Die 15 Tage von Nexø - Carl Harry Kirkeby - E-Book

Die 15 Tage von Nexø E-Book

Carl Harry Kirkeby

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Beschreibung

Im Spätherbst 2022 hängt ein Toter an einer Glocke der Ruts Kirke. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen deutschen Studenten handelt, der jedes Jahr nach Bornholm gekommen ist. Angeblich, um ein ganz neuartiges Buch über die Kirchen der Insel zu schreiben. Wo ist das Mordmotiv? Die Ermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam beleuchten sein Umfeld. Seine früheren Vermieter, ein etwas heruntergekommenes Paar. Einen früheren dänischen Kommilitonen ebenso wie seinen jetzigen Vermieter, einen strenggläubigen Mann. Wie stand es um seine weiblichen Bekanntschaften? Welche Rolle spielen seine Eltern? Die drei Ermittler machen überraschende Entdeckungen, während ihre Chefin Karen Rasmussen vorübergehend den Behördenleiter ersetzen muss. Das alles inmitten der einmaligen Landschaft der Insel und ihrem zuweilen rauen Alltag.

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Im Spätherbst 2022 hängt ein Toter an einer Glocke der Ruts Kirke. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen deutschen Studenten handelt, der jedes Jahr nach Bornholm gekommen ist. Angeblich, um ein ganz neuartiges Buch über die Kirchen der Insel zu schreiben. Wo ist das Mordmotiv?

Die Ermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam beleuchten sein Umfeld. Seine früheren Vermieter, ein etwas heruntergekommenes Paar. Einen früheren dänischen Kommilitonen ebenso wie seinen jetzigen Vermieter, einen strenggläubigen Mann. Wie stand es um seine weiblichen Bekanntschaften? Welche Rolle spielen seine Eltern?

Die drei Ermittler machen überraschende Entdeckungen, während ihre Chefin Karen Rasmussen vorübergehend den Behördenleiter ersetzen muss. Das alles inmitten der einmaligen Landschaft der Insel und ihrem zuweilen rauen Alltag.

Carl Harry Kirkeby betrat 1967 mit seinen Eltern und seiner Schwester erstmals Bornholm. Seitdem ist er fast jedes Jahr wieder dort gewesen und das zu allen Jahreszeiten. So ist die Insel zu seiner zweiten Heimat geworden. Er verfasste unter anderem Namen Reiseführer über dänische Regionen. 2022 bekam er die Idee für eine Krimireihe auf Bornholm, deren dritter Band „Die 15 Tage von Nexø“ ist.

In seinem deutschen Leben arbeitet der gebürtige Lübecker Jan Scherping als Personalberater und Coach in Schwerin und veröffentlicht auf seiner Website www.nord-coach.de u.a. regelmäßig Blogs zu seinem Berufsalltag.

Personenverzeichnis

Ermittler auf Bornholm

Christian Dam, jung, aufstrebend und ehrgeizig

Ditte Holm, studierte Psychologin und lieber vor Ort als am Schreibtisch

Jan Kofoed, erfolgreich und landesweit bekannt, für die letzten Dienstjahre wieder auf Bornholm tätig

Karen Rasmussen, Chefin der Bornholmer Polizei, verheiratet mit dem Bibliothekar Tom

Bornholmer(A-Z)

Birgitta und Gunnar Bendtsen, frühere Vermieter von Tobias Schuster

Per Bjerg, IT-Millionär

Amalie Bonde, Pastorin der Gemeinde Hasle/Rutsker

Freyja und Lennart Carlsen, Ehepaar in Klemensker

Lærke Dam, Grundschullehrerin und verheiratet mit Christian

Svend Gravgaard, Kirchenvorstand in der Gemeinde Nexø/Poulsker

Lone Holm, Mitarbeiterin im Bauamt Bornholm und mit Ditte verheiratet

Nana Kubiak, Pastorin in Allinge

Kathe Kyster, Keramikerin in Østermarie

Helle Larsen, Leiterin der Burgundarholm Bank

Bjarne Melchior, früherer Drogenhändler, nun Pferdebesitzer

Aage Munch, Leiter der gesamten Bornholmer Polizeibehörde

Brian Rose, Studienfreund von Tobias und jetzt Naturschützer

Line Rude, Keramikerin mit einer Werkstatt zwischen Olsker und Gudhjem

Frank Schou, Pastor in der Gemeinde Nexø/Poulsker

Sonja Skovgaard, Witwe (Jens-Ole † 2018) und jetzt Partnerin von Jan Kofoed

Peter Winther, Küster der Gemeinde Nexø/Poulsker und Vermieter von Tobias

Dänen(Festland, A-Z)

Jette Bech, Galeristin mit Kontakten zum kriminellen Milieu

Preben Birk, Sonderermittler aus Kopenhagen

Henrik Møller, früher Bjarne Melchiors (s. Bornholmer) Mann für das Grobe

Kasper Svendsen, Sonderermittler aus Kopenhagen

Deutsche(A-Z)

Leonie Groth, Keramik-Azubi und Praktikantin bei der Keramikerin Kathe Kyster

Charu Gupta, Kunststudentin und Praktikantin bei der Keramikerin Line Rude

Agnes und Jürgen Schuster, Eltern von Tobias

Tobias Schuster, deutscher Wissenschaftler und Opfer

Torge Schuster, Bruder von Tobias, lebt in Kanada

Inhaltsverzeichnis

Tag 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Tag 2

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Tag 3

Kapitel 10

Kapitel 11

Tag 4

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Tag 5

Kapitel 17

Kapitel 18

Tag 6

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Tag 7

Kapitel 22

Kapitel 23

Tag 8

Kapitel 24

Kapitel 25

Tag 9

Kapitel 26

Kapitel 27

Tag 10

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Tag 11

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Tag 12

Kapitel 34

Kapitel 35

Tag 13

Kapitel 36

Kapitel 37

Tag 14

Kapitel 38

Tag 15

Kapitel 39

Tag 1

1

Kopfüber war der Mann an die Kirchenglocke gebunden worden. Während des Läutens vorhin beim Gottesdienst war ständig ein dumpfes Aufschlagen zu hören. Amalie Bonde, die Pastorin der Ruts Kirke, war irritiert gewesen und nach dem Gottesdienst hinauf in den Westturm geeilt. Was war das für ein merkwürdiges Geräusch? Nun wusste sie es. Der an eine der beiden Glocken gehängte und splitternackte Mann war durch das Aufschlagen grün und blau am Körper, das Gesicht völlig entstellt. Sie erkannte ihn trotzdem. Sie hatte nicht einmal schreien können, war nur fassungslos. Amalie ging die Treppen hinunter, nicht zu schnell, um nicht zu stürzen. Unten nahm sie ihre Handtasche und griff sich ihr Telefon. Sie wählte 112.

