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Das Skelett-, Faszien- und Muskelsystem des Pferdes hat sich über Selektion so entwickelt, dass es energieeffizient 16 Stunden lang mit tiefem Kopf grasen kann und die restlichen acht Stunden döst oder schläft. Leider wird in allen Anatomieatlanten und Auktionskatalogen das Pferd in Aufrichtung abgebildet. So wird suggeriert, dass sie die natürliche Haltung des Pferdes ist. Das ist falsch. Um diese Haltung für den Pferdekörper schadensfrei über einen längeren Zeitraum einnehmen zu können, braucht das Pferd, exterieurabhängig, zwei bis vier Jahre systematisches Training. Überspringt man notwendige Trainingsstufen, nimmt der Pferdekörper Schaden. Barbara Welter-Böller und Maximilian Welter zeigen in ihrem Buch Wege auf, wie man das Skelett-, Faszien- und Muskelsystem systematisch und schadensfrei für die sportartspezifische Anforderung vorbereitet. Auch zeigen sie Lösungen bei falschen Bewegungsmustern und orthopädischen Problemen auf.
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Seitenzahl: 210
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Haftungsausschluss
Autoren und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.
Sicherheitstipps
In diesem Buch sind Reiter ohne splittersicheren Kopfschutz abgebildet. Dies ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Achten Sie bitte immer auf entsprechende Sicherheitsausrüstung: Reithelm, Reitstiefel/-schuhe und gegebenenfalls eine Sicherheitsweste beim Reiten.
IMPRESSUM
Copyright © 2016 Cadmos Verlag, SchwarzenbekGestaltung und Satz: www.ravenstein2.deCoverfoto: Rolf KoseckiFotos im Innenteil: Cordula Kopf, Rolf Kosecki, Wolfgang Neisser, Roland Palm, Tabea Schale, Shutterstock.comGrafiken: Fachschule für osteopathische Pferdetherapie, ravenstein2Lektorat der Originalausgabe: Claudia Weingand
Konvertierung: S4Carlisle Publishing Services
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
eISBN: 978-3-8404-6437-9
INHALT
Vorwort
Danke
Einleitung
Der Natur bis ans Ende vertrauen
Form follows function: Warum Pferde sind, wie sie sind
Osteopathische Leitsätze
Physiologie der Bewegung: Warum das Pferd geradeaus und vorwärts läuft
Das passiert, wenn wir das Pferd formen
Beschleunigungsmechanismen
Rassetypische Besonderheiten: Galoppform,Trabform und Kraftform
Die physiologische Haltung des Pferdes
Belastungsveränderung in absoluter Aufrichtung
Was macht schonendes Pferdetraining aus?
Anmerkung zur Basisausbildung
Trainingsprinzipien
Geschickt und balanciert: Training der Sensomotorik
Das Ausdauertraining
Das Krafttraining
Übertraining
Trainingsgestaltung
Ist die Ausbildungsskala trainingsphysiologisch sinnvoll?
Faszientraining versus Muskeltraining
Was sind Faszien?
Mobilität und Stabilität
Spannungsveränderungen in den Faszien
Der Katapulteffekt
Wie trainiert man die Faszien?
(Foto: Wolfgang Neisser)
Das Training individuell gestalten
Osteopathische Exterieurbeurteilung
Ganganalyse
Die natürliche Schiefe
Warum vorn links?
Wie schief ist mein Pferd?
Warum knickt der Reiter in der Hüfte ein?
Die „unnatürliche“ Schiefe
Geraderichtung – aber wie?
Dehnungshaltung: Warum, wie oft, wie lange?
Vorteile der Arbeit in Dehnungshaltung
Vor-, Mittel- und Hinterhand im Vorwärts-abwärts
Wie lange sollte man in Dehnungshaltung trainieren?
Wann sollte man in Dehnungshaltung arbeiten?
Die Hilfen des Reiters
Die Gewichtshilfen
Die Schenkelhilfen
Die Zügelhilfen
Der Einfluss des Equipments
Der Sattel, ein notwendiges Übel
Anmerkungen zur Sattelanpassung
Wissenswertes zur Trense
Anhang
Schlusswort
Anatomieanhang
Literaturverzeichnis
VORWORT
(Foto: Rolf Kosecki)
Wie oft erleben wir folgenden Fall: Das Pferd zeigt Rittigkeitsprobleme und einen Leistungsabfall, ohne dass der Tierarzt eine Krankheit feststellen kann. Die Ursachen sind häufig unwissentlich falsches Training und Überforderung. Auch unpassende Ausrüstung kann Probleme hervorrufen.
