang sie, auch das zuzugeben, was sie nicht getan hatten.» Miloš Kocman hat beides erfahren. Er war 21, als ihn zwei Gestapo-Männer an seinem Arbeitsplatz in der Prager Rüstungsfirma Avia verhafteten und in ihre Zentrale im Petschek-Palais brachten. In der berüchtigten Abteilung 400, dem Referat zur Bekämpfung des Kommunismus, band man ihm Hände und Füße zusammen. Sie wollten Namen. Die Schläge prasselten auf seinen Hintern. Der Schmerz war nicht auszuhalten. «Miloš Lederer!», schrie er. Er log nicht, allerdings war sein Freund zu diesem Zeitpunkt bereits tot. «Es ging darum, Zeit zu gewinnen. Verstehen Sie?»
Am 15. März 1939, kurz vor neun Uhr, rumpelten über die verschneiten Prager Straßen die ersten deutschen Panzer. Am Abend war die Stadt besetzt. Miloš Kocman, Sohn einer bitterarmen Familie, schloss sich kurz nach der Errichtung des «Protektorats» dem kommunistischen Widerstand an. Als Anführer einer fünfköpfigen Gruppe von jungen Gymnasiasten gab er die verbotene Parteizeitung «Rotes Recht» heraus. Am Morgen des 27. Mai 1942 griffen in der Nähe einer Straßenbahnhaltestelle im Prager Vorort Libeň zwei tschechoslowakische Fallschirmspringer den dunkelgrünen Mercedes des stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich an. Einige Tage später starb der SS-Obergruppenführer an den Folgen seiner Verletzungen. 1300 Menschen wurden in einem Racheakt ermordet, zwei tschechische Dörfer, Lidice und Ležáky, dem Erdboden gleichgemacht, die männlichen Dorfbewohner über 16 erschossen, Frauen und Kinder in die Konzentrationslager deportiert. Ein Jahr später wurde Miloš Kocman verhaftet. Neun Monate verbrachte der junge Kommunist im Prager Gefängnis Pankrác, bevor ihn die Gestapo in die Kleine Festung nach Theresienstadt verlegen ließ. Da er perfekt Deutsch sprach, arbeitete er in der SS-Kantine. Niemand ahnte, wer der junge Mann war, der die Offiziere bediente. «Wie kommen Sie darauf!», spielte er den Empörten, wenn man ihn fragte, ob seine Mutter etwa eine Jüdin sei. Ihr Mädchenname war Elsner, das klang verdächtig. Damals ahnte er nicht, dass er es ihr zu verdanken hatte, noch am Leben zu sein. Als Angestellte der Prager jüdischen Gemeinde hatte sie seinen Namen aus der Kartei entfernt. Ende 1944, nach mehreren Gestapo-Verhören und Gefängnissen, wurde Miloš Kocman in die Haftanstalt des Oberlandesgerichts nach Dresden überstellt. Die Anklage lautete auf Hochverrat. Er wäre hingerichtet worden – wenn auf Dresden in der Nacht auf den 15. Februar 1945 nicht alliierte Bomben gefallen wären. Im Feuerinferno gelang ihm die Flucht.
Miloš Kocman zeigt ein Plakat, mit dem er am 17.11.1989 gegen das Regime protestiert hatte.
