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Im Jahr 2018 jährt sich der Todestag Karl Barths zum fünfzigsten Mal. Der große Theologe hat im 20. Jahrhundert Kirche und Theologie in Deutschland und darüber hinaus wesentlich bestimmt. Barths kritischer Aufbruch ist 1919 mit seinem Kommentar zum Römerbrief öffentlich geworden. In diese Phase seiner "Dialektischen Theologie" gehören auch die zwei hier abgedruckten und von dem bekannten Systematiker Dietrich Korsch für den Gebrauch in Kirche und Schule kommentierten Aufsätze aus dem Jahr 1922: "Not und Verheißung der christlichen Verkündigung" und "Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie". Sie widmen sich der Situation der Verkündigung, wie sie sich im Gottesdienst konzentriert, und den Folgerungen für die Theologie, die sich daraus ergeben. Sie lassen erkennen, wie die religiöse Lage die Theologie herausfordert, und helfen dazu, Verantwortung für den christlichen Glauben im eigenen Leben zu übernehmen. [Dialectical Theology] The year 2018 marks the 50th anniversary of the death of Karl Barth. In the 20th century the great theologian had a significant impact on the church and theology in Germany and beyond. His commentary on the Epistle to the Romans, published in 1919, made his critical approach known to the public. This phase of his "Dialectical Theology" includes also two articles from 1922 that are reproduced here, with a commentary by the well-known systematic theologian Dietrich Korsch for use in church and school: "Need and Promise of the Christian Proclamation" and "The Word of God as a Task of Theology". They address the situation of proclamation as constuting the focus of worship and the implications for theology. They show how the religious situation challenges theology and they are helpful for taking responsibility for the Christian faith in personal life.
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Seitenzahl: 207
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Karl Barth
Dialektische Theologie
Not und Verheißung der christlichen Verkündigung
Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie
Herausgegeben und kommentiert von Dietrich Korsch
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.
© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig Printed in Germany
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Cover: Makena Plangrafik, Leipzig
Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-374-05628-6
www.eva-leipzig.de
Karl Barth ist am 10. Dezember 1968 in Basel, seiner Geburtsstadt, gestorben. Die Anfänge seiner Theologie liegen zu diesem Zeitpunkt schon mehr als fünfzig Jahre zurück. Damit begleitet das theologische Werk Barths die elementaren historischen Etappen des 20. Jahrhunderts: das Ende des Ersten Weltkriegs und die nachfolgende brüchige Neuordnung Deutschlands und Europas, den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die Blockbildung des Kalten Krieges in den 1950er und 1960er Jahren.
Barths Theologie war, gerade in ihrer Konzentration auf das Wort Gottes, stets eine ihrer historischen Situation bewusste Theologie. Denn sie ist aus der Lage der christlichen Religion im Umbruch zum 20. Jahrhundert erwachsen, und sie hat sich, darauf reagierend, auf den Ursprung des Glaubens aus dem Wort Gottes eingestellt. Wie dieser Ursprung beschaffen ist und welche Herausforderungen für die Theologie sich daraus ergeben, davon vermitteln die beiden im Folgenden edierten Texte einen Eindruck. Sie sprechen nicht nur eine lebendige, die Hörer und Leser mitreißende Sprache, sie entfalten auch das theologische Programm im Ausgang von der christlichen Verkündigung als gelebter Praxis der Religion und richten die Theologie auf ihre Aufgabe aus, von der Wirklichkeit des Wortes Gottes Zeugnis zu geben.
