Diagnostik in der ambulanten Psychotherapie - Sarah Schäfer - E-Book

Diagnostik in der ambulanten Psychotherapie E-Book

Sarah Schäfer

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Beschreibung

Eine fundierte störungs- und problemorientierte Diagnostik bildet die Grundlage evidenzbasierten psychotherapeutischen Handelns. Anhand von empirischen Befunden, Fallbeispielen und Praxisanleitungen vermittelt dieses Lehr- und Praxishandbuch Fachwissen und Methodenkompetenz zur Planung und Durchführung diagnostischer Methoden der ambulanten Psychotherapie. Neben störungsspezifischen Methoden und der detaillierten Darstellung des differenzialdiagnostischen Prozesses steht die praxisnahe Vermittlung integrativer, störungsübergreifender Methoden im Vordergrund. Das Buch richtet sich an Studierende klinischer bzw. psychotherapeutischer Masterstudiengänge sowie an Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (in Ausbildung).

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Seitenzahl: 344

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Die Autor:innen

Dr. Sarah K. Schäfer ist Psychologische Psychotherapeutin (VT) und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz.

Dr. Christian G. Schanz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes. Er absolviert eine Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten (VT).

Prof. (apl.) Dr. Monika Equit leitet die Psychotherapeutische Universitätsambulanz an der Universität des Saarlands und ist Psychologische Psychotherapeutin (VT) und Supervisorin.

Sarah K. Schäfer/Christian G. Schanz/Monika Equit

Diagnostik in der ambulanten Psychotherapie

Ein Lehr- und Praxishandbuch

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041194-4

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-041195-1

epub:        ISBN 978-3-17-041196-8

Inhalt

 

 

Einleitung

1   Vom Störungs- und Problemverständnis zur Diagnostik

1.1   Integratives Störungs- und Problemverständnis

1.2   Schulenspezifisches Störungs- und Problemverständnis

1.3   Problem-, lösungs- und störungsorientierte Perspektiven

2   Diagnostik im Therapieverlauf

2.1   Psychotherapeutische Sprechstunden

2.1.1   Diagnostische Fragestellungen in den Sprechstunden

2.1.2   Weitere Aufgaben in den Sprechstunden

2.2   Probatorische Sitzungen

2.2.1   Kategoriale Störungsdiagnostik

2.2.2   Die Verhaltensanalyse

2.2.3   Der Behandlungsplan

2.3   Diagnostik in der Behandlungsphase

3   Störungsübergreifende Diagnostik

3.1   Abklärung von Suizidalität

3.2   Analyse von Lebenskrisen

3.3   Lebenszielanalyse

3.3.1   Schritte der Lebenszielanalyse

3.3.2   Weitere Zugänge zur Lebenszielanalyse

3.4   Ressourcendiagnostik

3.4.1   Relevanz einer ressourcenorientierten Betrachtungsweise

3.4.2   Zugänge zur Ressourcendiagnostik

3.5   Analyse von Beziehungen

3.5.1   Dynamik in Paarbeziehungen

3.5.2   Analyse der Beziehungsdynamik

3.5.3   Analyse von Beziehungsmotiven

3.6   Erstellung des Modusmodells

3.7   Plananalyse

3.7.1   Aufbau von Plänen

3.7.2   Vorgehen bei der Plananalyse

3.8   Visualisierende Methoden im diagnostischen Prozess

3.8.1   Genogrammarbeit

3.8.2   Symbolische Darstellungen: Grafiken und Figuren

4   Störungsspezifische Diagnostik

4.1   Differenzialdiagnostik psychischer Störungen

4.1.1   Die Güte (halb-)strukturierter und unstrukturierter Interviewdiagnostik

4.1.2   Differenzialdiagnostik verschiedener psychischer Störungen

4.1.3   Abgrenzung psychischer Störungen von anderen Symptomursachen

4.2   Erfassung störungsspezifischer Informationen

4.2.1   Störungsspezifische Diagnostik bei unipolar-affektiven Störungen

4.2.2   Störungsspezifische Diagnostik bei Angststörungen

4.2.3   Störungsspezifische Diagnostik bei Zwangsstörungen

4.2.4   Störungsspezifische Diagnostik bei Posttraumatischer Belastungsstörung

4.2.5   Störungsspezifische Diagnostik bei Essstörungen

5   Diagnostik von Persönlichkeitsstilen und -störungen

5.1   Therapeutische Relevanz von Persönlichkeitsstilen und -störungen

5.2   Herausforderungen der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

5.3   Diagnostik spezifischer Persönlichkeitsstörungen

5.3.1   Die Paranoide Persönlichkeitsstörung

5.3.2   Die Schizoide Persönlichkeitsstörung

5.3.3   Die Schizotype Persönlichkeitsstörung

5.3.4   Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung

5.3.5   Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung

5.3.6   Die Histrionische Persönlichkeitsstörung

5.3.7   Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

5.3.8   Die Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

5.3.9   Die Dependente Persönlichkeitsstörung

5.3.10 Die Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung

5.4   Differenzialdiagnostik von Persönlichkeitsstörungen

5.4.1   Abgrenzung von Persönlichkeitsstörungen untereinander

5.4.2   Abgrenzung von Persönlichkeitsstörungen und anderen psychischen Störungen

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Übersicht Onlinematerialien

Onlinematerialen:

Dieses Lehr- und Praxishandbuch enthält Materialien für den Einstieg in die Diagnostik und Multiple-Choice-Fragen zu den verschiedenen Kapiteln zur Kontrolle des Lernfortschritts. Den Link zu den Onlinematerialien finden Sie in der Übersicht am Ende des Buches.

Einleitung

 

 

Ziel dieses Lehr- und Praxishandbuchs ist es, Student:innen klinisch-psychologischer bzw. psychotherapeutischer Masterstudiengänge und Psychotherapeut:innen (in Ausbildung) fundiertes und praxisnahes Wissen für die psychotherapeutische Diagnostik zur Verfügung zu stellen. Hierbei steht die Vermittlung direkt anwendbaren Wissens im Vordergrund, das anhand einer Vielzahl von Fallbeispielen und Formulierungshilfen illustriert wird. Empirisches Wissen und theoretische Rahmenmodelle werden dabei so aufbereitet und vorgestellt, dass sie evidenzbasiertes Handeln erlauben, ohne den Bezug zum Therapiealltag zu verlieren. Dieses Buch will vor allem eines, nämlich praktisch arbeitenden Psychotherapeut:innen (in Ausbildung) und Studierenden, die es werden wollen, nützlich sein.

Das Buch gliedert sich in fünf große Kapitel:

Kapitel 1 – Vom Störungs- und Problemverständnis zur Diagnostik: Ziel des ersten Abschnitts dieses Buchs ist es, ein Störungs- und Problemverständnis zu vermitteln, auf das die nachfolgenden Inhalte aufbauen können. Dieses Verständnis bildet die Grundlage, um die im Anschluss vorgestellten Methoden in ihrer Relevanz einzuschätzen und sie zielgerichtet einsetzen zu können.

Kapitel 2 – Diagnostik im Therapieverlauf: Dieser Teil des Buchs liefert Studierenden und Psychotherapeut:innen (in Ausbildung) einen Leitfaden für den Einstieg in ihre praktische Tätigkeit, indem er den diagnostischen Prozess phasenspezifisch strukturiert und assoziierte Methoden zur Informationserfassung erläutert.

Kapitel 3 – Störungsübergreifende Diagnostik: In diesem Kapitel werden störungs- und schulenübergreifende diagnostische Techniken vermittelt, die ein fundiertes problemorientiertes Verständnis von Entstehungs- und aufrechterhaltenden Bedingungen der vorliegenden Symptomatik ermöglichen. Diese Techniken können, mit unterschiedlichem Schwerpunkt, bei allen psychischen Störungen Anwendung finden.

Kapitel 4 – Störungsspezifische Diagnostik: Kapitel 4 widmet sich der Diagnostik bei zentralen psychischen Erkrankungen in der ambulanten Psychotherapie (u. a. bei affektiven Störungen, Angststörungen, Essstörungen). Nach einer ausführlichen Darstellung der Differenzialdiagnostik befasst sich der zweite Abschnitt dieses Kapitels mit der Erfassung behandlungsrelevanter Informationen für diese Störungsbilder.