Es duftete nach Flieder, als er am 9. Mai 1945 über das zerstörte Kopfsteinpflaster Prags ging. Um Geld zu verdienen, meldete er sich als Lehrer für das entvölkerte Grenzgebiet, studierte extern Jura und schaffte in nur drei Jahren das Staatsexamen. Mit der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 ging für ihn ein Lebenstraum in Erfüllung. Nach dem schrecklichen Krieg war der Sozialismus doch das Beste, was den Menschen passieren konnte, davon war er überzeugt. Seine Herkunft aus der Arbeiterklasse, die frühe Parteizugehörigkeit, sein Widerstand während des Protektorats machten aus ihm einen zuverlässigen Parteigenossen und katapultierten ihn direkt ins Zentrum des neuen Staatssicherheitsapparates. Er fing bei der Spionageabwehr an, wollte nach Nazi-Kollaborateuren suchen und sie vor Gericht bringen. Schon bald musste er aber feststellen, dass der Geheimdienst ganz andere Ziele verfolgte: «Man wollte sie enttarnen und für die Mitarbeit gewinnen.» Enttäuscht wechselte er in eine andere Abteilung, analysierte von nun an Verhörprotokolle und beriet Ermittler. Mit den Ausreden der Verhörten kannte er sich bestens aus, hatte er sie als Opfer in Gestapo-Verhören doch selbst verwendet. Mit Beginn des Kalten Krieges unterwanderten Nachrichtendienste in Ost und West ihre jeweiligen Gegner. Es gab Doppelagenten, im Land tummelten sich auch einige Ex-Nazis, angeheuert vom amerikanischen Geheimdienst. Miloš Kocman deckte ihre Netzwerke auf. «Gute Erkenntnisse lieferte uns damals die Aktion Grenzstein», erzählt er stolz von einer der umstrittensten Aktionen des frühen tschechoslowakischen Geheimdienstes. Getarnte Agenten boten Republikgegnern und Ausreisewilligen an, dass sie sie sicher über die grüne Grenze nach Westdeutschland bringen würden. An einer eigens erbauten Grenzanlage warteten auf sie englischsprachige Mitarbeiter der Staatssicherheit in Uniformen des US-Militärgeheimdienstes CIC. Die nichtsahnenden Flüchtlinge, die sich im Westen wähnten, erzählten bereitwillig über ihre Tätigkeit und gaben Kontaktpersonen preis. Erst vor einigen Jahren begann in Tschechien die historische Aufarbeitung der heimtückischen Aktion, die zwischen 1948 und 1951 Dutzende Menschen in kommunistische Gefängnisse gebracht hatte. Miloš Kocman findet daran nichts Verwerfliches. «Es waren Bewaffnete und Spione dabei, die uns schaden wollten», wehrt er sich beleidigt. Aber die Menschen wollten doch nur Freiheit? «Das waren nur wenige.» Miloš Kocman hatte das Leid der deutschen Okkupation selbst erfahren und kein Verständnis für Gegner der neuen Gesellschaftsordnung. Er wollte ein guter Kommunist sein. Sein Glaube an eine gerechte Gesellschaft ohne Klassenunterschiede war unerschütterlich. Erst spät merkte er, dass Kriegsgewinnler, Gauner und Bürokraten nur auf ihre Karriere aus waren.
Seit 1949 geriet der tschechoslowakische Geheimdienst zunehmend unter die Kontrolle des KGB. Die Agenten aus Moskau sollten «bourgeoise Elemente» und Tito-Anhänger entlarven und aus der Partei sowie Staatsämtern entfernen. Ins Fadenkreuz gerieten Kommunisten, die während des Krieges im Exil oder in den Lagern waren, sowie Juden in hohen Parteipositionen. Sie galten als Zionisten und Spione des Westens. Als wichtiges Instrument der sowjetischen Macht in den Satellitenstaaten erwiesen sich die Schauprozesse. In der Tschechoslowakei begannen die Verhaftungen 1950, kurz nach dem Prozess gegen den Außenminister László Rajk in Ungarn. Es verging kaum eine Woche ohne Festnahmen. Im Januar 1951 wurde der ehemalige Spanienkämpfer Osvald Závodský, Miloš Kocmans Vorgesetzter, verhaftet und drei Jahre später hingerichtet. «Die Atmosphäre, die Anfang 1951 in Prag herrschte, war beinahe so schlecht wie während des Krieges», schrieb in ihrem Buch «Eine Jüdin in Prag» die Auschwitz-Überlebende Heda Margolius-Károly. Ihr Mann Rudolf, Vize-Außenhandelsminister, war einer der 14 Parteifunktionäre, die im November 1952 auf der Anklagebank saßen. Bis auf drei waren alle Juden, was der Ankläger während des Prozesses mehrmals süffisant betonte. Als Kopf der angeblichen trotzkistisch-zionistischen Verschwörung galt der jüdische Generalsekretär der Partei, Rudolf Slánský. Die Angeklagten mussten vorgefertigte Texte, in denen sie sich selbst als Feinde bezichtigten, auswendig lernen. Den ganzen Prozess übertrug der Rundfunk. Er sei «ein Spion der amerikanischen Imperialisten» und «ein Agent des Zionismus», sagte Slánský über sich und bat den Richter um seinen Tod. Die perfide Propaganda zeigte Wirkung: Die öffentlichen Geständnisse täuschten sogar manche Familienangehörige der Angeklagten, die für die «Verräter» die Höchststrafe verlangten. Am 3. Dezember 1952 wurden elf der 14 Angeklagten gehängt, ihre Leichen verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verstreut. Es war der traurige Höhepunkt des stalinistischen und antisemitischen Terrors in einem einst demokratischen Land.