Die hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte Weichenstellung für das Christentum hat dessen Geschichte bis heute mitbestimmt: Teil der abendländischen Kultur in ihren Leistungen und Krisen zu sein und sich zugleich in ein kritisches Verhältnis dazu zu setzen. Auch heute gibt es gute Argumente dafür, die Selbständigkeit des christlichen Glaubens aus seinem Ursprung zu gewinnen. Wie das geschehen kann, dafür geben insbesondere diese Texte von 1922 deutliche Hinweise. Die Edition der Texte folgt der Ausgabe in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hrsg. von Holger Finze, Zürich 1990, 65–97.144–175 (Karl Barth Gesamtausgabe III.3). Sie ist entlastet von dem dort gegebenen ausführlichen Apparat, der für wissenschaftliches Arbeiten mit den Texten unverzichtbar ist. In Fußnoten werden zitierte Bibelstellen nachgewiesen sowie fremdsprachliche Wendungen übersetzt. Das Namensregister enthält die nötigen Informationen zu den in den Texten genannten Personen. Zur Stellung beider Texte im Werk Barths sei auf meinen Kommentar in der Ausgabe: Karl Barth, Schriften, 2 Bde., Frankfurt am Main 2009, 1039–1249 hingewiesen. Im Anhang dieses Bandes werden Hinweise zur weiteren Lektüre von Barths Theologie gegeben.
Herzlich danke ich Julius Schilling, Student an der Universität Leipzig, der mir als erster Leser dieses Textes wichtige Hinweise für genauere Ausführungen und bessere Verständlichkeit gegeben hat.
Gewidmet ist dieses Bändchen dem Andenken meines Lehrers Hans-Georg Geyer (1929–1998), der es in Wuppertal, Bonn, Göttingen und Frankfurt vermochte, vielen Studierenden, darunter auch mir, die gedankliche Schärfe, die theologische Dichte und die geistliche Nähe der Theologie Karl Barths zu vermitteln.
Dietrich Korsch
März 2018
Cover
Titel
Impressum
ADie Texte
1. Not und Verheißung der christlichen Verkündigung
2. Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie
BErläuterungen
1. Karl Barth im Jahr 1922: Herkunft und Kontexte
2. Karl Barths theologische Selbstverortung
3. Der Gottesdienst als religiöse Schlüsselsituation
4. Verkündigung und Theologie
5. Von Gott reden
6. Das Wort Gottes als Ereignis und die Zukunft der Theologie Karl Barths
CAnhang
Hinweise zur Weiterarbeit
Literatur
Namen
Zeittafel zu Leben und Werk
Karl Barth 1922
© KBA-9025-013
Die freundliche Einladung, die Herr Generalsuperintendent D. Jacobi zur heutigen Tagung1 an mich hat ergehen lassen, enthielt die Aufforderung, Ihnen eine »Einführung in das Verständnis meiner Theologie« zu bieten. Es macht mich immer ein wenig verlegen, so ernsthaft von »meiner Theologie« reden zu hören. Nicht etwa darum, weil ich meinte, was ich treibe, sei etwas Anderes, Besseres als eben schlecht und recht Theologie. Die Kinderkrankheit, mich der Theologie zu schämen, meine ich einigermaßen überstanden zu haben. Einige von Ihnen kennen sie vielleicht auch und haben sie vielleicht auch schon überstanden. Wohl aber darum, weil ich mich etwas betroffen fragen muß, in was denn eigentlich meine Theologie bestehen möchte, wo denn nun die Kathedrale oder Festung sein könnte, die diesen Namen verdiente und in deren Verständnis ich Sie – an Hand eines Grundrisses etwa – »einführen« könnte. Ich habe genug darunter zu seufzen, daß es so ist, aber ich muß Ihnen offen gestehen, daß das, was ich »meine Theologie« allenfalls nennen kann, wenn ich genau zusehe, schließlich in einem einzigen Punkt besteht, und das ist nicht, wie man es von einer rechten Theologie als Mindestes verlangen dürfte, ein Standpunkt, sondern ein mathematischer Punkt, auf dem man also nicht stehen kann, ein Gesichtspunkt bloß. Alles