Die 23 Tage von Listed - Carl Harry Kirkeby - E-Book

Die 23 Tage von Listed E-Book

Carl Harry Kirkeby

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Beschreibung

Bornholm: Auf seinem Heimweg von Svaneke nach Listed wird Hans Andresen umgebracht. Weshalb wird ein harmloser Fischer zum Opfer? Die Mordermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam stoßen bei ihrer Arbeit auf verlassene Freundinnen, undurchsichtige Kollegen von früher, verschwiegene Nachbarn und einige seltsame Bornholmer. Unterstützt von ihrer Chefin Karen Rasmussen, entwirren sie nach und nach die Knoten. Mit Köpfchen, Wagemut und etwas Glück arbeiten sie sich bis zur Aufklärung der Tat vor. Das alles vor dem Hintergrund der einmaligen Bornholmer Landschaft und dem zuweilen rauen Alltag auf der Insel. "Die 23 Tage von Listed" ist der Auftakt einer Krimireihe um Jan Kofoed, einen erfolgreichen und anerkannten Mordermittler, der nach einem persönlichen Schicksalsschlag auf seine Heimatinsel zurückkehrt, um dort seine letzten Dienstjahre zu verbringen. Unterstützt wird er von der Polizeipsychologin Ditte Holm, die lieber vor Ort als vom Schreibtisch aus ermittelt. Und dem jungen und sehr ehrgeizigen Christian Dam. Vierte wichtige Person ist Karen Rasmussen, die Chefin der Bornholm Polizei. Die Reihe erzählt nicht nur von Verbrechen und Aufklärung, sondern beleuchtet auch die private Seite der Ermittler und ihrer Partnerinnen und Partner. Bei aller Schönheit ist Bornholm nicht immer die perfekte Idylle, sondern es werden auch die Herausforderungen deutlich, die für ein Leben auf der Insel zu meistern sind. Mehr Informationen unter www.bornholmkrimi.de.

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Auf seinem Heimweg von Svaneke nach Listed wird Hans Andresen umgebracht. Weshalb wird ein harmloser Fischer zum Opfer? Die Mordermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam stoßen bei ihrer Arbeit auf verlassene Freundinnen, undurchsichtige Kollegen von früher, verschwiegene Nachbarn und einige seltsame Bornholmer. Unterstützt von ihrer Chefin Karen Rasmussen, entwirren sie nach und nach die Knoten. Mit Köpfchen, Wagemut und etwas Glück arbeiten sie sich bis zur Lösung vor. Das alles vor dem Hintergrund der einmaligen Bornholmer Landschaft und dem zuweilen rauen Alltag auf der Insel.

Carl Harry Kirkeby betrat 1967 mit seinen Eltern und seiner Schwester erstmals Bornholm. Seitdem ist er fast jedes Jahr wieder dort gewesen und das zu allen Jahreszeiten. So ist die Insel zu seiner zweiten Heimat geworden. Er verfasste unter anderem Namen Reiseführer über Bornholm, Jütland, Kopenhagen und Dänemark. 2022 bekam er die Idee für eine Krimireihe auf Bornholm, deren Auftakt „Die 23 Tage von Listed“ ist.

In seinem deutschen Leben arbeitet der gebürtige Lübecker Jan Scherping als Personalberater und Coach in Schwerin und veröffentlich auf seiner Website u.a. regelmäßig Blogs zu seinem Berufsalltag.

www.nord-coach.de

Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis

Tag 1 und 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Tag 3

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Tag 4

Kapitel 16

Kapitel 17

Tag 5

Kapitel 18

Kapitel 19

Tag 6

Kapitel 20

Kapitel 21

Tag 7

Kapitel 22

Tag 8

Kapitel 23

Tag 9

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Tag 10

Kapitel 27

Kapitel 28

Tag 11

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Tag 12

Kapitel 32

Tag 13

Kapitel 33

Tag 14

Kapitel 34

Tag 15

Kapitel 35

Tag 16

Kapitel 36

Tag 17

Kapitel 37

Tag 18

Kapitel 38

Kapitel 39

Tag 19

Kapitel 40

Kapitel 41

Tag 20

Kapitel 42

Tag 21

Kapitel 43

Tag 22

Kapitel 44

Tag 23

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Personenverzeichnis

Ermittler auf Bornholm

Christian Dam, jung, aufstrebend und ehrgeizig

Ditte Holm, studierte Psychologin und lieber auf der Straße aktiv

Jan Kofoed, erfolgreich und landesweit bekannt, für die letzten Dienstjahre wieder auf Bornholm tätig

Karen Rasmussen, Chefin der Bornholmer Polizei, verheiratet mit dem Bibliothekar Tom

Bornholmer(A-Z)

Hans Andresen, Fischer und Opfer

Lærke Dam, Volksschullehrerin und verheiratet mit Christian

Hans Davidsen, Makler in Rønne

Hans und Lisbeth Hansen, Nachbarn von Hans Andresen

Christina Hjorth, Nachbarin von Hans Andresen und Porzellanmalerin

Lone Holm, Mitarbeiterin im Bauamt (Byg og Miljø) und mit Ditte verheiratet

Kerstin Holmboe, Kunsthandwerkerin in Pedersker

Frederik Lykke, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, verheiratet mit Tine, das gemeinsame Kind heißt Malthe

Familie Madsen, Nachbarn von Hans Andresen

Aage Munch, Leiter der Bornholmer Polizeibehörde

Claus Nielsen, Notar in Nexø

Ben Petersen und Frau, Nachbarn von Hans Andresen

Dorthe Pihl, wohnte lange in Gentofte (Seeland), seit 2018 Witwe und nun wieder auf ihrer Heimatinsel

Sonja Skovgaard, Witwe (Jens-Ole † 2018) und Partnerin von Jan Kofoed

Dänemark

Brandur Thomsen, Immobilienentwickler aus Kopenhagen

Polen

Jakub Grabowski, Getränkehändler in Kołobrzeg (Kolberg)

Henryk Michalski, leitender Ermittler der Polizei in Szczecin (Stettin) Adam Nowak, Fischer in Świnoujście (Swinemünde)

Schweden

Gülce Durmuskaya, Freundin von Gunilla Stenström

Lasse Hellström, Leitender Ermittler der Polizei in Ystad

Bengt Magnusson, Fischer in Simrishamn

Erik Persson, Getränkehändler in Kivik

Gunilla Stenström, Freundin von Hans Andresen

Thorbjörn Ulfsson, stellvertretender Marktleiter bei ICA in Ystad

Tag 1 und 2

1

„Bald beginnt mein schönes Leben“, dachte Hans Andresen. Den Schnitt, der seinem letzten Gedanken folgte, bemerkte er nicht einmal mehr. Er sank zusammen und fiel vorneüber, sein Blut ergoss sich in weitem Strahl über Gras und Steine, Ameisen und Käfer, es lief zum Meer hin. Auf dem Wanderweg zwischen Svaneke und Listed war es kurz vor Mitternacht wieder ganz still, und so allein lag Andresen bis zum nächsten Montagmorgen um kurz vor 7 Uhr.