Vize-Außenminister Artur London kam mit dem Leben davon. Miloš Kocmans Lebensgefährtin Zuzka kannte ihn. Die Theresienstadt-Überlebende arbeitete damals in seinem Ministerium als Fremdsprachenkorrespondentin. Er riet ihr nach Slánskýs Verhaftung, sofort ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Sie hörte auf ihn. Die landesweite Verhaftungswelle traf auch Juden, die man als Zeugen missbrauchen wollte. «Wenn er über die Juden sprach, zitierte er aus einem Buch über die Rothschilds, sagte, dass wir Juden die Weltherrschaft anstreben würden. Als ich ihm entgegnete, dass die Gestapo und die SS früher genauso sprachen (…), schlug er mich in die Brust und schleuderte meinen Kopf gegen die Wand (…). Während der ganzen Zeit beschimpfte er mich als jüdisches Schwein», erzählte Adolf Reich 1963 der Untersuchungskommission des Tschechoslowakischen Innenministeriums über seinen Peiniger im Prager Pankrác-Gefängnis. Der jüdische Rentner aus der Slowakei saß dort von 1951 bis 1953 und sollte gegen Slánský aussagen, einen Mann, den er nicht kannte. Der Kampf gegen den Zionismus, womit die Juden gemeint waren, blieb mit Ausnahme der sechziger Jahre fester Bestandteil der kommunistischen Politik.
«Ich war damals nur ein kleiner Fisch.» So erklärt sich Miloš Kocman, warum man ihn in Ruhe ließ. Gleich nach der Ankunft der sowjetischen «Berater» wollte er die Spionageabwehr verlassen. Einige Kollegen begannen, hinter seinem Rücken seine jüdische Herkunft zu thematisieren. Anfang 1951 gelang es ihm, in die Zentrale Parteischule zu wechseln. Er blieb dort bis 1953, dem Jahr von Stalins Tod. Die jüdische Bevölkerung der Tschechoslowakei stand nach dem Slánský-Prozess unter Schock. Viele veränderten aus Angst ihre jüdisch klingenden Namen, kaum jemand traute sich noch, außerhalb der eigenen vier Wände über seine jüdische Identität zu sprechen. Der neue Wind kam ausgerechnet aus Moskau. Nach Chruschtschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU, in der er Stalins Verbrechen kritisierte, öffneten sich in allen Staaten des sowjetischen Einflussbereiches die Gefängnistore. Heraus kamen gebrochene, ausgemergelte Menschen, die meistens so krank waren, dass sie kurze Zeit später starben. Miloš Kocman absolvierte 1957 die Diplomatenschule und bekam eine Stelle in der juristischen Abteilung des Prager Außenministeriums. Die neue Führung suchte nach Kommunisten, die mit dem Stalinismus nichts zu tun hatten. Er zählte zu den wenigen Juden, die in der poststalinistischen Tschechoslowakei noch einen wichtigen Partei- oder Staatsposten bekleideten. An einen Austritt dachte er keine Sekunde. Er war überzeugt, dass die Partei aus ihren früheren Verfehlungen gelernt hatte. Mit seinem Glauben an ihre Reformfähigkeit stand er nicht allein. Viele bekannte tschechische und slowakische Intellektuelle, darunter spätere Wortführer des Prager Frühlings, Milan Kundera, Ladislav Mňačko oder Pavel Kohout, waren wie er Kommunisten. Den Prager Frühling erlebte der begeisterte Dubček-Anhänger Kocman als Diplomat in Peking. Als er von dessen Festnahme in Moskau erfuhr und im Fernsehen die verzweifelten Prager am Wenzelsplatz sah, regte sich in ihm der alte Widerstandsgeist. Mit bewegter Stimme erzählt der 91-Jährige, wie er und andere Diplomaten in China ihren eigenen «Prager Frühling» organisierten. «Wir verteilten in Botschaften der Länder des Warschauer Paktes Protestflugblätter, warben für die Reformen, forderten die Freilassung Dubčeks sowie den Abzug der Panzer aus Prag.» Die Parteirebellen wurden nach Prag zurückbeordert. 