Eine knappe halbe Stunde später parkten Bereitschaftspolizisten und Krankenwagen auf dem Kirchenparkplatz, nach weiteren 20 Minuten stiegen die Ermittler Ditte Holm und Jan Kofoed aus Jans Wagen. Ihren Kollegen Christian Dam hatten sie in Rønne gelassen. Am Abend vorher hatten die Ermittler mit ihrer Chefin Karen Rasmussen sowie allen Partnern bei Dams etwas gefeiert. Ein Doppelmord war die Woche zuvor aufgeklärt worden, außerdem wollte man sich untereinander besser kennenlernen. Christians Frau Lærke hatte dabei erzählt, dass sie schwanger sei. Der Jubel der Gäste war groß.

Als der Alarm kam, hatten Karen und Jan entschieden, Christian für diese erste Tatortbegehung bei seiner Frau zu lassen. Schließlich mussten dort auch noch die Hinterlassenschaften des Vorabends beseitigt werden. Und Karen hatte sich eh etwas aus dem Team zurückziehen müssen, da sie zusätzlich die Aufgaben des erkrankten Behördenchefs Aage Munch übernommen hatte.

Nun standen sie in ihren Schutzanzügen samt Überziehern und Handschuhen oben im Glockenturm neben der Pastorin und schauten auf die nackte Leiche.

„Den kenne ich, das ist Tobias Schuster, ein Deutscher“, sagte Bonde leise.

„Woher kennst du ihn?“, fragte Jan gleich zurück.

„Der kommt jedes Jahr nach Bornholm, das ist so ein ewiger Student. Der wollte immer ein Buch über alle Bornholmer Kirchen schreiben. Er war bei allen Pastoren auf Bornholm und hat mit ihnen gesprochen.“

„Was für ein Buch? Architektur?“

„Ja, auch, Architektur, Geschichte, besondere Personen, Anekdoten, die Friedhöfe und die Glockentürme.“

„Aber gibt es solche Bücher nicht zur Genüge?“, wandte Ditte ein.

„Ja, aber er meinte, dass er ganz neue wissenschaftliche Erkenntnisse besäße, die sensationell seien. Außerdem pikante Enthüllungen.“

Knud Rømer, der Rechtsmediziner, kam die Treppen hoch, sichtlich übermüdet: „Guten Morgen. Konntet ihr mit dem nicht bis Montag warten?“

„Wir schon, aber der Mörder nicht“, gab Jan zur Antwort. Rømer ging so dicht wie möglich an den Leichnam heran, musste aber aufpassen, nicht hinunterzufallen. Guckte links, guckte rechts, ging in die Hocke, um den Kopf besser inspizieren zu können. Er schaute eine Weile und erhob sich wieder: „Er hat heftige Wunden am Kopf, einige Schläge, vermutlich mit einer Stange. Ob die tödlich waren oder etwas anderes, werde ich euch später sagen können. Und bevor ihr jetzt fragt: Er ist circa zwölf Stunden tot, zumindest ist das meine Ferndiagnose. Ja, nun wird es spannend, wie wir den Mann von der Glocke bekommen.“ Sein Blick war mehr als skeptisch.

Die beiden Ermittler nickten. Die Kollegen von der Spurensicherung kamen die Treppe hoch. Sie waren nicht sehr erfreut darüber, dass Pastorin und Ermittler schon auf den Tatort gegangen waren und somit vermutlich Spuren zerstört hatten. Ditte und Jan taten so, als wenn sie das nicht registrierten.

Jan wandte sich wieder Amalie Bonde zu: „Wo wohnt dieser Deutsche, weißt du das?“

„Nein, ich wusste nicht einmal, dass er dieses Jahr hier ist. Das letzte Mal haben wir 2018 miteinander gesprochen, da hat er bei einer Familie namens Bendtsen gewohnt, unten in Aakirkeby. Die Hausnummer weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, das war in der Smedegade oder einer Seitenstraße davon.“

„Danke.“ Die beiden Ermittler und die Pastorin stiegen den Glockenturm hinunter, böse Blicke der Spurensicherung folgten ihnen. Unten im Kirchenraum sah Jan hinauf zu dem Schiff, das von der Decke hing. „Primula af Svendborg“ las er. Jan wusste, dass diese Schiffe ursprünglich Gaben von in Seenot geratenen Menschen wie zum Beispiel Fischern waren, die sich so bei Gott für ihre Rettung bedankten. Er hatte diesen Schiffen nie viel Beachtung geschenkt, aber der wunderschöne rot-weiße Schoner hier kam ihm plötzlich sehr erhaben vor. Draußen auf dem Parkplatz schaute er hinüber nach Schweden, doch an diesem grauen Oktobermorgen war das Nachbarland nicht zu sehen. Selbst die See war nur erahnbar.

Jan lenkte den Wagen durch den Almindinger Wald Richtung Aakirkeby, während Ditte in der Zentrale die genaue Adresse der Bendtsens abfragte. Heruntergefallenes Laub wohin man schaute.

„Das ist ja wieder ein sehr symbolhafter Fundort gewesen“, nahm Ditte das Gespräch auf. „Neulich die Kamelköpfe und der Leuchtturm in Dueodde, jetzt der Glockenturm. Was die Glocke uns wohl sagen soll?“

Jan nickte: „Das frage ich mich auch. Wobei so ein religiöses Symbol schon eingrenzender ist, als es die Kamelköpfe waren. Vielleicht hat er sich bei seinem Buchprojekt den ein oder anderen Feind gemacht. Mal abwarten, was diese Bendtsens sagen. Hoffentlich wissen die etwas über seine Angehörigen, die müssen informiert werden.“ Sie hatten das Haus in Aakirkeby erreicht, „Birgitta og Gunnar Bendtsen“ stand auf dem Briefkasten. Sie klingelten.

Eine ältere Frau öffnete, sie hatte einen rosafarbenen Jogginganzug an, ihre lockigen blonden Haare waren heute noch keinem Kamm begegnet, und auch sonst schien sie sich ein wenig zu vernachlässigen. Ditte und Jan stellten sich vor und baten darum, eintreten zu dürfen.

Drinnen saß ihr Mann, der in „Ekstra Bladet“, der Boulevardzeitung, blätterte. Er trug einen grauen, fleckigen Jogginganzug und ein paar Hausschuhe mit Löchern im Filz. Er schaute überrascht auf.