Das Ansinnen dieses Buches ist es, die leidvolle Sackgassensituationen für Pferd und Reiter gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir wünschen uns, dass alle Reiter und besonders Trainer es lesen und so das nötige Wissen über Anatomie, Biomechanik und Trainingsprinzipien erlangen.
Hinweis: Bitte haben Sie keine Angst vor der Theorie und besonders der Anatomie. Wir haben versucht, sie so spannend wie möglich zu erklären. Zum Nachschlagen haben wir im Anhang einen kleinen Anatomieatlas erstellt, in dem die wichtigsten anatomischen Strukturen abgebildet und erläutert werden.
Danke
Wir danken Marion Wilimzig für alle lebhaften und fruchtbaren Diskussionen, die wir mit ihr führen durften, und für ihre motivierenden Fragen über das Reiten. Wir danken auch unserem Pferd Amicelli, einem ausrangierten S-Springpferd, das zum Schlachter sollte. Er hat uns mit vielen orthopädischen Problemen konfrontiert und wir konnten ihm leider nur noch bedingt helfen, da er zu spät zu uns kam. Wir durften viel von diesem wunderbaren Wesen lernen.
Barbara Welter-Böller Maximilian Welter
EINLEITUNG
Andrew Taylor Still.
(Foto: Library of Congress collection)
Der Natur bis ans Ende vertrauen
„Ein Osteopath wird dahingehend unterrichtet, dass er der Natur bis ans Ende vertraut.“
(Andrew Taylor Still – in seiner Autobiografie)
Der Amerikaner Andrew Taylor Still (1828–1917) entwickelte die Osteopathie ab 1874 als eine umfassende manuelle Medizin. Sein Vorbild war die Vollkommenheit der Natur als höchster Ausdruck der Schöpfung Gottes. Er sah sich als Feinmechaniker, der dem Körper optimale Rahmenbedingungen ermöglichen kann. Drei seiner wichtigsten Leitsätze sind:
1. „Von dieser Stunde an habe ich bis zum heutigen Tag gesehen, dass die Natur nur dann ihre Arbeit verrichten kann, sobald wir unseren Teil im Einklang mit den Gesetzen des Lebens beisteuern.“
(Still, Autobiografie)
2. „Der Osteopath ist nur ein menschlicher Ingenieur, der die Gesetze versteht, welche die Maschine regulieren und so die Krankheiten zu meistern weiß.“
(Still, Autobiografie)
3. „Er (der Osteopath) gehorcht der Natur oder er versagt bei der Heilung seiner Patienten.“
(Still, Forschung und Praxis)
Stills Werk war vordergründig auf die osteopathische Behandlung von Menschen bezogen. Die oben genannten Zitate lassen sich aber auch sinngemäß auf die Ausbildung von Pferd und Reiter übertragen:
1. Der Trainer kann nur dann ein Pferd und einen Reiter ohne Verbrauch und Verdruss ausbilden, wenn er es im Einklang mit der Natur und mit den Gesetzen des Lebens tut.
2. Der Trainer versteht sich als menschlicher Ingenieur, der über anatomisches Wissen verfügt und die biomechanischen Zusammenhänge versteht, denen Pferd und Reiter unterliegen. So kann er Schaden verhindern. Sind schon Probleme entstanden, kann er sie mit diesem Wissen korrigieren.
3. Der Trainer muss der Natur und ihren Gesetzen gehorchen, sonst versagt er in der Ausbildung von Pferd und Reiter.
Wir wünschen uns Ausbilder (und jeder Reiter ist auch ein Pferdeausbilder, denn das Pferd lernt bei jeder Reiteinheit!), die ein profundes Wissen von der Biomechanik von Pferd und Reiter haben. Dieses Know-how werden wir mit diesem Buch sicher vertiefen können.
In der Praxis reicht es natürlich nicht, nur über Biomechanik Bescheid zu wissen: Ein guter Reitlehrer zeichnet sich durch tiefes Begreifen und empathisches Empfinden mit der Seele und dem Geist von Mensch und Tier aus. Diese Empathie macht den Unterschied zwischen Unterrichtserteilung und Unterrichtskunst aus.
FORM FOLLOWS FUNCTION: WARUM PFERDE SIND, WIE SIE SIND
(Foto: Jessmine/Shutterstock)
Die Osteopathie geht davon aus, dass die Natur das Pferd so geformt hat, dass es ohne größere Einschränkungen gesund alt werden kann. Schauen wir uns also an, wie der Pferdekörper funktioniert und welche Unterschiede es zwischen den Pferdetypen gibt.