übrige, was zu einer rechten Theologie gehört, ist bei mir ganz in den Anfängen, und ich weiß nicht, ob ich je darüber hinauskommen werde, ja ob ich es nur wünschen soll, darüber hinauszukommen. Ich maße mir also wirklich nicht an, dem, was die großen ehrwürdigen Schöpfer theologischer Programme und Systeme geleistet haben und noch leisten, etwas Ebenbürtiges oder auch nur Kommensurables zur Seite zu stellen. Fassen Sie meinen Beitrag zur theologischen Diskussion und auch das, was ich heute sagen möchte, nicht als ein Konkurrenzunternehmen zur positiven, liberalen, Ritschl’schen oder religionsgeschichtlichen Theologie auf, sondern als eine Art Randbemerkung und Glosse, die sich mit jenen allen in ihrer Weise verträgt und auch nicht verträgt, die aber nach meiner eigenen Überzeugung ihren Sinn in dem Augenblick verliert, wo sie mehr als das sein, wo sie Raum ausfüllend als neue Theologie neben die andern treten wollte. Sofern Thurneysen, Gogarten und ich wirklich im bekannten Sinn des Worts »Schule machen« sollten, sind wir erledigt. Meine Meinung ist wirklich die, es möchte jedermann in seiner Schule und bei seinen Meistern bleiben, nur vielleicht als Korrektiv, als das »bißchen Zimt« zur Speise, um mit Kierkegaard zu reden2, sich gefallen lassen, was allenfalls in jener Randbemerkung Erhebliches enthalten ist. »Meine Theologie« verhält sich zu den andern richtiggehenden Theologien etwa so wie die Brüdergemeinde zu den andern richtiggehenden Konfessionen und Kirchengemeinschaften; sie will jedenfalls auch keinen neuen eigenen Tropus bilden. Aber nun muß ich schon die zweite Bitte aussprechen, es mir auch nicht als Hochmut und Einbildung auszulegen, wenn ich mich so weigere, in die Reihe gestellt zu werden. Ich weiß ja, daß man nicht in der Luft stehen kann, sondern, ob man will oder nicht und wäre es auch nur mit einem Fuß, immer irgendwo auf der Erde steht. Ich weiß, daß ich nicht der erste und nicht der einzige bin, dem eine theologia viatorum3 quer hindurch durch die vorhandenen theologischen Möglichkeiten zur Linken, zur Rechten und in der Mitte, alle verstehend, alle umfassend und alle überwindend als das Ziel seiner Sehnsucht vorschwebt. Wer möchte heute nicht irgendwie »über den Richtungen« stehen? Ich weiß auch das, daß es noch keinem von diesen wirklichen oder vermeintlichen theologi viatores4 – wenn die Götter ihn nicht so sehr liebten, um ihn früh sterben zu lassen – gelungen ist, seinen Lauf zu vollenden, ohne daß er eben doch, wenn auch nicht eine Kathedrale oder Festung, so doch ein Zigeunerzelt irgendwo errichtet hätte, das dann, ob es ihm recht war oder nicht, statt als Glosse als Text, als eine neue Theologie aufgefaßt worden ist. Kierkegaard selber, diesem verwegensten Springer auf dem Schachbrett, ist es nicht anders ergangen. So werden »wir« es uns wohl gefallen lassen müssen, daß in den Augen Vieler auch jetzt nichts weiter geschieht, als daß eine etwas wunderliche weitere Theologie auf den Plan getreten ist, geistigen Raum ausfüllend, historische Breite gewinnend, fragwürdig genug neben ihren alten und neuen, so viel stattlicheren Nachbarn, wahrscheinlich so etwas wie mystischer oder auch biblizistischer Neu-Supranaturalismus, um nicht zu sagen Neu-Marcionitismus. Wir können nicht verhindern, daß es so aussieht, wir können nur, wenn es sich darum handeln sollte, das, was man da sieht, verstehen zu wollen, versichern, daß wir nicht von der Absicht und Vorbereitung eines solchen Schul- und Systembaus herkommen, sondern – nun eben von der »Not und Verheißung der christlichen Verkündigung«, von der ich heute zu Ihnen sprechen möchte.