Dann kam eine Joggerin mit ihrem Hund herangelaufen. Die Sonne hatte sich aus dem Meer erhoben und strahlte auf Bornholms Ostküste. Es war noch frisch an diesem Maimorgen, aber der Tag versprach, warm zu werden. Der Labrador der jungen Frau begann zu bellen, was ungewöhnlich war. Sie sah sich um, ob hinter einem Gebüsch oder einem Baum Gefahr lauerte. Nein, das schien nicht so. Weiter vorne aber erblickte sie einen rot-blauen Haufen mitten auf dem Weg. Sie rief ihren Hund zurück und näherte sich ganz vorsichtig.

Sie erkannte einen blauen Overall, wie ihn die Fischer gerne trugen. Sie sah Haare. Und geronnenes Blut auf dem gesamten Weg und weit nach links und rechts hinaus. Sie fummelte ihr Handy aus der Gürteltasche und wählte den zentralen Notruf 112.

„Hallo, Mona Jensen aus Bornholm hier. Auf dem Wanderweg von Svaneke nach Listed liegt ein Toter. Sieht jedenfalls so aus. Ich will da nicht so dicht rangehen.“

„Vielen Dank, wir informieren sofort die Bornholmer Polizei. Bitte bleibe dort, bis die Kollegen eintreffen“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.

„Das tue ich, ja.“

„Und wenn es möglich ist, setz´ dich bitte so hin, dass du andere Jogger oder Spaziergänger warnen kannst. Schaffst du das?“

Es gelang Mona Jensen noch kurz ein „Ja“ herauszupressen. Dann übergab sie sich. Schnell hatte sie sich wieder gefangen, fand eine Bank, von der sie den Blick in beide Richtungen hatte, und setzte sich mit ihrem Labrador dorthin.

Es dauerte nicht lange, bis ein nächster Jogger des Weges kam. Mona rief ihm zu, er solle umdrehen, auf dem Weg läge ein Toter, die Polizei sei unterwegs. Der Mann stoppte, stutzte kurz, zog sein Handy heraus und versuchte, den rot-blauen Haufen zu fotografieren. Er näherte sich langsam, um noch bessere Bilder aufzunehmen. Erst als Mona damit drohte, dass sie ihn kenne und ihn der Polizei melden würde, steckte der Mann sein Handy wieder ein, schaute Mona böse an und machte kehrt. Bis die Polizei endlich kam, hatte sich ein solches Schauspiel vier weitere Male wiederholt. Mona Jensen zitterte.

2

Der Alarm weckte die Bereitschaftspolizisten Kenneth Knudsen und Simon Berger in Nexø. Wenige Minuten später sprang Berger zu Knudsen in den Wagen, und mit eingeschaltetem Blaulicht rasten sie Richtung Svaneke. Berger rief Mona an. Er bat sie, ihm per Handy ihren genauen Standort zu senden. Denn der Wanderweg war nur von wenigen Stellen zugänglich. Der Standort kam prompt.

Berger wusste, dass in dieser Woche bei einem Mord der Ermittler Christian Dam sofort informiert werden sollte. „Ich warne ihn schon mal vor“, sagte Berger und wählte seine Nummer.

Sie erreichten Svaneke, wo sie nicht so rasen konnten. Viele Kinder waren unterwegs, um vom Markt mit den Bussen in ihre Schulen gebracht zu werden. Aufgeregt zeigten diese auf den Polizeiwagen mit seinem Signal. Knudsen steuerte den Wagen durch den Hafen, dann die Straße hoch und rechts Richtung Gudhjem. Kaum war er am Ortsausgang, drückte er noch einmal auf das Gaspedal.

„Du nimmst gleich vorne die erste Straße nach Listed rein“, wies ihn Berger an. Das tat Knudsen, dann stellten sie den Wagen rechter Hand ab. Sie nahmen ein Absperrband aus dem Kofferraum und rannten den Weg durch den Wald hoch. Oben angekommen, sahen sie das Meer und das unbewaldete und gleichermaßen unebene Gelände. Sie liefen ein kurzes Stück. Dann erblickten sie auch schon eine winkende Mona Jensen auf einer Bank. Ein kleines Stück weiter begann ein kurzer bewaldeter Abschnitt. Sie zeigte auf einen blauen Haufen mitten auf dem Weg unmittelbar davor. Die beiden Polizisten stoppten ihren Lauf und näherten sich Schritt für Schritt dem rot-blauen Bündel.

Sie sahen einen Mann mit aufgeschlitztem Hals. Aus dem waren Unmengen an Blut herausgeflossen und hatten die Umgebung bedeckt. Berger nahm sein Handy heraus und rief Christian Dam an.

„Christian, ihr dürft kommen. Ein Mann mit aufgeschlitztem Hals. Wir brauchen den Doc und die Spurensicherung. Und Jan ganz sicherlich auch. Kein schöner Anblick.“

Derweil hatte Knudsen die Zeugin etwas weiter von der Leiche hingesetzt und ihr eine Decke umgelegt. Die junge Frau fror nicht nur wegen des frischen Morgens. Ihr Hund zerrte an der Leine und wollte gehen. „Er hat noch nicht gefrühstückt“, erklärte Mona lächelnd.

„Du kannst gleich los. Ich will nur kurz notieren, wie du den Mann hier gefunden hast. Wenn die Rønner Kollegen später noch Fragen haben, können sie ja zu dir kommen“, beruhigte Knudsen sie. Berger begann das Absperrband um die vereinzelten Bäume und größeren Gesteinsblöcke zu wickeln.