Osteopathische Leitsätze
Wenn wir das Training und die Ausbildung des Pferdes unter den folgenden Gesichtspunkten betrachten und darüber hinaus über genügend Verständnis der Anatomie und Biomechanik verfügen, können Schadensmechanismen für das Pferd vermieden werden:
1. Die Funktion bestimmt die Struktur.
2. Der Körper existiert im Spannungsfeld von Stabilität und Mobilität.
3. Kompression ist der größte Schadensmechanismus für den Körper.
DIE FUNKTION BESTIMMT DIE STRUKTUR
In über 25 Millionen Jahren hat sich das Pferd vom fuchsgroßen Urpferdchen Eohippus zum modernen Pferd entwickelt. Durch Zucht und Selektion sind unsere heutigen Pferderassen entstanden.
Immer wieder haben sich in dieser unvorstellbar langen Zeit der Entwicklung Skelett und Muskulatur an die Umweltanforderungen des Pferdes angepasst. Alles, was ihm nichts nützte, entwickelte sich zurück, anderes passte sich in Form und Größe seinen Bedürfnissen an.
So können wir am Skelett des Pferdes und seiner Muskelverteilung, also an seinem Exterieur, ablesen, wofür gerade dieses Pferd geeignet ist.
Kompression als Schadensmechanismus: Der Druck des Sattels hat Spuren hinterlassen. (Foto: Julie Vader/Shutterstock)
DER KÖRPER IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN STABILITÄT UND MOBILITÄT
Der Pferdekörper, so wie der menschliche Körper auch, lebt immer im Spannungsfeld von Mobilität (Beweglichkeit) und Stabilität. Herrscht einer dieser Parameter zuungunsten des anderen vor, wird das Pferd ineffiziente Bewegungsmuster zeigen, die den Körper zu energieverbrauchenden und gelenkschädigenden Kompensationsmechanismen zwingen.
Das Skelett ist das stabile Element im Pferdekörper. Durch seine gelenkigen Verbindungen ist es aber auch mobil genug, um alle für das Pferd nötigen Bewegungen zu ermöglichen. Muskeln und Faszien, also das Bindegewebsnetz des Körpers, sind Bewegungsmotor und zugleich dynamische Stabilisatoren.
Sind Mobilität und Stabilität im Gleichgewicht, ist das Pferd gesund.
KOMPRESSION IST DER GRÖSSTE SCHADENSMECHANISMUS FÜR DEN KÖRPER
Knochen, Muskeln und Gelenkbeweglichkeit sind trainierbar. Anders ist es mit der Kompression. Deshalb hat Andrew Taylor Still die Kompression als den Hauptschadensmechanismus für den Körper postuliert.
Als Beispiele kann man hier die vielen und stets irreparablen degenerativen Gelenkerkrankungen (Arthrosen), wie z.B. den Spat oder auch die weitverbreiteten Probleme in der Sattellage, heranziehen. Eine von der Natur nicht vorgesehene Kompression einer Struktur verursacht Schäden. Sie muss zur Erhaltung der Gesundheit vermieden werden. Wenn es zur Kompression kam, muss das Pferd genügend Zeit zur Regeneration bekommen.
Physiologie der Bewegung: Warum das Pferd geradeaus und vorwärtsläuft
Pferde sind Energiesparer. Der Grund: Energieeffizienz hat für das Pferd in der Wildnis oberste Priorität. Nur wer über genügend Energie verfügt, kann den Winter überleben, flüchten, ein Fohlen gebären oder Stuten decken und Hierarchiekämpfe austragen.
Das Nackenband stabilisiert die Wirbelsäule. (Grafik: Fachschule für osteopathische Pferdetherapie)
Die Evolution hat dem Pferd also energieeffiziente Bewegungsmuster gegeben, mit denen es sich, wenn es nicht gestört wird, im Schritt oder über kurze Strecken im Trab oder Galopp fortbewegen kann. Beobachtet man Pferde in ihrer ungestörten physiologischen Bewegung, so kann man verschiedene Körperhaltungen in den Grundgangarten erkennen.
Beginnen wir mit dem Schritt, der vom Pferd am häufigsten genutzten Gangart. Man kann beobachten, dass das Pferd mit dem Hals, abhängig von seiner Rasse und von seinem Exterieur, eine mehr oder weniger ausgeprägte Nickbewegung nach vorn und eine weniger deutliche Pendelbewegung nach jeweils rechts und links ausführt. Eine Ausnahme ist hier der Friese, der eine paradoxe Halsbewegung nach oben vollführt.
WARUM NICKT DAS PFERD IM SCHRITT?
