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Wenn Sie glauben, dass der Trapezmuskel für die Kuhlen in der Sattellage verantwortlich ist, dass das Pferd in der Biegung die Schulter anhebt, ein schäumendes Maul positiv ist oder dass Cavalettitraining schonend die Bauchmuskeln kräftigt, sind Sie drei häufigen Ausbildungsirrtümern aufgesessen. Keine Sorge, Sie sind nicht allein. In der Reiterei beruft man sich seit Jahrhunderten auf alte Reitmeister und Wissen aus dem Barock oder der Antike. Das ist völlig in Ordnung – wenn man dieses Wissen mit modernen Erkenntnissen aus Anatomie und Sportphysiologie ergänzen und hinterfragen kann. Pferdeosteopathin Barbara Welter-Böller, Tierarzt Maximilan Welter werden in diesem Buch von FEINE HILFEN-Chefredakteurin Claudia Weingand zu den typischen Behauptungen rund um Reiten, Longieren und Ausbildung interviewt und räumen mit verstaubtem Wissen auf.
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Seitenzahl: 151
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(Foto: mariait/Shutterstock.com)
Barbara Welter-BöllerMaximilian WelterClaudia Weingand
… denn sie wissennicht, was sie tun!
„Die Natur bietet keine Entschuldigung.Sie arbeitet reibungslos, wenn man mit ihr umgehen kann.“
Andrew Taylor Still
Haftungsausschluss
Autoren und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.
Sicherheitstipps
In diesem Buch sind Reiter ohne splittersicheren Kopfschutz abgebildet. Dies ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Achten Sie bitte immer auf entsprechende Sicherheitsausrüstung: Reithelm, Reitstiefel/-schuhe und gegebenenfalls eine Sicherheitsweste beim Reiten.
IMPRESSUM
Copyright © 2017 Cadmos Verlag, MünchenGestaltung und Satz: www.ravenstein2.deCoverfoto: Phillip WeingandFotos im Innenteil: Rolf Kosecki, Lina Peuckert,Christiane Slawik, Shutterstock.com, Phillip WeingandGrafiken: Fachschule für osteopathische Pferdetherapie,www.ravenstein2.deLektorat: Claudia Weingand
Druck: Graspo CZ, a.s., Tschechische Republik
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-EinheitsaufnahmeDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
Printed in Czech Republic
ISBN: 978-3-8404-1079-6eISBN 978-3-8404-6461-4
Einleitung
Phrasen waren gestern
Irrtümer über die Dehnungshaltung
1.Die Dehnungshaltung verschleißt die Vorhand.
2.Das Maul darf in Dehnungshaltung nicht tiefer als auf Buggelenkshöhe.
3.In der Dehnungshaltung muss das Pferd ordentlich weit untertreten.
4.Dehnungshaltung ist nur sinnvoll, wenn man einen Spannungsbogen herstellt.
5.Die Dehnungshaltung ist sehr anstrengend für das Pferd.
6.In Dehnungshaltung sinkt der Widerrist zwischen den Schulterblättern ein, deshalb ist sie schlecht für das Pferd.
Irrtümer über die Biegung
7.Das Pferd muss an der Longe dauerhaft gestellt und gebogen gehen.
8.Das Pferd muss in der Biegung die innere Schulter anheben.
9.Wenn das Pferd im Genick gestellt ist, folgt der Rest der Wirbelsäule automatisch in die Biegung.
10.In der Biegung ist die innere Hüfte immer tiefer als die äußere.
11.In der Biegung sollten alle vier Beine gleichmäßig belastet werden.
12.Longieren und Reiten in Biegung ist schädlich.
Irrtümer über Vorhand, Hinterhand und Versammlung
13.Die Vorhand ist schwächer als die Hinterhand.
14.Die Vorhand verschleißt, wenn man das Pferd nicht baldmöglichst „auf die Hinterhand setzen“ kann.
15.Durch Ausbinder oder Reiten in Aufrichtung kann man verhindern, dass das Pferd auf der Vorhand läuft.
16.Ausbinden im Galopp hilft dem Pferd, sich fallen zu lassen.
17.Dreieckszügel sind pferdeschonender als Ausbindezügel, weil das Pferd mehr Bewegungsfreiheit hat.
