Die ægyptische Maschine - Christian Lange - E-Book

Die ægyptische Maschine E-Book

Christian Lange

0,0

Beschreibung

Als die ænglische Wissenschaftlerin Eve Bailiff London verlässt und zu einer geheimen Mission nach Paris aufbricht, ahnt sie noch nicht, dass es sie und ihren geheimnisvollen Schatten bald in den Orient verschlagen wird. Osiris, der Vizekönig Ægyptens, der sich schon auf einer Stufe mit den alten Pharaonen des Landes sah, wurde ermordet. Doch sein Geist scheint noch nicht entschwunden zu sein. Mit Hilfe einer antiken Maschine soll Eve Osiris aus der Unterwelt zurückholen. Doch der Dschungel aus Intrigen und Machtspielen am ægyptischen Hof macht es Eve fast unmöglich zu bestimmen, wer Freund und wer Feind ist ... Während Eve mit Hilfe einer kleinen Gruppe Verbündeter versucht, Osiris zu retten, wird jener Mann aktiv, vor dem sie aus London floh. Jener Mann, der ebenfalls an dem Geheimnis der ægyptischen Maschine interessiert ist – Professor Clockworth-Merenge. Ein neues Steampunk-Abenteuer aus der Welt von Eis und Dampf!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 371

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Autor: Christian Lange

Lektorat: Judith C. Vogt

Korrektorat: Frank Roßnagel

Satz und Gestaltung: Oliver Graute

ISBN Taschenbuch: 978-3-86762-335-3

ISBN E-Book: 978-3-86762-336-0

© Feder & Schwert 2018

Die Ægyptische Maschine ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur zu Rezensionszwecken und mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Epilog
Nachwort

Widmung

Erich von Däniken gewidmet

 

Der mir klar gemacht hat, dass der Weg, den alle gehen, nicht der einzig richtige sein muss.

Mit Mut und Phantasie kann man auch abseits der Wege Antworten finden.

 

Traut euch, Pfade zu verlassen.

Traut eurer Phantasie.

Kapitel 1

 

Wo bin ich?“ Er öffnete die Augen, doch konnte nichts sehen. Seine Hände tasteten im Dunkeln umher. Was war geschehen? Er spüre harten, rauen Stein unter sich. Sandstein, weder warm noch kalt.

War er tot? Oder schlimmer noch, hatte man ihn begraben, weil man ihn für tot hielt?

Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er brauchte Luft.

Hatte man ihn in einen Sarg gesteckt?

Seine Hände wedelten durch die Luft, suchten etwas Greifbares. Nein, über ihm war kein Sargdeckel; soweit er fühlen konnte, war da nichts um ihn herum bis auf den steinernen Boden, auf dem er lag.

Langsam begann er wieder zu atmen.

Ein und Aus. Ein und Aus.

Vorsichtig setzte er sich auf und lauschte.

Nichts.

Kein Scharren, kein Krabbeln, kein Kratzen.

Nichts, gar nichts.

Er sollte um Hilfe rufen, doch tat es nicht. Irgendetwas sagte ihm, dass keine Hilfe zu erwarten war.

Was war nur geschehen? Woran erinnerte er sich?

Wieder war da nichts. Nur Dunkelheit.

War er doch tot?

Erwartete ihn nun das Totengericht? Er spürte die Angst, merkte, wie sie an ihm empor kroch, um ihm wieder die Luft zu nehmen.

War da etwas an seinen Beinen? Hinter ihm?

Hilflos schlug er um sich, stolperte, fiel. Keuchend kniete er in der Schwärze.

„Hilfe“, flüsterte er.

Die Stille antwortet nicht.

„Hilfe“, rief er lauter.

Niemand antwortete.

„Hilfe“, brüllte er, so laut er nur konnte. Doch sein Schrei verhallte.

Er war allein. Allein in allumfassender Schwärze. Der Tod war schlimmer, als er erwartet hatte. Oder war dies ein Teil der Prüfung?

Wurde seine Seele auf diese Weise gewogen?

Seine Beine zitterten, als er sich erhob. Aufrecht will ich sein. Stark, so wie ich es im Leben war, furchtlos.

Doch die Furcht war noch da.

Sie lähmte ihn, machte ihn schwach. Er merkte, wie er schwankte, wie seine Beine zitterten.

Wenn er doch nur etwas sehen könnte!

Er kniff die Augen zu, so stark, dass sein Hirn ihm kleine, bunte Lichtblitze vorgaukelte.

Licht. Ich will Licht! Nur eine kleine Flamme, ein Funke würde genügen.

Er atmete ein, atmete aus. Dann öffnete er die Augen.

Er musste blinzeln, spürte Tränen, die seine Wangen hinabflossen.

Nie hätte er für möglich gehalten, wie glücklich ihn ein Funke Licht machen konnte.

 

Kapitel 2

 

Die eisernen Räder eilten über die Schienen. Jede Unebenheit, jede Abweichung gaben sie mit lautem Poltern an die Passagiere weiter.

Eve saß in ihrem Abteil und schaute hinaus. Frankreich sah so sehr anders aus als ihre Heimat Ængland. Hier gab es weniger Schnee, wenn auch die Berge noch schneebedeckt waren, aber vor allem gab es hier den allgegenwärtigen Dunst nicht, der alles auf der Insel einhüllte. Hier roch die Luft frischer, gesünder.

Die Abteiltür öffnete sich quietschend. Eve fuhr herum, ihre Hand ging zu ihrer Manteltasche.

Die alte Frau, die ihr schräg gegenübersaß, zuckte zusammen.

„Les billets, s’il vous plaît.“

Eve atmete aus, ließ den kleinen Revolver, wo er war.

„Sorry, I don’t speak French. Do you speak Ænglish?“

Der Schaffner starrte sie ungerührt an, nur seine rechte Augenbraue hob sich ein wenig.

Natürlich. Die Franzosen weigerten sich stur, eine so unwichtige Sprache wie Ænglisch zu lernen. Und selbst wenn sie fähig wären, sie zu verstehen, war es ausgeschlossen, sie dazu zu bringen, sie auch zu nutzen.

„Deutsch?“

„Ah, Sie kommen aus Deutschland, Mademoiselle?“

Der Schaffner setzte sein bestes falsches Lächeln auf. So ein Klotz. Er wusste genau, dass sie von der Insel kam.

„Nein, Sir“, sie benutzte das „Sir“ mit voller Absicht. Sie kramte in ihrer Manteltasche und zog den Fahrschein heraus.

Mit gefrorener Miene nahm der Schaffner das Papier an sich und studierte es ausführlich.

Die Alte erhob sich umständlich und reichte dem Schaffner ihr Ticket, dabei drängte sie sich so unbeholfen an Eve vorbei, dass diese ein Stück zur Seite rücken musste, um den altmodischen Reifrock nicht im Gesicht zu haben.

„Von Calais nach Paris, soso“, murmelte der Schaffner halblaut, nachdem er die Alte kontrolliert und diese sich wieder auf ihren Sitz zurückgezogen hatte.