Durch das Senken des Halses verlagert das Pferd seinen Schwerpunkt nach vorn. Diese Nickbewegung des langen Halses dehnt das Nackenband, das am Hinterhauptsbein ansetzt. Die erzeugte Spannung setzt sich weiterlaufend über das Rückenband fort und zieht die Dornfortsätze im Widerristbereich auseinander.
Das Nackenband geht ins Rückenband über, das über der Brust- und Lendenwirbelsäule bis zum Kreuzbein von einem Dornfortsatz zum anderen verläuft. Der Zug des Nackenbands durch das Absenken des Kopfes spannt das Rückenband an. Dabei werden Brust- und Lendenwirbelsäule ineinandergeschoben und wie ein Stab stabilisiert. Ein Hinweis auf den nach vorn gerichteten Zug sind die nach kopfwärts zeigenden Nasen an den Dornfortsätzen.
Der Zug nach vorn lässt die gesamte stabilisierte Wirbelsäule über das aufgesetzte Vorderbein gleiten. So entsteht die Vorwärtsbewegung durch eine Schwerpunktverlagerung und wird ökonomisiert durch das Seilzugsystem. Muskelkraft wird kaum gebraucht. Das Hinterbein folgt nur der Vorwärtsbewegung ohne Impuls und Schubkraft – Energieeffizienz pur!
Ferner lässt sich im Schritt eine Pendelbewegung des Halses zu jeder Seite feststellen. Auch das ist energieeffizient: Pendelt der Hals z.B. nach rechts, wird das linke Vorderbein entlastet und auf die Hangbeinphase vorbereitet. Zudem wird mit der Seitbewegung der linke Oberarmkopfmuskel, der M. brachiocephalicus (alle Muskeln siehe Anatomieanhang ab Seite 159), der für die Schulterstreckung verantwortlich ist, leicht gedehnt und antwortet so mit einer stärkeren Aktion. Das Schultergelenk wird weiter gestreckt und die Bewegungsamplitude des Vorderbeins nach vorn ist größer.
Ausprobieren
Auch bei uns Menschen sagt man, Laufen sei ein gestopptes Fallen. Stellen Sie sich mit beiden Beinen geschlossen hin und senken Sie den Kopf weit nach vorn-unten. Nehmen Sie den Oberkörper noch etwas mit.
Dann gibt es einen unausweichlichen Moment, in dem ein Bein nach vorn treten muss, damit Sie nicht umfallen. Wenn Sie nun in dieser Haltung der Bewegung folgen und losgehen, werden Sie merken, dass das Laufen nicht anstrengend ist.
Um den Unterschied zu einer unökonomischen Bewegung zu spüren, stellen Sie sich noch einmal geschlossen hin. Jetzt ziehen Sie das Kinn an die Kehle (machen Sie ein Doppelkinn) und nehmen in dieser Haltung Kopf und Schultern etwas zurück. Nun laufen Sie in dieser Haltung los. Nach ein paar Schritten werden Sie bemerken, wie anstrengend die Fortbewegung „in Beizäumung“ wird.
Sie werden die Hinterseite Ihrer Oberschenkelmuskulatur und die Gesäßmuskulatur spüren. Diese Art der Muskelarbeit bedeutet immer Kraft- und Energieverlust, der für ein Pferd in freier Wildbahn lebensbedrohlich wäre. Nur in seiner ökonomischen und energieeffizienten Art kann das Pferd große Strecken ohne hohen Kraftaufwand überwinden.
Das vegetative oder autonome Nervensystem
Das vegetative Nervensystem ist nicht durch unseren Willen beeinflussbar. Es arbeitet selbstständig (autonom) und reguliert Herztätigkeit, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel und, das ist wichtig, einen Anteil der Rückenstrecker. Es besteht aus drei verschiedenen Funktionssystemen:
• dem Parasympathikus,
• dem Sympathikus,
• und dem Darmnervensystem (hier nicht weiter besprochen).
Der Parasympathikus versorgt vorwiegend Körperfunktionen, die der Regeneration des Organismus und dem Aufbau von Energiereserven dienen („Erholungsnerv“). Der Sympathikus führt zu einer Leistungssteigerung des Organismus. Er versetzt den Körper in hohe Leistungsbereitschaft, bereitet ihn auf Angriff, Flucht oder andere außergewöhnliche Stresssituationen vor („Leistungsnerv“).