1970 schloss ihn die Partei aus, an deren Reformierbarkeit er trotz stalinistischer Verbrechen, Antisemitismus und Israelfeindlichkeit all die Jahre geglaubt hatte. «Ich war ein sozialistischer Narr», sagt Miloš Kocman rückblickend. An der Idee einer klassenlosen und gerechten Gesellschaft findet er dennoch nichts Negatives. Das unterscheidet ihn von vielen Tschechen, die früher stramm auf Parteilinie standen und nach der politischen Wende über Nacht glühende Antikommunisten geworden sind.
Zuzka erwacht aus ihrem Nickerchen und wirft ihm besorgte Blicke zu, weil er schon seit Stunden redet. Miloš Kocman zieht aus einem Dokumentenstapel ein Plakat heraus. Er steht auf und hält es stolz vor die Kamera. «Kampf für Freiheit, Demokratie, gegen die Totalität.» Damit nahm er am 17. November 1989 teil an der «Samtenen Revolution», jenem gewaltfreien Protest der Prager Studenten, der das Ende des totalitären Systems in der Tschechoslowakei einleitete. Er war damals 67 Jahre alt. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes, ärgert Miloš Kocman sich, herrsche in der Gesellschaft das Geschichtsbild von heldenhaften Tschechen und passiven jüdischen Opfern vor. Dabei kämpften allein in den tschechoslowakischen Exilarmeen an die 60.000 tschechische und slowakische Juden, viele waren wie er im kommunistischen oder bürgerlichen Widerstand. Im staatlichen Verband der antifaschistischen Kämpfer waren Juden aber nicht willkommen. «Wir sind nicht daran interessiert, Gruppierungen zu glorifizieren, die passiv in die Gaskammer gingen, ohne Widerstand zu leisten», hetzte der erste Verbandspräsident Jan Vodička.
Anfang der neunziger Jahre trat Miloš Kocman der jüdischen Gemeinde bei. Im Alter kommen die Erinnerungen an seine Kindheit zurück, an seine geliebte Großmutter, die in Treblinka vergast wurde. Als er einmal ausländischen Freunden das ehemalige jüdische Viertel zeigen wollte, rief er im Büro der Gemeinde an und bat um den besten Fremdenführer. So kam Zuzka in sein Leben. Beide waren verwitwet und wurden späte Lebensgefährten. Heute gehören sie zu den etwa 400 Holocaust-Überlebenden in der Tschechischen Republik. «Ich fühle mich als Jude», sagt ein Mann, dessen einzige Religion früher der Kommunismus war. Es seien vor allem die Kultur und die Ethik des Judentums, die ihm imponierten. «Ich war aber schon immer gern in der Gesellschaft von Menschen, die Ähnliches erlebten. Das hat mit Vertrauen zu tun.» Der 91-Jährige stockt und sucht nach den richtigen Worten, was es für ihn bedeutet, ein Jude zu sein. «Ich fand im Judentum mein Zuhause, das ich so lange suchte», sagt er dann und wischt sich die Tränen aus den Augen.