Eve kniff die Lippen zusammen. Zum einen, weil das Wort „Calais“ sie sofort an die stürmische Überfahrt über den ænglischen Kanal erinnerte. Der Luftraum über Ængland war häufig zu neblig und windig, um Luftschiffe einzusetzen. Also musste man notgedrungen die unbequeme Überfahrt über das unruhige Wasser nehmen. Ihr Magen hatte das nicht gut vertragen.

Zum anderen war Eve keinesfalls darauf erpicht, zu viel Aufmerksamkeit zu erregen – was ohnehin bereits geschah, wenn sie versuchte, sich ohne Kenntnis des Französischen durchzuschlagen. Niemand sollte wissen, dass sie unterwegs war. Schon gar nicht, wohin.

„Ja. Stimmt so weit alles mit den Papieren, Monsieur?“

Auch wenn es ihr gegen den Strich ging, so wollte sie dem Mann einen halben Schritt entgegenkommen, damit er nicht noch lauter über sie und ihren Fahrschein grübelte.

Sein Lächeln wurde breiter.

„Aber natürlich, Mademoiselle. Ich wünsche noch eine gute Fahrt bis zum Gare du Nord.“

Er gab ihr das Ticket zurück, deutete eine Verbeugung an und verließ ihre Kabine wieder.

Eve fluchte leise, bevor sie das Ticket wieder verstaute.

Die Alte erhob sich, murmelte etwas und schob sich umständlich aus der Kabine.

Eve wartete einen Moment, dann erhob sie sich und öffnete die Tür. Ein schneller Blick nach links. Nur die Alte, die den Gang entlang watschelte. Rechts lungerte jemand am Ende des Ganges herum. Er war groß, trug einen langen, dunklen und nicht sehr sauberen Mantel, und ein breitkrempiger Hut versteckte sein Gesicht.

Eve musterte den Fremden ein paar Augenblicke lang. War er es?

Schwer zu sagen.

Sie zog die Abteiltür wieder zu, schob die Vorhänge zu. Der Riegel würde kaum jemanden aufhalten, aber er gab ihr dennoch ein kleines Gefühl von Sicherheit.

Diese Reise war ein Risiko. In jeglicher Hinsicht. Alles sprach dagegen, derart ungeschützt auf eine so wichtige Mission zu gehen. Aber so sehr sie auch gegrübelt hatte, eine andere Option als diese war ihr nicht eingefallen.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass der Zug noch eine knappe Stunde bis Paris unterwegs sein würde. Bereits jetzt konnte sie erste größere Siedlungen sehen. Vertrauter Rauch stieg auf.

Jemand rüttelte an der Tür. War es die alte Frau? Nein, das Rütteln war kräftig, Männerhände. Eve griff nach ihrem Revolver. Sollte sie einen Blick durch den Vorhang wagen?

Nein, sie drückte sich in eine Ecke, zielte mit der Waffe auf die Tür.

Das Rütteln hörte auf.

War es noch einmal der Schaffner? Nein, der würde klopfen, um sich anzukündigen. Eve hielt den Atem an.

Misstrauisch musterte sie das Fenster der Kabine. Sollte sie bei voller Fahrt versuchen, am Zug entlang in ein anderes Abteil zu gelangen?

Ein Knall unterbrach ihre Gedanken.

Die Tür flog auf, verfing sich im Vorhang. Eves Finger krümmte sich um den Abzug, sie drückte ab, der Schuss peitschte durch das kleine Abteil.

Jemand schrie auf, Schritte trampelten den Gang entlang. Der Vorhang wurde auseinandergerissen. Ein junger Mann erschien, seine Hautfarbe deutete darauf hin, dass er Osmane war. Sein Gesicht schmerzverzerrt, und der Stoff an seinem linken Ärmel färbte sich dunkel.

Er griff mit der Rechten in seine Jackentasche. Eve senkte die Waffe, doch bevor sie nachladen konnte, warf sich jemand auf den mutmaßlichen Osmanen. Die beiden Männer fielen in den Gang, Schmerzensschreie erklangen.

Eve zog ihre Reisetasche unter dem Sitz hervor und eilte zur Tür. Die Pistole vorgestreckt, wagte sie sich durch den flatternden Vorhang. Auf dem Boden rangen die beiden Männer miteinander; der Osmane und der Mann, den sie vorhin im Gang gesehen hatte, lagen auf dem Boden und prügelten aufeinander ein. Eve nutzte die Gelegenheit und rannte den Gang entlang in die andere Richtung. Fahrgäste reckten die Köpfe aus den Abteilen. Eve wich ihnen aus, rannte weiter.

Im nächsten Waggon angekommen, riss sie das Fenster auf und blickte hinaus: Gleich würden sie einen Vorort erreichen. Die ersten Häuser lehnten sich bereits an die Bahnstrecke.

Eve schob mit dem Fuß die Tür zur Herrentoilette auf. Ein Loch im Boden zeigte die vorbeirasenden Bahnschwellen. Der Geruch, der in der Kammer hing, war trotzdem ekelhaft. Doch sie schob ihre Tasche in die Kammer.

Während sie sich mit der rechten Hand an einer Haltestange festklammerte, riss sie mit der linken an der Nothalteleine. Abrupt wurde der Zug langsamer. Während Schreie aus Schmerz und Überraschung vom Lärm der Bremsen überdeckt wurden, hielt sich Eve mühevoll fest. Erst als der Zug fast stand, eilte sie in die Abtrittskabine und verriegelte sie. Sie schob den Vorhang zur Seite und linste hinaus.

Wie erhofft, verließen etliche Reisende eilig den Zug. Manche aus Angst, die meisten aus Neugier. Sie hörte wütende Stimmen im Zug, die Fragen des Schaffners nach dem Verursacher des ungewollten Zwischenfalls.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Schaffner und Zugführer wohl beschlossen, die Fahrt fortzusetzen. Eve schaute nach draußen. Kaum ein Dutzend Schritte von ihr entfernt, kniete der Osmane und schaute gehetzt den Zug entlang, dann zwischen den Rädern hindurch auf die andere Zugseite. Eine Wunde am Arm war provisorisch verbunden. Der andere war nicht zu sehen.

Der Zug schnaufte los, der Osmane blieb zurück und schaute sich ratlos um.

Eve schloss die Augen und versuchte, den Gestank zu ignorieren. Paris war nicht mehr weit.

Kapitel 3

 

„Schiete.“

Hauke fluchte.

War das Weib abgesprungen oder im Zug geblieben?

Er lugte zwischen den Rädern hindurch. Der Osmane stand noch immer auf der anderen Seite des Zuges und schaute sich wild um.

Wahrscheinlich stellte er sich die gleiche Frage.

Dass sie die Notbremse gezogen hatte, war klar.

Zufälle gab es schließlich nicht. Sie war abgehauen, und kurz darauf war er quer durch den Gang geflogen. Hatte sie es geschafft, schnell aus dem Zug zu verschwinden oder nicht?

