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Eugenia Martinek, Kleinstadt-Schönheit aus Kansas, möchte in Hollywood Karriere machen. Zunächst aber wird sie weniger von Filmproduzenten als vom FBI dringend gesucht - wegen Autodiebstahls.
Die Akte Eugenia Martinek macht dem FBI-Agenten John Ripley Kummer, denn sie wird immer umfangreicher: Zu dem Autodiebstahl kommt ein Juwelenraub hinzu - und schließlich verdächtigt man Eugenia noch des Mordes an ihrem Komplizen...
The Gordons ist das Pseudonym eines Autorenduos, bestehend aus Gordon Gordon (* 2. März 1906 in Anderson, Indiana; † 14. März 2002) und Mildred Gordon (* 24. Juni 1912 in Kansas; † 3. Februar 1979 in Tucson, Arizona). Von ihrem Werk ist vor allem die Trilogie um Kater D.C. hervorzuheben: Diese Romane wurden vom Publikum wie auch von der offiziellen Kritik hoch geschätzt und später auch kongenial verfilmt.
Der Roman Die Akte Eugenia erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975 (unter dem Titel FBI-Auftrag).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
THE GORDONS
Die Akte Eugenia
Roman
Apex Crime, Band 138
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE AKTE EUGENIA
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Eugenia Martinek, Kleinstadt-Schönheit aus Kansas, möchte in Hollywood Karriere machen. Zunächst aber wird sie weniger von Filmproduzenten als vom FBI dringend gesucht - wegen Autodiebstahls.
Die Akte Eugenia Martinek macht dem FBI-Agenten John Ripley Kummer, denn sie wird immer umfangreicher: Zu dem Autodiebstahl kommt ein Juwelenraub hinzu - und schließlich verdächtigt man Eugenia noch des Mordes an ihrem Komplizen...
The Gordons ist das Pseudonym eines Autorenduos, bestehend aus Gordon Gordon (* 2. März 1906 in Anderson, Indiana; † 14. März 2002) und Mildred Gordon (* 24. Juni 1912 in Kansas; † 3. Februar 1979 in Tucson, Arizona). Von ihrem Werk ist vor allem die Trilogie um Kater D.C. hervorzuheben: Diese Romane wurden vom Publikum wie auch von der offiziellen Kritik hoch geschätzt und später auch kongenial verfilmt.
Der Roman Die Akte Eugenia erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975 (unter dem Titel FBI-Auftrag).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Von Rechts wegen hätte eigentlich niemand unterwegs sein dürfen - höchstens der Weihnachtsmann. Es war sieben Uhr früh, und es war der erste Weihnachtsfeiertag. Aber das FBI war schon auf den Beinen, weil das FBI immer auf den Beinen ist und weil es überdies Leute gibt, die selbst am Weihnachtsmorgen keine Lust haben, mit den Spielzeugmaschinenpistolen der lieben Kleinen zu spielen. Manche Leute bevorzugen nämlich die größere Ausführung.
Ecke Clark und Adams Street stieg John Ripley, ein Beamter des FBI, aus der Straßenbahn.
»Arbeitet ihr heute auch?«, erkundigte sich der Schaffner.
Rip nickte. »Man darf schließlich nicht aus der Übung kommen«, meinte er, knöpfte den Mantel zu und stapfte vornübergeneigt in den Schneesturm hinein. Er erreichte das Gebäude der Vereinigung der Bankiers von Chicago, trat ins Vestibül und wurde von Mac begrüßt, der zur Hauswache gehörte.