Der 72 Jahre alte Landesrabbiner Karol Sidon, ein humorvoller Mann mit Herz und Verstand, empfängt in seinem Büro im Jüdischen Rathaus. Sein Schreibtisch ist übersät von Papieren, dazwischen steht ein Aschenbecher. Nur in Prag, nirgendwo sonst in der Diaspora besaßen Juden ein eigenes Rathaus. In dem spätbarocken Gebäude in der Maiselgasse entschied einst der Ältestenrat über alle wichtigen Angelegenheiten der Judenstadt und sprach Recht. Durch das offene Fenster dringt Straßenlärm herein. Das Jüdische Rathaus liegt nicht weit weg von einer der Hauptsehenswürdigkeiten Prags, dem Alten jüdischen Friedhof. Zwölftausend verwitterte, schiefe und abgesunkene Grabsteine drängen sich dort zusammen und zeugen vom katastrophalen Platzmangel im mittelalterlichen Ghetto. Das berühmteste Grabmal ist das von Judah Löw ben Bezalel, besser bekannt als Rabbi Löw. Der Talmudgelehrte, ein Zeitgenosse Kaiser Rudolfs II., genoss schon zu seinen Lebzeiten hohes Ansehen. Richtig berühmt machte ihn aber erst eine Legende. Sie schrieb ihm die Erschaffung des Golems zu, jenes geheimnisvollen Riesen aus Ton und Lehm, der die Juden im Ghetto vor Pogromen schützte. Auch Rabbi Löw ist es zu verdanken, dass die rudolfinische Periode in die Geschichte Prags als das goldene Zeitalter von Wissenschaft, Kunst und Kultur einging. Unter der Regentschaft des kunstliebenden Habsburgers Rudolfs II., der 1576 den böhmischen Thron bestieg, erlebten die Prager Juden ihre beste Zeit. Ungefähr 7000 Menschen lebten damals im Ghetto, in dem Kultur und Gelehrsamkeit blühten. 1620, nach der Niederlage der protestantischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg, verlor das Königreich Böhmen seine Selbständigkeit und wurde für weitere 300 Jahre von Wien aus regiert. Die Prager Judenstadt entwickelte sich zum größten jüdischen Zentrum Europas, hatte eine autonome Stellung und verfügte über Sonderrechte auf religiösem Gebiet. Doch das blieb nicht so. Die Wiener Regentin Maria Theresia ließ alle Juden im Februar 1745 aus der Stadt vertreiben, weil sie glaubte, böhmische Juden trügen Schuld an ihrer Niederlage gegen die Preußen. Einige Monate später nahm sie ihre Anweisung zurück, der wirtschaftliche Schaden fiel durch die ausbleibenden Steuern doch zu hoch aus. Deutlich besser erging es den Juden unter ihrem Sohn Josef II. In Prag lebten damals 80.000 Einwohner, etwa ein Zehntel von ihnen im Ghetto. Zum ersten Mal seit ihrer Ansiedlung in böhmischen Ländern durften die Juden öffentliche Schulen und Universitäten besuchen, ein Handwerk erlernen und sich außerhalb des Ghettos niederlassen. Jeder, der es sich leisten konnte, zog aus. 1850 wurde das Viertel als fünfter Stadtteil an Prag angegliedert und zu Ehren Josefs II. in Josefov umbenannt. Der neue Stadtteil war ein schmutziges Labyrinth von ineinander verschachtelten Häusern, verborgenen Verbindungsgängen und engen Gassen. 1897 begann der Abbruch. 260 Gebäude fielen dem radikalen Eingriff zum Opfer, darunter drei Synagogen. Anstelle maroder Ghettohäuser entstanden prachtvolle Jugendstilbauten.