Jan stellte Ditte und sich vor und begann: „Heute Morgen ist auf dem Gelände der Ruts Kirke ein Toter gefunden worden. Die Ermittlungen dauern noch an, aber es scheint sich um einen Deutschen namens Tobias Schuster zu handeln.“ Er machte eine Pause. Das Ehepaar schaute sich mit offenen Mündern an. Es war kein Ton zu hören, niemand schrie, weinte oder schluchzte zumindest. Ditte wunderte sich, diese Reaktion war ungewöhnlich. Schließlich hatten die beiden Tobias immer wieder beherbergt. Unausgesprochen hatte sie sich mit Jan darauf verständigt, dass er redete, während sie ihre Gesprächspartner beobachtete. Bei denen schienen gerade Tausende Gedanken kreuz und quer durch den Kopf zu schießen. Birgitta Bendtsen fing sich als Erste: „Ist Tobias verunglückt?“

„Nein, er wurde umgebracht. Wie und warum ist aber unklar. Deshalb sind wir hier.“

„Warum? Was haben wir damit zu tun?“ Ihre Sprachmelodie zeugte von ihrer schwedischen Herkunft.

„Uns wurde gesagt, er wohnt hier.“

„Nein, schon lange nicht mehr.“

„Seit wann nicht mehr?“

„Seit 2019.“ Gunnar Bendtsen schaltete sich ein.

„Was war der Grund?“

„Wir hatten keinen Platz mehr. Er hat hinten im alten Gartenhäuschen gelebt. Das hat ein großes und ein kleines Zimmer und eine Toilette. Aber das wollten wir mehr nutzen, weil wir hier im Haus nicht mehr so gut die Stufen hochkommen. Oben schlafen jetzt unsere Kinder und Enkel, wenn sie uns besuchen.“

„Und wo hat er dann gewohnt, wisst ihr das?“

„Bei Peter Winther. Das ist der Küster der Kirche in Nexø und der in Poulsker auch, glaube ich. Der wohnt in Nexø in dieser Straße am Wasser. Wie heißt sie noch? Ach ja, Søndre Strandvej.“

„Aha, vielen Dank. Wie habt ihr Tobias kennengelernt?“

„Seine Eltern sind viele Jahre nach Bornholm gekommen. Mit Tobias und seinem Bruder Torge. Wir hatten zwei Ferienhäuser in Øster Sømarken. In dem einen war die Familie ab und zu als Gast. Als Tobias mal allein nach Bornholm gekommen ist, hat er da auch gewohnt. Und dann hat er uns erzählt, dass er im nächsten Jahr länger nach Bornholm kommen will, weil er ein Buch über die Bornholmer Kirchen schreiben will. Und dass es ihm zu teuer wird, dann in dem Ferienhaus zu wohnen. Da haben wir ihm angeboten, hinten bei uns zu wohnen.“

„Wann war das?“

Bendtsen überlegte: „Erzählt hat er uns davon 2014, glaube ich. Ja, er hat hinten drei Jahre im Sommer gelebt, ja, also seit 2015, ja, das kommt hin.“

Seine Frau hob die Stimme: „Ehrlich gesagt, waren wir am Ende auch ganz froh, dass er zu Winther gewechselt ist. Er war ja immer so drei bis vier Monate hier. Und er hatte einen Schlüssel zu unserem Haus, damit er duschen kann. Das war kein schönes Gefühl für uns. Jedenfalls für so lange Zeit.“

„Aber ihr habt dafür doch Geld bekommen“, warf Ditte ein.

„Ja, das war natürlich angenehm. Aber es war auch nicht so viel, für die Hütte konnten wir nicht so viel nehmen.“

„Wie viel war es denn?“

„2.000 Kronen pro Woche.“

„Naja, das sind 24.000 Kronen für drei Monate, das ist nicht so schlecht. Für eine Gartenlaube ohne Dusche.“ „Ich will mich ja auch nicht beschweren. Aber wie gesagt, es war dann auch gut.“

„Aber ihr seid weiter in Kontakt geblieben?“ Jan übernahm wieder.

„Nein“, schüttelte Gunnar den Kopf. „Im ersten Jahr kam er noch, dann durfte er nicht, es war ja Corona. Und in den letzten Jahren haben wir ihn zweimal getroffen. Zufällig, auf der Straße. Einmal hier in Aakirkeby und einmal beim Trabrennen. Er hat sich entschuldigt, aber sein Buch beanspruche ihn so. Birgitta und ich waren etwas enttäuscht, aber so war das.“

„Was war er für ein Typ?“

„Ja, was war er für ein Typ? Er war ein netter junger Mann, höflich, wusste viel, er war normal groß, sportlich, er ist damals viel gejoggt. Er sah nett aus, seine TShirts und seine Hemden waren sehr auffällig. Er trug gerne diese Hawaii-Hemden. Aber das war ihm alles nicht so wichtig, glaube ich. Der war besessen von seinem Buchprojekt. Ich habe nicht so richtig verstanden, was er damit wollte. Er hatte mal erzählt, das solle ein Buch über alle Kirchen werden mit ganz besonderen Geschichten, die noch keiner kennt. Na, ich weiß nicht, es gibt doch schon so viele Bücher über unsere Kirchen. Jedenfalls war er ständig mit seiner Kamera und seinem Notizblock unterwegs.“

„Hatte er mal Besuch, habt ihr davon etwas mitbekommen?“

„Nein, fast nie. Er ist vielleicht drei- oder viermal mit Frauen über den Hof gekommen und in das Häuschen gegangen. Aber öfter haben wir das nicht festgestellt. Wir gucken ja auch nicht den ganzen Tag aus dem Fenster. Wir kontrollieren auch niemanden.“

„Ihr habt gesagt, dass ihr die Eltern kennt.“

„Ja, das sind Apotheker aus Lübeck. Sehr nette Leute, wirklich. Sie heißt Agnes und hat eine Apotheke, und er heißt Jürgen und besitzt auch eine. Und dann haben sie noch eine, in Ost-Deutschland, glaube ich.“

„Wart ihr mit denen befreundet? Oder mit Tobias?“

„Nein“, antwortete Gunnar. „Wir verstanden uns gut, aber es waren Gäste, keine Freunde, nein.“

„Danke, das hilft uns sehr, die Eltern müssen wir noch informieren. So, nun lassen wir euch in Ruhe, genießt den restlichen Sonntag, trotz unserer schlechten Nachricht.“

„Dafür müsst ihr euch nicht entschuldigen. Vielen Dank, dass ihr uns informiert habt.“

„Wir fahren kurz nach Boderne und setzen uns ans Wasser“, sagte Jan, als sie draußen waren.

„Gerne, frische Luft kann ich gut gebrauchen. Das roch da drinnen richtig gammelig“, nickte Ditte.

„Ja, die beiden machen nicht den Eindruck, als wenn ihnen die Pflege von Haus und Körper wichtig ist. Ich weiß, du traust ihnen nicht, weil du älteren Leuten gegenüber immer misstrauisch bist.“

„Ich liege damit auch nicht falsch, wie du weißt“, lachte Ditte. Sie dachten beide an ihren ersten gemeinsamen Fall, als ein Fischer aus Listed ermordet wurde. Ditte verdächtigte die ganze Zeit seine Nachbarn, alles ältere Herrschaften. Sie waren nicht die Täter, spielten aber eine zentrale Rolle.