»Schweinerei«, stellte Mac fest. »Heute werden die Gören kaum dazukommen, die neuen Fahrräder auszuprobieren... Sie haben übrigens Kundschaft, ’ne alte Dame. Vor zehn Minuten ist sie raufgegangen.«
Diese Woche war Rip an der Reihe und musste Anzeigen entgegennehmen. Er hatte bereits den vorhergehenden Tag damit verbracht, geduldig alle möglichen Leute anzuhören: Narren, Klatschbasen und brave Normalamerikaner. Da war ein Mädchen gekommen und hatte gebeten, man möge doch ihren Verlobten mal unter die Lupe nehmen - nicht, dass sie ihn eines scheußlichen Verbrechens verdächtigt hätte, oh, nein; sie hatte sich nur gedacht, wenn FBI bei dem Knaben nichts finde, dann werde er sich in der Ehe wohl einigermaßen benehmen. Eine alte Jungfer hatte von Geräuschen zu berichten gewusst, die sie unter ihrer Erdgeschosswohnung höre; womöglich seien das Russen: Wenn sie nämlich einen Tunnel quer durch den Globus bohrten, nicht wahr - es sei doch immerhin denkbar. Und dann war da die schüchterne Hausfrau, die nur eben Bescheid sagen wollte, dass ihr möblierter Herr verschwunden sei, und beim Aufräumen des Zimmers habe sie einen Geldsack gefunden mit dem Namen einer Bank in Kalifornien darauf.
Nun spielte es aber keine Rolle, ob bei einem Besucher offensichtlich ein Schräubchen locker war oder ob er geradewegs von der Northwestern University kam: alle wurden gleich behandelt. Eine hübsche Empfangsdame begrüßte die Besucher, lächelte freundlich, versuchte, in großen Zügen herauszubekommen, was sie auf dem Herzen hatten, und führte sie dann zu einem Beamten. John Edgar Hoover, Gründer und Leiter des FBI - des Bundeskriminalamtes der Vereinigten Staaten hatte seine eigenen Ansichten, was diese Dinge betraf. Er vertrat den Standpunkt, auch Steuerzahler sollten wie menschliche Wesen behandelt werden.
Der Fahrstuhl trug Rip zum neunzehnten Stock hinauf. Er trat in einen strahlend erleuchteten Korridor hinaus, in dem es so hell war wie in einem Filmatelier. An den Wänden hingen Fotos von den Fingerabdrücken bekannter Verbrecher. Er wandte sich nach rechts und schritt, den Schnee von seinem Hut schlagend, durch die weit offenstehende Doppeltür mit der Aufschrift: Federal Bureau of Investigation.
»Fröhliche Weihnachten«, begrüßte ihn das Mädchen, das Dienst am Empfangstisch hatte. Sie hieß Mary Beall, war rothaarig und hatte so viele Sommersprossen, dass es für eine ganze Schulklasse gereicht hätte. Große braune Augen saßen neben ihrer Stupsnase, und sie sah immer so aus, als sei sie gerade erst aus einer Zellophanhülle ausgewickelt worden.
Er erwiderte den Gruß. »Hübsch, die Ohrringe«, fügte er hinzu. »Sie haben den Herrn wohl total ruiniert, was?«
Sie warf den Kopf in den Nacken, und die Smaragdimitationen glitzerten. Sieben neunzig in dem großen Warenhaus gleich um die Ecke. Er wusste Bescheid. Er hatte auch ein Paar erworben.
Sie blickte zur Besucherbank. Er warf einen raschen Blick hinüber und registrierte flüchtig einen schwarzen Hut, weißes Haar darunter und einen dunklen Tuchmantel. »In ein paar Minuten«, sagte er. »Ich rufe an.«
Er betrat einen langgestreckten Raum, in dem Schreibtische aufgereiht waren wie Dominosteine. Es sah aus wie in einem Geschäft für Büromöbel. Das FBI schätzte leere, gutpolierte Tischplatten und Fußböden, die so jungfräulich wirkten, als habe noch nie ein Zigarettenstummel auf ihnen gelegen. An der Wand hing eine Bronzetafel mit der Inschrift: Zum Gedenken an alle Beamten, die bei der Erfüllung ihrer Pflicht ihr Leben hingegeben haben. Es folgten sechzehn Namen.
Rip holte sein Schreibzeug aus der Schublade und legte Notizblock und Bleistift zurecht. Dann griff er zum Telefon.