Kapitel 5 – Diagnostik von Persönlichkeitsstilen und -störungen: Im 5. Kapitel dieses Buchs wird auf Basis empirischer Befunde und zweier Dritte–Welle–Verfahren (Schematherapie und Klärungsorientierte Psychotherapie) zunächst ein aktuelles Verständnis spezifischer Persönlichkeitsstörungen vermittelt, ehe sich dieser Abschnitt der Differenzialdiagnostik von Persönlichkeitsstörungen zuwendet

Wir hoffen sehr, dass die Leser:innen in diesem Buch hilfreiche Informationen finden werden, die ihre (beginnende) psychotherapeutische Arbeit bereichern. Ergänzend werden den Leser:innen Online-Materialien zur Verfügung gestellt, die zum einen Multiple-Choice-Fragen zur Überprüfung des Lernfortschritts und zum anderen Materialien für den Einstieg in die diagnostische Arbeit enthalten.

Saarbrücken, Januar 2022

Sarah K. Schäfer

Christian G. Schanz

Monika Equit

1          Vom Störungs- und Problemverständnis zur Diagnostik

 

 

Zusammenfassung

Die psychotherapeutischen Richtlinienverfahren – Psychodynamische Therapien, Systemische Therapie und Kognitive Verhaltenstherapie – verstehen psychische Störungen als (Resultat dysfunktionaler) Adaptationsversuche, vor dem Hintergrund der Wechselwirkung bio-psycho-sozialer Vulnerabilitäts-, Resilienz- und Stressfaktoren. Entsprechend steht die Erfassung folgender Variablen im Fokus der psychotherapeutischen Diagnostik:

•  prädisponierende und auslösende Faktoren (≈ problemorientierte Perspektive)

•  aufrechterhaltende Faktoren, inklusive der Abbildung von Ressourcen und Veränderungsmöglichkeiten (≈ lösungsorientierte Perspektive)

•  kategoriale und dimensionale Erfassung der Symptomatik sowie die Erfassung störungsimmanenter Variablen (≈ störungsorientierte Perspektive)

Neben diesen Aspekten, die mit unterschiedlichen Gewichtungen von allen Richtlinienverfahren geteilt werden, zeichnen sich die Richtlinienverfahren zusätzlich durch schulenspezifische, diagnostische Schwerpunkte aus:

•  Psychodynamische Therapien: Wesentliche Ziele psychodynamischer Diagnostik sind die Feststellung des Strukturniveaus, die Identifikation des Aktual- bzw. Grundkonflikts und das Erkennen von Abwehrmechanismen. Der Königsweg der Diagnostik führt über die Analyse des Beziehungsgeschehens in der therapeutischen Situation.

•  Systemische Therapie: Wesentliche Ziele systemischer Diagnostik sind die Analyse des Familiensystems hinsichtlich Grenzen, Hierarchien und Regeln sowie (zirkulärer) Wechselwirkungen im Interaktionsverhalten der Systemmitglieder. Zentrales Element des Therapierationals ist die Durchbrechung der Problemtrance und die Erweiterung des Möglichkeitsraums.

•  Kognitive Verhaltenstherapie: Wesentliche Ziele verhaltenstherapeutischer Diagnostik sind die Identifikation der selbstregulativen Elemente des Symptomgeschehens sowie die Analyse dysfunktionaler Erlebens- und Verhaltensmuster. Psychotherapie wird als Prozess des Umlernens und des Anstoßens korrigierender Erfahrungen verstanden.

Ziel dieses ersten Kapitels, ist die Vermittlung des notwendigen Grundwissens, zum Verständnis und zur Anwendung der in den nachfolgenden Abschnitten vorgestellten Methoden.

Die Ziele klinischer Diagnostik liegen in der Erfassung, Auswertung und Interpretation aller Informationen, die für Beschreibung, Verständnis, Prognose und Veränderung psychopathologischen Erlebens und Verhaltens erforderlich sind. Welche Informationen für die Bewältigung dieser Aufgaben als relevant erachtet werden, hängt vom zugrundeliegenden Störungs- und Problemverständnis ab. Daher widmet sich dieser erste Teil des Buchs, der Vermittlung des basalen Störungs- und Problemverständnisses der psychologischen Psychotherapie.

1.1       Integratives Störungs- und Problemverständnis

In der psychologischen Psychotherapie ist vor allem die Schulenzugehörigkeit für das jeweilige Störungs- und Problemverständnis ausschlaggebend. Erfreulicherweise zeigen die Richtlinienverfahren [Psychodynamische Therapien (d. h. Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie), Systemische Therapie und Kognitive Verhaltenstherapie] sowie die meisten anderen Therapieschulen eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten bezüglich eines großen Teils der Grundannahmen über das menschliche Erleben und Verhalten. Spezifische Gewichtungen unterscheiden sich jedoch je nach Schulenzugehörigkeit.

Passung zwischen Kind und Umwelt. Wir kommen nicht als Tabula rasa (unbeschriebenes Blatt) zur Welt, sondern mit dem Erbgut unserer Vorfahren. Diese Grundausstattung ist (außer bei eineiigen Zwillingen) bei jedem Menschen einzigartig und beeinflusst vom ersten Moment an die Interaktionen zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Wesentlich für die mehr oder minder funktionalen bzw. dysfunktionalen Entwicklungen eines Kindes und seiner Umwelt ist dabei die Passung ebendieser zueinander – d. h., können Anforderungen der einen Seite durch Reaktionen der anderen Seite erfüllt werden (Hipson & Séguin, 2017)? So führt beispielsweise ein stärkeres ›emotional coaching‹ (d. h. Eltern gehen achtsam auf die Emotionen des Kindes ein und begegnen auch negativen Emotionen wertschätzend und tolerant) bei Kindern mit geringen regulativen Fertigkeiten im Längsschnitt zu mehr prosozialen Kompetenzen, während es bei Kindern mit guten regulativen Fertigkeiten im Längsschnitt mit größerer Ängstlichkeit assoziiert ist (Lagacé-Séguin & Coplan, 2005).

Neurobiologische Grundlage. Unser Bewusstsein sowie alle unbewussten Prozesse basieren auf elektrischen und biochemischen Vorgängen in unserem zentralen Nervensystem (Delacour, 1997). Eine Dichotomisierung zwischen ›Psyche‹ (Seele) und ›Soma‹ (Leib) ist dabei eine künstliche, wenn auch sehr hilfreiche, Vereinfachung unseres Verständnisses der Funktionsweise unseres Organismus. Für das Verständnis aller psychischen Störungen und ihrer Entwicklungsbedingungen müssen neurobiologische Prozesse mitgedacht werden.

Grundbedürfnisse. Der Wunsch nach der Befriedigung von Grundbedürfnissen ist die basale motivierende Kraft menschlichen Verhaltens. Die in der (deutschsprachigen) klinischen Psychologie am meisten rezipierte Konzeption der Grundbedürfnisse stammt von Grawe (2004). Demnach strebt der Mensch nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung, Bindung, Orientierung und Kontrolle sowie Steigerung bzw. Erhalt des Selbstwerts. Ähnliche Konzeptionen finden sich u. a. bei Young, Klosko und Weishaar (2003) sowie Ryan und Deci (2017). Lustgewinn/Unlustvermeidung kann dabei den anderen Grundbedürfnissen übergeordnet werden, da die Befriedigung bzw. Nicht-Befriedigung der Bedürfnisse nach Bindung, Orientierung und Kontrolle sowie Selbstwert ihrerseits zu Lust- bzw. Unlusterleben führen. Unser Wunsch nach Befriedigung unserer Grundbedürfnisse drückt sich insbesondere in Form assoziierter Beziehungsmotive aus, d. h. anhand der grundlegenden Ziele, die wir im sozialen Kontakt verfolgen ( Tab. 1.1; Sachse, 2012).