Mona Jensen erzählte, dass sie hier entlanggelaufen war, wie sie es fast täglich täte. Dass der Hund angeschlagen hätte, sie dann die Leiche entdeckt und die Polizei angerufen habe. Sie nannte auch voller Empörung den Namen eines Joggers, der während ihrer Wartezeit versucht hatte, sich der Leiche zu nähern. Und der, als sie ihn gebeten hatte, das zu unterlassen, weggegangen war, ihr dabei aber den Mittelfinger gezeigt hatte. Sie zeigte in Richtung Leiche: „Die Kotze dahinten ist übrigens von mir.“ Knudsen nickte, das hatte er sich gedacht.

Dann machte Mona Jensen sich auf den Weg, und ihr Labrador lief noch schneller in Richtung Frühstück. Inzwischen hatten sich auch einige Schaulustige eingefunden. Das Signal des Einsatzwagens war unüberhörbar gewesen, und so hatte sich schnell herumgesprochen, dass die Polizei sich hier aufhielt. Die antwortete allerdings auf keine der Fragen, die ihr von den Schaulustigen zugerufen wurden. Sie warteten stattdessen auf die Ermittler aus Rønne, die das hier alles übernehmen würden.

3

Christian Dam war Politiassistent bei der Bornholmer Polizei, die natürlich in Rønne angesiedelt war. Ein Politiassistent war auf Stufe 8 von 10 Karriereschritten, es wurde absteigend gezählt. Bis zu Dänemarks Polizist Nummer 1, dem Rigspolitichef, war es also noch ein sehr weiter Weg. Wenn überhaupt. Er hatte gerade sein kleines Fitnessprogramm absolviert, das aus Liegestützen, Sit-ups, Seilspringen, Hanteln und einigen Übungen mehr bestand. Zu diesem allmorgendlichen Ritual gehörten danach ein Energydrink namens State, den einige der bekanntesten dänischen Sportler bewarben, sowie eine heiße Dusche. Nun saß er gerade in Rønne mit seiner Frau Lærke beim Frühstück, als der Anruf von Berger kam.

Svaneke, Listed, er überlegte kurz. Das war am anderen Ende der Insel. Stolze 40 Kilometer entfernt. Was, wenn die Anruferin sich irrte? Nun gut, erst einmal sollten die Kollegen aus Nexø checken, was da wirklich auf dem Weg lag.

Christian spielte kurz durch, was er tun musste, wenn die Joggerin recht hatte. Seine Frau kam zu ihm: „Was Schlimmes?“

„Keine Ahnung, eine Frau behauptet, zwischen Svaneke und Listed liegt ein Toter. Die Kollegen Knudsen und Berger sind unterwegs, um das zu prüfen.“

„Das heißt, wenn das stimmt, musst du auf die andere Seite?“

„Ja, aber erst einmal will ich hören, was die beiden sehen.“

„Gut, mein Schatz,“, sagte Lærke. „Ich muss los.“ Sie gab ihm einen Kuss und ging in den Flur. Lærke war Volksschullehrerin, und der Unterricht würde in 20 Minuten beginnen. Sie wohnten noch zentral in Rønne, suchten aber derzeit ein größeres Haus in Rønne und Umgebung, denn sie hatten mit der Familienplanung begonnen. Christian war 34, sie selbst 28. Und es sollte ja nicht bei einem Kind bleiben.

Sie öffnete die Wohnungstür und drehte sich noch einmal zu ihrem Mann um. Doch der befand sich bereits in einem Tunnel und wartete nur auf den Rückruf der Nexøer Kollegen.

4

Nachdem er die Bestätigung von der Ostküste erhalten hatte, rief Christian sofort Jan Kofoed, der als Chefpolitiinspektør den dritthöchsten dänischen Rang besaß, an. Dieser hatte sich zwar gerade zum Frühstück hingesetzt, versprach aber, sich umgehend auf den Weg zu machen.

Jan. Christian musste grinsen. Jan war ein Unikum, er war der Chef und das einzige Mitglied der Bornholmer Abteilung für Mordermittlungen. Denn tatsächlich gab es diese Abteilung eigentlich gar nicht, bei maximal einem Mord pro Jahr war sie überflüssig. Für diesen einen Fall schickte man seit Jahrzehnten Ermittler aus Kopenhagen auf die Insel.

Doch Jan war in Polizeikreisen und auch in der Politik eine Legende. In der Bevölkerung war er nicht sonderlich bekannt, doch intern hatte er sich große Anerkennung erarbeitet. Zum einen durch seine hohe Erfolgsquote bei Ermittlungen, zum anderen durch sein souveränes und empathisches Auftreten. Man musste vermutlich sehr lange suchen, um jemanden zu finden, der Schlechtes über ihn sagte.

Nach einem persönlichen Schicksalsschlag hatte er darum gebeten, seine letzten Dienstjahre auf seiner Heimatinsel verbringen zu dürfen. Diesen Wunsch wollte man ihm nicht abschlagen. Er musste sich nur verpflichten, auch bei anderen Ermittlungen konstruktiv mitzuarbeiten. Das tat er. Unterstellt war er formal weiterhin Kopenhagen, aber auf Bornholm musste er sich Karen Rasmussen fügen, der Chefin der Bornholmer Polizei. Das hatte in diesem ersten Jahr problemlos geklappt.

Christian freute sich, von dem großen alten Mann der dänischen Polizei noch lernen zu können. Nun hatten sie augenscheinlich ihren ersten gemeinsamen Mordfall. Er steuerte den Wagen hinaus aus der Stadt in Richtung Svaneke.

Derweil hatte Jan den Kaffee, den er zum Frühstück hatte durchlaufen lassen, in eine Thermoskanne geschüttet. Er aß noch schnell eine Scheibe Brot, dann griff er Notizblock und Thermoskanne und ging zu seinem Wagen. Der alljährliche Bornholmer Mordfall war eingetreten.

Er näherte sich dem Waldgebiet von Almindingen. Durchgeschnittene Kehle. Wenn das stimmte, was die Nexøer Kollegen berichtet hatten, dann sah das nach einem Profi aus. Der sicherlich nicht auf der Insel wohnt. Sondern auf dem Festland oder in Schweden. Oder Deutschland. Oder Polen.

In Listed hatte die Polizei die südliche Zufahrt abgesperrt, um Parkraum für Dienstwagen zu sichern. Medien und Schaulustige mussten sich irgendwo anders in dem idyllischen Fischerdörfchen einen Parkplatz suchen.