»All right, Mary. Schicken Sie sie rein.«
Sie kam zögernd durch die Tür, sie mochte eingeschüchtert sein durch die Stille, die im Raum hing, und durch den Eindruck der Strenge, den er vermittelte. Vielleicht war es auch ein Schauer, der sie angesichts der Legende überlief, die sich um den Namen FBI gewoben hat. Auftreten und Kleidung verrieten Kleinbürgertum und Mittelwesten. Sie war schmächtig und hager und mochte etwa Mitte Sechzig sein; ein hartnäckiger trockener Husten krümmte sie noch mehr zusammen. Er schob einen Stuhl für sie zurecht, und Mary Beall stellte vor: »Mrs. Martinek, dies ist Agent John Ripley. Und das ist Mrs. Martinek«, fuhr sie fort. »Aus Chanute in Kansas.«
Die Frau nickte und setzte sich. Ihre Hände hielten krampfhaft eine abgeschabte schwarze Handtasche.
»Es ist nämlich... Ich muss Ihnen etwas mitteilen«, flüsterte sie. Sie zitterte und war so erregt, dass sie nicht deutlich sprechen konnte. »Meine Tochter Genia... Sie ist weg. Und jetzt hab’ ich Angst...« Sie biss die Zähne zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, und rang um Fassung.
Er fragte: »Seit wann?« und sie sah ihn dankbar an, weil er ihr zu Hilfe kam. Er musterte sie, bemerkte die abgearbeiteten Hände mit den stark hervortretenden Adern, die den rascher gehenden Puls verrieten; er sah wieder weg, um sie nicht noch unsicherer zu machen.
»Das ist jetzt schon so einen Monat her. Der Brief kam am Thanksgiving Day. Es war ein Einschreiben, und da hab’ ich gleich gewusst, dass was nicht stimmt. Ich war so durcheinander, dass ich den Truthahn hab’ anbrennen lassen, und Papa hat ihn kaum tranchieren können hinterher... Ich hab’ den Brief dabei.«
Während sie umständlich die vollgestopfte Handtasche durchstöberte, sagte Rip geschäftsmäßig: »Sie können mir natürlich gern eine Beschreibung geben, und wir werden sie nach Washington zu den Akten geben; eine richtige Untersuchung kann FBI in dieser Sache aber nicht anstellen.« Und er setzte ihr die Gründe hierfür auseinander, gab ihr die Erklärung, die er schon so oft hatte geben müssen, dass er sie auswendig wusste.
»Wir beschäftigen uns nur mit solchen Fällen, mit deren Bearbeitung wir vom Kongress beauftragt sind. Solange eine vermisste Person kein Verbrechen begangen hat, darf das FBI nicht eingreifen. Aber wir werden den Erkennungsdienst in Washington verständigen; es kommt hier und da vor, dass eine vermisste Person, die plötzlich erkrankt ist, die womöglich an Gedächtnisschwund leidet...«
Sie reichte ihm den Brief, und als er sie ansah, wusste er, dass sie kein Wort von alldem begriffen hatte. Der Briefbogen war augenscheinlich nicht billig gewesen und stark parfümiert; er trug am Kopf in blauem Druck die Initialen E. M. Ripley las:
Liebe Eltern!
Es hat sich was ereignet, und ich muss für eine Weile verreisen. Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, Mama. Es geht mir gut. Wenn ich in ein paar Wochen zurück bin, schreib’ ich Euch gleich. Wenn wer nach mir fragt, dann sagt einfach, ich bin in Los Angeles. Ich erklär’ Euch das alles später. Gestern ist der Kuchen eingetroffen, und es ist der beste, den Du je gebacken hast, Mama. Ich nehme ihn mit. Ich bin ziemlich sicher, dass ich Weihnachten heimkommen kann, bloß ich habe Mr. Huss noch nicht gefragt.
Er gab ihr den Brief zurück. Sie sagte: »Jetzt ist Weihnachten; und sie hat sich immer so auf Weihnachten gefreut. Sie kennen sie eben nicht, meine Genia, Mr.... äh...«
»Ripley«, kam er ihr zu Hilfe.
»Mr. Ripley. Und jede Woche hat sie geschrieben. Manchmal zweimal die Woche. Da muss etwas passiert sein, es muss was...« Abermals griff er lenkend ein. »War da vielleicht jemand, der...«
»Nein«. Sie stieß es hervor, als ob er sie überrumpelt habe. Eilig fügte sie hinzu: »Das heißt - ich bin nicht ganz sicher.« Sie ging nicht näher darauf ein, und er drängte sie nicht weiter. Stattdessen erkundigte er sich nach diesem Mr. Huss.