Bindungs- und entwicklungspsychologische Perspektive. Die ersten Lebensjahre des Menschen sind prägend für die sozioemotionale und kognitive Entwicklung. Hier wird das Fundament späteren Erlebens und Verhaltens gelegt. Die Entwicklung eines sicheren (oder zumindest ›organisierten‹) Bindungsstils und eines gesunden Explorationsverhaltens gehören zu den am besten gesicherten protektiven Faktoren im Hinblick auf spätere Psychopathologie (Mikulincer & Shaver, 2012). Insbesondere zwischen der (dritten Welle der) kognitiven Verhaltenstherapie und den psychodynamischen Therapien besteht (trotz des unterschiedlichen Vokabulars, z. B. dysfunktionale Schemata vs. Grundkonflikte) Einigkeit darüber, dass Erfahrungen aus diesen frühen Entwicklungsphasen die ›Themen‹ bzw. ›Sollbruchstellen‹ späterer Psychopathologie bestimmen (Busch et al., 1991; Kempke & Luyten, 2007; Luyten, Blatt, & Fonagy, 2013).

Gemäßigter Konstruktivismus. Menschen nehmen sich selbst, andere und die Welt nicht objektiv wahr. Wahrnehmung ist per se ein schöpferischer Prozess, bei dem Umweltreize durch das zentrale Nervensystem in eine idiosynkratrische Realität übersetzt werden (Mahoney & Granovold, 2005). Diese subjektive Weltwahrnehmung hat erheblichen Einfluss auf interpersonelles Handeln und damit auch den psychotherapeutischen Prozess, denn hier sind (eigentlich) nie ›harte Daten‹ (z. B. auf dem Konto sind 1337,93 Euro), sondern stets die idiosynkratrische Bedeutung (z. B. »Was bedeutet es für mich, dass auf dem Konto 1337,93 Euro sind?«) relevant. Dieses Phänomen wird insbesondere in der Auseinandersetzung mit Paarkonflikten und den dabei zu Tage tretenden divergierenden Wahrnehmungen und Interpretationen der einzelnen Beteiligten deutlich (Greenberg & Goldman, 2010).

Der Mensch als soziales Wesen. Erleben und Verhalten eines Menschen kann nur vor dem Hintergrund seiner sozialen Realität verstanden werden, denn der Mensch ist evolutionsbiologisch darauf ausgelegt, in soziale Gruppen eingebunden zu sein (Brewer & Caporael, 2006). Daher sind Säuglinge von Geburt an darauf ausgerichtet, mit ihrer Umwelt in sozialen Kontakt zu treten und bei ihrem Umfeld fürsorgliches Verhalten auszulösen (z. B. Kindchen-Schema, Greifreflexe usw.). Über die Kindheit und Adoleszenz hinweg sieht sich der Heranwachsende mit sozialen Entwicklungsaufgaben (u. a. Entwicklung eines Identitätsgefühls, Aufbau eines Freundeskreises, Sammeln erster sexueller Erfahrungen usw.) konfrontiert, die maßgeblich beeinflussen, welche soziale Rolle eine Person im Erwachsenenalter einnimmt (Thyen & Konrad, 2018). Auch wenn sich Entwicklungsschritte im frühen und mittleren Erwachsenenalter verlangsamen, bleiben sie vor allem von sozialen Themen geprägt (z. B. soziales Mit- und Nebeneinander in Beruf und Freizeit, Gründung einer Familie, Versorgung von älter werdenden Angehörigen). Die zentrale Rolle sozialer Themen setzt sich bis ins hohe Erwachsenenalter fort (z. B. Wechsel der sozialen Rolle vom Versorgenden zum Versorgten, vermehrte Konfrontation mit Todesfällen im sozialen Umfeld, Regelung des eigenen Nachlasses; Lang, Martin, & Pinquart, 2011).

Tab. 1.1: Grundbedürfnisse nach Grawe (2004) und Beziehungsmotive nach Sachse et al. (2012)

Übergeordnetes StrebenGrundbedürfnisseBeziehungsmotivKindliche Beziehungserfahrungen, die das Bedürfnis befriedigen

Diese geteilten Grundannahmen münden im Störungsverständnis von biopsychosozialen (von Uexküll & Wesiack, 1988) und Vulnerabilitäts-Stress-Modellen (Wittchen & Hoyer, 2011). Das biopsychosoziale Modell geht davon aus, dass ein vollständiges Störungsverständnis nur unter Berücksichtigung sowohl biologischer (z. B. Neurotransmitterhaushalt, genetische Grundlagen), psychologischer (z. B. Werte, Grundannahmen) als auch sozialer Faktoren (z. B. Familiensystem, sozioökonomischer Status) möglich ist. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell erweitert die Perspektive des biopsychosozialen Modells um zeitliche Aspekte sowie um die Interaktion von Stressoren und Coping-Versuchen. Grundlegende Annahme ist, dass Menschen sich hinsichtlich ihrer Vulnerabilität (d. h. ihrer Verletzlichkeit) für spezifische Stressoren unterscheiden. Für das Ausmaß der individuellen Vulnerabilität sind biopsychosoziale Faktoren verantwortlich. Stressereignisse unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Frequenz (z. B. täglicher Stress auf der Arbeit vs. Vorstellungsgespräch), Dauer (z. B. Überfall vs. Kriegserleben), Intensität (z. B. grippaler Infekt vs. Krebserkrankung) und Qualität (z. B. Beziehungskonflikt vs. Arbeitsbelastung). Menschen verfügen über Ressourcen, die den Umgang mit Stressoren modulieren können (z. B. soziale Unterstützung, Emotionsregulationsstrategien) und so einen mehr oder weniger erfolgreichen Coping-Prozess erlauben. Wenn Coping-Mechanismen versagen, kommt es zur Symptombildung (alternativ können Symptome auch als Coping-Versuch verstanden werden).

Frau V. (63 Jahre, Friseurmeisterin) wurde als viertes Kind ihrer Eltern geboren. Sie berichtet, dass sie, nachdem ihr Vater die Familie früh verlassen habe, als »Problemkind« zunächst zu ihren Großeltern und später in ein Heim »abgeschoben« worden sei (primär deprivierte Beziehungsmotive Solidarität, Verlässlichkeit). Erst im Erwachsenenalter wurde, im Zuge eines psychiatrischen Aufenthalts, eine Hyperkinetische Störung diagnostiziert (Dysfunktion im dopaminergen System), damals hätte aber niemand gewusst, was mit ihr los gewesen sei, und niemand hätte adäquat auf ihre Symptome reagiert (mangelnde Passung zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den Reaktionen der Umwelt). Im Heim habe sie viel Unverständnis, Zurückweisung und Gewalt erfahren (vernachlässigende und missbrauchende Kindheitserfahrungen, depriviertes Beziehungsmotiv Territorialität). In der Folge war die subjektive Perspektive von Frau V. auf sich selbst (u. a. »ich bin nicht in Ordnung«) und die Anderen (u. a. »die Anderen sind nicht vertrauenswürdig«) früh von dysfunktionalen Verzerrungen geprägt, welche sich später in einem emotional-instabilen Persönlichkeitsstil niederschlugen.

Auf Basis dieses Grundverständnisses ist es für die psychotherapeutische Diagnostik wichtig, folgende (nicht distinkte) Faktoren zu berücksichtigen:

•  Genetische und biologische Einflüsse (z. B. Temperament, körperliche Grunderkrankungen, medizinische Krankheitsfaktoren)

•  Funktionalität der Zielsetzungen und Verhaltensstrategien, mit denen eine Person versucht, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen (z. B. Konfligiert das Ziel, eine Professur anzustreben, möglicherweise mit dem Rollenmodell, Hausmann und Vater sein zu wollen?)

•  (Beziehungs-)Erfahrungen in Kindheit und Jugend sowie deren Einfluss auf Beziehungsdynamiken im Erwachsenenalter (z. B. Für welche Verhaltensweisen haben die Betroffenen in ihrer Kindheit Aufmerksamkeit erfahren? Für welche Verhaltensweisen Strafe oder Missachtung?)

•  Subjektives Selbst- und Weltverständnis, mit den dazugehörigen Grundannahmen und Schemata (z. B. Welche Werte sind der betroffenen Person wichtig? Wie nimmt die betroffene Person sich selbst und ihre Rolle in der Welt wahr?)