Entlang der Strecke standen etliche ärmliche Hütten. Die Zäune waren löchrig, die Gärten dahinter ungepflegt. Perfekt, um unterzutauchen.

Die Lok stieß einen langen Pfiff aus.

Hauke schaute sich noch einmal um. Sie war nirgends zu sehen. Er musterte seinen Gegner auf der anderen Seite, und als dieser gerade abgelenkt war, sprang Hauke los. Der Zug setzte sich stampfend in Bewegung. Der Friese griff eine Haltestange und zog sich hoch. Er öffnete die Tür, trat aber noch nicht ein. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung. Etliche Anwohner standen am Gleis und gafften neugierig. Der Osmane blickte dem Zug hinterher. Seinen Gesichtsausdruck konnte Hauke nicht sehen, aber er erahnte seine Gedanken.

Dann stieg Hauke in den Waggon. Laut Fahrplan hielt der Zug erst wieder in Paris, es war also zwecklos, sie jetzt im Zug zu suchen. Er wollte keine zweite Notbremsung provozieren, sie war schon aufgescheucht genug. Er lugte ins erstbeste Abteil. Eine ältere Dame saß dort und schaute ziemlich verschreckt drein.

„Moin“, sagte er beim Betreten. Ihre weit aufgerissenen Augen zeigten ihm, dass sein Erscheinungsbild wohl nicht gerade ihr Vertrauen erweckte. Er setzte sich neben die Tür, versuchte sich an einem Lächeln. Es half natürlich nicht, aber er hatte sein Bestes getan.

Hauke zog sich den Hut in die Stirn und versuchte, ein wenig zu schlafen.

 

***

 

Ein lautes Räuspern weckte ihn. Die alte Dame stand mit zusammengekniffenem Mund vor ihm. Er hob die Brauen, sie schaute bedeutsam nach oben. Ihr Koffer.

Ächzend erhob er sich. War er im Weg oder sollte er helfen? Viele Menschen wollten keine Hilfe von ihm. Irgendwie sah er wohl zu abstoßend oder vertrauensunwürdig aus. Er hatte sich noch keine genaueren Gedanken darüber gemacht.

Auch jetzt war keine Zeit dafür: Der Zug stand, das hieß, sie waren in Paris. Eilig griff er nach dem Koffer der Frau, wuchtete das schwere Teil auf den Boden. Dann murmelte er eine Verabschiedung und verließ den Zug. Ein Großteil der Passagiere war bereits ausgestiegen.

Schiete!

Eilig bahnte Hauke sich seinen Weg durch die Passagiere auf dem Bahnsteig. Doch sie war nirgends zu sehen.

Schiete, Schiete, Schiete!

Wütend trat er gegen einen Aufsteller voller Groschenblätter. Einige Hefte fielen zu Boden. Ein wütender kleiner Franzose mit pomadisierten Haaren quatschte ihn an, ohne dass Hauke auch nur ein Wort verstand. Na gut. Ein oder zwei Schimpfworte kannte er in vielen europäischen Sprachen. Das brachte seine Tätigkeit so mit sich.

Seufzend kramte er in seinem Mantel, kramte ein paar ænglische Münzen hervor und drückte sie dem Mann in die Hand. Er schnappte sich eines der Hefte.

La fée verte – Die grüne Fee. Was immer damit auch gemeint war. Egal.

Der Bahnsteig lehrte sich. Hauke senkte den Kopf.

Er hatte sie verloren. Und die Chancen, sie in Paris zu finden, standen schlecht. Die Stadt war riesig, hatte mehrere Bahnhöfe und Luftschiffhäfen. Bevor er hier jemanden gefunden hatte, der ihm weiterhalf, würden wertvolle Tage vergehen, und es wäre wahrscheinlich zu spät.

Er ließ sich auf einer Bank nieder und starrte vor sich hin. Die letzten Passagiere hatten den Zug verlassen. Ein einsamer alter Mann mit einem Besen machte sich daran, den Bahnsteig zu säubern.

Was nun?

Hauke griff sich an die linke Schulter und knetete sie. Sie schmerzte mal wieder.

Der alte Mann auf dem Bahnsteig hielt plötzlich inne und schaute zum Zug herüber. Der Friese folgte seinem Blick: Eine Tür öffnete sich langsam. Vorsichtig zog sich Hauke hinter einen der zahlreichen eisernen Masten zurück, die das gläserne Bahnhofsdach trugen. Ein Frauenkopf schob sich aus der Tür und schaute sich um. Hauke grinste erleichtert. Manchmal brauchte man einfach Glück.

Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihr nachstellte, stieg sie endlich aus dem Zug. Sie rückte ihren Hut zurecht, aus dem ein paar Strähnen ihres braunen Haares hervorlugten, griff sich ihre Reisetasche und ging los. Schwankte sie ein wenig? Hauke war versucht, sein Versteck aufzugeben und ihr unter die Arme zu greifen.

Nein. Er musste im Verborgenen bleiben. So konnte er seinen Auftrag besser erfüllen.

Kapitel 4

 

Borchert schüttelte den Kopf.

Diese Wissenschaftler hielten sich immer für schlau, und doch kam man ihnen ganz einfach auf die Schliche. Er hielt inne.

Nun ja, eigentlich doch nicht.

Schon seit Monaten war er einer Sensation auf der Spur, aber immer wieder schaffte es das Objekt seiner Begierde, sich ihm zu entziehen. Doch jeder Mensch, egal, wie schlau er war, machte hin und wieder Fehler.

Auch dem berühmt-berüchtigten Professor Clockworth-Merenge war es nicht anders ergangen. Der Mann selbst war nicht zu fassen. Das war auch besser für ihn, musste Borchert zugeben. Denn abgesehen von ihm, dem zukünftig wichtigsten investigativen Reporter der Grünen Fee, waren natürlich auch die Polizei, zahlreiche Geheimdienste und sicher auch andere Organisationen hinter dem Mann her.

Aber wer wandelnde Leichen, sogenannte Shellys, erschuf, der musste damit rechnen, dass halb Europa und wahrscheinlich auch andere Nationen und Interessengruppen hinter einem her waren.

Johann Ludwig Borchert ächzte beim Aussteigen.

Eve Bailiff, die vermutliche Vertraute des Professors entschwand gerade am Ende des Bahnsteigs in die Bahnhofshalle des Pariser Nordbahnhofes. Der unauffällig auffällige Fremde, der sie schon seit London verfolgte, tat dies auch hier.

Anfänger, murmelte Borchert. Er musste ihr nicht folgen, um zu wissen, wohin sie wollte. Während sich die Ahnungslose vom Schaffner hatte ablenken lassen, dem Borchert vorher ein paar Münzen zugesteckt hatte, war ihm ein Blick in ihre Tasche gelungen. Die Hoteladresse in Paris und einen Termin unterhalb des Eiffelturms am morgigen Tage hatte er erkennen können.

„Puis-je vous aider?“, hörte Borchert eine Stimme.