Die dorsale Kette des Pferdes (Oberlinie) wird von Nervenfasern des willkürlichen Nervensystems versorgt (Rami dorsalis), die sich mit sympathischen Fasern des autonomen Nervensystems vermischen. Das bedeutet, dass das Pferd in jeder Stresssituation mit einer Verspannung der Oberlinie reagiert. Der Kopf wird angehoben und der Rücken wird fest und durchgedrückt. Das Pferd ist fluchtbereit. Davon kann wahrscheinlich jeder Reiter ein Lied singen.
Die Schrittfrequenz und die Amplitude werden demzufolge auch bestimmt durch die Halslänge und die Halshaltung. Einem langen geraden Hals mit einer ausgeprägten Nickbewegung nach vorn muss das Vorderbein mit einer großen Bewegung folgen, um das Gleichgewicht zu erhalten.
INSTABILERES GLEICHGEWICHT IM TRAB
Sieht man Pferde auf der Wiese traben, zeigen sie eine andere Körperhaltung als im Schritt. Sie tragen den Kopf etwas höher und starrer, die Nick- und Pendelbewegungen sind nicht mehr sichtbar, da die Trittfrequenz der Beine zu hoch dafür ist. In der Natur benutzt das Pferd den Trab als Fluchtgangart, und Flucht ist immer mit einer Erhöhung des Sympathikotonus (siehe Kasten) verbunden.
Die Hals- und Rückenstrecker werden durch eine besondere Reizleitung bei Sympathikusaktivität stark angespannt. Das Pferd läuft mit vermehrter Oberlinienspannung. Die diagonale Fußung aus der Schwebephase bringt eine instabilere Gleichgewichtssituation als im Schritt mit sich, in dem die Zweibeinstütze mit der Dreibeinstütze abwechselt. So erfordert der Trab eine höhere Rumpfspannung und damit eine bessere Rumpfstabilisation, damit das Pferd sich ausbalancieren kann.
WARUM IM GALOPP DER KOPF HOCHKOMMT
Im Galopp müssen beide Hinterbeine unter den Körper springen. Um dies zu gewährleisten, muss sich das Pferd im Übergang zwischen Lendenwirbelsäule und Kreuzbein, dem sogenannten lumbosakralen Übergang (LSÜ), öffnen. Würde bei tiefer Halshaltung das Nacken-Rücken-Band gespannt, würde diese Öffnung verhindert. So sieht man, dass das Pferd natürlicherweise im Galopp Kopf und Hals deutlich im Takt nach oben bewegt. Das geschieht genau in dem Moment, in dem beide Hinterbeine unterspringen. Durch das Anheben des Kopfes entspannt das Pferd das Nacken-Rücken-Band und deblockiert den LSÜ. Nur so ist ein Unterspringen der Hinterbeine mit der nötigen Aufwölbung der Lendenwirbelsäule möglich. Wenn die Hinterbeine untergesprungen sind, vor allem in der Einbeinstütze hinten, senkt das Pferd den Hals und zieht so, wie im Schritt schon beschrieben, mit dem Seilzugsystem Nacken-Rücken-Band den Rumpf über das hintere Stützbein – absolut effizient und schonend für die Muskulatur der Hinterhand.
Das passiert, wenn wir das Pferd formen
Wenn man versteht, wie sich ein Pferd effizient und unverbrauchend in den drei Grundgangarten bewegt, erkennt man, welch starken Eingriff wir vornehmen, wenn wir es in eine andere Form bringen und darin bewegen. Man wird sicher nie ein Pferd in korrekter Längsbiegung und in Versammlung im Schritt, Trab oder Galopp frei laufen sehen.
Das ist für das Pferd auch aus folgenden Gründen unvernünftig: Zuerst einmal blockiert die Längsbiegung das innere Auge. Für ein Fluchttier ist das eine Situation, die Stress erzeugt. Zum anderen bricht die Biegung auf der inneren Seite die Oberlinienspannung. So kann das Pferd nicht genügend Schnelligkeit für die Flucht entwickeln.
Beschleunigungsmechanismen
Fangen wir mit einem einfachen Beispiel an. Sie sitzen bei Ihrem Orthopäden auf der Liege und er haut Ihnen mit einem Gummihämmerchen unterhalb Ihres Knies auf die Kniescheibensehne. Ob Sie es wollen oder nicht: Ihr Unterschenkel wird sich daraufhin reflexartig strecken. Diese Situation macht ersichtlich, dass sich durch einen Dehnungsreiz auf eine Sehne Energie in ihr speichert und der dazugehörige Muskel mit einer unwillkürlichen Kontraktion antwortet. Auf das Pferd bezogen bedeutet es, dass im Schritt mit seiner Zwei- und Dreibeinstütze ohne Schwebephase die Durchtrittigkeit im Fesselkopf gering ist. Damit erfolgt die Dehnung der Beugesehne nicht stark und explosiv. Die Sehnen speichern nicht so viel Bewegungsenergie, dass das Pferd sich im Schritt von allein beschleunigt. Die diagonale Fußung im Trab mit Schwebephase bringt beim Landen des diagonalen Beinpaares, vor allem beim Vorderbein, vermehrten Druck auf den Fesselkopf. Dieser senkt sich tiefer nach hinten-unten ab, er tritt mehr durch.