•  Soziales Beziehungsgefüge, vor dessen Hintergrund die Problematik bzw. Symptomatik entstanden ist und aktuell auftritt (z. B. Wie werden Freundschaften, Paarbeziehungen und Arbeitsverhältnisse gelebt?)

•  Stressreiche Lebensereignisse (z. B. Arbeitsplatzwechsel, Traumata, Umzüge)

•  Coping-Strategien (z. B. Ressourcen, bisherige Bewältigungsversuche, soziale Unterstützung)

1.2       Schulenspezifisches Störungs- und Problemverständnis

Neben diesen allgemeinen, (beinahe) konsensfähigen Annahmen zum Störungs- und Problemverständnis, gilt es die schulenspezifischen Informationen zu erfassen, die für die Anwendung spezifischer Therapietechniken erforderlich sind. Ausführliche Informationen zu Theorien der Störungsgenese in den Richtlinienverfahren finden sich an anderer Stelle (Boll-Klatt & Kohrs, 2013; Brakemeier & Jacobi, 2017; von Schlippe & Schweitzer, 2013). Zusammengefasst sind folgende Schwerpunkte (jenseits der zuvor beschriebenen Gemeinsamkeiten) für die Richtlinienverfahren relevant:

Kognitive Verhaltenstherapie (Schneider & Margraf, 2018). Die Kognitive Verhaltenstherapie hat ihren Ursprung im Behaviorismus und basiert im Kern auf Lerntheorien zur klassischen Konditionierung (Erlernen einfacher Reiz-Reaktion-Verknüpfungen), zur operanten Konditionierung (Erlernen von Reaktionen auf diskriminative Hinweisreize in Abhängigkeit spezifischer Konsequenzen, d. h. Verstärkung und Bestrafung) und zum sozialen Lernen (Welches Verhalten hat sich für andere bewährt?). Mit der kognitiven Wende rückten darüber hinaus überdauernde kognitive Stile, Einstellungen und Schemata in den Fokus der kognitiven Verhaltenstherapie. Diese kognitiven Stile, Einstellungen und Schemata sind das Resultat der Summe einzelner Lernerfahrungen, die in ein kognitives Netzwerk integriert werden (Was kann ich auf Basis meiner bisherigen Erfahrungen von der Zukunft erwarten?). Es wird angenommen, dass diese überdauernden kognitiven Elemente die Aufmerksamkeitslenkung und die Interpretation von Informationen (in sozialen Situationen) beeinflussen. Kognitive Schemata werden dabei durch Hinweisreize (engl. ›Trigger‹) aktiviert. Die initiale Bewertung von Situationen erfolgt ›automatisch‹ (d. h. über schnell ablaufende, implizite bzw. unbewusste kognitive Prozesse) und es erfordert Selbstregulation, diese automatischen Schlussfolgerungen zu korrigieren bzw. anzupassen. Da die Grundlagen psychischer Störungen, im Verständnis der kognitiven Verhaltenstherapie, durch Lernprozesse erworben wurden, besteht ein zentrales Ziel der Therapie im Anstoßen neuer Lernprozesse durch korrigierende Erfahrungen. Mit der dritten Welle (der ›emotionalen‹ Wende) der kognitiven Verhaltenstherapie rückten neben verhaltensbezogenen und kognitiven Methoden auch erlebnisorientierte Techniken in das Zentrum von Theorie und Praxis (Heidenreich & Michalak, 2013). Diagnostische Schwerpunkte in der kognitiven Verhaltenstherapie liegen folglich:

•  In der Mikroanalyse von Situationen – in der festgestellt werden soll, welche Stimuli aufgrund welcher (automatischen) kognitiven, emotionalen und physiologischen Reaktionen, zu welcher willkürmotorischen Reaktion führen und inwiefern dieses Verhaltensmuster durch seine Konsequenzen aufrechterhalten wird.

•  In der Makroanalyse – in der festgestellt werden soll, welche überdauernden Schemata, kognitiven Einstellungen, Skripte usw. die (automatischen) Kognitionen, Emotionen und physiologischen Reaktionen bedingen und so das (willkürmotorische) Verhalten lenken.

Psychodynamische Psychotherapien (Rudolf, 2018). Die moderne psychodynamische Psychotherapie entwickelte sich in vier Phasen von der Triebtheorie, über die Ich-Psychologie und die Objekttheorie zur Selbstpsychologie. Den psychodynamischen Verfahren liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich in den ersten Lebensjahren des Menschen die Struktur des psychischen Apparates herausbildet, die vier Kategorien umfasst: Wahrnehmung (z. B. Affektdifferenzierung, Selbst-Objekt-Differenzierung), Steuerung (z. B. Impulssteuerung, Interessensausgleich), Kommunikation (z. B. Mitteilung von Affekten, Reziprozität) und Bindung (z. B. Introjekte nutzen, Beziehungen aufnehmen und beenden können). Eine geringe Ausbildung der strukturellen Fähigkeiten ist primär Folge eines Mangels an förderlichen Beziehungen in der frühen Kindheit (z. B. gespiegelt werden, beruhigt werden bei unlustvoller Erfahrung). Im Laufe der Entwicklung ist das Kind mit zentralen Entwicklungsaufgaben konfrontiert, die – unzureichend bewältigt – zur mangelnden Bewältigung von Grundkonflikten führen können. Zentrale Themen der Grundkonflikte sind: Nähe (Es gibt mich, es gibt ein Objekt und wir haben eine kommunikative Beziehung.), Bindung (Ich habe eine sichere Basis, die mich liebt, wie ich bin.), Autonomie (Ich kann in Beziehung wirksam sein und kann mich zur Exploration vorübergehend von meiner sicheren Basis entfernen.), Identität (Ich habe eine zu mir passende Rolle in einem sozialen Netzwerk.). Grundkonflikte können durch spätere Beziehungserfahrungen, die ähnliche Themen anstoßen, reaktiviert werden. Während der zentrale Grundkonflikt (vereinfacht gesagt) das ›Thema‹ einer Störung bestimmt (z. B. ›drehen‹ sich Angsterkrankungen um die Themen Autonomie, Orientierung und Kontrolle), ist die Struktur (vereinfacht gesagt) zentral dafür, ob Konflikte intra- oder extrapsychisch ausgetragen werden und wie reif oder unreif Konfliktthemen bewältigt werden (zentrales Element hierfür sind die Abwehrmechanismen). Diagnostische Schwerpunkte in den psychodynamischen Theorien liegen folglich (Arbeitskreis OPD, 2006; Vaillant, 1992):

•  auf der Aufdeckung des zentralen Grundkonflikts (primär in der Analytischen Psychotherapie) bzw. auf der Identifikation des Aktualkonflikts (primär in der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie).

•  auf der Feststellung des Strukturniveaus: Dies kann gut (u. a. differenzierte Wahrnehmung von Selbst und Objekt, intrapsychische Konfliktbewältigung), mäßig (u. a. eingeschränkte Selbst- und Objektwahrnehmung, größtenteils intrapsychische Konfliktbewältigung), gering (u. a. Objekte sind bedrohend oder werden idealisiert, keine intrapsychische Konfliktbewältigung) oder desintegriert sein (d. h. Selbst und Objekt sind konfundiert).

•  auf der Identifikation der dominanten Abwehrmechanismen: Diese können reif (z. B. Humor und Sublimierung), neurotisch (z. B. Reaktionsbildung, Pseudo-Altruismus) oder unreif sein (z. B. Spaltung, Projektion).

•  auf der Analyse der Beziehungsdynamik, im Rahmen derer festgestellt werden soll, wie Patient:innen andere (immer wieder) wahrnehmen, wie sie (immer wieder) darauf reagieren, wie diese Reaktion (immer wieder) von anderen wahrgenommen wird und wie diese (immer wieder) darauf reagieren.