Er versuchte, sich den Schreck nicht anmerken zu lassen. Der alte Mann, der hier offenbar den Bahnsteig zu fegen hatte, war ihm völlig entgangen.

Borchert wedelte mit seinem Fächer und versuchte, sein Gesicht zu verdecken. Er wollte jetzt nicht noch auffliegen.

Der Alte grinste ihn an und entblößte ein erstaunlich gepflegtes Gebiss. Borchert kniff die Zähne zusammen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich als alte Lady zu verkleiden. Eilig raffte er seine Röcke und stolzierte so schnell wie möglich aus der Reichweite des Alten.

Eine Mietdroschke vor der Tür brachte ihn schnell ins Hotel L’Égypte. Auch der Kutscher warf ihm grinsende Blicke zu, als er Borchert aus der Kutsche half.

Borchert versteckte sich wieder hinter seinem Fächer. Entweder war seine Verkleidung so schlecht, dass ihn alle Welt als verkleideten Mann erkannte, oder seine Verkleidung war so gut, dass sie ihm wirklich den Hof machten. Beides wäre unangenehm.

Die Bediensteten des Hotels hatten sich glücklicherweise besser im Griff.

„Ich hätte gern ein Zimmer“, bat Borchert mit verstellter Stimme.

„Bien sûr, Fräulein“, antwortete der Concierge. Um dessen Deutsch war es offensichtlich nicht gut bestellt. Aber Borchert blieb bei Deutsch, auch wenn er perfekt Französisch sprach. Tarnung und Verwirrung waren alles.

Während der Concierge die Formalitäten erledigte, schaute sich Borchert unauffällig um. Das Hotel gehörte zu jenen, die im neumodischen ægyptischen Stil erbaut worden waren. Seit Champollion begonnen hatte, die alten Zeichen der Ægypter zu entziffern, war alle Welt plötzlich wild auf die alte Kultur. Nun ja, zumindest die Franzosen. Aber die hielten sich ja auch für das Zentrum der Welt.

Die Dekoration war eine Mischung aus billigem bunten Gips und Stuck und einigen, vermutlich geschmuggelten, antiken Objekten. Ein steinerner Sarkophag schmückte die Halle, in Vitrinen standen Figürchen, sogar Schmuck konnte man bewundern. Dazu kamen an die Wände gemalte Zeichen, die vermutlich Hieroglyphen darstellen sollten. Borchert konnte die Schrift der alten Ægypter zwar nicht lesen, aber er wusste genug, um jenes Gekritzel als Fälschung zu erkennen.

„Deine Name, s’il vous plaît“, bat der Concierge.

Borchert drehte sich um, griff nach der Feder.

Johann … begann er und hielt inne. Der Concierge beobachtete ihn neugierig. Sapperlot, jetzt hätte er beinahe mit seinem richtigen Namen unterschrieben. Die halbe Welt kannte doch Johann Ludwig Borchert, den Starjournalisten der Grünen Fee. Er wäre aufgeflogen, noch bevor es richtig begonnen hatte.

Er schluckte, setzte sein fraulichstes Lächeln auf und schrieb weiter: … Johanna von Grünfee.

Das sollte reichen, um seine Identität zu verschleiern, und war eine schöne Anekdote, wenn er die Geschichte später niederschreiben würde.

Der Concierge musterte den Namen, dann nickte er und händigte Borchert einen Zimmerschlüssel aus.

„Eine Frage, mein Guter.“ Borchert fächerte sich wie wild Luft zu. „Meine Nichte, die gute Eve Bailiff, ist auch in diesem Haus abgestiegen. Wissen Sie, wir haben uns seit damals, seit dieser unmöglichen Hochzeit zwischen dem Conte de Funes und der ehemaligen Duchess of …“

Ein Räuspern des Concierges unterbrach ihn. Das war auch gut so, denn Borchert fiel gerade keine passende englische Herzogin ein. Also kam er auf den Punkt.

„Gut, gut. Ich würde sie jedenfalls gern überraschen. Welches Zimmer hat sie doch gleich?“

Der Concierge kniff die Augen zusammen, dann wehrte er mit den Händen ab.

„Madame, was halten Du von …“

Borchert kannte die Geste. Er kramte einen Geldschein aus seiner Handtasche und ließ ihn unauffällig in die Hände des Mannes gleiten.

Der räusperte sich, beugte sich vor und flüsterte: „Die Dame ist in Zimmer 13, mein Herr.“

Dann verneigte er sich kurz und wandte sich eilig dem nächsten Gast zu.

Kapitel 5

 

Er hasste Paris. Es war so groß, so laut, so … so viel.

Überall liefen Menschen herum, Pferdefuhrwerke klapperten über das Pflaster, Karbiddroschken verpesteten die Luft.

Wer kam nur auf die Idee, dass es gut sei, so viele Menschen an einem Ort anzusiedeln?

Selbst London war ihm oft schon zu viel gewesen.

Na gut. Paris hatte trotz der Droschken bessere Luft als London. Aber das war nichts im Vergleich zu …

Hauke blieb stehen. Im Vergleich zu was?

Er war doch noch nie aus London weg gewesen. Oder doch?

Da war so ein Erinnerungsfetzen. Sand, Meer, ein weiter Blick. Vielleicht die Kanalküste? Ein Urlaub mit den Eltern?

Der Friese schaute sich um. Wo war sie hin?

Er sprang auf das Fundament einer Straßenlaterne, zog sich mit links hoch. Aufmerksam musterte er die Menschenmenge vor sich. Alles strömte irgendwohin. Mochte der Düwel wissen, wohin.

Da. Dort ging jemand gegen den Strom. Hauke erkannte den Hut.

Er sprang auf den Boden, bahnte sich seinen Weg durch die Menge.

Als er drei Armeslängen hinter ihr war, passte er sich ihrem Tempo an. Sie schien etwas zu suchen, schaute immer wieder auf einen Zettel.

Sie fragte sogar einige Passanten, hielt den Leuten den Zettel hin. Doch die schauten nicht einmal darauf, winkten nur unwirsch ab. Er hatte gute Lust, den unfreundlichen Franzosen Höflichkeit einzubläuen, doch er durfte keine Aufmerksamkeit erregen. Also stieß er nur einen fetten Pariser zur Seite. Natürlich begann sich der Kerl, auf die unnachahmliche Art der Franzosen aufzuregen. Doch es reichte, dass Hauke sich zu ihm umdrehte und ihn wortlos betrachtete. Der fette Kerl verzog das Gesicht, dann eilte er weiter.

Als Hauke sich wieder umwandte, hatte sie offenbar gefunden, was sie suchte: ein Hotel.

Der Friese rümpfte die Nase. Das Haus war furchtbar bunt und schrill. Er nickte dem Portier zu, als ob er ihn kennen würde und drückte sich ins Foyer. Hier war es ruhiger, aber nicht minder bunt.