18.Die Hinterbeine sollten im Schritt mindestens eine Hufbreite über das Trittsiegel des Vorderhufs fußen.
19.Pferde mit starker Hinterhandmuskulatur sind besonders begabt für versammelnde Arbeit.
Irrtümer über den Hals
20.Der Unterhals wird trainiert, wenn das Pferd den Kopf hebt.
21.Gehen in Beizäumung hilft gegen einen ausgeprägten Unterhals und sorgt für eine schöne Oberhalslinie.
22.Die Löcher, die manche Pferde im Unterhals haben, kommen vom Impfen.
Irrtümer über das Pferdemaul
23.Wenn das Pferd beim Reiten am Maul schäumt, ist das ein gutes Zeichen.
24.Es ist gut, wenn das Pferd sehr viel am Gebiss kaut.
25.Der treibende Schenkel sorgt dafür, dass das Pferd am Gebiss kaut.
Irrtümer über den Rücken
26.Ein Pferd kann nur über den Rücken gehen, wenn der Kopf unten ist.
27.Ein Pferd kann nur über den Rücken gehen, wenn man die Hinterhand beständig zum fleißigen, weiten Untertreten unter den Schwerpunkt aktiviert.
28.Wenn das Pferd „Löcher“ in der Sattellage hat, ist der Trapezmuskel das Problem.
29.Damit ein Pferd über den Rücken gehen kann, muss man besonders die Rückenmuskeln trainieren.
Irrtümer über das Training
30.Es schadet nicht, wenn ein Pferd täglich geritten wird.
31.Wenn ein Pferd nicht täglich ordentlich arbeitet, wird es krank.
32.Trainingspläne sind beim Dressurreiten nicht so wichtig.
33.Laufbandtraining ist eine tolle Alternative zum Reiten.
34.Cavalettitraining sollte man besonders bei ganz jungen Pferden oder in der Reha einsetzen.
35.Ein Pferd darf beim Reiten ruhig am ganzen Körper schwitzen – nur so setzt ein Trainingseffekt ein.
36.Es ist schädlich, nur am langen Zügel ins Gelände zu reiten. Das Pferd muss auch immer wieder versammelt werden können.
Irrtümer über das Equipment
37.Ein Maßsattel ist ein Garant für beschwerdefreies Gehen.
38.Wer wirklich pferdeschonend reiten will, sollte einen baumlosen Sattel wählen.
39.Gebisslos reiten ist prinzipiell pferdefreundlicher als das Reiten mit Gebiss.
40.Doppelt gebrochene Gebisse sind pferdeschonender als einfach gebrochene.
Irrtümer über das Wachstum
41.Pferde wachsen bis zum siebten Lebensjahr in die Höhe.
Irrtümer über die natürliche Schiefe und die Seitengänge
42.Auf der hohlen Seite sind die Muskeln verkürzt. Deshalb muss man auf der steifen Seite viele gebogene Linien reiten.
Irrtümer über Zirkuslektionen
43.Das Kompliment ist eine gymnastisch sinnvolle Übung und sollte immer mal wieder abgefragt werden.
44.Die Bergziege bereitet das Pferd optimal auf die Hankenbeugung vor.
Irrtümer über den Schweif
45.Manche Pferde schlagen beim Reiten aus Gewohnheit mit dem Schweif.
Mythen der Hilfengebung
46.Eine Parade ist eine Zügelhilfe.
47.Das Pferd holt sich die Schenkelhilfe selbst ab.
48.In Biegungen wird am äußeren Zügel geführt.
49.Der leichte Sitz ist pferdeschonender als der Dressursitz.
Zugabe: Über Fleiß und Erschöpfung
50.Pferde sind faul und möchten sich nicht anstrengen.