Systemische Therapie (von Sydow & Borst, 2018). Im Zentrum der Systemischen Therapie steht die Familie als mehrgenerationales, abgrenzbares und regelgesteuertes System. Dabei entscheiden die Grenzen eines Systems über die Systemzugehörigkeit und Regeln beschreiben explizite oder implizite wiederkehrende Verhaltensmuster und/oder -erwartungen. Für jedes menschliche System gilt, dass sich Verhaltensmuster verfestigen, die Dynamik eines Systems machtvoller ist als die Dynamik seiner einzelnen Mitglieder (weshalb es als sinnvoll betrachtet wird, mit dem gesamten System und nicht nur mit einzelnen Mitgliedern zu arbeiten), das Verhalten einzelner Systemmitglieder zugleich Ursache und Wirkung des Verhaltens anderer Systemmitglieder ist und die Veränderung eines Mitglieds das ganze System verändert. In Systemen kann es zu Problemen kommen, das heißt, einem Erleben oder Verhalten unter dem die Betroffenen und/oder ihre Umgebung leiden. Ob Erleben und Verhalten problematisch sind, hängt anknüpfend an konstruktivistische Ansätze von deren Interpretation ab. Diese wiederum hängt von biographisch entstandenen Grundüberzeugungen ab. Das, was als Symptom sichtbar wird, ist eine sinnvolle und zu verstehende Reaktion eines Systemmitglieds auf ein problembehaftetes System. Da in jedem System neben Veränderungstendenzen auch Beharrungstendenzen wirksam sind (jedes System strebt auf eine Homöostase, d. h. einen Gleichgewichtszustand, zu), können Probleme fortbestehen, obwohl Problemauslöser nicht mehr gegenwärtig sind (z. B. kann die Affäre eines Ehepartners zu nachhaltigen Problemen im System führen, obwohl die Affäre schon beendet ist). Zentraler Gegenstand der Therapie ist daher nicht die Beseitigung von Symptomen oder die Herleitung der Symptomentstehung, sondern die Durchbrechung der Problemtrance und die Erweiterung des Möglichkeitsraums. Diagnostische Schwerpunkte in der Systemischen Therapie liegen folglich:

•  auf dem Verstehen der familiären Beziehungsstruktur: Wie sind die Rollen verteilt? Welche Hierarchien bestehen? Wie grenzt sich das System nach außen ab? Gibt es im Inneren Subsysteme? Welche Muster, Probleme, Versuche der Problembewältigung treten über Generationen hinweg immer wieder auf? Wurde mit Familientraditionen gebrochen, wurden Erwartungen erfüllt? Gab es Übergänge in andere soziale oder Bildungsschichten und kulturelle Kreise?

•  auf dem Verständnis der Perspektiven der einzelnen Systemmitglieder auf das System: Wie werden Beziehungen erlebt? Welche Annahmen bestehen darüber, wie andere Systemmitglieder das System verstehen? Welche Bindungsmuster und Persönlichkeitsmerkmale färben das Erleben und Verhalten?

•  auf der Identifikation von Möglichkeitsräumen: Wohin möchten sich die Systemmitglieder entwickeln? Welche Vorteile hat das aktuelle Problem? Wodurch könnte eine Irritation und Störung der gegenwärtigen (belastenden) Systemhomöostase angestoßen werden?

1.3       Problem-, lösungs- und störungsorientierte Perspektiven

Die jeweilige Schulenzugehörigkeit beeinflusst die Perspektive aus der Therapeut:innen das Erleben und Verhalten der Patient:innen analysieren und aus der heraus sie Interventionen planen. Hierbei kann eine störungsorientierte von einer problemorientierten und einer lösungsorientierten Perspektive unterschieden werden. Unter ›Störungsorientierung‹ wird verstanden, dass sich die diagnostische Abklärung und die Behandlung an spezifischen Störungskategorien orientiert und die Therapie auf die Reduktion bzw. Beseitigung einer definierten Symptomatik ausgerichtet ist (Born, 2014). Diese Perspektive, die der Differenzialdiagnostik und der Arbeit mit störungsspezifischen Manualen eine große Bedeutung beimisst, ist in der kognitiven Verhaltenstherapie stark verankert. ›Problemorientiert‹ bedeutet, dass der diagnostische und therapeutische Prozess auf die Abklärung der Störungs- oder Problemursache sowie auf deren Nachbearbeitung und Auflösung fokussiert. Insbesondere in der psychodynamischen Therapie stehen hierbei Grundkonflikte aus der Kindheit bzw. deren Reaktualisierung in der gegenwärtigen Lebenswelt im Fokus (Rudolf & Hauten, 2019). Im Gegensatz dazu fokussiert die ›lösungsorientierte‹ Perspektive die Erfassung und Ausnutzung des Möglichkeitsraums für bedürfniskongruente Veränderungen, ohne dabei der Symptomatik selbst oder deren Auslöser ein allzu großes Gewicht beizumessen. Diese Perspektive ist insbesondere in der Systemischen Therapie heimisch, die einen bedeutenden Lösungsmechanismus in der Aufgabe einfacher Kausalitätsannahmen (d. h. Aufgabe monokausaler Erklärungen) und in der Durchbrechung der Problemtrance erkennt (Wagner, 2020). Wichtig ist jedoch zu betonen, dass alle Richtlinienverfahren – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – alle besprochenen Perspektiven berücksichtigen.

Wie zuvor angedeutet, hat sich die klassischerweise störungsorientierte Kognitive Verhaltenstherapie im Zuge der Entwicklung der Dritten-Welle-Verfahren, verstärkt auch problem- (z. B. in der Schematherapie, Young et al., 2003) und lösungsorientierter Perspektiven (z. B. in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, Walser & Westrup, 2007) angenommen. Viele Dritte–Welle-Verfahren nutzten hierbei psychodynamische Konzepte, die so adaptiert wurden, dass sie in den kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprozess integriert werden können (z. B. Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy; CBASP, McCullough, 2003). Darauf aufbauend integrieren wir in diesem Buch neben der störungsorientierten Perspektive unserer ›therapeutischen Heimat‹ (der kognitiven Verhaltenstherapie) problemorientierte und lösungsorientierte Perspektiven sowie Konzepte aus Verfahren der Dritten Welle. Eine schematische Darstellung der diagnostischen und therapeutischen Perspektiven findet sich in Abbildung 1.1 ( Abb. 1.1).

Abb. 1.1: Problem-, lösungs- und störungsorientierte Perspektiven in der Diagnostik.

2          Diagnostik im Therapieverlauf

 

 

Zusammenfassung

Anhand inhaltlicher Schwerpunkte und diagnostischer Rahmenbedingungen lässt sich der diagnostische Prozess (grob) in drei Abschnitte einteilen:

•  Die Sprechstunden: Im Fokus der Sprechstunden steht die Beantwortung der Frage, ob eine ambulante psychotherapeutische Behandlung indiziert ist. Darüberhinausgehend wird mit der Exploration der vorliegenden Symptomatik und der biographischen, sozialen sowie Krankheits- und Behandlungsanamnese begonnen. Am Ende der Sprechstunden sollte ein (vorläufiges) gemeinsames Therapieziel bzw. ein Therapieauftrag formuliert werden können.

•  Die probatorischen Sitzungen: Ziel der probatorischen Sitzungen ist die Erstellung einer (individualisierten) Fallkonzeption. Die Fallkonzeption beinhaltet eine (Verdachts-)Diagnose, den Therapieauftrag, ein Modell der prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren sowie einen Behandlungsplan. Entsprechend kommen in den probatorischen Sitzungen primär differenzialdiagnostische und problemorientierte diagnostische Methoden zum Einsatz, welche die Erstellung der (individualisierten) Fallkonzeption unterstützen.

•  Die Behandlungsphase: In der Behandlungsphase tritt die Konstruktion des Wirklichkeitsraums (d. h. des Ist-Zustands) zunehmend hinter die Initiierung von Veränderungsprozessen (d. h. einer Konstruktion und Nutzung des Möglichkeitsraums) zurück. Hierbei kommt der Diagnostik die Aufgabe zur Erfassung, Auswertung und Interpretation aller (störungs-, problem- und lösungsorientierten) Informationen zu, die zur Realisierung des Behandlungsplans und zur Erreichung der Therapieziele notwendig scheinen.