Hauke kannte sich mit all dem ægyptischen Kram nicht aus, aber selbst ihm war klar, dass das meiste billige Fälschungen sein mussten. Früher hatte er auch mit diesem Zeug gehandelt. Dieses Gerede vom Fluch des Pharaos hatte immer zu vielen Streitigkeiten geführt. Er kratzte sich am Kopf. Mit wem hatte er sich gestritten?

Egal. Er drückte sich in einen Sessel, schnappte sich eine Zeitung und beobachtete sie.

Der Mann hinter dem Schalter … wie nannte man den noch gleich? … ließ sie ein Papier unterschreiben, dann gab er ihr einen Schlüssel.

Sollte er hinterher? Oder besser den Schaltermann ausquetschen? Bevor Hauke sich entscheiden konnte, sah er, wie sie in den Aufzug stieg. Schafschiete, da konnte er nicht mit rein.

Na, dann eben der andere Weg. Doch bevor er es dorthin schaffte, drängelte sich ein altes Weibsstück vor.

Hauke war kurz davor, die Alte zur Seite zu stoßen. Doch dann fiel ihm ein, dass das vielleicht doch zu viel Aufmerksamkeit erregen würde. Also platzierte er sich hinter ihr.

Ein Zimmer wollte die Deutsche. Der Franzose kramte sein schlechtestes Deutsch hervor und vermietete ihr eines. Immerhin ging das schnell. Als sie fast schon im Gehen war, drehte sie sich noch einmal um.

Hauke glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Fragte sie wirklich nach Eve?

Zimmer 13?

Er wusste nicht, ob er sich über die ihm zugeflogene Information freuen sollte, oder sich wegen der Alten Sorgen machen musste.

Eve hatte keine Tante.

Moment. Was hatte der Schalterfritze gesagt? „Mein Herr?“

Hauke glotzte der Alten nach.

„Was kann ich für dich tun, mein Herren?“, fragte der Angestellte hinter ihm.

Der Friese ignorierte die Frage und folgte dem verkleideten Mann.

Der nahm die Treppe in die erste Etage, verschwand dort hinter einer Tür mit der Nummer 7. Hauke malte das Zeichen gegen Unglück vor sich in die Luft. Die Sieben bedeutete nichts Gutes. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, aber irgendeine seiner Tanten hatte mal an einem Siebten das gute Geschirr fallen lassen. Teller für vierundzwanzig Personen, ein riesiger Scherbenhaufen. Hauke grinste. Das musste ein Spaß gewesen sein. Wie hatte doch gleich die Tante geheißen?

Egal. Er schlich zur Tür mit der messingfarbenen Sieben am Holz. Niemand war auf dem Flur, also drückte er sein Ohr an die Tür. Drinnen fluchte jemand leise. Eine Männerstimme.

Hatte der Schalterfritze also Recht gehabt: Die Alte war ein verkleideter Mann und hinter Eve her. Sollte er gleich die Tür eintreten und den Mann aus der Stadt prügeln?

Er entschied sich, es nicht zu tun. Stattdessen ging er den Flur entlang, hinter einer Ecke befand sich Zimmer 13. Hier also wohnte Eve.

Vorsichtig trat er näher. Nichts war zu hören.

War sie noch nicht hier? Schlief sie? Oder war sie bereits wieder gegangen?

Hauke blickte sich um. Hier konnte er nicht bleiben. Sie würde ihn sofort entdecken, falls sie jetzt auftauchte.

Er hörte Schritte hinter sich. Dem Geklapper nach waren es Frauenschuhe. Schiete.

Ohne sich umzuschauen, griff er nach der Klinke der gegenüberliegenden Tür. Ein Stoßgebet, dann drückte er die Klinke herab. Die Tür öffnete sich quietschend. Eilig trat Hauke ein, schloss die Tür schnell.

Drinnen war es still. Hauke schloss die Augen und atmete hörbar aus.

Koffer oder persönliche Dinge sah er keine. Vielleicht war das Zimmer einfach leer. Er lauschte an der Tür. Die Schritte kamen näher, hielten auf der anderen Seite an. Dann blieb es eine Weile ruhig.

Was sollte er tun, wenn jemand hereinkam? Erst zuschlagen und dann Fragen stellen? Oder fliehen?

Metall kratzte über Metall, dann wurde ein Schloss geöffnet. Glücklicherweise nicht das zu Haukes Zimmer. Wenn es die Tür gegenüber war, dann kam Eve also tatsächlich gerade an.

Hauke atmete auf. Es ging ihr also gut. Er nahm einen Stuhl, stellte ihn vor die Tür, sodass die Klinke durch die Stuhllehne blockiert wurde. Das würde ihm ein wenig Zeit verschaffen, wenn jemand ins Zimmer wollte. Er schaute sich um. Eigentlich hatte er es ja ganz gut getroffen: Es gab schlechtere Plätze, um auf der Lauer zu liegen. Ein Bett, ein Fenster, und auf dem kleinen Tisch vor dem Spiegel stand eine Schüssel und daneben eine Karaffe mit Wasser. Da kein Becher zu finden war, trank Hauke das Wasser direkt aus dem großen Glasgefäß. Wahrscheinlich brachte das Personal die Becher erst, wenn jemand einzog.

Der Blick in den Spiegel war nicht so erfrischend wie das Wasser. Er nahm den Hut ab, musterte sich selbst. Seine Haare waren verschwitzt, sein Gesicht war von Bartstoppeln bedeckt. Unter den Augen zeigten sich dicke, dunkle Ringe. Wann hatte er das letzte Mal richtig geschlafen?

Hauke seufzte.

Er wusste es nicht. Es musste Tage her sein – irgendwann in London vermutlich.

 

***

 

Ein Schrei weckte ihn. Hauke fuhr hoch. Wo war er?

Ein Bett, enge Wände, ein Fenster, durch das flackerndes Licht hereinfiel. Er sprang auf, er war in diesem Hotel, musste eingeschlafen sein. Längst war es dunkel draußen. Gaslaternen flackerten.

Hauke lief zur Tür. Hatte er den Schrei nur geträumt, oder kam er von gegenüber aus Eves Zimmer?

Er riss den Stuhl zur Seite, den er unter die Klinke geklemmt hatte.

Das helle Licht im Flur blendete ihn. Hauke versuchte, seine Augen mit der Hand abzuschirmen.

Die Tür auf der anderen Seite des Ganges stand offen. Eve stolperte gerade heraus, der Osmane aus dem Zug sprang hinter ihr her, stieß sie zu Boden.

Hauke verstand nicht, was er sagte. Das war aber auch nebensächlich. Brüllend stürmte er los, rammte den Mann zu Boden.

Er verpasste dem Mann einen schwungvollen Haken nach dem anderen. Das Gesicht des Osmanen zerbrach.

Der Anblick des zerquetschten Schädels ernüchterte Hauke augenblicklich. Still blieb er hocken, starrte auf die Leiche unter sich.

Was war geschehen?

Eve wimmerte. Irgendwo im Flur wurden Stimmen laut. Hauke blickte auf seine linke Hand. Irgendwas stimmte hier nicht.