Sie holten sich in dem Imbiss an der Kirche einen Kaffee, parkten in Boderne vor dem großen Bekleidungsgeschäft und setzten sich auf die Kaimauer. Die Luft war kühl, aber solange es nicht regnete, ließ es sich an dem kleinen Hafen gut aushalten. Ein Ehepaar ging mit seinen zwei Hunden hinunter zum Strand, die Tiere rannten sofort ins Wasser.

Ditte schaute über das wolkenverhangene Meer: „Alles sehr merkwürdig. Ein Deutscher, der hier jahrelang herkommt und an einem Buch arbeitet, aber damit anscheinend nie fertig wird. Der umgebracht und sehr spektakulär präsentiert wird. Und der jahrelang bei Leuten wohnt, die stinken.“

Jan lachte: „Ja, viele Verbrechen erscheinen zu Beginn nicht logisch. Und am Ende laufen die Fäden doch sehr schlüssig zusammen. Deshalb mache ich mir momentan noch nicht viele Gedanken. Wir müssen erst einmal unsere Basisarbeit verrichten. Die Eltern ausfindig machen und informieren und zu diesem Küster fahren. Ich kann dich gerne nach Hause bringen und suche Küster Winther allein auf, wenn du willst.“

„Nein, das passt schon. Lass uns den gemeinsam anschauen, das wäre auch eine viel zu umständliche Fahrerei für dich. Danach kannst du mich zu Lone fahren. Ich nehme an, du fährst anschließend noch in die Zentrale und versuchst die Kollegen in Lübeck zu erreichen.“

„Ja, das werde ich auf jeden Fall tun. Dann lass uns ´rüber nach Nexø fahren.“ Sie warfen die Kaffeebecher in die Mülltonne und stiegen in den Wagen.

2

Jan ließ seinen Wagen ganz gemächlich entlang der leeren Felder Richtung Snogebæk rollen. Die Herbstsonne setzte sich allmählich durch, kein anderes Auto war zu sehen.

„Ich glaube, in Snogebæk zu wohnen wäre für mich im Sommer der Horror“, bemerkte Ditte. „Wenn abends die ganzen Ferienhausbewohner aus Balka und Dueodde ins Dorf strömen und bis tief in die Nacht zechen.

Gudhjem wäre noch schlimmer. Wenn da all die Autos hinunter zum Hafen fahren, unten einen Parkplatz suchen und keinen finden und dann einen in den wenigen Nebenstraßen suchen. Bevor sie die Serpentine wieder hochfahren. Schlimm.“

„Das ist das Schicksal der Touristenmagnete. Denke an Venedig, dort fallen jeden Tag Zigtausende von Menschen ein. Allein von den Kreuzfahrtschiffen. Und die Einwohner fliehen, immer weniger wollen dort

wohnen.“

„Da wäre ich schon längst weg, egal wie schön das sonst ist.“

„Ich habe erst in meiner Kopenhagener Zeit begriffen, wie hart das Leben für die Bewohner am Nyhavn ist. Es ist dort so schön. Aber wenn im Sommer die betrunkenen Besucher aus Dänemark und Schweden, Deutschland und Osteuropa sitzen und du nicht schlafen kannst, überlegst du schon, ob du nicht umziehen solltest.“ Sie ließen Snogebæk rechts liegen und näherten sich Nexø.

Dort hielten sie vor dem Haus von Peter Winther. Es war etwas älter und nicht sonderlich groß, der Rasen links und rechts vom Eingang war wie mit der Nagelschere geschnitten. Ditte zeigte auf ein Mini-Cabrio mit deutschem Kennzeichen, das ein paar Meter weiter stand. Sie klingelten.

Ein kleinerer Mann öffnete ihnen, Jan schätzte ihn spontan auf Anfang 60. Er war sehr gepflegt angezogen, für einen Sonntagnachmittag eher ungewöhnlich. Sein dünnes graublondes Haar war akkurat über die Glatze zur Seite gekämmt. Das unterstrich den steifen Eindruck, den er vermittelte. Jan stellte Ditte und sich vor und bat um Einlass.

Der Mann führte sie in die Wohnstube. Die Möbel waren älter, Jan erkannte sie aber wieder: „Sammelst du Möbel von Bornholms Møbelfabrik?“

„Ja, ich bin ein großer Anhänger dieser Möbel. Schade, dass die Fabrik schon lange geschlossen hat. Aber man findet immer wieder schöne Stücke. Was führt euch zu mir?“

„Kein schöner Anlass. Wohnt bei dir ein Deutscher namens Tobias Schuster?“

„Ja, er wohnt oben in der Einliegerwohnung. Weshalb?“

„Er wurde heute Vormittag tot aufgefunden. An der Ruts Kirke.“

Winther schaute die Ermittler ungläubig an, sagte nichts. Dann setzte er sich hin. Und schwieg weiter. Er guckte sich Hilfe suchend im Zimmer um, suchte Orientierung: „Was ist passiert?“

„Er ist umgebracht worden. Wie, ermittelt gerade unser Arzt“, antwortete Ditte.

„Wer? Wer macht so etwas? Warum?“

„Das ist jetzt unsere Aufgabe, das herauszufinden. Vielleicht kannst du uns dabei helfen?“

„Wie soll ich das tun? Oh Gott, es ist so furchtbar.“

Jan übernahm wieder: „Ist es richtig, dass Tobias seit 2019 hier immer wieder übernachtet hat?“

„Ja, er hat früher in Aakirkeby gewohnt, bei einer Familie Bendtsen. Die brauchten den Platz dann selbst, und da habe ich ihm die Wohnung oben angeboten. Die hat einen eigenen Eingang hinter dem Haus, man muss durch den Carport gehen, dahinter ist eine Treppe. Darüber hat er sich gefreut und unregelmäßig oben gewohnt. Natürlich im Sommer, aber auch zunehmend zu anderen Jahreszeiten. Jetzt wollte er letzte Hand an sein Buch anlegen.“

„Woher kanntet ihr euch?“

„Tobias ist, nein, besser war, seit vielen Jahren jeden Sommer auf Bornholm. Er wollte dieses Buch über alle Bornholmer Kirchen schreiben. Mit ganz neuen Geschichten und ganz neuen Erkenntnissen. Dafür ist er zu allen Pastoren gefahren und hat mit denen gesprochen. Die haben ihre Angestellten gebeten, ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen. Ich bin der Küster für die Gemeinde Nexø und Poulsker. Und so haben wir uns kennengelernt.“

„Aber deswegen bietet man einem doch nicht gleich eine Wohnung an.“

„Wir haben uns mit der Zeit angefreundet, haben uns viel über den Glauben und die Kirche unterhalten. Und warum soll ich die Wohnung oben leer lassen, wenn jemand Bedarf hat? Er hat dafür auch bezahlt.“

„Konnte er es sich denn zeitlich erlauben, mehrere Monate hier zu sein? Er hatte doch einen Beruf, oder?“, wollte Ditte wissen.