Schluss und Literaturtipps
Claudia Weingand auf PRE-Wallach Ecijano. Barbara Welter-Böller auf ihrem Konik Troll und Maximilian Welter auf seinem jungen Hannoveraner Darcento. (Foto: Rolf Kosecki)
Die Reiterwelt ist voller Widersprüche, Glaubenssätze und Behauptungen. Zwar gibt es eine Reitlehre (in Form der FN-Richtlinien), nicht alle Reiter gehen aber mit dieser konform. Es gibt alternative Wege und sogar Schulen, die dem Reiter „endlich richtig“ erklären sollen, wie Pferdeausbildung funktioniert. Gurus werden geschaffen, beschimpft und verteidigt, Ausbildungsphilosophien oder Ausrüstungsgegenstände in den Himmel gehoben oder als Teufelszeug verschrien. Als Referenz gelten entweder alte Reitmeister (die ihre Worte vielleicht ganz anders gemeint haben, als wir sie interpretieren) oder die Anatomie und Biomechanik des Pferdes.
Reiter lassen sich schnell beeindrucken, wenn jemand vorgibt, über anatomisches Verständnis zu verfügen, und sie können meist nicht unterscheiden, ob das Wissen umfassend oder oberflächlich ist. Und die alten Meister waren bedeutende Reiter und Denker, die aber noch nicht über moderne anatomische und trainingsphysiologische Erkenntnisse verfügten.
So kommt es, dass viele Phrasen im Umlauf sind, die gar nicht oder nur teilweise stimmen. Das wäre an sich nicht schlimm. Jeder darf glauben, was er möchte.
Das Problem ist, dass es Pferden schaden könnte, wenn man sich zu genau an einigen dieser Phrasen orientiert. Kein Reiter oder Ausbilder möchte Pferden willentlich Schaden zufügen, meist geschieht dies aus Unwissenheit: Denn sie wissen nicht, was sie tun.
In diesem Buch entzaubern wir so manchen Mythos und bringen einige Glaubenssätze ins Wanken. Wir beziehen uns dabei auf aktuelle anatomische, physiologische oder verhaltensbiologische Kenntnisse. Wir wollen unsere Leser zum Denken, Diskutieren und Hinterfragen anregen und sind uns darüber im Klaren, dass manche unserer Erkenntnisse in wenigen Jahren ebenfalls überholt sein werden.
Anmerkung: Da wir die einzelnen Fragen und Phrasen jeweils möglichst umfassend kommentieren, werden Ihnen Wiederholungen und viele Querverweise in den Erklärungen begegnen, wenn Sie das Buch von vorn nach hinten lesen. Der Grund: Wir möchten auch die Leser mitnehmen, die selektiv zunächst die für sie interessanten Punkte lesen.
Im Sinne der Pferde, Ihre
Maximilian Welter auf dem Friesen Aike. (Foto: Rolf Kosecki)
Jedes Pferd trägt mehr Last auf der Vorhand als auf der Hinterhand. Das ist völlig physiologisch und liegt am langen Hals, der sich, wenn das Pferd die Wahl hat, 16 Stunden am Tag in Fresshaltung befindet. Dass das Pferd dafür gebaut ist, die Vorhand vermehrt zu belasten, zeigen zwei anatomische Fakten:
1. Die Vorderhufe sind breiter als die Hinterhufe. Sie sind also gewöhnlich dafür konstruiert, mehr Gewicht zu tragen.
2. Am Vorderbein gibt es zwei Unterstützungsbänder für die Beugesehnen (eines für die oberflächliche, eines für die tiefe Beugesehne). Am Hinterbein gibt es nur ein Unterstützungsband, und zwar für die tiefe Beugesehne.
Damit es trotzdem nicht zur Überlastung der Vorderbeine kommt, hat die Natur das Nacken-Rückenband-System ausgeklügelt. Die kräftige Bandstruktur zieht vom Hinterhauptsbein über die Wirbelsäule bis zum Ende des Kreuzbeins. Sie setzt am Hinterhauptsbein an, überspringt den ersten Halswirbel (Atlas) und hat einen zweiten Ansatzpunkt am zweiten Halswirbel. Das Nackenband zieht als paariger Nackenstrang (Funiculus nuchae) zum dritten Brustwirbel, heißt ab da Rückenstrang (Lig. supraspinale) und setzt an den Dornfortsätzen jedes weiteren Wirbels bis zum Ende des Kreuzbeins an. Im Halsbereich verbindet die Nackenplatte (Lamina nuchae) den Nackenstrang mit den meisten Halswirbeln (siehe Seite 59 für neuste Erkenntnisse dazu). Senkt das Pferd den Hals, kommt das Nacken-Rückenband unter Spannung. Es hält die Brustwirbelsäule (hinter dem Widerrist) passiv, also ohne Muskelkraft oben. Die im Brustkorb liegenden Organe haben genug Raum und können physiologisch arbeiten.