»Das ist der Geschäftsführer von so einer tschechischen Vereinigung«, gab sie bereitwillig Auskunft. »Den Job hat ihr Papa besorgt. Er ist gebürtiger Tscheche, wissen Sie, und Mr. Huss und er, die beiden haben sich als Kinder schon gekannt. Papa hat eine kleine Schusterwerkstatt in Chanute, ja. Und wie Genia gesagt hat, sie will nach Chicago, da hat er an Mr. Huss geschrieben. Das war so vor sechs Monaten.«
»Wo hat ihre Tochter in Chicago gelebt, Mrs. Martinek?«
»In der Morse Avenue Nummer 925. Das ist gleich am See.«
»Wie heißt sie mit Vollem Namen?«
»Wir haben sie Eugenia taufen lassen; Eugenia Martinek. Aber sie war mehr für Genia, und manchmal hat sie sich Genia Martin genannt, weil doch Martinek ein tschechischer Name ist, nicht wahr, und sie hat gesagt, sie kann ausländische Namen nicht leiden, jedenfalls nicht, wenn sie mit feinen Leuten ausgeht.«
Es ging etwas Warmes von dieser sanften, schüchternen Stimme aus und von diesen Augen, die jetzt so aussahen, als seien sie schon immer so müde und traurig gewesen. Er hatte die Frau nie zuvor gesehen, und wahrscheinlich würde er ihr nie wieder begegnen. Das hier war eine reine Routinesache, die nach festgelegten Regeln und Bestimmungen erledigt werden musste; und doch brachte er es nicht über sich, es als Routineangelegenheit zu akzeptieren. Es fiel ihm etwas ein, was Lorrie Ashley einmal behauptet hatte: er habe ein Einfühlungsvermögen in andere Menschen wie ein Romanautor, hatte sie gesagt. Er hatte das damals zur Kenntnis genommen; es war ein hübscher Gedanke, nicht mehr. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten hatten bisher gerade zur Abfassung von Examensarbeiten ausgereicht, und er war sicher, dass es damit sein Bewenden haben werde.
Er erhob sich langsam und nachdenklich. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Er durchquerte den Vorraum und betrat das Zimmer des Bürovorstehers. Hier stand alles voller Akten; Akten, in denen die ganze Skala menschlichen Schicksals enthalten war. Nur Lucille Raeder hatte heute Dienst, eine Vierzigerin mit braunem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar und nachdenklichen Augen. Es war nun bald zehn Jahre her, seit sie um drei Uhr früh vom Telefon aus dem Schlaf gerissen worden war, um zu erfahren, dass ihr Mann, ein FBI-Beamter, bei einer Schießerei ums Leben gekommen war. Später hatte man ihr eine Stelle als Sekretärin gegeben.
»Bitte, Mrs. Raeder, würden Sie mal nachsehen, ob wir was über eine Eugenia Martinek in den Akten haben? Vielleicht auch Genia Martinek, Eugenia Martin oder Genia Martin.«
»Sofort, Mr. Ripley«, erwiderte sie mit einem Lächeln. Sie mochte ihn gut leiden. Er war immer ruhig und freundlich, ganz gleich, ob nichts los war oder ob es an sechs Ecken auf einmal brannte. Er war so, wie ihr Mann gewesen war: Er funktionierte wie eine gutgeölte Maschine, aber er war ein Mensch geblieben.