„Nein, er war eine Art Dauerstudent. Er hat erst Theologie studiert, in Kiel. Als er damit fertig war, hat er Archäologie studiert. Und nun war er mitten in einem Studium der Architektur.“

„Aber das kostet doch Geld?“

„Er hatte eine Stelle an der Universität. Und ich weiß, dass seine Eltern ihn auch unterstützt haben. Obwohl er schon über 30 Jahre alt war.“

„Was weißt du über sein Privatleben? Hatte er Freunde oder Bekannte auf Bornholm?“

„Ich weiß leider nur wenig. Er hat mir erzählt, dass er früher die eine oder andere Freundin in Deutschland hatte, aber wohl nichts Festes. Hier auf Bornholm hatte er wohl ein oder zwei Bekanntschaften in den letzten Jahren, aber nur so für den Sommer. Jedenfalls hat er das gesagt. Nun ja, er war kein großer Mann, normal aussehend und so mittelmäßig sportlich. Anfangs ist er noch gejoggt, doch das wurde immer weniger. Dafür fing er an, ins Fitnessstudio zu gehen. Aber er war sehr klug. Kein Wunder, dass sich manche Frauen für ihn interessierten.“

„Aber er hat nie welche hierhin mitgebracht?“

„Doch, vielleicht zwei- oder dreimal in den Jahren, mehr habe ich jedenfalls nicht bemerkt. Ich habe genug anderes zu tun.“

„Wohnst du hier ganz allein?“, warf Ditte ein.

„Ja, ich habe eines Tages erkannt, dass meine Aufgabe darin besteht, allein Gott zu dienen. Da hat niemand anderer mehr Platz.“

Ditte ließ nicht locker: „Gott zu dienen heißt ja nicht, dass man keine Bedürfnisse nach Liebe und Nähe hat.“ „Ich habe mich voll und ganz Gott versprochen, ich bin ein asexueller Mensch.“

Jan wollte das nicht vertiefen und mischte sich ein: „Hast du einen Schlüssel für seine Wohnung?“

„Ja, sicherheitshalber selbstverständlich. Ich war aber nie oben.“

„Das musst du auch weiterhin nicht. Aber wir möchten uns die Wohnung einmal ansehen.“

Sie gingen hinaus, durch den Carport und standen vor einer Metalltreppe.

„An der Straße steht ein Mini mit deutschem Kennzeichen. Ist das der Wagen von Tobias?“

„Ja, der gehört ihm.“

„Du musst nicht mit nach oben kommen“, sagte Jan zu Winther. Er hielt die Hand auf, in die der Küster den Schlüssel legte. Auf dem Weg nach oben murmelte Jan: „Ich glaube, die Wände sind hier sehr dünn.“

„Ich weiß.“ Ditte hätte den Wink gar nicht gebraucht, ihr war klar, dass sie sich in der Wohnung nicht über Winther unterhalten würden.

Die Wohnung war mittelmäßig aufgeräumt. Sie bestand aus einem großen Wohnzimmer, einem kleineren Schlafzimmer, einem Bad mit Dusche und einer kleinen Küche. Im Wohnzimmer stand ein großer Schreibtisch samt Laptop und größerem Bildschirm, Bücher stapelten sich auf und unter dem Schreibtisch. Rechts neben dem Computer stand ein Bild, auf dem zwei ältere Herrschaften zu sehen waren, Jan tippte auf die Großeltern. Eine große Couch bot ihren Platz mit Blick auf einen mittelgroßen Fernseher an. Eine in die Jahre gekommene Stereoanlage stand daneben. Auf ihr der Autoschlüssel. Das war alles ordentlich, aber nichts Bemerkenswertes. Zwei Buchregale standen an der Wand. In ihnen befanden sich neben vielen Büchern auch einige Ordner.

Ditte und Jan hatten sich Handschuhe übergezogen und schoben das ein oder andere Buch beiseite oder blätterten in ihm. Die zahllosen umherliegenden losen Blätter würden sie später durchlesen, die sollte die Spurensicherung erst einmal in Augenschein nehmen. Ebenso den Laptop. Vielleicht enthielt der hilfreiche Hinweise. Ditte öffnete den Kleiderschrank. Sie erschrak ein wenig, schrille Farben strahlten ihr entgegen.

„Jan, schau mal, hier hängt alles voller Hawaii-Hemden. Und die T-Shirts sind auch ziemlich bunt.“

„Das ist kurios. Nach Winthers Beschreibung eben hatte ich Tobias für einen eher unauffälligen Mann gehalten. Aber hatten nicht schon Bendtsens diese Hemden erwähnt?“

„Ja, er hat sogar welche mit Bornholmer Motiven.“

„Mit Bornholmer Motiven? Davon habe ich noch nie gehört, wer kommt denn auf so eine Idee?“

„Das war vor deiner Rückkehr, ich glaube 2018. Da hat einer aus der Nähe von Olsker die Idee gehabt. Er hat ihnen auch einen Bornholmer Namen gegeben, Godâ Skjorter. Tobias hat hier zum Beispiel das eine mit Hammershus, dem Turm von Christiansø und dem Wasserturm von Svaneke drauf. Die Hemden gab es nur eine kurze Zeit, die waren vielleicht doch nicht so ein Erfolg. Aber irgendwer wird’s bestimmt eines Tages nochmal versuchen.“

Jan betrat das Schlafzimmer, es war sehr einfach eingerichtet. Ein normal großer Schrank, ein Spiegel, das Bett war etwas breiter, irgendetwas zwischen Einzel- und Doppelbett. Jan öffnet die Nachttischschublade, drei Päckchen Präservative schauten ihn an.

„Ditte, schau mal, die nächste Überraschung.“ Er zeigte auf seinen Fund.

„Da hat Winther wohl nicht genau genug aus dem Fenster spioniert“, flüsterte sie. „Aber vielleicht hat er sie auch bei seinem Zug durch das berühmte Nexøer Nachtleben mitgenommen.“ Sie grinste.

In der Küche fanden sie einige Flaschen von dem billigen Harboe Bier. Außerdem einiges an Dosenessen, aber auch etwas Gemüse und einen Beutel Kartoffeln. Im Kühlschrank lagen zwei Sorten Käse, drei Sorten Wurst, ein Krabbensalat und drei Minuten-Koteletts. Letzte Station war das Bad, aber auch hier nicht Auffälliges, ein Rasierer samt Nivea After Shave, Zahnbürste, Seife, Deo, Kamm, Shampoo, Nagelschere, nichts, was es nicht auch in Millionen anderen Haushalten gab.