Mit Jan war auch Knud Rømer, der Rechtsmediziner, angekommen. Er war ein Glückfall für Jan und seine Kollegen, denn eigentlich gab es keinen Rechtsmediziner auf der Insel, der wurde im Bedarfsfall aus Kopenhagen eingeflogen. Rømer arbeitete als Chirurg am Bornholmer Krankenhaus im Ullasvej, besaß aber eine Ausbildung als Rechtsmediziner und konnte so im Falle eines Falles gerufen werden. Gemeinsam gingen die beiden Richtung Tatort.

„Die Nexøer haben etwas von durchgeschnittener Kehle gesagt“, begann Jan. „Ich bin gespannt, was du sagst, Knud.“

„Ja“, nickte Rømer. „Ich hoffe, dass ich dir schnell sagen kann, wie es passiert ist. Dann musst du nur noch herausfinden, wer es getan hat.“ Er grinste: „Ich rufe dich so schnell wie möglich an.“

Oben angekommen, ging Jan zu Christian, der kurz zuvor angekommen war und mit den Nexøer Kollegen sprach.

„Guten Morgen, Jan“, begrüßte Christian ihn. „Also, gefunden hat den Mann eine Joggerin. Die Kollegen hier haben ihre Aussage aufgenommen. Sie wohnt in Listed, wir können ihr jederzeit Fragen stellen, wenn wir noch welche haben, sie ist wieder zu Hause.“

Jan nickte und ging hinüber zur Leiche. Ein durchaus stattlicher Mann lag zusammengekrümmt und starr in einem See aus getrocknetem Blut. Die Spurensicherung bewegte sich sehr vorsichtig über das felsige Gelände. Die Sonne stand inzwischen etwas höher und wärmte den Tatort. Er schaute sich um. Der Weg lag die meiste Zeit frei, nur hier führte er kurz zwischen einigen Bäumen hindurch. Gut möglich, dass hinter dem letzten gut getarnt der Mörder gewartet hatte.

Rømer kam auf ihn zu: „Ja, so wie ich das sehe, war das ein einzelner Schnitt. Sehr sauber und vermutlich sehr schnell. Erstklassige Arbeit. Ich bin nicht sicher, dass das Opfer den Schnitt bemerkt hat. Weitere Einstiche gibt es nicht. Er riecht noch immer nach Fisch und Alkohol, auch wenn er vermutlich seit ungefähr 23 Uhr hier liegt. Vielleicht kann ich dir nach der Obduktion mehr sagen.“

In diesem Moment kam jemand von der Spurensicherung auf Jan zu und zeigte ihm eine Brieftasche. „Die müssen wir mitnehmen, ich will dir nur sagen, dass der Mann Hans Andresen heißt und in Listed am Strandstien wohnt. Oder gewohnt hat, besser gesagt. Ein Mobiltelefon hat er auch bei sich, ich denke, dass wir den Code knacken können. Weder Autoschlüssel noch Hausschlüssel haben wir gefunden.“ Jan nickte und nahm sich den Ausweis. 1967 war der Mann in Esbjerg geboren worden. Er merkte sich die Hausnummer am Strandstien.

Er ging wieder hinüber zu Christian: „Hier ist für uns nicht viel zu holen. Ich habe gerade Ditte angerufen, dass sie kommen soll. Du fährst nach Svaneke und erkundigst dich dort nach dem Mann. Er heißt Hans Andresen. Ich vermute, dass er im Hafen oder auf einem Boot arbeitet, Rømer sagt, der Mann riecht intensiv nach Fisch. Und nach Alkohol. Vielleicht war er in der Räucherei beschäftigt, Fischkutter gibt es ja kaum noch. Du bekommst gleich ein Foto von ihm aus Rønne. Die machen ihn gerade per Photoshop etwas schöner, als er heute Morgen aussieht. Ich fahre mit Ditte nach Listed und schaue mir seine Wohnung an. Ditte kann sich bei den Nachbarn umhören.“ Christian nickte und ging Richtung Parkplatz.

5

Svaneke erwachte. Die östlichste Stadt Dänemarks, gut 1.000 Einwohner und ein Touristenmagnet. Die Fischräucherei, die Glasbläserei, die Bonbonfabrik, das vielfach prämierte Svaneke Bryghus mit seinen Craft Bieren, der kleine Hafen, die malerischen Häuser rund um die knallrote Kirche sowie zahlreiche andere Boutiquen lockten die Besucher. Da blieb der von dem durch sein Opernhaus in Sydney weltberühmten Architekten Jørn Utzon gezeichnete Wasserturm am Nordrand von ihnen fast unbeachtet.

Die Geschäfte stellten gerade ihre Hinweistafeln vor die Tür, die Restaurants wiesen schon mal auf das Mittagsangebot hin. Bei Brugsen marschierten die Menschen mit ihren Lebensmitteleinkäufen rein und raus. Die ersten Touristen wanderten den Kirchhügel hinauf.

Christian parkte seinen Wagen am Hafen. An dem Geländer ein kleines Stück weiter standen drei ältere Männer, sie unterhielten sich intensiv, hielten Kaffeebecher in der Hand, rauchten und blickten mit viel Kennerschaft in den Hafen. Christian ging auf sie zu. Er stellte sich vor und zeigte das Bild von Andresen: „Kennt ihr den?“ Die Männer schauten prüfend auf sein Handy. „Das ist Hans aus Listed, Hans Andresen. Was ist mit dem?“, fragte einer.

„Wo arbeitet der?“, wich Christian aus.

„Bei ihm, Kofoed“, antwortete einer der Männer und zeigte auf ein Fischerboot. Vor dem standen zwei Kühlwagen. Kisten mit Flundern wurden vom Schiff getragen, gewogen und verschwanden im Kühlraum.

Christian ging hinüber und stellte sich vor: „Ich bin Christian Dam von der Polizei in Rønne. Kann ich dich mal wegen Andresen sprechen?“

Der Fischer schaute ihn an: „Der ist heute nicht zur Arbeit gekommen.“

„Ich weiß, deswegen will ich dich ja sprechen.“

„Aha. Ja, da musst du warten, bis alles verladen ist, dann komme ich zu dir.“ Man sah, wie es in besagtem Kofoed ratterte. Was die Polizei wohl von ihm wollte? Christian dachte, der wird wohl nicht mit Jan verwandt sein. Auf Bornholm hieß gefühlt jeder zweite Kofoed.

Er ging zur Imbissbude am Südrand des Hafens und holte sich einen Kaffee. Als die letzte Tür der Kühlwagen geschlossen war, stieg auch Fischer Kofoed aus seinem Boot und kam auf Christian zu.