Die Halsanteile des Musculus (M.) trapezius und M. rhomboideus ziehen in Dehnungshaltung das Schulterblatt nach vorn und stabilisieren das in leichter Beugestellung stehende Buggelenk. Durch die Drehung des Schulterblatts nach vorn entfaltet sich der thorakale Teil des Rumpfträgers (M. serratus ventralis, siehe Kasten auf Seite 24) besser und kann effizienter arbeiten. Es ist also sinnvoll, wie im klassischen deutschen Reitsystem wenig trainierte Jungpferde oder ältere Pferde in der Lösungsphase und in den Pausen zur Erholung der Muskulatur mit langem Hals vorwärts-abwärts zu reiten. Ältere Pferde sollten sich zumindest zum Warm-up, Cool-down und in Trainingspausen so weit nach unten dehnen dürfen, dass ihr Rücken passiv angehoben wird und sich die Bauchmuskeln etwas erholen können.
Doch auch das eigentlich schonende Vorwärts-abwärts-Reiten kann man übertreiben. Die Vorhand wird auch dabei überlastet, wenn:
Die Vorhand trägt von Natur aus mehr Gewicht als die Hinterhand – das Pferd ist dafür konstruiert. Die Dehnungshaltung ist aus mehreren Gründen eine sehr sinnvolle, kraft sparende und vorhandschonende Trainingshaltung. Dennoch muss das Pferd in Selbsthaltung gehen, darf sich also nicht auf den Zügel legen oder einrollen und man muss auf Ermüdungsanzeichen des Pferdes achten, sonst kann auch im Vorwärts-abwärts die Vorhand überlastet werden.
> sich das Pferd stark auf den Zügel legt,
> der Reiter zu enge Wendungen und zu viel Längsbiegung im Vorwärts-abwärts legt oder einrollt; dann kommt durch den langen Halshebel zu viel Last auf das innere Vorderbein (siehe Kapitel „Biegung“),
> das Pferd beginnt, mit dem Vorderbein zu stampfen. Dann ist der Rumpfträger (M. serratus ventralis) ermüdet und das Pferd benötigt eine Pause oder die Arbeit sollte beendet werden.
Wie weit sich das Pferd nach unten dehnen möchte, ist von der Elastizität des Nacken-Rückenbands, vom Trainingszustand der myofaszialen Strukturen und von der thorakolumbalen Faszie abhängig (siehe Kasten), also individuell. Neben dem Nacken-Rückenband kann der sehnig durchflochtene M. semispinalis (durchflochtener Muskel), der vom Hinterhauptsbein zu den Gelenkfortsätzen der letzten vier Halswirbel und den Querfortsätzen der ersten sieben Brustwirbel zieht, Hals und Widerrist in Dehnungshaltung stabilisieren.
Je elastischer das Nacken-Rückenband ist, desto tiefer wird sich das Pferd dehnen wollen. Pferde mit geradem Hals haben oft ein weniger elastisches Nackenband als viele Pferde mit konvexer Oberlinie: Dehnen Pferde mit geradem Hals sich bis auf Buggelenkshöhe, brauchen viele Iberer und moderne Warmblüter eventuell eine tiefere Kopf-Hals-Haltung, um den Rücken mit dem NackenRückenband-System anzuheben. Im Laufe der Ausbildung kann das Nacken-Rückenband etwas an Elastizität verlieren.
Pferde, die in Bewegung dauerhaft sehr ungern den Kopf-Hals-Bereich sinken lassen, sind entweder gestresst oder nicht gesund. Oft sind neben psychischem Stress Probleme der thorakolumbalen Faszie die Ursache, einer Bindegewebsstruktur, die sich in der Sattellage befindet (siehe Kasten auf dieser Seite und auf Seite 14). Schmerzhaft verklebtes Gewebe möchte das Pferd nicht dehnen. Darüber hinaus haben rückständig stehende Pferde oft ein Balanceproblem, wenn sie in Dehnungshaltung gehen sollen. Man sollte Pferde, die sich ungern dehnen, von einem Therapeuten oder Tierarzt behandeln lassen und vielleicht zunächst ohne Sattel oder Longiergurt trainieren, damit sich die Strukturen erholen können. Sinnvoll ist dann die (dosierte) Arbeit in Längsbiegung, da dabei die äußere Seite gedehnt wird.