Ziel dieses Kapitels ist es, den Leser:innen einen Leitfaden zur Organisation des diagnostischen Prozesses zur Verfügung zu stellen, anhand dessen die Auswahl diagnostischer Methoden erfolgen kann.

Die einzelnen Diagnostikphasen (Sprechstunden, probatorische Sitzungen, Behandlungsphase) zeichnen sich durch unterschiedliche methodische Schwerpunkte und Fragestellungen aus. Während in der Anfangsphase der Therapie das Sammeln diagnostischer Informationen und der Aufbau einer Arbeitsbeziehung das Gros der

Abb. 2.1: Das Stundenkontingent in der Verhaltenstherapie.

therapeutischen Arbeit ausmachen, gewinnt das Anstoßen von Veränderungsprozessen im weiteren Verlauf zunehmend an Bedeutung. Dennoch enden die Erfassung, Auswertung und Interpretation diagnostischer Informationen erst mit dem Abschluss der Therapie. Während in den folgenden Kapiteln des Buches detailliert auf spezifische diagnostische Methoden und Fragestellungen eingegangen wird, konzentriert sich dieses Kapitel auf die Darstellung der phasenspezifischen Gestaltung und Zielsetzung der Diagnostik im Therapieverlauf. Abbildung 2.1. gibt einen schematischen Überblick über die Anzeige-, Antrags- und Begutachtungsschritte im deutschen Krankenkassensystem ( Abb. 2.1).

2.1       Psychotherapeutische Sprechstunden

Die psychotherapeutischen Sprechstunden (auch Erstgespräch genannt) markieren den Beginn einer therapeutischen Zusammenarbeit und stellen abgesehen von der Terminabsprache i. d. R. den ersten Kontakt zwischen Patient:innen und Psychotherapeut:innen dar. Gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen werden Sprechstunden in bis zu sechs 25-Minuten-Einheiten abgerechnet [Gebührenordnungsposition (GOP) 35151]. Bevor mit einer psychotherapeutischen Behandlung begonnen werden kann, müssen mindestens zwei Einheiten, d. h. 50 Minuten, psychotherapeutischer Sprechstunde stattgefunden haben. Im Rahmen dieser Sprechstunden gilt es in erster Linie zu klären, welche Aufträge die Patient:innen an die Therapeut:innen haben und ob vor dem Hintergrund dieses Auftrags eine ambulante Therapie indiziert ist oder ggf. ein anderes Therapie- bzw. Beratungssetting zielführender wäre (z. B. stationäre Therapie). Des Weiteren wird mit dem Sammeln von therapierelevanten Informationen begonnen, was vor allem die Erhebung anamnestischer Informationen, die Abklärung von Selbstgefährdung/Suizidalität (und seltener Fremdgefährdung) sowie eine Exploration der vorhandenen Symptomatik umfasst. Über die diagnostische Arbeit hinaus gehen mit der Durchführung der Sprechstunden weitere Aufgaben einher (z. B. Beginn der Beziehungsarbeit, Aufklärung des Patient:innen), die im Folgenden aufgrund ihrer Bedeutung für den Therapieverlauf ebenfalls skizziert werden. Hierbei können die meisten der nachfolgend beschriebenen Inhaltsbereiche beim Erstkontakt nur angerissen werden. Es sind stets weitere Sprechstunden, Fragebögen oder auch probatorische Sitzungen nötig, um sie mit einem befriedigenden Ergebnis abschließen zu können. Nichtdestotrotz sollte bereits im Erstkontakt mit Erfassung und Vermittlung der relevanten Informationen begonnen werden. Bei den zum Download abrufbaren Onlinematerialien findet sich sowohl ein Leitfaden für das Erstgespräch (M1) als auch ein Anamnesebogen (M2).

2.1.1     Diagnostische Fragestellungen in den Sprechstunden

Die diagnostischen Aufgaben in den Sprechstunden umfassen die Frage nach den Therapiezielen und der Therapiemotivation, die biographische, die soziale sowie die Krankheits- und Behandlungsanamnese, das Stellen einer Verdachtsdiagnose (bzw. den Beginn der Differenzialdiagnostik) und die Klärung der Indikationsstellung.

Therapieziele: Welche Wünsche und Hoffnungen verbinden Patient:innen mit der Therapie?DieseFrage mag zunächst trivial scheinen, doch die Reduktion der Symptomatik ist nicht zwangsläufig das (einzige) Ziel, mit dem Patient:innen in Therapie kommen. Stattdessen berichten viele Patient:innen von einer ganzen Reihe unterschiedlicher und in der Regel parallel bestehender Ziele. Empirisch berichten Patienten v. a. folgende Ziele (Faller, 2000):

•  Meine Probleme lösen (78,7 %)

•  Meine Beschwerden mindern (74,8 %)

•  Selbstbewusster werden (58,8 %)

•  Mich selbst besser verstehen (57,0 %)

•  Orientierung für mein Leben gewinnen (42,3 %)

•  Probleme mit Partner:innen bewältigen (33,3 %)

•  Probleme in Beruf oder Ausbildung bewältigen (33,1 %)

Um Patient:innen eine adäquate Therapie anbieten zu können, ist es daher essentiell individuell zu klären, was genau Patient:innen von einer Therapie erwarten. Falls Patient:innen spontan keine Ziele berichten, sollte explizit nach diesen gefragt werden (z. B. »Weshalb kommen Sie gerade jetzt zu mir in Therapie, was möchten Sie gerne mit Unterstützung der Therapie erreichen? Was müsste sich in den nächsten Monaten in Ihrem Leben durch die Therapie verändern, damit Sie das Gefühl haben, die Therapie hat sich gelohnt?«). Im weiteren Verlauf (in der Regel nicht bereits in den Sprechstunden) sollten Therapieziele anschließend nach Priorität geordnet und so spezifiziert werden, dass sie (Brakemeier & Jacobi, 2017; Michalak, Holtforth, & Berking, 2007; Boelicke, 2004):

•  für Patient:innen persönlich relevant sind;

•  Annäherungs- anstatt Vermeidungsziele darstellen;

•  eine Zeitperspektive beinhalten;

•  situationsspezifisch sind;

•  verhaltensspezifisch sind;

•  selbst- und motivkongruent sind;

•  überprüfbar sind.

Darüber hinaus sollten sie im Sprachstil der Patient:innen formuliert sein und eine Definition von Zwischenzielen erlauben. Eine Metaanalyse zeigt, dass die Übereinstimmung zwischen Patient:innen und Therapeut:innen hinsichtlich der wichtigsten Therapieziele einen bedeutsamen prädiktiven Wert für den Therapieerfolg hat (Tryon, Birch, & Verkuilen, 2018). Diese Übereinstimmung zu prüfen, ist nicht nur am Anfang der Zusammenarbeit, sondern auch im Therapieverlauf relevant, da Ziele einem fortlaufenden Veränderungsprozess unterworfen sind. Therapeut:innen sollten dabei stets transparent machen, für welches Therapieziel spezifische Interventionen und Hausaufgaben relevant sind. Falls Patient:innen keine Therapieziele berichten können, sollte das Erarbeiten von Therapiezielen das erste Ziel der Therapie werden. Ausgangspunkte der Zieldefinition können dabei folgende sein:

•  Fragen nach dem Grund für das Aufsuchen der Psychotherapie.