„Andersen also, was ist mit ihm? Er ist heute nicht zur Arbeit gekommen.“

„Ja, das wird er auch in Zukunft nicht. Er ist tot.“ Christian hatte sich für die weniger mitfühlende Vorgehensweise entschieden. „Man hat ihn heute früh auf dem Wanderweg von Svaneke nach Listed gefunden.“ „Wie das?“ Fischer Kofoeds Augen hatten sich weit geöffnet. Eine Mischung aus Neugier und Entsetzen sprach aus ihnen. „Ist er gestürzt? Oder wurde er umgebracht?“

„Dazu kann ich nichts sagen. Wir ermitteln das gerade“, log Christian. „Seit wann arbeitet er für dich?“ Fischer Kofoed dachte kurz nach: „Frühjahr 2019. Ja, genau.“

„Wie kam es dazu?“

„Ich war mit meiner Frau den Samstag nach Malmö gefahren, am Wochenende bin ich nicht auf See. Als wir abends mit der Fähre zurückgekommen sind, habe ich an der Tankstelle unten am Hafen noch getankt. Er hat da an der Kasse gejobbt und fragte, ob ich gerade mit der Fähre gekommen sei. Wie man so beim Bezahlen kurz redet. Ich sagte, ja, als Fischer hätte ich dazu in der Woche keine Zeit. Da erzählte er mir, dass er früher auch als Fischer unterwegs war. In Esbjerg.“ „Und da hast du ihn gleich engagiert?“

„Nein, so schnell ging das nicht. Aber mein Vater, von dem ich das Boot übernommen habe, hatte mir ein paar Tage vorher mitgeteilt, dass er nicht mehr mit hinausfahren wolle, weil es sich sowieso nicht mehr lohne. Für die Flunder gibt es kaum Geld, Dorsche und andere Fische dürfen wir nicht mehr fangen. Und dann habe ich ein paar Tage nachgedacht und bin noch einmal zur Tanke in Rønne. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht zu mir kommen wolle. Er hat sofort zugesagt. Weil er nämlich gerade ein Haus in Listed gekauft hatte und deshalb von Rønne wegziehen wollte. Und dann auch bei der Tanke kündigen wollte.“

„War er ein guter Fischer?“, warf Christian ein.

„Ja, ein sehr guter. Er war ja überall in der Nordsee, Dänemark, Norwegen hoch, sogar fast bis Island. Der wusste, was er an Bord tun musste. Und wie er gute Reviere entdeckt.“

Christian freute sich, der Mann war gesprächig. Deshalb setzte er gleich nach: „Seid ihr Freunde geworden?“

„Freunde?“ Kofoed pustete ein wenig durch und schüttelte den Kopf. „Nein, Freunde nicht. Wir verstanden uns gut. Haben viel erzählt. Aber er hat es meistens bei alten Geschichten belassen. Lustige und manchmal auch weniger lustige Geschichten aus seiner Zeit auf See. Erst als Fischer, später bei Mærsk.“ „Bei Mærsk?“

„Ja, bei Mærsk. Für die ist er auf deren Containerschiffen über die großen Meere. Einmal sogar rund um den Erdball mit Panamakanal und Suezkanal.“

„Du sagst, das waren meist alte Geschichten. Verstehe ich dich richtig, dass er so wirklich Persönliches nicht erzählt hat?“ Christian hatte das Gefühl, auf einer interessanten Spur zu sein.

„Na ja, das fing ja schon bei der Politik an. Wenn ich mich über die Fischerei-Quoten aufgeregt habe, die von der EU beschlossen wurden, winkte er ab. Die Politiker würden eh tun, was sie wollen, da könne man nichts machen. Und damit war für ihn das letzte Wort gesprochen. Ich meine, das ist für uns Fischer doch ein wichtiges Thema. Hier auf Bornholm gibt ein Fischer nach dem anderen auf und kassiert lieber die Abwrackprämie. Bald ist hier ganz Schluss. Aber ihm war das egal.“

„Hatte er Familie?“

„Auch so ein Punkt“, Fischer Kofoed ließ sich kaum bremsen. „Nie hat er Frau oder Kinder erwähnt. Irgendwann habe ich ihn gefragt, ob er mal verheiratet war oder Kinder hat. Er sagte nur kurz ,Nein´. Er habe lange Jahre eine Freundin in Esbjerg gehabt, aber der war er zu oft auf See, da hat die sich einen anderen gesucht.“

„Und hatte er hier auf Bornholm eine Freundin?“

„Du kannst Fragen stellen.“ Fischer Kofoed zeigte erste Anzeichen von Erschöpfung. „Wie gesagt, über solche Themen sprach er eigentlich nie. Ich weiß, dass er mit der was hatte, die in Pedersker vorne diesen Kunstladen hat. So mit Schmuck und Keramik und anderem Krams.“

„Den kenne ich“, warf Christian ein.

„Ja, mit der hatte er gerade etwas angefangen, als er zu mir kam. Aber er sprach wenig über die, und irgendwann wurde die gar nicht mehr erwähnt. Und im Jahr darauf nannte er einmal eine aus Rønne. Die fand er wohl richtig scharf, ich musste einige Male abends Ersatz finden, als ich die Netze auswerfen wollte. Da musste er unbedingt nach Rønne.“

„Weißt du, wie die hieß?“

„Nein, einen Namen hat er nie erwähnt. Glaube ich. Die war Verkäuferin irgendwo am Markt.“

Das half Christian nicht wirklich. Aber Fischer Kofoed war auch noch nicht am Ende: „Eines fällt mir noch ein. Einmal kam er mit einigen blauen Flecken aus dem Wochenende. Ich habe gewitzelt, ob er es nicht mehr in den Schlafzimmerschrank geschafft hätte. Er hat abgewunken und behauptet, von der Leiter gefallen zu sein. Ob das nun stimmte oder er sich nicht rechtzeitig im Schlafzimmerschrank versteckt hat oder er sich in der Kneipe geprügelt hatte, weiß ich nicht. Aber ich hatte den Eindruck, dass es mächtig Ärger gegeben hatte.“

„Vielen Dank“, sagte Christian. „Das war hochinteressant. Vermutlich komme ich nochmal wieder, wenn wir etwas weiter sind. Wie geht es bei dir weiter? Du brauchst ja einen neuen Mann.“

„Ja, willst du nicht?“, scherzte Fischer Kofoed. „So schlecht wie die Polizei zahle ich auch.“

„Nein danke, ich fühle mich da ganz gut aufgehoben. Das, was du machst, lohnt sich doch eigentlich nicht mehr, warum bleibst du trotzdem dabei?“