M. LATISSIMUS DORSI
Breiter Rückenmuskel
URSPRUNG
> Dornfortsatzband ab dem 3. Brustwirbel
> Rückenlendenbinde
ANSATZ
> runde große Rauigkeit des Oberarms(Tuberositas teres major humeri)
FUNKTION
Funktion im Hangbein:
> Rückführer der Gliedmaße
> Beugung im Schultergelenk
Funktion im Stützbein:
> Zieht den Rumpf im Standbein über die Schulter.
> Innenrotation des Schultergelenks
ANMERKUNGEN
> Wichtiger Indikatormuskel bezüglich Reitweise (z.B. zu starke Rahmenbegrenzung, ohne dass das Pferd Schubkraft in der Hinterhand entwickelt hat) und Equipment (z.B. unpassendes Kopfeisen am kaudalen Schulterblattwinkel).
> Bei zu starker Ausprägung dieses Muskels wird die Vordergliedmaße rückständig mit Tendenz der Innenrotation.
Grün: Rückenband, blau: Rückenlendenbinde (thorakolumbale Faszie) als Ursprung des M. latissimus dorsi (rot). (Zeichnung: Fachschule für osteopathische Pferdetherapie)
Warum Rückenschmerzen keine Lappalie sind
Durch unpassendes Equipment gerät das Gewebe in der Sattellage unter Stress. Es kommt zu schmerzhaften Verklebungen im Fasziengewebe und zur Atrophie der darunter liegenden Muskeln.
Häufig ist auch ein zu stark ausgeprägter breiter Rückenmuskel (M. latissimus dorsi), der vom Oberarmknochen kommt und in die thorakolumbale Faszie übergeht, verantwortlich für Probleme im Bereich der Sattellage. Der breite Rückenmuskel wird zu stark, wenn das Pferd vermehrt mit dem Vorderbein stemmen muss. Ein Pferd bewegt sich ökonomisch vorwärts, indem es seinen Schwerpunkt mithilfe seines langen, nach vorn-unten gerichteten Halses nach vorn verlagert. Wenn der Reiter das Pferd beizäumt oder aufrichtet, ohne dass die Hinterhand schon über genügend Schubkraft verfügt, fällt der Halshebel weg und das Pferd muss mit den Vorderbeinen mithilfe des breiten Rückenmuskels vermehrt stemmen, statt einfach „seinem Schwerpunkt hinterherzurollen“. Ist der breite Rückenmuskel hypertrophiert, zieht er das Vorderbein konstant in die Rückständigkeit und bringt zudem Zug auf die thorakolumbale Faszie.
Andersherum kann auch zuerst die thorakolumbale Faszie durch einen unpassenden Sattel, ein zu hohes Reitergewicht oder einen nicht balanciert sitzenden Reiter schmerzhaft reagieren, worauf der M. latissimus dorsi mit vermehrtem Anspannen reagiert. Wird das Vorderbein rückständig, hat das Pferd nicht mehr „nur“ ein Rückenproblem: Fesselträger, oberflächliche und tiefe Beugesehne und alle Strukturen, die zur „Hufrolle“ gehören, werden unphysiologisch belastet und anfällig für Verletzungen und degenerative Erkrankungen.
Um zu bestimmen, in welcher Kopf-Hals-Position sich der Rücken des jeweiligen Pferdes hebt, kann man eine Hand auf den tiefsten Punkt der Sattellage des Pferdes legen und es beispielsweise mit einer Möhre seine Kopf-Hals-Haltung in verschiedene Positionen (auf Buggelenkshöhe, knapp darüber, knapp darunter etc.) dirigieren. In der für dieses Pferd günstigsten Dehnungshaltung hebt sich der Rücken, weil sich das Nacken-Rückenband spannt. Muskulär stabilisierte Pferde werden sich weniger tief dehnen müssen: Die Rückenlinie ist stabil. An der Longe ohne Reiter wird der Rücken dann im Übergang vom Trab zum Schritt nicht nach unten durchschlagen, sondern stabil oben bleiben.