Darf ich Ihnen das etwas erklären? Es gehört zur Sache. Ich war 12 Jahre Pfarrer wie Sie alle und hatte meine Theologie, nicht die meinige natürlich, sondern die meines unvergessenen Lehrers Wilhelm Herrmann, aufgepfropft auf die mit meiner Heimat gegebene und mehr unbewußt als bewußt übernommene reformierte Richtung, die ich ja heute auch von Amts wegen zu vertreten habe und gerne vertrete. Unabhängig von diesen meinen theologischen Denkgewohnheiten bin ich dann durch allerlei Umstände immer stärker auf das spezifische Pfarrerproblem der Predigt gestoßen worden, suchte mich, wie Sie das ja sicher alle kennen, zurecht zu finden zwischen der Problematik des Menschenlebens auf der einen und dem Inhalt der Bibel auf der andern Seite. Zu den Menschen, in den unerhörten Widerspruch ihres Lebens hinein sollte ich ja als Pfarrer reden, aber reden von der nicht minder unerhörten Botschaft der Bibel, die diesem Widerspruch des Lebens als ein neues Rätsel gegenübersteht. Oft genug sind mir diese beiden Größen, das Leben und die Bibel, vorgekommen (und kommen mir noch vor!) wie Skylla und Charybdis: Wenn das das Woher? und Wohin? der christlichen Verkündigung ist, wer soll, wer kann da Pfarrer sein und predigen? Ich bin überzeugt, Sie alle kennen diese Lage und diese Plage. Viele von Ihnen kennen sie vielleicht schweigend viel tiefer, stärker und lebendiger als ich, und ihnen habe ich eigentlich heute nichts Wesentliches zu sagen, sie sind in meine Theologie schon eingeführt. Während sie schwiegen, habe ich geredet. Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit. Ich überschätze den Wert der Möglichkeit, das Reden zu wählen, nicht, habe mir auch schon gewünscht, geschwiegen zu haben. Aber es war nun einmal so: die bekannte Situation des Pfarrers am Samstag an seinem Schreibtisch, am Sonntag auf der Kanzel verdichtete sich bei mir zu jener Randbemerkung zu aller Theologie, zuletzt in der voluminösen Form eines ganzen Römerbriefkommentars, und ähnlich ist es meinen Freunden ergangen. Nicht als ob ich etwa einen Ausweg gefunden hätte aus jener kritischen Situation, gerade das nicht, wohl aber wurde mir eben diese kritische Situation selbst zur Erläuterung des Wesens aller Theologie. Was kann Theologie anderes sein als der Ausdruck dieser auswegslosen Lage und Frage des Pfarrers, die möglichst wahrhaftige Beschreibung des Gedränges, in das der Mensch kommt, wenn er an diese Aufgabe sich heranwagt, ein Ruf also aus großer Not und großer Hoffnung auf Errettung? Was kann sie anderes tun zur Erfüllung ihrer kulturellen Aufgabe sowohl – und Theologie hat eine solche – wie ihrer pädagogischen, den ahnungslos-ahnungsvollen Jünglingen gegenüber, die beschlossen haben, »Pfarrer zu studieren«, wie man bei uns sagt – was kann sie anderes tun, als sich bei der Bearbeitung ihrer traditionellen historischen, systematischen und praktischen Stoffe dieses ihres innersten wahrhaftigsten Wesens immer wieder bewußt zu werden? Oder welche Situation ist etwa für den Beruf, auf den sie vorbereiten will, bezeichnender als diese? Aber wie kommt es nun, daß man dem theologischen Betrieb so wenig anmerkt davon, daß er auf diesen Beruf, der in diese Situation führt, vorbereitet? Wie kam es nur, mußte ich mich fragen, daß das schon mit der Existenz des Pfarrers gesetzte Frage- und Ausrufezeichen in der Theologie, die ich kannte, sozusagen gar keine Rolle spielte, so daß ich, als ich Pfarrer wurde, von der Wahrheit überfallen werden mußte wie