Heute ist Josefov eines der teuersten Wohnviertel Prags. Wenn die Sonne untergeht und Touristen weg sind, scheint in manchen Ecken und Gassen die Vergangenheit wieder aufzuleben. Glanz und Trauer sind hier auf engstem Raum ineinander verwoben. Sechs Synagogen, das Rathaus und der Alte Friedhof erinnern an die einstige europäische Bedeutung der tausend Jahre alten Diaspora, die 77.297 Namen der jüdischen Naziopfer aus Böhmen an den Wänden der Pinkas-Synagoge an ihren Untergang.
Rabbiner Karol Sidon schreibt Romane. Inwieweit er sich bei seinem neuesten Buch, das Elemente der jüdischen Mystik und der Science-Fiction-Literatur verschmilzt, von der Golem-Legende und der vielbeschworenen Magie des ehemaligen Judenviertels inspirieren ließ, ist nicht bekannt. Als Rabbiner lehnt er wie schon sein berühmter Vorgänger Rabbi Löw jeden Wunderglauben ab. Als er 1992, drei Jahre nach dem friedlichen Sturz des kommunistischen Regimes, den Posten des Oberrabbiners der Prager Gemeinde übernahm, bestand das eigentliche Wunder darin, dass es in der Stadt überhaupt noch Juden gab. Das Durchschnittsalter der etwa 800 Mitglieder lag bei 80 Jahren. Auf den ehemaligen Dissidenten, Schriftsteller und Weggefährten Václav Havels wartete viel Arbeit. Nach jahrzehntelanger sozialistischer Lethargie dürsteten die Tschechen nach neuen geistigen Impulsen. An den Grenzübergängen zu Bayern bildeten sich Autokolonnen, jeder wollte wissen, wie die Welt hinter dem Eisernen Vorhang aussah. Alles schien möglich: In der Prager Altstadt tanzten glatzköpfige Hare Krishna-Mönche, in Kneipen rauchten Studenten Marihuana und diskutierten über die neueste Literatur. Etwa 30.000 junge Amerikaner ließen sich in den neunziger Jahren in der tschechischen Metropole, dem «Paris des Ostens», nieder. Der frühere Regimegegner und Dramatiker Václav Havel wurde Staatspräsident, in der Burg empfing er die Rolling Stones, die Rocklegende Frank Zappa ernannte er zum Kulturattaché seines Landes. Auch das frühere Judenviertel erhob sich aus seiner Erstarrung. Die grauen Gebäude erhielten einen neuen Anstrich, Cafés, Restaurants und Buchläden öffneten. Gleich mehrere benannten sich nach Franz Kafka. Das blasse, schmale Gesicht des Schriftstellers starrt bis heute von Kaffeebechern jedes Souvenirladens. Auf Prager Straßen wimmelte es von Jugendlichen mit einer Davidkette um den Hals, was weniger mit ihrem Interesse am Judentum zu tun hatte als vielmehr mit dem Hype um die damals populärste Rockband Tschechiens, die nichtjüdische «Shalom». Touristen aus aller Welt kamen, darunter Juden aus Israel und den USA. Sie staunten über die mittelalterlichen Synagogen und fotografierten die Uhr mit hebräischem Zifferblatt auf dem Turm des Rathausgebäudes, meist ohne zu ahnen, dass hinter seinen Mauern ein authentisches jüdisches Leben erwachte. «Wir waren für sie unsichtbar, oder man stellte sich uns so vor», sagt Karol Sidon, hebt seine Arme hoch und macht einen tanzenden Chassiden nach.