Ditte war genau andersherum gegangen. Vor der Wohnungstür trafen sie sich wieder und zuckten beide mit der Schulter. Auf den ersten Blick nichts, was sie schnell weiterbringen konnte. Jan schloss ab und sie gingen die Treppe wieder hinunter. Winther kam ihnen entgegen: „Habt ihr etwas gefunden, was zu dem Mörder führt?“

„Es gab einige interessante Hinweise“, log Jan. „Aber das sollen sich morgen früh die Kollegen von der Spurensicherung anschauen. Ich nehme den Schlüssel mit, dann können die Kollegen da jederzeit hinein.“

„Ja, natürlich“, stammelte Winther, dann verabschiedete man sich voneinander.

„Was für ein eigenartiger Mensch“, begann Jan, kaum dass sie 50 Meter gefahren waren.

„Ein ekelhafter Kerl“, echauffierte sich Ditte. „So aalglatt und schmierig. Hast du bemerkt, der hat nicht ein einziges Mal das Gesicht verzogen. Außer am Anfang, als wir ihm die Mitteilung überbracht haben. Aber ansonsten keine Regung, keine Mimik.“

„Das werden wir noch herausfinden, ob der wirklich so ist oder das nur spielt. Aber erst einmal müssen wir mehr über Tobias erfahren. Ich fahre dich jetzt nach Nyker und kontaktiere anschließend die Polizei in Lübeck. Die sollen zu seinen Eltern fahren. Ich vermute, du, Christian und ich werden die nächsten zwei Tage die Pastoren abklappern und in Kneipen nachfragen, ob man ihn dort gesehen hat. Und vor allem mit wem.“ Sie näherten sich wieder Aakirkeby.

„Meine Lieblingskirche auf Bornholm“, lächelte Jan.

„Ich weiß. Aber über meine Ny Kirke geht nichts“, gab Ditte lächelnd zurück.

„Meine ist groß und mächtig.“

„Und meine ist eine Rundkirche. Eine von nur sieben Rundkirchen in ganz Dänemark. Besonderer geht es nicht.“

„Ich gebe mich geschlagen.“ Sie erreichten den Abzweiger nach Vestermarie.

„Die drei großen Kondompackungen in seinem Nachttisch lassen mich noch nicht los“, bemerkte Jan.

„Ja, vielleicht war er tatsächlich so ein Gigolo. Und ein eifersüchtiger oder betrogener Mann hat ihn erschlagen. Oder eine Frau, die er mit einer anderen betrogen hat. “

„Ich habe im Moment ein Problem zu glauben, dass eine Frau ihn hoch in den Glockenturm tragen könnte. Vielleicht hat er tatsächlich eine vernachlässigte Bornholmerin glücklich gemacht, was ihr Mann aber anders sah.“

„Ja, wie damals bei dem Mord an dem Fischer Andresen. Diese Verrückte, die mit ihm etwas angefangen hatte, während ihr Mann mit dem Lkw in die Türkei fuhr. Und dummerweise eines Tages eher nach Hause kam.“

Jan lachte: „Ach ja, ich erinnere mich. Aber der gehörnte Ehemann hat Andresen nur verhauen, nicht umgebracht.“

Sie hielten vor Dittes Haus: „Grüße Lone von mir bitte. Und den kleinen Kafka auch.“

„Ja, danke, mache nicht mehr zu lange, Sonja wartet auf dich, heute ist Sonntag. Morgen beginnt die Arbeitswoche.“ Sie stieg aus, der Nova Scotia Duck Trolling Retriever stürmte bereits auf sie zu.

Jan fuhr weiter. Als wenn Polizisten feste Arbeitszeiten hätten. Aber Ditte hatte recht. Er hielt in der Zentrale im Zahrtmannsvej. Es war ruhig. Vermutlich war es letzte Nacht wieder zu ein paar Schlägereien gekommen, aber sonst nichts Erwähnenswertes. In seinem Büro angekommen, suchte er sich die Kontaktdaten der Polizei in Lübeck heraus. Er war nur zweimal in Lübeck gewesen. Das erste Mal wegen einer Frau, die er im Sommer an der Nordsee kennengelernt hatte. Das war in seiner Zeit in Vejle, kurz nach der Ausbildung auf Bornholm, ja, 1986 war das wohl, er war am Wochenende zur Disco nach Henne Strand gefahren. Dort traf er Gabriele, die mit ihrer Lübecker Handballmannschaft das Saisonende feierte. Erst tanzten und tranken sie in der Disco, dann zogen sie sich in die nahen Dünen zurück. Sie gab ihm am nächsten Tag ihre Adresse, er fuhr vier Wochen später in die Hansestadt. Sie stellten schnell fest, dass sie eigentlich gar nicht zueinander passten. Er fuhr abends wieder zurück. Zuvor versprachen sie sich aber, in Kontakt zu bleiben. Er hörte nie wieder etwas von ihr, meldete sich selbst aber auch nicht mehr.

Das zweite Mal machte er dort mit Tove Station. Sie waren in der Hamburger Elbphilharmonie gewesen, Tove hatte über Beziehungen zwei der begehrten Karten erhalten. Sie hatten das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky gehört, außerdem noch zwei kurze symphonische Stücke. Aber die hatte er genauso vergessen wie die Namen der Künstler. Beim Jazz wäre ihm das nicht passiert. Tove hatte vorgeschlagen, auf der Rückfahrt noch in Lübeck zu halten. Sie guckten sich das berühmte Holstentor an, die wunderschönen alten Gassen der Innenstadt und kauften zum Schluss noch Marzipan bei Niederegger. So waren sie erst sehr spät abends wieder in Kopenhagen angekommen.

Am anderen Ende meldete sich ein Moritz Steinhardt. Jan stellte sich auf Englisch vor, ein paar Brocken Deutsch ließ er einfließen.

„Ihr Dänen duzt euch doch alle, dann lass uns das doch auch gleich machen“, schlug Steinhardt vor. Nachdem Jan den Grund seines Anrufes dargestellt hatte, war einen Moment Pause.