von einem gewappneten Mann? War denn meine Frage wirklich nur meine Frage, und wußten denn etwa andre den Ausweg, den ich nicht fand? Ich sah sie wohl Auswege gehen, aber solche, die ich als Auswege nicht anerkennen konnte. Aber warum suchten dann die mir bekannten Theologien jene Situation, wenn sie sie überhaupt berührten, als erträglich und überwindbar darzustellen, statt sie vor allem einmal zu begreifen, ihr ins Gesicht zu sehen und – dabei vielleicht zu entdecken, daß der Theologie eigenster Gegenstand sich gerade in dieser Situation in ihrer ganzen Unerträglichkeit und Unüberwindbarkeit manifestiert? Sollte es sich nicht lohnen, fragte ich mich weiter, sich zu überzeugen, was für ein Licht alle Theologie gerade von hier aus empfängt? Wäre es der Theologie nicht zu ihrem eigenen Heil besser, sie wollte am Ende nichts anderes sein als das Wissen um die not- und verheißungsvolle Lage und Frage des christlichen Verkündigers? Müßte sich nicht alles Weitere von selbst aus diesem Wissen ergeben? Bedrängt von dieser Frage – und ich frage nochmals: ist das bloß meine zufällige Frage? – habe ich mich seinerzeit an die Arbeit am Römerbrief gemacht, die anfänglich nur ein Versuch sein sollte, mich mit mir selbst zu verständigen. Natürlich steht nun sehr viel scheinbar ganz anderes in dem Buch: neutestamentliche Theologie, Dogmatik, Ethik, Philosophie. Aber am besten verstehen Sie es dann, wenn Sie aus allem immer wieder den Pfarrer heraushören, mit seiner Frage: was heißt predigen?, und – nicht: wie macht man das?, sondern: wie kann man das? Das andre, was darinsteht, ist schon Reflex, nicht selber das Licht, auf das ich mich hingewiesen sah und hinweisen möchte. Und so kam es denn zu dem, was sich jetzt als »meine Theologie«, sagen wir einmal als »Theologie des Korrektivs« schon ein wenig breit machen will.
Ich sage Ihnen das alles nicht, um Sie mit meiner Biographie zu behelligen, sondern um Ihnen zu zeigen, inwiefern meine Absicht, wenigstens primär, nicht eine neue Theologie, sondern eine sozusagen von außen an die Theologie herankommende Beleuchtung ist, und zwar eine Beleuchtung gerade von dorther, wo Sie, vielleicht nicht als Theologen, aber sicher als Pfarrer ohnehin stehen. Es scheint mir, es könne gar nicht anders sein, als daß wir uns heute verstehen, wenn Sie mir zunächst einmal dies Eine abnehmen, daß ich im Grunde, wohlverstanden, wenn Sie den Humor haben, über einiges Zufällige freundlich hinweg zusehen, nicht mit einer neuen erstaunlichen Theologie bewaffnet daherkomme, sondern, welches auch Ihre Theologie sein möge, einfach mit Verständnis und Teilnahme für Ihre Lage als Pfarrer neben Sie treten möchte. Fassen Sie es darum richtig auf, wenn ich heute mehr als Pfarrer zu Kollegen, denn als Professor zu Ihnen rede. Nach der Lage der Sache ist zweifellos das die sinngemäße Ausführung des mir gewordenen Auftrags. Habe ich nicht nur einen Gesichts punkt, sondern etwa auch einen Standpunkt, so ist es einfach der wohlbekannte des Mannes auf der Kanzel, vor sich die geheimnisvolle Bibel und die geheimnisvollen Köpfe seiner mehr oder weniger zahlreichen Zuhörer – ja was ist nun geheimnisvoller? Auf alle Fälle: Was nun? Wenn es mir gelingen sollte, Ihnen dies »Was nun?« in seinem ganzen Gehalt wieder einmal akut in Erinnerung zu rufen, so habe ich Sie nicht nur für meinen Standpunkt, der ja ohnehin der Ihrige ist, sondern auch für meinen Gesichtspunkt gewonnen, was Sie auch von meiner Theologie halten mögen.