•  Fragen nach dem Status quo und den Veränderungswünschen in den Lebensbereichen partnerschaftliche Beziehungen, Familie, Beruf und FreizeitBitte beschreiben Sie mir, wie Sie die Beziehung zu Ihrem:Ihrer Partner:in erleben. Woran liegt diese Unzufriedenheit? Möchten Sie etwas an der Beziehung zu Ihrem:Ihrer Partner:in verändern? Was verhindert diese Änderung derzeit? Denken Sie, die Möglichkeit für eine solche Veränderung zu schaffen, wäre ein relevantes Thema für unsere Therapie?« [vgl. auchKapitel 3.3zur Lebenszielanalyse]

•  Fragen nach dem Zielzustand und den damit assoziierten Lebensumständen»Wenn unsere Therapie erfolgreich verläuft, was wird sich dann an Ihrem Verhalten, ihrem emotionalen Erleben, ihren Beziehungen verändern? … Wenn wir uns in einem Jahr wieder treffen (nach erfolgreicher Therapie): Wo treffe ich Sie, was machen Sie, wie leben Sie?«)

•  Fragen nach der Befriedigung von Grundbedürfnissen»Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch grundlegende Bedürfnisse nach Bindung, Orientierung und Kontrolle sowie Selbstwert hat. Haben Sie das Gefühl, stabile und befriedigende soziale Bindungen in Ihrem Leben zu haben? Seit wann haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Aufrechterhaltung stabiler Beziehungen schwerfällt?«. [vgl. auchKapitel 3.5zur Beziehungsanalyse])

Verdachtsdiagnose: Welche psychische und/oder körperliche Symptomatik besteht? Um die Grundlage für die Therapieplanung und die Kommunikation mit Patient:innen, mit Kolleg:innen und Krankenkassen zu legen, ist es zu empfehlen, früh eine Verdachtsdiagnose zu stellen. Ausgangspunkt der Verdachtsdiagnose sind zunächst die Spontanangaben der Patient:innen, die im weiteren Verlauf der Sprechstunde durch eine (halb-)strukturierte Exploration dieser Symptomatik und ein Screening auf weitere Störungen ergänzt werden. Wichtig ist es hierbei, die Verdachtsdiagnose als das zu bewerten, was sie ist – ein Verdacht – und ihr Zutreffen oder Nicht-Zutreffen im weiteren Verlauf durch die Anwendung weiterer diagnostischer Methoden (u. a. halbstrukturierter Interviews) zu überprüfen. Die Durchführung der Differenzialdiagnostik wird im vierten Kapitel dieses Buches im Detail besprochen.

Therapiemotivation:Inwiefern sind die Patient:innen zur Aufnahme der Therapie motiviert? Die meisten Patient:innen (76 %) sind intrinsisch zu einer psychotherapeutischen Behandlung motiviert (Ogrodniczuk, Kealy, Laverdière, & Joyce, 2018). Dem gegenüber stehen jedoch 38 % der Patient:innen, die (auch) externe Gründe für das Aufsuchen der Therapie berichten (z. B. Wunsch von Familienangehörigen, Rentenwunsch). Insbesondere (aber nicht ausschließlich) diese Patient:innen stimmen Aussagen zu, die auf motivationale Probleme im weiteren Therapieprozess hindeuten können:

•  »Ich würde es vorziehen, nur Medikamente gegen meine Probleme einzunehmen.« (23,2 %)

•  »Wenn die Therapie Stress bedeutet, weiß ich, dass sie nicht die richtige Behandlungsform für mich darstellt.« (18,9 %)

•  »Ich werde die Therapie vermutlich beenden, wenn es zu schwierig wird, Dinge umzusetzen oder über sie zu sprechen.« (17,5 %)

•  »Ich bin nicht zu größeren Veränderungen in meinem Leben bereit.« (16,6 %)

•  »Die/der Therapeut:in sollte den Großteil der Arbeit in unseren Sitzungen übernehmen.« (9,3 %)

Die Gründe für das Aufsuchen der Therapie sollten daher exploriert werden. Auch im Falle problematischer Einstellungen zum Therapieprozess, sollte stets wertschätzend reagiert werden.

»Ich finde es sehr gut, dass Sie so offen zu mir sind. Wir können nur mit dem arbeiten, was auf dem Tisch liegt und daher finde ich es gut, dass Sie Ihre Zweifel an einer Psychotherapie direkt ansprechen. Viele meiner Patient:innen machen zum ersten Mal den Schritt, eine Psychotherapie zu beginnen und sind unsicher, worauf sie sich hier einlassen. Was lässt Sie am Nutzen der Psychotherapie zweifeln? […] Sehen Sie auch Gründe, warum es zielführend für Sie sein könnte, eine Behandlung zu beginnen?«

Insbesondere Patient:innen mit somatoformen Störungen (inklusive Hypochondrie bzw. Krankheitsangst) sind häufig skeptisch, was eine psychotherapeutische Behandlung angeht. Dementsprechend sind Abbruchraten in dieser Patient:innengruppe besonders hoch (Timmer, Bleichhardt, & Rief, 2006). Bei diesen Patient:innen, aber auch bei anderen Störungsbildern, ist es zielführend, die gemeinsame Analyse und Abwägung, ob eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll scheint oder nicht, zum ersten Therapiegegenstand zu machen. Im Falle von Somatisierungsstörungen ist es in dieser Phase besonders relevant, psychoedukativ Wissen über psychosomatische Zusammenhänge zu vermitteln und mit den Patient:innen gemeinsam ein individuelles Störungsmodell zu erarbeiten.

»Ich glaube, dass ich die Gründe Ihrer Skepsis gegenüber einer Psychotherapie gut verstehen kann. Viele Patient:innen mit ähnlichen Problemen befürchten z. B., dass Therapeut:innen ihnen vorwerfen könnten, die Symptome nur vorzutäuschen oder dass sie ihre Probleme nicht ernst genug nehmen könnten. Ich versichere Ihnen, ich nehme Ihre Beschwerden und auch Ihre Bedenken sehr ernst. Darum würde ich Ihnen anbieten, dass wir die ersten Therapiesitzungen nutzen, um gemeinsam zu prüfen, ob eine Psychotherapie zur Lösung mancher der vorliegenden Probleme hilfreich sein könnte oder auch nicht – dann entscheiden wir, ob wir die Therapie fortsetzen oder ob es nicht das Richtige für Sie ist. Wäre dieses Vorgehen für Sie in Ordnung?«

Biographische Anamnese:Wie ist das Leben der Patient:innen bisher verlaufen? Die Anwendung eines Großteils der therapeutischen Techniken (insbesondere der Dritten–Welle-Verfahren und der psychodynamischen Therapien) setzt eine fundierte Kenntnis der Entwicklungs- und Lebensgeschichte einer Person voraus (z. B.imaginatives Überschreiben, Zens, & Jacob, 2020; Arbeit mit dem Kiesler-Kreis, Kiesler, 1983). Darüber hinaus ist die Kenntnis der Biografie der Patient:innen für das Verständnis von emotionalen Problemen und Beziehungsdynamiken ( Kap. 3.5) sowie für einige der typischen Therapieziele der Patient:innen (z. B. Mich selbst besser verstehen; Orientierung für mein Leben gewinnen) äußerst relevant. Daher ist die Erhebung der biographischen Anamnese einer der ersten diagnostischen Schritte, die im Rahmen der Sprechstunden durchgeführt werden.

Folgende Informationen sollten im Rahmen der biographischen Anamnese mindestens erfasst werden:

•  Bei wem sind die Patient:innen aufgewachsen, wer waren die primären Bezugspersonen? Wer gehörte darüber hinaus zur Kernfamilie?

•  Gab es längere Zeiten der Trennung zwischen den Patient:innen und ihren primären Bezugspersonen?

•  Wie war die sozioökonomische Situation in der Kernfamilie? Welchen Beruf übten die Mitglieder der Kernfamilie aus?

•  Welchen kulturellen und religiösen Hintergrund hatte die Kernfamilie? Welche moralischen Werte waren von besonderer Bedeutung?

•  Wie war das emotionale Verhältnis zwischen den Mitgliedern der Kernfamilie? Wie wurde miteinander interagiert? Welche Grenzen, Regeln und Hierarchien gab es?

•  Litten Mitglieder der Kernfamilie unter körperlichen und/oder psychischen Erkrankungen?

•  Wie verlief die Schullaufbahn der Patient:innen? Welchen Schulabschluss haben sie erreicht? Welche Ausbildung haben sie abgeschlossen?