Der deutsche Polizist nahm das Gespräch in einer Mischung aus Englisch und Deutsch wieder auf: „Oha, das wird ein schwieriger Moment. Ich kenne Jürgen Schuster, seine Apotheke liegt hier ganz in der Nähe. Die von seiner Frau ist weiter draußen an der Medizinischen Hochschule. Ich werde mir mal eine Kollegin schnappen und zu denen nach Hause fahren.“

„Was weißt du über sie?“

„Nur wenig. Wenn meine Frau oder ich etwas brauchen, hole ich das meistens bei Schuster. Und dann kommt man so ein wenig ins Gespräch. Er weiß auch, was ich tue. Die wohnen hier in einer der besseren Gegenden. Tobias war ihr ganzer Mittelpunkt, er hat fast jedes Mal von ihm erzählt. Ich glaube, den haben sie finanziell weiterhin unterstützt. Der andere Sohn, Torge, ist schon vor vielen Jahren nach Kanada ausgewandert. Der hat da eine eigene Firma, Maschinenbau, glaube ich.“

„Gut, dann überbringe du doch bitte die Nachricht. Und frage sie, wann ich sie morgen erreichen kann, um etwas mehr über Tobias zu erfahren.“ Sie verabschiedeten sich.

Jan fuhr zu sich nach Hause. Sonja und er hatten gestern noch verschiedene Gemüse gekauft, um daraus heute einen Eintopf zu machen. Sie wollte ihn an das Kochen heranführen, um sich selbst zu entlasten, aber auch, um ihn etwas von den Fertiggerichten wegzubringen, die er konsumierte, wenn er bei sich zu Abend aß. Und Gemüse schnippeln und zum Kochen zu bringen sei so schwer nicht, hatte sie behauptet. Nun musste sie doch wieder allein kochen. Außerdem wollten sie ab Mittwoch ihren Urlaub in Schweden nachholen, den sie wegen des Mordes an dem Kaufmann Jesper Olsen abgebrochen hatten. Jetzt sollten sie ihn erneut verschieben. Dass Sonja darüber alles andere als erfreut sein würde, war klar.

Er schickte ihr eine Nachricht, dass er nun zu Hause sei und in einer Stunde zu ihr kommen würde. Die Antwort kam prompt: „Das Essen steht dann pünktlich auf dem Tisch, wie gewünscht.“ Der Ton verhieß nichts Gutes. Er duschte, zog sich frische Sachen an, nahm sich ein Svaneke IPA aus dem Kühlschrank und ließ sich in den Sessel fallen.

Zog er tatsächlich die Morde an, wie Christian vorige Tage gewitzelt hatte? Jahrelang war es auf Bornholm ruhig gewesen, nur ab und an mal ein Mord. Aber ganz sicher nicht in der Häufung des letzten halben Jahres. Zwei Tote im Frühjahr, zwei Tote im Herbst und nun gleich noch einer. Er nahm noch einen Schluck. Weshalb band jemand einen Toten an einer Kirchenglocke fest? Wenn es hier tatsächlich um innerkirchliche Streitigkeiten handelte, war Vorsicht geboten. Vielerorts war die Kirche noch immer ein geschlossener Club, auch wenn die dänische Folkekirke nicht mit erzkatholischen Bünden zu vergleichen war. Was hatte der deutsche Student hier tatsächlich getrieben? Wollte er wirklich nur ein Buch schreiben? Offensichtlich versuchte er das schon seit ein paar Jahren.

Er nahm noch einen Schluck. Hoffentlich blieb er bei den Ermittlungen nicht mit Ditte allein. Sondern konnte auf Christian zurückgreifen. Dafür durfte Lærkes Schwangerschaft aber nicht zu kompliziert verlaufen. Christian hatte nun hoffentlich auch die angebliche Enkelin aus Odense verdrängt, in die er sich auf einer Dienstreise verguckt hatte. Und Karen war ebenfalls wichtig, selbst wenn sie sich als Polizeichefin nur bedingt um das Tagesgeschäft kümmern konnte. Aber die Zusatzbelastung mit der Behördenleitung war zu viel. Er hoffte, dass der alte Aage, der erkrankte Chef der gesamten Behörde, bald auf seinen Stuhl zurückkehren konnte. Oder Kopenhagen für ihn eine Ablösung fand. Er stellte die Flasche in die Küche, zog sich die Jacke an und ging hinüber zu Sonja.

„Am siebten Tag sollst du ruh´n“, empfing Sonja ihn und gab ihm einen Kuss.

„Das hätte ich auch gerne getan. Und sogar lieber Gemüse geschnitten. Aber da hatte jemand, den ich noch nicht kenne, etwas dagegen.“

„Ich habe das in den Nachrichten auf P4 gehört. Stimmt es, dass jemand auf die Glocke gebunden wurde?“

„Ja, aber das ist ja interessant, dass die von den Nachrichten das so genau wissen. So viele haben den Mann dort oben nicht gesehen. Wer hat da denn wieder vertrauliche Informationen durchgesteckt?“

„Wie furchtbar. Haben die Menschen denn gar keinen Respekt mehr? Also vor einer Kirchenglocke, meine ich.“

Jan schaute etwas irritiert. Aber Sonja meinte es ernst. Sie war sehr gläubig und eine begeisterte Kirchgängerin, betete eigentlich jeden Tag kurz in der Nicolai Kirke nebenan.

„Das Essen ist in fünf Minuten fertig“, sagte sie.

Jan nickte. Sein Telefon klingelte. Eine deutsche Nummer. Die Lübecker Polizei?

„Guten Abend, hier ist Jürgen Schuster. Entschuldigen Sie bitte die Störung am Sonntagabend zur Abendbrotzeit. Ich bin der Vater von Tobias Schuster. Die Polizei hat meine Frau und mich eben aufgesucht. Sprechen Sie Deutsch?“ Jan nahm ein heftiges Weinen im Hintergrund wahr: „Nur ein bisschen, Englisch verstehe und spreche ich besser.“

„Gut, dann spreche ich jetzt Englisch. Wir werden morgen nach Bornholm fahren, sodass wir am Dienstag zu Ihnen kommen können. Ich vermute, dass Sie einige Fragen zu unserem Sohn haben.“

Jan war etwas perplex. Der Lübecker Polizist hatte seine Telefonnummer weitergegeben. Dieser Apotheker schien sehr gefasst.

„Erst einmal möchte ich Ihnen und Ihrer Frau mein Beileid aussprechen. Ja, selbstverständlich haben wir Fragen zu Ihrem Sohn. Wollen Sie wirklich die weite Reise antreten?“

„Die ist nicht weit, die sind wir mit unseren Söhnen so oft gefahren, kein Problem. Wir nehmen morgen die Abendfähre ab Ystad. Ich werde gleich ein Zimmer buchen, entweder im Griffen oder im Fredensborg. Dann kommen wir am Dienstag zu Ihnen, wenn es recht ist. Sie haben ja nun meine Nummer und können mir noch eine Uhrzeit mitteilen. Entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“ Der Mann legte auf.

Jan stand da und blickte auf sein Handy. War das in Ordnung, dass der Vater am Sonntagabend angerufen und ihm einen schönen Abend gewünscht hatte? Ja, eigentlich schon, der war schließlich in einem Ausnahmezustand.