Das wollte er ändern. Zehn Jahre nahm sich er sich dafür vor, danach wollte er gehen. Nach Israel, vielleicht. Aber wie schon manchen jüdischen Schriftsteller vor ihm, ließ ihn Prag nicht los. Er blieb, und in nunmehr zwei Jahrzehnten gelang es ihm, das Prager Judentum wiederzubeleben und zu neuem Selbstbewusstsein zu führen. Mit ihren rund 1600 registrierten Mitgliedern ist die Prager Gemeinde zwar nach wie vor winzig, dafür aber erstaunlich vital. Ihren Kern bildet heute die sogenannte zweite Generation, der Altersdurchschnitt sank auf 57 Jahre. Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als der orthodoxe Rabbi von Anfang an die Religion ins Zentrum der Erneuerung stellte und streng auf die Einhaltung der Halacha, des jüdischen religiösen Gesetzes, pochte. Nur halachische Juden dürfen Mitglieder der Prager Gemeinde sein, solche also, die von einer jüdischen Mutter abstammen oder zum orthodoxen Judentum konvertiert sind. Menschen, die jüdische Vorfahren haben, aber eine nichtjüdische Mutter, können außerordentliche Mitglieder werden. Sie dürfen jedoch weder wählen noch gewählt werden. In der überwiegend säkularen Gemeinde war damit Ärger programmiert. Viele können nicht verstehen, warum sie plötzlich keine Juden sein sollen, obwohl sie sich ihr ganzes Leben lang so fühlten und dafür Nachteile in Kauf nehmen mussten. Andere beschweren sich, dass der Rabbiner selbst «nur» ein Konvertit ist, der jetzt alle zur Orthodoxie zwinge, obwohl vor dem Zweiten Weltkrieg Prag doch das Zentrum des progressiven Judentums in Europa gewesen sei. «Die Situation war damals ganz anders», entgegnet Karol Sidon gelassen. In der Stadt habe es mehrere funktionierende Synagogen gegeben und Menschen mit verschiedenen Ansichten. Einige waren mehr reformorientiert, die anderen orthodox. «Sie waren aber alle Juden. Das ist heute anders.» Wenn man etwas richtig bauen wolle, müsse das Fundament stimmen. Sonst drohe seiner Gemeinde die vollständige Assimilierung, der Verlust des inneren Rückgrats, wie er es nennt. «Eine Lockerung der Regeln hätte zur Folge, dass wir in zehn, zwanzig Jahren keine Juden mehr in der Gemeinde hätten, sondern Tschechen, Mähren und Slowaken.» Karol Sidon macht sich nichts vor: Ein Leben wie in einer orthodoxen Kommunität in Israel oder in den USA wird es in Prag nie mehr geben, dafür ist die Gemeinde auch zu klein. Die meisten Mitglieder sind ältere, assimilierte Juden, die sich von anderen Tschechen kaum unterscheiden. Sie fahren am Shabbat Auto, essen unter der Woche in der Gemeindekantine brav die koscher zubereiteten Speisen, sonntags gibt es dann zu Hause den obligatorischen Schweinebraten. Der Rabbiner kennt die Mentalität seiner Leute, schließlich ist er hier aufgewachsen. «Wir achten auf die Regeln hier in der Gemeinde. Ich krieche niemandem in die Wohnung hinein, um zu kontrollieren, ob er zu Hause koschere Küche hat.»
Sein eigener Weg zum Judentum war nicht einfach. Als er 1942 in Prag zur Welt kam, war der Krieg noch im vollem Gange. Die Ermordung seines jüdischen Vaters 1944 in Theresienstadt verfolgt ihn, seitdem er denken kann. Nach dem Krieg heiratete seine nichtjüdische Mutter einen jüdischen Überlebenden. Ihre Tischgespräche kreisten meistens um die Vergangenheit, für die Religion interessierte sich niemand: «Ich hatte keine Ahnung, dass es irgendwo eine Synagoge gibt. Das Judentum existierte für mich nur im Zusammenhang mit der Shoa», sagt Karol Sidon. Von den 118.000 tschechischen Juden überlebten den Krieg nur 40.000, die meisten von ihnen in der Emigration. Eine große Auswanderungswelle setzte ein. 1948, nach der kommunistischen Machtübernahme, lebten auf tschechischem Gebiet etwa 15.000 Juden. Von den insgesamt neun jüdischen Gemeinden war die Prager