In der Einbeinstütze im Galopp sieht man den starken Durchtritt im Fesselkopf. (Foto: Rolf Kosecki)
Die rückwärtigen Sehnen werden kurzzeitig gedehnt. Die Dehnung speichert die Dehnungsenergie. Ihre Freisetzung beugt das Fesselgelenk. Über die weiterführenden Faszienstrukturen wird das Bein dann höher angehoben als vorher. Wenn es aus der höheren Position wieder auf den Boden kommt, ist der Druck im Fesselkopf erhöht und die Sehnen werden durch die stärkere Dehnung mit einer noch größeren Bewegung antworten. So beschleunigt sich das Pferd durch seine eigenen Reflexe. Man sieht im Freilauf (vorausgesetzt, es ist genug Platz!) Pferde nicht abrupt stoppen, sondern langsam auslaufen. Wenn sie gegen ein Hindernis (Zaun) laufen und abrupt bremsen müssen, werfen sie ihr Gewicht auf die Hinterhand, um die Reflexe des Vorderbeins zu „löschen“, oder drehen sich auf der Hinterhand in eine andere Richtung um. Auf jeden Fall muss das Gewicht weg von der Vorhand, um deren Beschleunigungsmechanismus stoppen zu können. Im Galopp ist dieser Beschleunigungsmechanismus durch die noch höhere Durchtrittigkeit im Fesselkopf in der vorderen und hinteren Einbeinstütze aus der Schwebe verstärkt.
Man kann beobachten, dass Pferde, die vor dem Anreiten nicht gelernt haben, kontrollierte Übergänge von einer Gangart zur anderen und Tempiunterschiede zu absolvieren, beim Einreiten mit dem zusätzlichen Gewicht des Reiters Probleme bekommen. Im Schritt ist noch alles gut, aber sobald sich das Pferd in den Trab setzt, wird die Vorhand durch den gewöhnlich ja im Entlastungssitz (Remontesitz) sitzenden Reiter stärker belastet und der Beschleunigungsmechanismus verstärkt. Und schon geht die Reise los! Das vorher brave Pferd wird immer schneller und nicht kontrollierbar. Wenn es dann sogar in den Galopp fällt, wird es für Reiter und Pferd gefährlich, vor allem in engen Reithallen mit rutschigem Boden. Das Pferd wird unkontrolliert von seinen Reflexen „davongetragen“. Diese gefährliche und verstörende Situation sollte man durch das Erarbeiten der Reflexkontrolle vom Boden aus im Vorfeld vermeiden.
In diesem Zusammenhang wird es auch verständlich, dass es einem jungen oder nicht ausgebildeten Pferd schwerfällt, sich rückwärtsrichten zu lassen. Für das Pferd entsteht hier die paradoxe Situation, dass der Fesselkopf nachgibt und damit die hinteren Sehnen gedehnt werden, es aber den Reflex, das Bein dann nach vorn zu bringen, unterdrücken muss. Das muss ein Pferd lernen. Deswegen sind die ersten Widerstände beim Rückwärtsrichten kein Dominanzproblem, sondern ein Reflexgeschehen, mit dem man geduldig und verständnisvoll umgehen muss.
Rassetypische Besonderheiten: Galoppform, Trabform und Kraftform
Die Bewegungsmechanik eines Pferdes hängt stark von seiner Rasse, seinem Exterieur, seiner Selektion, seiner Nutzung und von der Bodenbeschaffenheit seines Aufzuchtgebiets ab. Man kann sinnvolle Einteilungskriterien aus der Hundebeurteilung für die verschiedenen Grundtypen der Pferde übernehmen, um die verschiedenen Exterieure zu beschreiben. In der Exterieurbeurteilung der Hunde gibt es die Klassifizierung des linearen und des lateralen Hundetyps: Extremformen wären Windhund (linear) und Englische Bulldogge (lateral). Bei den Pferden entspricht der lineare Typ dem hochbeinigen, windschnittigen Galopper, der laterale Typ dem bodenweiten, breitrumpfigen Kaltblut.