„Machst du bitte den Wein auf? Ich stelle das Essen auf den Tisch.“ Sonja riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja, gerne, und dann möchte ich mit dir nur noch entspannen, dieser Sonntag reicht mir.“

Sonjas Eintopf war köstlich, Jan merkte aber auch, wie die Müdigkeit in ihm aufstieg. Der letzte Fall war anstrengend gewesen, und dieser würde es vermutlich auch werden. Dabei hatte er sich so auf ein paar Tage mit Sonja in Schweden gefreut.

„Meinst du, wir schaffen es noch vor Weihnachten nach Schweden?“, fragte Sonja.

„Das hoffe ich sehr. Ditte und Lone wollen ja in zwei Wochen nach Sizilien, da müssen wir uns mit der Aufklärung wirklich beeilen. Ohne Ditte wird das schwierig.“

Eine halbe Stunde später schlief er auf dem Sofa neben Sonja ein, die noch einen Spielfilm schaute.

3

Zwei Tage zuvor hatte eine unbekannte Frau den Mann angerufen. Sie hatte ihn gewarnt: „Tobias will über dich auspacken. Er weiß etwas, was dir das Genick brechen wird.“ Der Mann hatte kurz gestockt: „Über mich? Was soll das sein?“

„Das hat er nicht gesagt. Nur, dass du dann auf Bornholm keinen Fuß mehr vor die Tür setzen kannst.“

Es herrschte einen Moment Totenstille. Sie wusste es bestimmt, wollte ihm das nur nicht sagen. Er ahnte, worauf sie anspielte. Panik kam in ihm auf.

„Was soll ich machen? Hast du einen Rat?“

„Du wirst ihn nicht umstimmen können, auch nicht mit Geld, da bin ich mir ganz sicher.“

„Du meinst, es gibt nur einen Weg?“

„Ich fürchte, ja. Hast du eine Eisenstange oder Ähnliches im Haus?“

„Ja, ich glaube im Schuppen. Ich muss nachschauen.“

„Gut. Er wird dich morgen besuchen, hat er gesagt. Setze ihn in die Küche, biete ihm einen Drink an, gehe dafür in das Wohnzimmer und hole stattdessen die Eisenstange. Er ist kräftiger als du, du musst sofort zuschlagen, bevor er sich umgedreht hat.“ Sie hatte aufgelegt.

Tag 2

4

Punkt 8.30 Uhr saßen die Ermittler Karen, Ditte, Christian und Jan an diesem tristen Montag im Besprechungsraum. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Karen als Chefin begann: „Guten Morgen. Den Wochenstart haben wir alle uns wohl anders vorgestellt. Erst einmal danke ich Ditte und Jan, dass sie gestern die Ermittlungen aufgenommen und Christian und mich noch geschont haben. Ich freue mich, dass unser aller Chef Aage Munch am Mittwoch wieder seinen Dienst aufnimmt. Das Krankenhaus hat ihn gestern entlassen, er ruht sich noch drei Tage zu Hause aus und kommt dann am Mittwoch.“

„Ist er wirklich wieder gesund?“, wollte Ditte wissen.

„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Nachdem was ich vorher gehört hatte, habe ich nicht mehr an seine Rückkehr geglaubt. Ob man ihn nur noch ein letztes Mal ins Büro und zu seiner geliebten Frau Solveig lässt oder ob er wirklich frisch gestärkt ist, werden wir sehen.“

„Ich kann ja mal in Kopenhagen nachfragen, den ein oder anderen kenne ich ja ganz gut“, bot Jan an. Kaum einer war so gut in der Rigspoliti vernetzt wie er, vermutlich würde er schnell die Wahrheit hören.

„Danke, Jan. Ich bin nun von Aages Aufgaben befreit, allerdings werde ich euch nicht so unterstützen können, wie ihr es gewohnt seid. Mit der Nachmittagsfähre reisen verdeckte Ermittler aus Kopenhagen an. Es gibt ungewöhnlich hohe Einsätze für die Trabrennen am Samstag. Die Kollegen wollen dafür vor Ort sein und schon vorher eventuell Verdächtige beobachten. Ich soll sie unterstützen.“

„Was genau ist da los?“, fragte Christian nach.

„Ich kann euch nur wenig sagen und bitte euch, niemandem etwas zu erzählen, auch zu Hause nicht. Es darf nichts herauskommen, wirklich nichts. Sonst bekommen wir hier als Bornholmer Polizei richtig Probleme. Es gibt das ein oder andere Rennen, in dem im Internet hohe Beträge auf Pferde gesetzt wurden, die nicht unbedingt als Favoriten gelten. Die Wetter müssen sich angesichts der eingesetzten Summen aber sicher sein, dass ihr Plan aufgeht. Die Kollegen aus Kopenhagen sind sehr erfahren und werden sicherlich wissen, wie sie vorzugehen haben. Es sind sechs Frauen und Männer, die wir in verschiedenen Hotels untergebracht haben. Aber nochmals, diese Information darf diesen Raum nicht verlassen.“ Die anderen drei nickten zustimmend.

„Ich möchte Ditte und Jan auch nur kurz dafür danken, dass ich gestern nicht mitfahren musste“, begann Christian. „Den Tag Pause konnten wir gut gebrauchen. Lærke hatte sich mit unserer gemeinsamen Feier etwas übernommen, sie war ziemlich schlapp. Aber nun geht es wieder, sie ist heute früh auch wieder in die Schule gefahren. Wir hoffen beide, dass die nächsten Monate möglichst unkompliziert und beschwerdefrei verlaufen. Und ich mich mit voller Konzentration der Arbeit hier widmen kann.“

„Ja, Christian, das wünschen wir euch auch. Und danke nochmals für die Ausrichtung der Feier, die hat uns allen Spaß gemacht. Auch unseren Partnern, denke ich. Es war schön, einander besser kennenzulernen. Ditte oder Jan, könnt ihr jetzt bitte Christian und mich über den gestrigen Tag ins Bild setzen?“

Die Angesprochenen wechselten kurz die Blicke, dann hob Ditte an. Und berichtete von dem an der Glocke befestigten Tobias Schuster. Von seinem Hintergrund als langjähriger Student und dem Buchprojekt. Von den Bendtsens in Aakirkeby und Peter Winther in Nexø. Jan ergänzte noch den Anruf von Jürgen Schuster, von dem Ditte auch noch nichts wusste.

„Wie macht ihr weiter?“, fragte Karen.

„Wir werden die Bornholmer Pastoren abklappern müssen, um ein klareres Bild von Schuster zu bekommen. Und wir müssen nach privaten Kontakten suchen, zum Beispiel indem wir in Kneipen und Restaurants nach ihm fragen. Morgen werden die Eltern hier sein, die können uns hoffentlich auch helfen.“

„Das klingt einleuchtend, Jan. Wie willst du euch aufteilen?“