mit 10.000 Mitgliedern die größte, bis 1950 schrumpfte die Zahl auf 3000 bis 4000. Trotz aller Repressionen gab es in der Tschechoslowakei während der gesamten sozialistischen Ära ein jüdisches Leben, wenn auch ein recht bescheidenes. Mit seiner vermeintlichen religiösen Toleranz prahlte der kommunistische Staat im Westen. Die Parteiideologen wussten, dass die Situation der Juden in der Tschechoslowakei genau beobachtet wurde. Die Gemeinden konnten arbeiten, jedoch nur unter ständiger Aufsicht der Staatlichen Behörde für Kirchenangelegenheiten, die beim Schul- und Aufklärungsministerium angesiedelt war. Sie hatten ihre eigene Presse, in manchen Großstädten konnte man legal koscheres Fleisch kaufen. Für die religiösen Zugeständnisse mussten die Gemeinden eng mit der Staatsbehörde kooperieren und absolut loyal sein. Sie waren chronisch unterfinanziert, es fehlte Geld für Friedhofs- und Gebäudesanierungen sowie für Geistliche, ohne die die rituellen Begräbnisse und Hochzeiten, Beschneidungen und Bar Mitzvas undenkbar waren. Jeder öffentliche Auftritt, jeder Programmentwurf, jedes Interview mit der ausländischen Presse wurde zensiert. In den Ordnern des Kirchenbeauftragten lagen Personalakten mit Informationen über Gemeindefunktionäre. Als verlässlich galt nur, wer Mitglied der Partei und Atheist war. Kontakte zu Israel, ganz zu schweigen von Emigrationsplänen, weckten Misstrauen und konnten Probleme in der Arbeit mit sich bringen. Jeder wusste, dass der Geheimdienst in den beiden funktionierenden Synagogen, der Jerusalemer und der Altneuen, seine Spitzel hatte. Die Juden sollten sich völlig an die tschechoslowakische Gesellschaft assimilieren.
Durch die öffentlich inszenierten Schauprozesse der spätstalinistischen Phase kehrte die Angst zurück. «Meine ältere Schwester bekam hysterische Anfälle, schrie, dass sie keine Jüdin sein wolle. Sie war es auch nicht, aber ihre Freundinnen hielten sie für eine», erzählt Karol Sidon. 1960 begann er sein Studium an der Prager Filmhochschule, arbeitete später als Dramaturg und schrieb Drehbücher fürs Staatsfernsehen. Dort kam er zum ersten Mal in Berührung mit der Zensur. In einem seiner Drehbücher stand das Wort «Jude», er musste die gesamte Szene umschreiben. Es fiel ihm auch auf, dass die Staatssicherheit viel öfter Juden als Nichtjuden beschattete. Dennoch war die zweite Hälfte der sechziger Jahre für ihn wie für Millionen Tschechen und Slowaken eine Zeit der Hoffnung. Der Wunsch nach mehr Freiheit wurde immer stärker. Die jüngere Generation der Parteifunktionäre forderte eine Korrektur des Regierungskurses und Reformen. Die Zensur in den Medien wurde schrittweise aufgehoben, auch Reisen ins westliche Ausland waren unter Auflagen wieder möglich. Das neue Lebensgefühl konnte man überall spüren. Die Jugend hörte Big-beat und las Kundera, Hrabal und Ginsberg, Fremde lächelten sich auf dem Weg in die Arbeit an. Die jüdischen Gemeinden knüpften Kontakte mit anderen im westlichen Ausland, von 1964 an erhielten Überlebende Unterstützung von der Claims Conference. Auch nichtjüdische Intellektuelle interessierten sich auf einmal für jüdische Themen. In den Kinos lief «Der Laden auf dem Korso», ein 1965 gedrehter, Oscar-prämierter tschechoslowakischer Film über den Holocaust und die bislang verschwiegene Kollaboration der Slowakei mit Hitlerdeutschland. Historiker und Zeitzeugen diskutierten vor vollen Auditorien über den Antisemitismus der frühen fünfziger Jahre. Die plötzliche Empathie für das jüdische Schicksal war Ausdruck des Protests gegen ein Regime, das alles Jüdische aus der Erinnerung verbannt hatte. Die Frage, warum die Tabuisierung des Holocaust in der Bevölkerung so lange auf so breite Zustimmung gestoßen war, stellte allerdings niemand.