Wenn am Sonntag morgen die Glocken ertönen, um Gemeinde und Pfarrer zur Kirche zu rufen, dann besteht da offenbar die Erwartung eines großen, bedeutungsvollen, ja entscheidenden Geschehens. Wie stark diese Erwartung in den etwa beteiligten Menschen lebt, ja ob da überhaupt Menschen sind, die sie bewußterweise hegen, darauf kommt jetzt gar nichts an. Die Erwartung besteht, sie liegt in der ganzen Situation. Da ist eine uralte ehrwürdige Institution, oft und schwer angegriffen von außen und noch öfter und schwerer kompromittiert von innen, aber von unverwüstlicher Lebens- oder sagen wir Daseinskraft, wandlungsfähig und beharrlich zugleich, altertümlich und in der Regel auch modern (was jeweilen gerade modern heißt), obwohl sie beides nicht gerne Wort haben will, den schwersten intellektuellen, politischen, sozialen und sogar religiösen Erschütterungen bis jetzt siegreich gewachsen – und wie sollte sie es nicht auch in Zukunft sein? Ihr Vorhandensein begründet auf einen Anspruch, der in groteskem Widerspruch zu stehen scheint mit den Tatsachen und dessen Berechtigung und Möglichkeit doch eigentlich nur ganz Wenige und wenig Beachtliche etwa laut und unzweideutig und restlos zu leugnen wagen. Da ist ein Gebäude, dessen Bauart schon, auch abgesehen von den Symbolen, Bildern und Geräten, mit denen es geschmückt ist, in der Sprache alter oder neuer Architektenkunst verrät, daß es als Schauplatz außerordentlicher Dinge gedacht ist. Da sind Menschen, nur 2–3 vielleicht, wie es ja hierzulande vorkommen soll, aber vielleicht auch einige Hundert, die, von einem merkwürdigen Instinkt oder Willen getrieben, diesem Gebäude zuströmen, wo sie – was suchen? Befriedigung einer alten Gewohnheit? Ja, aber woher diese alte Gewohnheit? Unterhaltung und Belehrung? Eine sehr merkwürdige Unterhaltung und Belehrung auf alle Fälle! Erbauung? Ja, so sagt man, aber was heißt Erbauung? Wissen sie es etwa? Oder wissen sie sonst, warum sie da sind? Jedenfalls sie sind da – und wenn es nur ein altes Mütterchen wäre –, und ihr Dasein schon weist hin auf ein Geschehen, das sie erwarten oder doch zu erwarten scheinen, das hier mindestens, wenn denn alles tot und ausgestorben sein sollte, früher einmal erwartet worden ist. Und da ist vor allem ein Mann, auf dem die Erwartung des da scheinbar bevorstehenden Geschehens in ganz besonderer Weise zu ruhen, zu lasten scheint, nicht nur weil er die Technik dieses Geschehens studiert hat und beherrschen sollte, nicht nur weil er von der Gesellschaft besoldet und angestellt oder doch fast widerspruchslos geduldet ist in der Funktion, deren Sinn offenbar dieses Geschehen wäre – nein, da ist nicht nur Mechanik, da ist Freiheit im Spiel, er selbst hat ja diesen Beruf ergriffen, Gott weiß aus was für Verständnissen und Mißverständnissen heraus, aber doch so, daß es seine kurze, seine einzige Lebenszeit nun ganz und gar mit der Erwartung jenes Geschehens verknüpft hat. Und dieser Mann wird nun vor der Gemeinde und für die Gemeinde beten, wohlverstanden: beten – zu Gott! Er wird die Bibel öffnen und Worte voll unendlicher Tragweite daraus zur Verlesung bringen, Worte, die alle auf Gott sich beziehen. Und dann wird er auf die Kanzel steigen und – welches Wagnis auf alle Fälle! – predigen, d. h. aus seinem Kopf und Herzen etwas hinzufügen zu dem, was aus der Bibel verlesen ist, »biblische« Gedanken der Eine nach bestem Wissen und Gewissen, kühn oder auch matt an der Bibel vorbeiflatternde Gedanken der Andere: es hat ja der eine eine »positive«, der andere eine »liberale« Predigt gestern vorbereitet, aber verschlägt es so viel, wenn man den Gegenstand bedenkt? Von Gott scheint ja hier auf alle Fälle, nolens volens vielleicht, die Rede sein zu sollen. Und dann wird er die Gemeinde singen lassen, altertümliche Gesänge voll schwerer, unheimlicher Gedankenfracht, seltsame gespenstische Zeugen der Leiden, Kämpfe und Triumphe der längst entschlafenen Väter, alle an den Rand eines unermeßlichen Geschehens führend, alle, ob Pfarrer und Gemeinde verstehen, was sie singen, oder nicht, voll Erinnerung an Gott, immer wieder an Gott. »Gott ist gegenwärtig!«5 Ja, Gott ist gegenwärtig. Die ganze Situation zeugt, ruft, schreit ja offenbar davon, und wenn sie, vom Pfarrer oder von der Gemeinde aus gesehen, noch so fragwürdig, kümmerlich und trostlos wäre, ja dann vielleicht gerade am meisten, mehr noch als da, wo Fülle und – menschlich geredet – gutes Gelingen das Problem der Situation halb oder ganz verdecken.