Nach ihrer Bewegungsqualität und Nutzung werden Hunde weiterhin in die Galoppform, Trabform und Kraftform unterteilt. Auf das Pferd übertragen wäre der Vollblüter die Galoppform. Seine trockene Textur und auch der häufig vorhandene Axthieb weisen auf eine hohe Faszienspannung hin und damit auf „bodenverachtende“, explosive und energieeffiziente Bewegungsmöglichkeiten. Seine langen Hebel und Sehnen sowie seine starke Faszienspannung katapultieren ihn im Galoppsprung nach vorn. Für seine Geschwindigkeit nutzt er mehr seinen Faszienrecoil als seine Muskulatur. Unter dem Faszienrecoil versteht man den Rückstoß der durch die Dehnung gespeicherten Bewegungsenergie in den Sehnen. Sie ziehen sich nach der Dehnung schnell zusammen und eine Bewegung entsteht.
Das Vollblut verkörpert bei den Pferden, der Marathonläufer bei den Menschen den linearen Typ. (Fotos: Mikhail Pogosov/Shutterstock.com; sportpoint/Shutterstock.com)
Hochspringer oder Marathonläufer verkörpern die lineare „Galoppform“ bei den Menschen.
Bei den Hunden ordnet man beispielsweise den Deutschen Schäferhund der Traberform zu. Bei den Pferden können wir das Warmblut dazu zählen, z.B. den Hannoveraner, der nicht nur als Ausdauerleistung lange Distanzen überwinden musste, sondern früher auch in der Landwirtschaft im Zug eingesetzt wurde. Er ist ein Mischtyp zwischen den Extremen und hat auf Kosten der Faszienspannung mehr Muskulaturanteil für die Zugleistung. Da er mittlerweile nicht mehr in der Landwirtschaft eingesetzt wird, wird er immer linearer auf mehr Faszienspannung gezüchtet.
In der Kraftform steht bei den Hunden z.B. der Leonberger, bei den Pferden der Kaltblüter. Er hat viel Muskulatur und wenig Faszienspannung. Er kann deshalb viel Kraft entwickeln, hat aber wenig Ausdauer und Sprungkraft. Sein Potenzial ist die Kraft, die etwa bei den Zugleistungsprüfungen bewertet wird.
Vordere, mittlere und hintere Stützbeinphase des linken Vorderbeins. (Fotos: Rolf Kosecki)
DAS WARMBLUT
Für die Beschreibung der Bewegungsmechanik des Warmbluts nehmen wir die größte deutsche Warmblutrasse als Beispiel: den Hannoveraner. Er verkörpert den Mischtyp zwischen dem linearen und dem Krafttyp.
In der Enzyklopädie von Jasper Nissen wird die Mechanik des Hannoveraners folgendermaßen beschrieben: „… dass der Schritt lang und fördernd ist, die Trabaktion leicht und raumgreifend und eher flach ist und der Galopp elastisch und bodendeckend.“ Er beschreibt ein Pferd mit einer Bewegungsmechanik, die auf Raumgewinn gezüchtet ist.
Die weit ausgreifenden flachen Schritte, Tritte oder Sprünge haben eine hohe Amplitude und eine geringe Frequenz. So kann das Pferd lange Strecken wenig verbrauchend zurücklegen.
Die züchterische Voraussetzung für den ausgreifenden Schritt ist die Bodenbeschaffenheit des Aufzuchtgebiets. Nur auf kontrollierten Böden wie z.B. Wiesen und Waldwegen findet der Huf genügend Halt für die erwünschte lange Stemmphase. Hannoveraner, die in den Marschen, also generell flachen Landstrichen aufgewachsen sind, haben oft rundere und weitere Hufe als andere Vertreter der Rasse. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich der Huf an die Bodenbeschaffenheit anpasst. Neben der Bodenbeschaffenheit ist die Halslänge und -haltung für die Mechanik der Bewegung entscheidend. Um sich energieeffizient und für die Sehnen nicht verbrauchend zu bewegen, nutzt das Pferd seinen Hals zur Schwerpunktverlagerung. Man könnte auch sagen, der Motor des Pferdes liegt im Hals und nicht im Hinterbein. Beobachtet man einen linearen Typ im Schritt, so sieht man bei ihm eine deutliche Nickbewegung des langen Halses. Dadurch verlagert er mit seinem langen Halshebel den Körperschwerpunkt weit nach vorn und rollt nicht verbrauchend, also ohne Anstrengung, den Körper über sein Vorderbein. Das Pferd zieht sich mit seinem Nacken-Rücken-Band-System mit geringstem Energieverbrauch über das aufgesetzte Vorderbein.