Es gibt Pferde, für die die Position mit dem Maul auf Buggelenkshöhe bereits zu tief ist, andere benötigen bis zum Erstarken des Rumpfträgers und der Bauchmuskulatur eine deutlich tiefere Kopf-Hals-Position, damit sich das Nacken-Rückenband spannt und der M. semispinalis den Hals- und Widerristbereich stabilisieren kann.
Wie weit das Pferd mit den Hinterbeinen unter den Körper tritt, ist von seiner Halslänge abhängig. Je weiter die Pferdenase nach vorn kommt, desto weiter muss die Vorhand ausgreifen – denn das Pferd tritt physiologischerweise dahin, wohin seine Nase zeigt. Der Vorgriff der Vorderbeine wiederum beeinflusst den Vorgriff der Hinterhand, weil die Beine sich in der gleichen Amplitude bewegen – es sei denn, das Pferd hat einen Taktfehler.
Nun muss man aber unterscheiden, wie es zum Vorgriff der Hinterhand kommt: Das Vorgreifen in der Dehnungshaltung ist nämlich ein völlig anderes als das in der Aufrichtung und Versammlung.
In Dehnungshaltung spannt sich das Nacken-Rückenband des Pferdes so, dass die Lendenwirbelsäule mehr oder weniger stark in Streckung (Extension) stabilisiert wird – das Gegenteil von Versammlung. Damit das Hinterbein dennoch der Bewegung des Vorderbeins nach vorn folgen kann, aktiviert das Pferd den Hüftbeuger (M. iliopsoas). Das alles passiert automatisch, wenn das Pferd losgelassen nach vorn gehen darf. Man sollte das Untertreten nicht forcieren, das brächte das Pferd aus dem Takt. Es ist nicht schädlich, dass die Bewegung der Hinterhand in der Dehnungshaltung noch wenig mit der Hankenbeugung, die man sich in der Versammlung wünscht, zu tun hat.
Im Gegenteil: Die Hinterhand muss sehr vorsichtig darauf vorbereitet werden, irgendwann mehr Last aufzunehmen– von Natur aus kann sie das nur wenige Sekunden. Fordert man zu früh Hankenbeugung, wird die Hosenmuskulatur zu stark und zieht das Sprunggelenk in einen zu steilen Winkel – die Gelenkbelastung wird unphysiologisch und Spat ist vorprogrammiert.
M. biceps femoris (Zeichnung: Fachschule für osteopathische Pferdetherapie)
Ein Abkippen des Beckens ist nur möglich, wenn das Pferd die geraden Bauchmuskeln, die am Schambein ansetzen, beidseitig aktiviert. Dann kommt es zur Beugung (Flexion) der Lendenwirbelsäule, des lumbosakralen Übergangs und der Hüfte und das abfußende Hinterbein könnte theoretisch noch weiter nach vorn fußen – allerdings ist in der Praxis die Schubphase (hintere Stützbeinphase) des Stützbeins bei abgekipptem Becken verkürzt, die Tritte werden insgesamt kürzer und das Pferd tritt nicht weiter unter. Das sieht man gut, wenn im versammelten Schritt geritten wird.
In der Dehnungshaltung tritt das Pferd hauptsächlich über die Beugung des Hüftgelenks unter. In Versammlung entsteht der Vorgriff des Hinterbeins aus der Beugung der Lendenwirbelsäule, des lumbosakralen Übergangs und der Beugung des Hüftgelenks, wird aber durch die verkürzte Schubphase des gegenüberliegenden Hinterbeins begrenzt. Hankenbeugung hat also nicht unbedingt etwas mit vermehrtem Vorgriff zu tun.
Außerdem gibt es Hankenbeugung und Dehnungshaltung nicht in Kombination. Dass das Pferd mit der Hinterhand weiter untertritt, wenn es Hals und Nase nach vorn nehmen darf, hängt mit dem Vorgriff der Vorhand zusammen und passiert beim losgelassenen, taktmäßig gehenden Pferd automatisch aus dem Hüftgelenk heraus.