Aber was bedeutet diese Situation? Was ist das für ein Geschehen, auf das die Erwartung, die sich in ihm widerspiegelt, hinweist? Was heißt »Gott ist gegenwärtig!« in diesem Zusammenhang? Offenbar nicht ganz dasselbe, wie wenn wir auf einen blühenden Kirschbaum, auf Beethovens neunte Symphonie, auf den Staat oder auch auf unser und anderer ehrliches Tagewerk solche Rede anzuwenden uns erlauben. Warum sonst die überflüssige Zurüstung? Warum das Besondere gerade dieser Situation, wenn hier nicht hingezielt wäre auf ein besonderes, spezifisches, kühner gemeintes: »Gott ist gegenwärtig!«? Ist’s nicht so: Wenn die Menschen sich in diese Situation begeben, also in die Kirche kommen, dann haben sie, ob sie es wissen oder nicht, Kirschbaum, Symphonie, Staat, Tagewerk und noch einiges andre hinter sich als irgendwie erschöpfte Möglichkeiten. Die Antwort: Gott ist gegenwärtig, die in allen diesen Möglichkeiten zweifellos irgendwie gegeben ist, der Wahrheitsgehalt dieser Dinge, ihr Zeugnis von einem Sinn des Lebens, ist offenbar selbst wieder fraglich geworden, die großen Rätsel des Daseins: die unergründliche Stummheit der uns umgebenden sog. Natur, die Zufälligkeit und Dunkelheit alles dessen, was einzeln und in der Zeit ist, das Leid, das Schicksal der Völker und Individuen, das radikale Böse, der Tod, sie sind wieder da und reden, reden lauter als alles das, was uns versichern möchte, Gott sei gegenwärtig. Nein, die Frage läßt sich nicht mehr unterdrücken, sie wird brennend heiß: Ob’s denn auch wahr ist? Wahr die Ahnung von einer Einheit des Zerstreuten, von einem ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht, von einer Gerechtigkeit nicht irgendwo hinter den Sternen, sondern in dem Geschehen, das nun einmal unser Leben ist, von einem Himmel über der Erde: über der Erde ja, aber über der Erde? Wahr die Rede von der Liebe und Güte eines Gottes, der mehr wäre als eines jener freundlichen Götzlein, deren Herkunft so leicht zu durchschauen ist, deren Herrschaft so wenig lang währt? Ob’s wahr ist?, wollen die Menschen vernehmen, erkennen, wissen, und darum greifen sie, nicht wissend, was sie tun, nach der unerhörten Möglichkeit zu beten, die Bibel aufzuschlagen, von Gott zu reden, zu hören und zu singen. Darum kommen sie zu uns, begeben sich in die ganze groteske Situation des Sonntagmorgens, die ja nur der potenzierte Ausdruck dieser Möglichkeit ist. Wohlverstanden: vernehmen, erkennen, wissen wollen sie, also nicht nur Behauptungen und Beteuerungen hören, und wenn sie noch so innig und begeistert wären. Und vernehmen, erkennen, wissen wollen sie, ob’s wahr ist, also nicht irgend etwas anderes, das wie die Katze um diesen heißen Brei herumgeht. Lassen wir uns nicht dadurch irre machen, daß uns dieses Begehren selten oder nie in dieser Dringlichkeit offen entgegen tritt. Das schreien die Menschen natürlich nicht einfach heraus und am wenigsten uns Pfarrern in die Ohren. Aber lassen wir uns nicht täuschen durch dieses ihr Schweigen, – Blut und Tränen, tiefste Verzweiflung und höchstes Hoffen, leidenschaftliches Verlangen, das, nein