„Weil ich der Sohn eines Fischers bin, ich kenne nichts anderes. In der Ostsee lohnt sich das überhaupt nicht mehr, wie gesagt, die Quoten von der EU verderben das Geschäft, speziell das mit Dorsch. Mein Vater ist mehr und mehr in die Nordsee ausgewichen, war oft Wochen nicht zu Hause. Aber dazu hatte er die letzten Jahre keine Lust mehr. Deshalb sind wir nur auf der Ostsee herumgetuckert und haben von der Hand in den Mund gelebt. Jetzt habe ich das Boot übernommen und werde ab Herbst wieder Richtung Nordsee fahren. Dann sieht mich unsere schöne Insel länger nicht. Vorher genieße ich noch den Sommer hier. Die nächsten Tage werden mir einige von den alten Fischern aushelfen. Aber ich brauche dringend einen Ersatz, der mit in die Nordsee kommt. Am besten zwei Leute. Also, falls du mal was hörst.“

„Dann denke ich an dich.“ Christian verabschiedete sich und ging wieder zu seinem Wagen.

6

Jan wartete vor Andresens Haus. Der Wagen von Ditte Holm näherte sich. Sie war Politiassistent af 1. grad und stand damit in der Hierarchie bereits auf Platz 7. Das war gut für ihr Gehalt, aber ansonsten war es ihr egal. Die Bornholmer Polizei arbeitete recht hierarchiefrei, die Verantwortlichkeiten waren klar verteilt und wurden von den meisten akzeptiert.

Jan hatte in seinem ersten Jahr zurück auf Bornholm ihre beharrliche Art sehr zu schätzen gelernt. Sie biss sich auch durch die härtesten Herausforderungen, gab nie einen Fall verloren. Vielleicht war es dieser Charakter, der sie auch zu einer guten Handballerin werden ließ, wie er gehört hatte. Als Kreisläuferin musste sie sich oft gegen deutlich größere und schwerere Gegnerinnen durchsetzen. Erkennbar müde, aber dennoch fröhlich stieg sie aus ihrem Wagen. Jan erzählte ihr kurz, was er bislang wusste. Er bat sie, sich einmal bei den Nachbarn umzuhören. Er selbst zog sich den Schutzanzug an, die passenden Schuhe und Handschuhe, um ja keine Spuren zu verwischen, und ließ sich vom polizeilichen Schlüsseldienst Andresens Haus öffnen. Das war nicht ganz einfach, denn es war mehrfach gesichert. Aber es gelang.

Jan hatte in seiner langen Laufbahn viele Wohnungen und Häuser gesehen. Schöne und hässliche, kalte und gemütliche, saubere und wahre Müllhalden. Manche wie aus der Wohnzeitschrift, andere tatsächliche Einzelstücke, weil da jemand ein Händchen hatte. Bei manchen hingen schöne Bilder an der Wand, bei anderen steckten gestickte Bilder von Skagen-Fischern im Rahmen. Manche verbargen gar ein Geheimnis. Die hier war einfach nur langweilig. Langweiliger Durchschnitt.

Die Möbel im Wohnzimmer sahen aus wie wahllos auf dem Flohmarkt zusammengekauft. Stilistisch passte nichts zueinander. Was manchmal auch Stil haben konnte, hier aber nicht. Manches sah schon sehr abgewohnt aus. Ein Buchregal gab es. Darin standen Bildbände zu Schiffen, zu Island, den Færøern, zu Norwegen und zu Esbjerg. Etwas über die Geschichte des Mærsk-Konzerns. Ein paar zerfledderte Krimis. Und noch ein paar Fachbücher, deren Titel er nur überflog.

Dafür fiel ein großer Fernseher auf. Davor lagen ein paar Illustrierte älteren Datums. Früher hätten in einem solchen Haus vermutlich auch noch ein paar Pornohefte gelegen oder Soft-Sex-Illustrierte wie Rapport. Aber die waren längst durch das Internet ersetzt.

Er ging in die Küche. Ein Teller und ein Glas standen noch verschmutzt neben der Spüle. Es war hier nicht sonderlich sauber, aber auch nicht schmutzig. Es stapelte sich kein dreckiges Geschirr oder leere Pizzapackungen. Der Kühlschrank beherbergte ein paar Flaschen Tuborg Bier, etwas Wurst und Käse, eine Flasche Cola, eine Orangenmarmelade, Senf und Ketchup. Im Eisfach lag eine Flasche Aalborg Dild Akvavit. Im Bad schaute er in die Schränke. Andresen lebte tatsächlich allein. Nichts deutete darauf hin, dass sich noch jemand anderes hier die Zähne putzte.

Im Schlafzimmer öffnete er die Schränke, auch hier nur Andresens Klamotten, kein Schlüpfer, kein BH. Ja, natürlich gab es auch die Möglichkeit, dass er auf Männer stand. Aber auch dafür fanden sich hier keine Indizien.

Er schritt durch das Wohnzimmer zurück Richtung Esszimmer. Ein großes Foto von einem Mærsk-Frachter hing eingerahmt an der Wand. Ein paar Urkunden für besondere Fahrten oder Leistungen. Unter anderem eine, die bezeugte, dass er mit einem Frachter rund um die Welt gefahren war. Aber was fehlte, waren ganz persönliche Bilder. Von einer Frau oder Freundin, von Kindern, von den Eltern oder guten Freunden, mit denen er z. B. im Urlaub war. Nichts dergleichen, alles seelenlos.

Im Esszimmer stand ein kleiner Schreibtisch. Jan blätterte durch den kleinen Papierhaufen. Quittungen von Jysk, von Shell in Aakirkeby, zwei von Netto in Nexø, eine Rechnung für eine Autoreparatur, zwei Quittungen noch vom Bäcker in Nexø. Sonst nichts. Dann fiel ihm plötzlich auf, dass auch dieses langweilige Haus ein Geheimnis verbarg. Der Computer fehlte. Er schaute unter den Schreibtisch. Da war nichts. Nur ein paar Kabel. Vermutlich hatte oben ein Laptop gestanden.

Wo war der? Hatte Andresen ihn irgendwo versteckt? Bei der Leiche hatte man keinen Hausschlüssel gefunden. War jemand mit ihm ins Haus gelangt und hatte ihn mitgenommen? Vermutlich. Das war ärgerlich, aber der Täter hatte einige Stunden Vorsprung. Und hatte die genutzt.