„Wir müssen hier weg“, flüsterte Eve, griff nach ihrer Tasche, zog Hauke auf die Beine.

Verwirrt schaute er sie an.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Nein, nichts stimmte hier! Er hatte jemandem mit der Faust den Schädel eingeschlagen. Und Eve, die Frau, die er seit einer halben Ewigkeit heimlich verfolgte und schützte, schien gar nicht überrascht, ihn zu sehen.

Träumte er noch?

Eve kniete neben dem toten Osmanen, wühlte in seinen Taschen. Was sie fand, steckte sie ein.

Hauke sah, dass ihr Gesicht leichenblass war. Sie zog ihn aus dem Zimmer, vorbei an fragenden Gesichtern und Stimmen, die sich über den Lärm beschwerten.

„Wir müssen verschwinden, bevor die Polizei hier ist“, raunte sie ihm zu.

Sie nahmen die Treppe. Im Foyer hakte sie sich bei ihm ein und spürte die Feuchtigkeit auf seinem Mantel. Zum Glück war dieser dunkel, sodass man das Blut nicht sah. Sie schluckte ihren Ekel hinunter und zog ihn schnellen Schrittes zur Tür.

Draußen winkte sie eine Karbiddroschke herbei.

Als die Droschke losfuhr, schaute sie noch eine Weile nach hinten, bevor sie sich entspannte.

Hauke betrachtete sie. Er hatte sie lange nicht mehr aus der Nähe gesehen. Sie war schön. Grüne Augen, rote Lippen, Sommersprossen. Ihre braunen Haare quollen aus dem Haarband heraus und gaben ihr ein verwegenes Aussehen. Ihr helles Reisekleid wies ein paar Blutspritzer auf.

Hauke blinzelte. Einen Moment lang hatte er vergessen, dass er gerade jemanden getötet hatte.

„Wie heißen Sie?“, fragte Eve.

„Hauke“, antwortete er.

„Ein schöner Name. Ich bin Eve, Eve Bailiff.“

Der Friese nickte.

„Sie haben mich gerettet, Hauke“, sprach sie weiter.

Er nickte. Sein Mund war wie zugenäht. Seit Ewigkeiten bewachte er sie, sorgte für ihre Sicherheit, und jetzt, da er sie das erste Mal vor einer ernsten Gefahr bewahrt hatte, entdeckte sie ihn und sprach auch noch mit ihm.

Das war nicht so, wie er es sich gedacht hatte. Hauke runzelte die Stirn. Wie hatte er es sich eigentlich gedacht?

„Ist alles in Ordnung?“

Hauke schreckte aus seinen Gedanken auf. Eve schaute ihn fragend an. Oder war ihr Gesichtsausdruck besorgt?

„Jaja, alles in Ordnung.“

Er schaute aus dem Fenster. Häuserschluchten zogen an der Droschke vorbei.

„Wohin fahren wir?“, fragte er.

Eve kramte in ihrer Tasche, zog einen Zettel hervor.

„Wir fahren wieder ins Hotel L’Égypte“, erklärte sie.

„Aber dort wird man uns suchen …“, stieß er hervor. Die Aussicht auf eine französische Arrestzelle fand er nicht besonders berauschend.

„Ja, deshalb werden wir ein oder zwei Tage warten“, schlug sie vor. „Der Ægypter, der mich überfallen hat, hatte einen Zettel dabei. Darauf stehen die Adresse des Hotels und die Zimmernummer 6. Wenn wir erfahren wollen, was der Kerl von mir wollte, müssen wir wohl dorthin.“

„Ægypter?“, fragte Hauke.

Sie nickte. „Was sonst? Es wird wohl kein Zufall sein, dass wir in diesem Hotel gelandet sind.“

Hauke nickte, schaute sich den Zettel an. In der Tat, Hotel und Nummer standen dort. Die Schrift war eigentümlich. Fast wie die eines Kindes. Ungelenk, so als hätte der Schreiber keine Übung.

„Aber wir fahren doch jetzt nicht zwei Tage in der Droschke umher, oder?“

Eve lachte auf. Hauke lächelte. Ihr Lachen war großartig. Einzigartig. Mitreißend.

„Nein, natürlich nicht. Wir werden uns ein anderes Hotel suchen. Eines, in dem man uns nicht finden kann.“

Hauke nickte.

 

***

 

Wenig später hielt ihre Droschke vor einer heruntergekommenen Herberge an.

Louis XIV stand auf dem Schild über dem Eingang, dabei sah das Haus so gar nicht königlich aus. Eve drückte dem Kutscher ein paar Münzen in die Hand, dann eilte sie auf das Gebäude zu. Hauke folgte ihr. Noch immer war er verwirrt. Etwas stimmte nicht; mit der Situation, mit ihm. Vielleicht auch mit Eve.

Aber seine Instinkte setzten wieder ein, das beruhigte ihn. Sein Blick ging suchend umher, musterte die Menschen, suchte Gesichter, Gefahren, Angreifer.

Doch alles schien ruhig.

Das Hotel hatte kein Foyer, nur einen schmalen Flur. Ein Mann saß im Unterhemd an einem Tisch, halb im Weg, und lauschte einem Grammophon. Hauke war sich nicht sicher, ob das Gerät kaputt war oder es so jaulend klingen sollte. Es erinnerte ihn irgendwie an die Rufe junger Seehunde nach ihren Müttern. Die Franzosen hatten einfach keinen Geschmack, nicht einmal bei Musik.

Während Eve sich um die Unterkunft kümmerte, blickte Hauke zurück auf die Straße. Droschken fuhren vorbei, Menschen spazierten umher. Aber niemand schaute in den Hotel-eingang hinein, niemand interessierte sich für sie.

Hauke war trotzdem nicht beruhigt. Der Mann, der sich als alte Frau verkleidet hatte, fiel ihm wieder ein. Auch er war hinter Eve her gewesen. Hatte er den Ægypter geschickt? Oder umgekehrt?

Der Friese schnaufte. Es wäre ihm fast lieber, den Kerl hier zu erblicken, dann könnte er ihn vertreiben.

Oder totschlagen. Missmutig sah er hinunter auf seine linke Hand, das Blut hatte er nur hastig abwischen können.

„Kommst du, Hauke?“, rief Eve.

Der Satz klang vertraut. Er folgte ihr die Treppe hinauf. Das Zimmer, das sie gemietet hatte, war zwar groß, aber dafür nicht besonders sauber. Auf der einen Seite stand ein riesiges Bett, das aussah, als hätte man drei Matratzen aufeinandergestapelt. Wahrscheinlich kippte man mitsamt den Matratzen auf den Boden, wenn man diesen Berg besteigen wollte.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers standen ein Sofa, das nicht besonders bequem aussah, und ein Sessel. Die Muster der beiden Möbel waren verblichen. Hauke beschloss, dass das Sofa sein Nachtlager werden würde. Langsam ließ er sich nieder. Wer wusste schon, ob die Franzosen Möbel bauten, die ihn aushielten?