Soziale Anamnese: Wie ist die gegenwärtige Lebenssituation der Patient:innen? Die biographische Anamnese geht nahtlos in die soziale Anamnese über, in deren Rahmen die aktuelle Lebenssituation der Patient:innen erfasst wird. Eine Kenntnis der Lebenssituation der Patient:innen ist bedeutsam, um sich einen Überblick über die gegenwärtigen Belastungen und Ressourcen sowie den Möglichkeitsraum der Patient:innen zu verschaffen (z. B. finanzielle Ressourcen, Verfügbarkeit sozialer Unterstützung). Um die Therapiemotivation aufrechtzuerhalten und eine Generalisierung therapeutischer Inhalte in den Alltag zu gewährleisten, sollten therapeutische Methoden (z. B. Aufbau positiver Aktivitäten, Stimuluskontrolle oder Expositionsübungen) auf individuelle Alltagsbedingungen abgestimmt werden. Über die soziale Anamnese werden zudem die ›Hot Spots‹ des Leidensdrucks der Patient:innen (z. B. Qualität der Partnerschaft, Zufriedenheit im Beruf, Zufriedenheit mit der sozialen Rolle) sowie erste Anhaltspunkte für die Analyse der aufrechterhaltenden Bedingungen erfasst.

Folgende Fragen sind im Rahmen der sozialen Anamnese mindestens zu klären:

•  Sind die Patient:innen gegenwärtig familiär integriert? Wie setzt sich ihre gegenwärtige Kernfamilie zusammen? Wie ist gegenwärtig das emotionale Verhältnis zwischen den Mitgliedern der Kernfamilie? Wie wird interagiert? Wie sehen die Grenzen, Regeln und Hierarchien des Familiensystems aus?

•  Wer sind weitere wichtige Personen im sozialen Umfeld der Patient:innen? In welchem Verhältnis stehen sie zu diesen? Inwiefern fühlen sich die Patient:innen sozial unterstützt?

•  Welchen Beruf üben die Patient:innen zurzeit aus? Wie ist ihre finanzielle Situation? Inwiefern sind sie mit dem gewählten Beruf und der beruflichen Perspektive zufrieden?

•  Wie ist die Freizeit der Patient:innen gestaltet? Welchen Hobbys gehen sie nach? Inwiefern besteht ein Gleichgewicht zwischen beruflichen und privaten Aktivitäten und inwiefern sind die Patient:innen mit diesem (Un-)Gleichgewicht zufrieden?

Krankheits- und Behandlungsanamnese: Welche Versuche der Problembewältigung haben bisher stattgefunden? Alle Patient:innen haben Erfahrung darin, mit ihren Problemen mehr oder minder effizient umzugehen – teilweise mit, teilweise ohne professionelle Hilfe. Um geeignete Maßnahmen planen zu können, ist daher eine Krankheits- und Behandlungsanamnese wichtig, um zu verstehen, von welchen Bewältigungsschritten Patient:innen in der Vergangenheit profitieren konnten und von welchen nicht. Die Patient:innen werden dadurch als Expert:innen für ihr Leben und ihre Beschwerden ernstgenommen und ihre Therapeut:innen können von ihren wertvollen Erfahrungen profitieren. Häufig vergehen viele Jahre bis Patient:innen den Weg in eine Psychotherapie finden. So liegen laut einer dänischen Studie zwischen dem Beginn einer psychischen Störung und dem Aufsuchen professioneller Hilfe im Durchschnitt 9,3 Jahre (ten Have, de Graaf, van Dorsselaer, & Beekman, 2013). Zudem zeigt sich, dass Patient:innen, die eine ambulante Psychotherapie beginnen, in vielen Fällen schon Vorbehandlungen durchlaufen haben (Wittmann, 2011):

•  in ca. 30 % der Fälle eine ambulante Psychotherapie

•  in ca. 20 % der Fälle eine ambulante psychiatrische Behandlung

•  in ca. 14 % der Fälle eine stationäre psychosomatische Behandlung

•  in ca. 9 % der Fälle eine stationäre psychiatrische Behandlung

Entsprechend relevant ist es, die bisherige Krankheits- und Behandlungsgeschichte zu erheben. Einerseits ist dies differenzialdiagnostisch relevant (z. B. für die Abgrenzung zwischen bipolarer und unipolarer Depression), andererseits bietet der bisherige Umgang mit der Symptomatik wichtige Anhaltspunkte für die weitere Therapieplanung.

Therapieindikation:Besteht eine Indikation für Behandlung, Therapieart und Therapiesetting? Patient:innen sollte nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen eine ambulante psychotherapeutische Behandlung angeboten werden. Außerdem müssen (relative) Kontraindikationen beachtet werden. Folgende Fragen sind dafür zu klären:

•  Besteht eine Störung bzw. eine Problemstellung, für deren Behandlung ausreichende empirische Evidenz für die praktizierten Therapietechniken nachgewiesen wurde?

•  Psychotherapeut:innen bieten Patient:innen eine evidenzbasierte Behandlung für ein spezifisches Problem (bzw. eine Reihe von Problemen) an. Daher ist es wichtig (auf Basis der zuvor besprochenen Informationen), zu überprüfen, ob die Behandlung, die im Rahmen einer spezifischen Psychotherapie angeboten werden kann, für die Besserung dieser Symptomatik bzw. zur Lösung dieses Problems zielführend ist. Zur Prüfung dieser Frage können u. a. die Therapieleitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sowie Befunde aus aktuellen Reviews und Metaanalysen genutzt werden.

•  Besteht eine akute psychotische oder manische Phase? Besteht akut Substanzkonsum im Rahmen einer Abhängigkeitserkrankung?Bei akuten psychotischen und manischen Episoden besteht derzeit kein Nachweis einer ausreichenden Wirksamkeit alleiniger psychotherapeutischer Interventionen (Hasan et al., 2013; Pfennig et al., 2012). Psychotherapie stellt dennoch eine sinnvolle Ergänzung im Gesamtbehandlungsplan psychotischer und bipolarer Störungen dar. Es ist daher essenziell, bei Aufnahme einer Behandlung eine psychopharmakologische Mitbehandlung bzw. eine vorübergehende stationäre Behandlung sicherzustellen. Ebenso ist bei Abhängigkeitserkrankungen eine (alleinige) ambulante Psychotherapie erst in der postakuten Phase indiziert. Kommen Patient:innen in einer akuten Phase des Substanzkonsums zur Psychotherapie ist das Hauptziel der psychotherapeutischen Gespräche, die Voraussetzungen (insbesondere auf motivationaler Ebene) für eine stationäre Entgiftung mit anschließender Entwöhnung zu schaffen (Mundle, Banger, & Mugele, 2003; Thomasius et al., 2004).

•  Liegt eine akute Fremd-oderSelbstgefährdungvor?Für die therapeutische Arbeit gilt, dass diese nur durchgeführt werden kann, wenn weder die körperliche Unversehrtheit der Therapeut:innen, der Patient:innen noch Dritter akut bedroht ist. Liegt eine akute Fremd- oder Selbstgefährdung vor, müssen Maßnahmen ergriffen werden, die diese akute Gefährdung beenden. Dies schließt in der Regel Maßnahmen zur Einleitung einer stationären Unterbringung ein. Akute Suizidalität (d. h. drängende Suizidideen, Suizidpläne, Suizidversuche) treten bei beinahe allen Störungen gehäuft auf, wobei insbesondere Personen mit depressiven, psychotischen und Suchterkrankungen gefährdet sind (Too et al., 2019). Akute Fremdgefährdung (d. h. körperliche Gewalt) tritt im Kontext psychischer Störungen selten und wenn überhaupt vor allem im Rahmen von Substanzabhängigkeiten und psychotischen Zuständen auf, teilweise auch bei Personen mit Persönlichkeitsstörungen (Fazel, Smith, Chang, & Geddes, 2018). Wie zur Abklärung von Selbstgefährdung ( Kap. 3.1) sollten folgende Punkte auch zur Abklärung von Fremdgefährdung erfasst werden:

–  Wie häufig und mit welcher Intensität treten entsprechende Gedanken auf?

–  Bestehen Pläne zur Umsetzung der Gewaltfantasien?

–  Wurden Vorbereitungen zur Umsetzung dieser Pläne getroffen?

–  Was hat die Person bislang von der Umsetzung ihrer Pläne abgehalten?

–  Wie distanzierungs- und absprachefähig ist der:die Betroffene?