Er trat nach draußen. Die Sonne war aufgestiegen und strahlte ihn an. Welch einmalige Lage dieses Haus besaß. Man musste nur über die Straße gehen und stand schon am Meer. Ein fantastisches Fleckchen Erde. Er rief in der Zentrale an und bat darum, dass jemand das Haus wieder verschließen und anschließend versiegeln möge. Dann stieg er in seinen Wagen.

Der schwarze Volvo oben bei dem Schmuck- und Uhrendesigner fiel ihm nicht auf.

7

Ditte hatte Pech. Sie sollte die fünf nächsten Nachbarn zu Andresen befragen. Doch niemand war da, sie waren alle zur Arbeit gefahren. Oder wohin auch immer. Nur eine Tür wurde ihr geöffnet. Eine ältere Dame machte ihr auf, ihre Bewegungen waren etwas langsam, sie zog ein Bein leicht nach. Ditte stellte sich vor und durfte eintreten. Sie ging durch in die Wohnstube. Eine Ansammlung von Flughafen-Kitsch. Souvenirs, wie man sie vor dem Rückflug noch schnell kauft. Sie erblickte eine Pyramide, einen Buddha, einen Sombrero, einen Vulkan und einen Gondoliere aus Venedig. Außerdem hingen einige eher scheußliche Blumenbilder an der Wand.

„Du reist gerne“, stellte Ditte fest.

„Ich bin viel gereist“, lächelte Christina Hjorth. „Aber vor einem dreiviertel Jahr hatte ich einen leichten Schlaganfall. Nun muss ich wohl für immer auf Bornholm bleiben.“

„Das tut mir leid“, entgegnete Ditte. „Ich bin wegen deines Nachbarn hier, Hans Andresen. Er ist tot.“

„Ach, er ist das? Ich habe in Bornholms Radio gehört, dass die Polizei in Listed ist.“

„Ja, er ist oben beim Wanderweg nach Svaneke gefunden worden. Was kannst du uns zu ihm sagen?“

Christina Hjorth sank etwas zusammen und atmete schwer: „Wenig. Er wohnte ja noch nicht lange hier. Und er hat kaum mit jemandem gesprochen. Er kam vormittags, wenn sie die Fische in Svaneke verladen hatten. Dann hat er vermutlich geschlafen, er musste ja früh hoch. Und abends ist er wieder nach Svaneke, um die Netze auszuwerfen. Im Sommer hat man ihn manchmal spät abends nach Hause kommen sehen, ich glaube, manchmal hatte er auch mehr als ein Bier getrunken.“ Sie lächelte etwas verschmitzt.

„War er immer allein? Oder hast du ihn manchmal in Begleitung gesehen?“

„Nein, wie gesagt, gesehen habe ich ihn kaum, aber wenn, dann immer allein.“

„Wenn du ihn gesehen hast, wirkte er dann auf dich fröhlich oder ernst oder traurig?“

Die Pause war lang. Dann schüttelte Christina Hjorth den Kopf: „Nein, alles nicht. Der sah immer so gleichgültig aus. So, als wenn ihn alles nicht interessierte. Der fragte auch nicht, wie es einem geht. Der wollte mit niemandem etwas zu tun haben, glaube ich. Der hätte auch nach Nord-Grönland ziehen können.“ Sie lächelte angestrengt. „Ich kann dir wirklich nichts über ihn erzählen.“

„Ja gut, Christina, dann danke ich dir. Das war nicht viel, aber auch das sagt schon einiges.“

„Ja, das tut mir leid. Eine Frage habe ich noch, wenn du erlaubst. Wer bekommt denn nun sein Haus?“

Ditte schaute verwundert: „Wie kommst du denn jetzt darauf? Ich meine, das wissen wir noch nicht. Wir wissen nicht, ob er verheiratet war oder ob es Kinder gibt. Ist das wichtig?“

„Nein.“ Hjorth wiegelte ab. „Aber als ältere und etwas behinderte Frau will man natürlich wissen, wer neben einem einzieht.“

„Ja“, gab Ditte ihr recht. „Das verstehe ich gut. Ich hoffe, dass das in den nächsten Tagen feststeht. Wer würde denn dein Haus bekommen?“

„Meine Tochter Lilly, sie wohnt drüben in Jütland, in Skanderborg. Ich nehme an, sie würde es verkaufen. Aber das soll sie ruhig. Was machst du eines Tages mit dem Haus deiner Eltern?“

Diese Gegenfrage schmeckte Ditte gar nicht. Was ging diese Frau, die sie erst seit ein paar Minuten kannte, ihr Privatleben an? Sie zuckte mit den Schultern, verabschiedete sich und stand auf.

Sie ging zurück zu Jan, der an seinem Auto stand und telefonierte. Als das Gespräch beendet war, schaute er sie an: „Das war Karen, die Datenbankabfrage hat zu Andresen leider nichts ergeben, ein unbeschriebenes Blatt.“

8

Am Nachmittag saßen Jan, Ditte und Christian in der Zentrale am Zahrtmannsvej in Rønne. Karen Rasmussen, die Chefin der Bornholmer Polizei, hatte sich dazugesetzt, der Fall war schließlich spektakulär. Und die Medien löcherten sie ständig, wollten den aktuellen Ermittlungsstand erfahren. Jan berichtete von seinem Besuch des Opferhauses, Ditte von ihrem bei der Nachbarin und Christian von seinem Gespräch mit Fischer Jan. Anschließend herrschte einen Moment Stille.

Karen durchbrach sie: „Wir haben noch nicht viel. Wir haben einen fast 55-jährigen Mann aus Esbjerg, der dort mal als Fischer und später bei Mærsk gearbeitet hat. Dieser besitzt anscheinend keine Familie, jedenfalls haben die Abfragen bei den Ämtern nichts ergeben. Er ist vor vier Jahren nach Bornholm gekommen und hatte hier wohl mit mindestens zwei Frauen eine Liaison. Zunächst hat er an der Tankstelle in Rønne gearbeitet und nun drei Jahre auf einem Fischkutter in Svaneke. Sein Handy konnte noch nicht geöffnet werden, das wird hoffentlich heute gelingen. Und mehr wissen wir nicht, er ist nicht in unseren Datenbanken verzeichnet.“ Sie wirkte ungeduldig. Das war für sie untypisch. Normalerweise ruhte die mittelgroße 50-jährige mit den langen roten Haaren in sich. Zumindest nach außen. Mochte es drinnen noch so in ihr brodeln, sie ließ sich nichts anmerken. Seien es politischer Druck von oben, penetrante Medienvertreter, unfähige Mitarbeiter, schweigende Verdächtige oder anscheinend unlösbare Fälle.