„Hauke?“

Er sprang auf. Eve stand neben dem Bett und hatte ihn wohl beobachtet.

Lächelnd winkte sie ab.

„Nein, bleib bitte sitzen!“

Langsam setzte er sich wieder.

„Ich habe einen Vorschlag für dich. Vielleicht möchtest du ihn dir anhören?“

Er nickte. Was für ein Vorschlag mochte das sein? Sollte er sich der Polizei stellen? Das konnte sie vergessen.

„Ich bin auf einer wichtigen Reise. Und es sieht so aus, dass dieser Umstand jemandem nicht gefällt. Mir war bis vorhin nicht bewusst, wie gefährlich die Sache ist.“

Sie machte eine Pause, ging zum einzigen Fenster des Zimmers. Sollte er etwas sagen? Oder sprach sie weiter? Warum war sein Kopf so leer?

„Was hältst du davon, wenn du mich auf dieser Reise beschützen würdest?“

Sie drehte den Kopf, schaute ihn über die Schulter hinweg an. Oh, dieser Blick. Wurde er rot? Schnell schaute er zu Boden.

„Natürlich würde ich dich bezahlen. Das versteht sich von selbst.“

Hauke blinzelte. Das war … perfekt. Er konnte weiter auf sie achten, musste aber nicht mehr versuchen, sich vor ihr zu verstecken.

„Ja, Mylady“, flüsterte er.

Eve winkte lachend ab.

„Eve, nenn mich Eve.“

Er musterte sie.

„Gerne, Eve, sehr gerne.“

Kapitel 6

 

Der Tag verging so langsam, dass es Eve schien, dass sie auch einer Schnecke beim Überwinden des Burggrabens um den Tower of London hätte zusehen können. Die Absteige, die ihr der Kutscher empfohlen hatte, war billig in jeglicher Hinsicht. Sie war schmutzig und laut und absolut kein Ort, den sie freiwillig aufsuchen würde. Aber sie war ja auch nicht aus freien Stücken hier.

Ungewöhnliche Zeiten erforderten außergewöhnliches Verhalten. Hier würde sie zumindest niemand vermuten und demzufolge auch nicht suchen.

Hauke hatte sie nach draußen geschickt, um eine Mahlzeit zu besorgen. Das war dringend nötig, aus mehreren Gründen sogar: Sie hatte Hunger, und diese Absteige bot natürlich keinen Zimmerservice. Außerdem brauchte ihr neuer Beschützer eine Beschäftigung, damit er nicht zu viel über die Situation nachdachte, in der sie sich gerade befanden.

Zudem brauchte sie ihrerseits gerade ein wenig Ruhe, um nachzudenken.

Die Dinge waren ihr aus den Fingern geglitten. Der Besuch des Ægypters hatte sie überrascht, sie verstand nicht, was der Mann von ihr gewollt hatte. Aber allein sein Auftreten war aggressiv gewesen und hatte ihr Angst gemacht.

Haukes Reaktion war sicherlich im Ergebnis zu viel gewesen, aber doch verständlich. Dummerweise war der Kerl nun tot. Eigentlich hatte sie sich erhofft, in einem ruhigen Gespräch Informationen über den Auftrag zu bekommen. Dann hätte sie erklären können, warum nicht der Professor persönlich, sondern seine weit unbekanntere Assistentin nach Paris gekommen war.

Die ganze Geschichte war aber auch zu verlockend gewesen: Der Brief an den Professor war ganz normal mit der Post eingetroffen. Allein das war ungewöhnlich, denn eigentlich war die Adresse des berühmten Professors Clockworth-Merenge niemandem bekannt. Der æenglische Geheimdienst schützte ihn schließlich.

Und doch war der Brief zu ihnen gelangt, lag eines Tages ohne Briefmarke, ohne Absender und einfach nur an „Prof. Clockworth-Merenge, Ængland“ adressiert auf ihrem Schreibtisch.

Einen Moment lang hatte sie überlegt, den Brief sofort an den Professor weiterzuleiten. Er konnte ungehalten sein, wenn man sich in seine Privatsachen einmischte, sehr ungehalten. Und was privat war und was nicht, entschied er allein und oft spontan.

Ebenso konnte er gereizt sein, wenn man ihn mit unwichtigen Dingen belastete. So oder so, Eve konnte kaum abschätzen, wie der Professor reagieren würde. Eine „No-win-Situation“ nannte man das wohl.

Also hatte sie den Brief geöffnet.

 

Kapitel 7

 

Rückblick

 

Der Inhalt des Briefes war erstaunlich.

Der Schreiber, der vorerst anonym bleiben wollte, bat um die Hilfe des Professors. Es ging um einen kürzlich Verunglückten, der es irgendwie geschafft haben sollte, seinen Geist in ein Gefäß aus Anbar zu transportieren. Ein wohl sehr unglücklicher Umstand, da die verunglückte Person einiges politisches Gewicht in ihrem Heimatland hatte. Kurz, die Hilfe des Professors auf dem Gebiet der Geistestranslokation war unumgänglich.

Eve las den Brief mehrmals, wurde aber nicht schlau daraus. Wo war Anbar? Ihr Gedächtnis für geographische Namen war recht gut, aber ein solcher Ort war ihr noch nicht untergekommen.

Nach kurzem Nachdenken vertraute sie sich der Encyclopædia Britannica an, einem Werk, dem außerhalb des Inselreiches kaum jemand Beachtung schenkte. Dabei konnte man hier in der Fülle menschlichen Wissens schwelgen.

Anbar – arabischer Name für Bernstein.

Eve rutschte das Buch beinahe aus der Hand. Bernstein? Jemand hatte seinen Geist in einen Bernstein übertragen?

Ganz gegen ihre Gewohnheit ließ sie den ersten Band der Encyclopædia offen auf dem Tisch liegen und eilte zum Büro des Professors.

Wenn das der Wahrheit entsprach, eröffnete dies ungeahnte Möglichkeiten auf dem Gebiet der Erforschung des menschlichen Geistes. Bislang war immer ein menschliches Gehirn nötig, um einen Geist aufzunehmen. Wenn man gleiches auch mit einem Bernstein erreichen könnte …

Vor dem Büro des Professors blieb sie stehen. Sie hörte, wie er drinnen gerade jemanden anschrie.

In ihrem Kopf herrschte Chaos. Ein Chaos, das sie nicht mochte. Sie brauchte Ordnung.

Eve drehte sich um und ging zurück in ihr kleines Büro.

Sie klappte die Encyclopædia zu, stellte das Buch zurück ins Regal. Dann las sie den Brief wieder und wieder.

Ein Gefäß aus Bernstein. Konnte das sein? Hatte es vielleicht mit der Fähigkeit dieser Steine zu tun, elektrische Ladungen zu speichern? Wenn das wahr wäre!

Eve schaute aus dem Fenster, obwohl der Blick nicht besonders inspirierend war. Die Öffnung war nur ein enger Luftschacht. Wenn sie sich weit herausbeugte, konnte sie ein kleines Stück des verrauchten Londoner Himmels sehen.