Je weiter die Nase des Pferdes vorn ist, umso weiter muss das Vorderbein vorgreifen, damit das Pferd in Balance bleiben kann. Diese Haltung wird auch Gebrauchshaltung genannt. Das Pferd nimmt sie selbstständig ein, um sich ökonomisch fortzubewegen. Wenn wir den Schrittzyklus unterteilen in die vordere, mittlere und hintere Stützbeinphase, dann ist die vordere Stützbeinphase abhängig von der Halshaltung des Pferdes. Sie werden kein Pferd in Vorwärts-abwärts-Haltung piaffieren sehen.
Wenn das Vorderbein die lange Stemmphase von vorn nach hinten durchläuft, passt sich natürlich das Hinterbein an diese Bewegung an. Hier kann man auch schon erahnen, dass ein Pferd mit diesen flachen, raumgreifenden Gängen schwer zu versammeln ist. Sein Motor sitzt in der Bewegung des Halses, mit der er über das Seilzugsystem des Nacken-Rücken-Bands seinen Körper über das stehende Vorderbein energieeffizient rollt.
Unter der Oberlinie verstehen wir die Muskeln, die die Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule strecken und gegen die Schwerkraft wirken.
Bei allen versammelnden Übungen muss das Pferd sich schließen und seine Hebel unter den Körper bringen. Das bedeutet, dass es die Schubkraft, die für die raumgreifenden Tritte nötig ist, in Tragkraft umwandeln muss.
Für ein solches Pferd ist Versammlung schwierig – es hat einen anderen genetischen Code. Das bedeutet nicht, dass man einen Hannoveraner nicht versammeln kann. Seine Bewegungsmechanik wird sich aber bei allen versammelnden Übungen grundsätzlich verändern müssen. Das Pferd muss lernen, die Hebel unter den Körper zu bringen und die hintere Stemmphase des Hinterbeins zu verkürzen. Dafür ist intensives Bauchmuskeltraining nötig. Das Pferd wird hinten „schneller“, da ein Teil der Stemmphase ausfällt. Die Metrik der Vorhand muss sich daran anpassen – so entstehen die ersten verkürzten Tritte. Die Versammlung ist beim linearen Typ ein langer Weg, es bedarf einer Ausbildung und Umformung von zwei bis vier Jahren!
DAS BAROCKE PFERD
Anders ist das bei den Pferden, die auf große Wendigkeit gezüchtet wurden. Als Beispiel nehmen wir den Lusitano. Da der Stierkampf zu Pferd nicht, wie in Spanien ab 1700 erstmals, verboten wurde, wurde der Lusitano immer kürzer und wendiger. Um ihn schnell und en bloc bewegen zu können, muss das Pferd seine Hebel dicht unter dem Körper haben. Das ermöglicht die dominante ventrale Kette, die aus dem Lusitano ein Quadratpferd mit aufgerichtetem Hals und schräger Kruppe macht.
Muskelketten
Muskeln arbeiten nie isoliert, sondern immer synergistisch in Muskelketten, um eine bestmögliche Wirkung zu erzielen. Wenn Sie sich z.B. auf die Zehenspitzen stellen, werden Sie die Muskelanspannung nicht nur in der Fußsohle, sondern bis zu Ihrem Gesäßmuskel spüren. Es gibt beim Pferd die Streckerkette, die sogenannte dorsale Kette oder Oberlinie. Das sind alle Muskeln, die vom Kopf an die gesamte Wirbelsäule strecken. Dagegen gibt es die Beugerkette, die sogenannte ventrale Kette oder Unterlinie. Alle diese Muskeln krümmen oder beugen die Wirbelsäule, am Kopf beginnend.
Nur so kann er schnell auf der Hinterhand drehen und zur Seite ausweichen. Der aufgerichtete Hals verändert die Vorhandmechanik zu einer hohen Knieaktion. Da der Lusitano die Hebel, das bedeutet seinen Hals und sein Vorderbein, fast an der Senkrechten, gut übereinander hat, wirkt in der Längsbiegung keine Fliehkraft auf die Schultern und er kann die Vorderbeine spielerisch vom Boden lösen.
Er braucht eine hohe Frequenz mit geringem Weg der Extremitäten, um zentimetergenau und blitzschnell reagieren zu können. Die Hinterhand muss untergeschoben und kräftig sein, so kann er seinen Körper blitzschnell über ihr wenden.
Der Lusitano besitzt eine dominante ventrale Kette und kann schnell auf der Hinterhand drehen und zur Seite ausweichen. (Foto: Nicole Ciscato/Shutterstock)