Jan wiegelte ab: „Das ist zu Beginn von Ermittlungen nicht so ungewöhnlich, wir sollten uns von außen nicht unter Druck setzen lassen. Christian, könntest du bitte zu der Kunsthandwerkerin in Pedersker fahren und sie zu Andresen befragen?“

„Ich könnte sie auch anrufen“, warf Christian ein, der keine Lust auf eine nächste Autofahrt quer über die Insel hatte.

„Nein, wie du weißt, bin ich ein großer Freund von Überraschungen und Überrumpelungen. Ich vermeide es möglichst, dass Leute sich vorbereiten und Antworten auswendig lernen können. Und Ditte, könntest du bitte heute Abend nochmals zu den Nachbarn fahren, die heute nicht zu Hause waren, sondern vermutlich bei der Arbeit?“

Auch Ditte war nicht begeistert. Sie und ihre Frau Lone hatten ihre Nachbarn in Nyker heute Abend auf ein Glas Wein eingeladen. Aber sie wusste, dass Zeitgewinn jetzt für die Ermittlungen wichtig war.

„Gut“, schloss Jan, „ich versuche von Mærsk einen Lebenslauf von Andresen zu bekommen. Bei der Tankstelle musste er vermutlich keinen vorlegen und bei dem Fischer sicherlich auch nicht. Die waren beide froh, dass sie jemanden gefunden hatten. Aber bei Mærsk geht so etwas nicht.“

Karen schaltete sich nochmals ein: „Was ist denn mit der Tankstelle? Sollen wir den Besitzer nicht befragen? Vielleicht weiß der etwas, was die anderen nicht wissen.“

Jan nickte: „Stimmt, den haben wir bisher vergessen. Christian?“

Der nickte. Diese Ermittlungen schienen aufwändig zu werden.

9

Ditte Holm schrieb ihrer Frau Lone per WhatsApp, dass sie etwas später kommen würde, zuvor aber den Wein und ein paar Kleinigkeiten besorgen und zu Hause abstellen würde. Lone arbeitete bei der Inselverwaltung, Bornholms Kommune, in der Baubehörde. Sie musste Entscheidungsvorlagen für Baugenehmigungen vorbereiten. Kein Job, mit dem man Beliebtheitspunkte erntete. Aber sämtliche Bescheide wurden von ihrem Chef oder seiner Stellvertreterin unterschrieben, die sich folglich bei Ablehnungen den Zorn zuzogen. Lone war eher die graue Eminenz im Hintergrund und damit sehr zufrieden.

Ditte fuhr hinunter zum Hafen und kaufte bei Kvickly Wein und ein paar dazu passende Kleinigkeiten wie Schafskäse, Oliven und Erdnüsse. Dann fuhr sie nach Nyker und brachte die Einkäufe ins Haus. Stellte den Weißwein in den Kühlschrank und gab dem schon sehr hungrigen Nova Scotia Duck Tolling Retriever namens Kafka sein Futter. Danach startete sie den Motor Richtung Listed.

Da war Christian schon unterwegs nach Pedersker. Er kannte das Geschäft, war mit Lærke ein paar Mal da gewesen, gekauft hatten sie aber nur einmal ein paar heruntergesetzte Schnapsgläser. Die in einer Glasbläserei in Svaneke gefertigt worden waren.

Er hatte vorhin ablehnend auf Jans Aufforderung reagiert, nochmals quer über die Insel zu fahren. Nicht weil er faul war, sondern einfach genervt. Manchmal hasste er die Strecken auf Bornholm sogar regelrecht. Natürlich war das Streckennetz auf einer Insel von 40 Kilometer Länge und 40 Kilometer Breite nicht besonders vielfältig. Konnte es ja gar nicht sein. Aber das hatte natürlich zur Folge, dass man immer dieselben Straßen befuhr. Er hatte schon manchmal überlegt, kleinere und unbekanntere Straßen zu nutzen. Aber die kosteten natürlich auch mehr Zeit.

So fuhr er auch heute direkt nach Pedersker. Selbst die leuchtend gelben Rapsfelder unterwegs konnten seine Stimmung nicht aufhellen, diese Fahrt nervte ihn, auch wenn er ihre Notwendigkeit einsah. Er folgte dem Schild Bornholmsk Brugskunst auf den Hof des Gehöfts. Auf dem Parkplatz standen nur drei Wagen. Einer trug ein schwedisches Kennzeichen, einer ein deutsches. Auf dem dritten stand der Name des Geschäfts. Er öffnete Tür und brachte so eine kleine Glocke zum Läuten.

Die Besucher waren in einer anderen Ecke, so dass er zügig zu der an der Kasse sitzenden Besitzerin ging. Ihr schwarzer Lockenkopf fiel ihm gleich auf, ihr etwas zerfurchtes Gesicht wirkte unfroh: „Kerstin Holmboe, nehme ich an.“

Die Frau mit ihrem schwarzen Lockenkopf schaute auf: „Ja, das bin ich. Worum geht es?“

Christian stellte sich vor und nannte den Grund seines Besuches. Die Frau nickte: „Ja, das kam in den Nachrichten. Und das ist er? Also der Tote? Na ja.“ Ihre Trauer hielt sich erkennbar in Grenzen.

Das deutsche Ehepaar näherte sich der Kasse und stellte zwei Keramikleuchter hin. Kerstin Holmboe wickelte sie ein, die Deutschen bezahlten und verabschiedeten sich. Sie machte Christian ein Zeichen, dass sie gerne vor der Tür mit ihm sprechen würde.

„Du warst also mit ihm befreundet, ihr wart ein Paar?“, begann Christian.

„Ja, es sah eine Zeit so aus“, war die eher nach Enttäuschung klingende Antwort.

„Wann war das?“

„2019. Du willst sicherlich gleich wissen, wie wir uns kennengelernt haben. Das war auf dem Winter-Flohmarkt in der Sporthalle in Aakirkeby. Ich hatte dort mit einer Freundin einen Stand. Sie löste ihre Wohnung hier auf, weil sie eine neue Anstellung in Roskilde gefunden hatte. Und ich wollte ein paar Ladenhüter loswerden, die hier schon länger verstaubten.“

„Und einer deiner Kunden war Hans Andresen?“