Was wäre, wenn sie diese Aussicht gegen eine Reise mit besserer Aussicht tauschen würde? Die Aussicht auf einen bahnbrechenden Durchbruch auf ihrem Forschungsgebiet war ein sehr verlockender Gedanke.

Aber wie sollte sie die Reise bezahlen? Ganz davon abgesehen, dass der Professor sie ihr nie gestatten würde. Sie würde wohl ihren Notgroschen benutzen müssen. Es waren tatsächlich ein paar goldene Münzen, die sie zuhause unter einem lockeren Dielenbrett aufbewahrte. Der Familienschatz, sozusagen. Doch da ihre Familie quasi nicht mehr existierte, konnte sie die Münzen auch benutzen.

Und wohin ging es überhaupt? Anbar war Arabisch, aber diese Sprache wurde in vielen Ländern gesprochen. Sie drehte den Brief um.

Tatsächlich; da stand eine Adresse, doch diese führte sie nicht nach Arabien. Auf der Rückseite stand in kleinen Buchstaben: „Paris, Hotel L’Égypte, Zimmer 13“.

 

Kapitel 8

 

Und dorthin war sie aufgebrochen. Der Concierge hatte ihr das Zimmer überlassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Jemand habe bereits für einen Besucher aus London bezahlt, es sei nur ein Stichwort nötig. Eve hatte den Namen des Professors genannt und ein Lächeln des Mannes geerntet.

Sie schloss die Augen. Vermutlich lag es am Professor. Wer auch immer den Brief geschrieben hatte, wollte den Professor.

Und stattdessen bekam er sie. Sie konnte nachvollziehen, dass der Angreifer enttäuscht, vielleicht sogar wütend gewesen war. Doch es half nichts. Sie wollte, nein, sie musste mehr wissen.

In ihrem Kopf reifte ein Plan.

Heute Nacht würden sie zurück zum Hotel fahren, um es zuerst eine Weile zu beobachten, bevor Hauke, ohne Hut und Mantel, nach dem Rechten sehen würde. Wenn alles ruhig war, konnten sie versuchen, ins Zimmer des Angreifers zu kommen.

Als Hauke zurückkam, erklärte sie ihm den Plan. Kauend stimmte er zu. Nur der Teil, in dem er Hut und Mantel ablegen sollte, missfiel ihm offenbar.

Eve erklärte ihm, wie leicht er an seinem Äußeren zu erkennen war. Sie sah, dass diese Information ihn nachdenklich machte.

Schnell lobte sie ihn für das Essen, das er besorgt hatte. Es war zwar nur Weißbrot und billiger, roter Wein, aber mehr hatte er mit seinen Sprachkenntnissen wohl nicht auftreiben können.

Halbwegs gestärkt verließen sie das Zimmer. Draußen dämmerte es. Sie brauchte eine Weile, um eine Droschke zu finden, die sie zurück ins Zentrum der Stadt brachte. Immerhin bot ihnen das die Gelegenheit, Hauke eine fleckige Anzugjacke zu besorgen, die bei einem Krämer im Schaufenster hing. Nur widerwillig legte er seinen Mantel ab.

Eve ließ den Fahrer am Hotel vorbeifahren und dann an der nächsten Kreuzung anhalten. Polizei war ihr nicht aufgefallen, und auch sonst war ihr nichts verdächtig vorgekommen.

„Wollen wir es wagen?“, fragte sie Hauke.

Der bewegte seine Schultern, als würde die neue Jacke kratzen.

„Hmm.“

Sie zeigte auf ein Café. „Ich werde mich dort hinsetzen, den Eingang des Hotels im Blick haben und auf dich warten.“

Hauke nickte.

„Du gehst ins Foyer, gehst schnurstracks zur Treppe, hinauf in die erste Etage und dann in den Flur zu Zimmer 6. Wenn niemand auf dem Flur ist, lauschst du. Aber sonst nichts. Verstanden? Nicht ins Zimmer gehen, mit niemandem reden. Nur schauen, auskundschaften und dann wieder zurückkommen, in Ordnung?“

Eve musterte den Mann vor ihr. In seiner Anzugjacke sah er tatsächlich bemitleidenswert aus. Auf jeden Fall war er damit unauffällig.

Würde er sich an ihren Auftrag halten? Eve war sich nicht ganz sicher, aber eine andere Option bot sich ihr gerade nicht.

Sie hängte Mantel und Hut an die Garderobe des Cafés und bestellte sich einen Tee. Der Kellner schaute sie einen Moment verwundert an, nickte dann aber.

Eve war zufrieden: Sie war als Ængländerin erkannt. Der Tee würde furchtbar sein, und es würde lange dauern, bis sie ihn bekommen würde.

Sie wartete, bis der Kellner ihr den Rücken zuwandte, dann eilte sie aus dem Café. Auf die andere Seite der Straße zu gelangen, ohne vom Hotel aus gesehen zu werden, hätte mehr Zeit gebraucht, als sie hatte. Also lief sie nur einen kleinen Bogen und verschwand in der Seitenstraße neben der Herberge.

Es erwies sich nun als Vorteil, dass dieses kitschige Hotel neu war, denn man hatte darauf geachtet, dass es einen zweiten Ausgang gab, durch den man im Falle eines Feuers entkommen konnte. Eve gedachte, sich nicht an die Vorschrift zu halten, dass diese Tür nur als Ausgang zu benutzen war.

Sie schob sich hindurch, lief die kleine Dienstbotentreppe in die erste Etage hinauf und warf einen Blick in den langen Gang. Wie erwartet, stand dort Hauke und lauschte an einer Zimmertür.

Jetzt galt es. Hatte sie ihn richtig eingeschätzt?

Hauke schaute sich um, dann griff er nach der Klinke. Als sie nicht nachgab, setzte er auf Körperkraft. Mit einem dumpfen Knall gab das Schloss nach. Hauke lief ins Zimmer. Obwohl sie sicher zwanzig Meter von ihm entfernt war, konnte sie den Lärm hören, den er veranstaltete.

Jemand kam aus einem der Nachbarzimmer und beschwerte sich darüber. Im Türrahmen zu Zimmer Nummer 6 machte er Bekanntschaft mit Haukes Faust. Mit der schwächeren Rechten, folgerte Eve, denn der Mann war noch lebendig genug, um laut loszubrüllen, sodass Hauke fluchtartig aus dem Zimmer stürmte.

Der schreiende und heftig an der Augenbraue blutende Gast und einige Neuankömmlinge aus anderen Zimmern folgten ihm lautstark. Das Gebrüll verlagerte sich ins Foyer.

Eve lächelte. Ja, es lief ganz so, wie sie es sich gedacht hatte. Hauke war und blieb berechenbar.

Sie eilte zu Zimmer Nummer 6. Viel Zeit hatte sie nicht: Mit etwas Glück hatten sie Hauke unten aufhalten können, dann dauerte alles etwas länger.