den zu fassen, der die Welt überwindet, weil er ihr Schöpfer und Erlöser ist, der Anfang und das Ende, der Herr der Welt, leidenschaftliches Verlangen, sich das Wort sagen zu lassen, das Wort, das Gnade im Gericht verheißt, Leben im Tode, Jenseits im Diesseits, Gottes Wort – das ist’s, was hinter unsern Kirchgängern steht, mag uns das, was sie begehren, in der sog. Wirklichkeit noch so schläfrig, noch so bürgerlich, noch so gewöhnlich vorkommen. Es ist wirklich nicht ratsam, sich an das vorletzte und vorvorletzte Begehren der Menschen zu halten, und sie werden uns keinen Dank wissen, wenn wir es tun. Sie erwarten von uns, daß wir sie besser verstehen, als sie sich selber verstehen, ernster nehmen, als sie sich selbst nehmen. Nicht dann sind wir lieblos, wenn wir tief hineingreifen in die Wunde, mit der sie zu uns kommen, sondern dann, wenn wir sie bloß betippen, als wüßten wir nicht, warum sie zu uns kommen. Nicht dann geben wir uns einer Illusion hin, wenn wir annehmen, daß sie von den letzten schwersten Fragen herkommen, sondern dann, wenn wir meinen, sie könnten sich, wenn sie zu uns kommen, wirklich mit vorletzten, leichteren Antworten abspeisen lassen. O ja, sie tun es natürlich vorläufig; sie sind gerührt, erfreut, befriedigt, auch wenn sie das, was sie eigentlich suchen, nicht finden, sondern (in religiösen, christlichen, positiv-christlichen Formen vielleicht) das, was sie im Grunde besser auch anderswo finden könnten. Der Katholizismus ist das gewaltige Beispiel dafür, wie es allenfalls gelingen kann, die Menschen hinzuhalten, einzulullen, ihr eigentliches Begehren vergessen zu lassen durch Darbietung einer glücklich gewählten letzten Vorläufigkeit. Aber täuschen wir uns nicht: wir sind nicht katholisch und unsre Gemeinden auch nicht, wir befinden uns in einem fortgeschrittenen Stadium der Situation, in dem uns die Verabreichung auch der bestgewählten Narkotika trotz aller rückläufigen Erscheinungen nur noch teilweise, nur noch kurzfristig gelingen kann. Glaubt es ihnen nicht, den Gutmütigen, die uns versichern, daß wir unsre Sache gut gemacht haben, auch dann, wenn unsre ganze Kunst darin bestanden hat, dem Sinn der Situation auszuweichen! Hört nicht auf sie, die Ängstlichen, die uns jammernd davor warnen, die Situation doch ja nicht etwa ernst werden zu lassen, doch ja nicht von unserm gewohnten Blind- zum Scharfschießen überzugehen! Es ist nicht die Stimme der Kirche Gottes, die aus ihnen redet! Der ernste Sinn der Situation bei uns ist der, daß die Menschen das Wort zu hören begehren, will sagen: die Antwort auf die Frage, ob’s wahr ist, von der sie, ob sie es wissen oder nicht, bewegt sind. Die Situation am Sonntag morgen ist im wörtlichsten Sinn end-geschichtlich, eschatologisch, auch von den Menschen aus betrachtet, von der Bibel vorläufig noch ganz abgesehen; d.h. wenn diese Situation eintritt, dann ist die Geschichte, die übrige Geschichte zu Ende, und ein letztes Begehren des Menschen nach einem letzten Geschehen wird nun maßgebend. Verstehen wir dieses letzte Begehren nicht, nehmen wir die Menschen nicht