Während Rip wartete, wurde seine Aufmerksamkeit auf die Fernschreiber gelenkt, die nebenan in einem kleinen Raum standen. Da standen sie und klapperten unaufhörlich; manchmal gab ihm das monotone Rasseln ein Gefühl des Eingekreistseins. Das Stakkato der Tasten schien ihm den rastlosen Rhythmus Chicagos zu versinnbildlichen, aber er hatte sich nie recht an die brandenden Menschenmassen gewöhnen können, an all diese winzigen Menschlein, die hin und her rasten, als ob ihr Leben von ein paar Sekunden abhinge, und auch nicht an ihr Lärmen. Manchmal fragte er sich, warum er die Hühnerfarm seiner Mutter je verlassen hatte. Sie lag in Arizona, in der Nähe von Tucson, und er hätte viel darum gegeben, wenn er jetzt hätte zusehen können, wie die Wüstensonne den östlichen Horizont rosa färbte, um dann in das wolkenlose Blau des Himmels hinaufzusteigen wie die goldene Gottheit, die sie für die Inkas gewesen war. Er hätte sich sogar mit dem Anblick einer einsamen mageren Kuh zufriedengegeben, die, das Maul voller Stacheln, an Kaktustrieben herumkaute. Na, vielleicht würde es eines Tages mit der Versetzung nach El Paso klappen, die er beantragt hatte...
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Träumen. »Hier hab’ ich einen SMV-Vorgang«, sagte sie und reichte ihm einen Aktendeckel. SMV war die Abkürzung für Stolen Motor Vehicle und bedeutete: Kraftfahrzeugdiebstahl. Ripley blätterte einen Augenblick in den Akten herum, ehe er zu seinem Schreibtisch zurückging. Seine Schritte waren rasch und sicher. Keine Zeit für Arizona.
Mrs. Martinek stopfte gerade ihr Taschentuch in den Ärmel. Er trat zu ihr und sagte: »So, jetzt erzählen Sie mir mal alles, was Sie wissen.«
Mühsam und geduldig pickte er sich aus der weitschweifigen Erzählung die wesentlichen Einzelheiten heraus. Eugenia Martinek war für ihn so etwas Ähnliches wie eine Schaufensterpuppe geworden, die er jetzt mit einzelnen Fakten bekleidete. Sie war 1,65 Meter groß, wog etwa einen Zentner und trug Größe 38, sie hatte dunkelbraune Augen und Haare von der gleichen Farbe, die aber zuletzt aschblond gefärbt gewesen waren. Sie blieb einstweilen eine Puppe, leblos; aber im Lauf der Zeit würde er auch etwas über die geistigen Kräfte und die seelischen Regungen erfahren, die diesen Organismus steuerten, und sie würde lebendig werden.
»Papa und ich, wir wollten sie ja auf die Universität schicken; sie ist immer unter den Besten in der Klasse gewesen.« Sie atmete schnell und ungleichmäßig. »Zehn Jahre lang haben wir dafür gespart. Aber dann wollte sie nicht. Stattdessen ist sie nach Los Angeles gereist. Das war uns nicht recht, Papa und mir. Dass sie dort ganz allein ist.«
»Was hat sie denn getrieben in Los Angeles?«
Der zerbrechliche Körper begann wieder zu zittern. »Ich hab’ Genia schwören müssen, es niemandem zu sagen.« Sie biss sich auf die Lippen und drückte die Handtasche fester an sich. »Als sie nach Hause gekommen ist vor einem halben Jahr, da hab’ ich’s ihr schwören müssen. Schlecht hat sie ausgesehen damals, so blass, und ganz mager... Da hab’ ich ihr versprochen, dass ich niemandem was sage. Aber jetzt sag ich’s doch, der liebe Gott wird mir’s verzeihen, weil ich mein kleines Mädchen wiederhaben will.«
Sie wischte sich die Augen ab und holte tief Atem. »Schon früher, wenn sie in der Schule Theater gespielt haben, da haben die Leute immer gesagt, sie ist eine geborene Schauspielerin. Und es stimmt auch; ich sag’ das, obwohl ich die Mutter bin... Sie ist nach Hollywood, um Filmstar zu werden.
Fünf Jahre lang ist sie dort geblieben. Bis letzten Sommer; da ist sie heimgekommen, um uns zu besuchen; und da hat sie Papa gefragt, ob er in Chicago jemand weiß, der ihr einen Job gibt, egal, was.
Da muss irgendwas los gewesen sein. Ich weiß nicht, was es war, aber... Sie hat so verheulte Augen gehabt. Und ich musste ihr schwören, dass ich nie jemandem erzähle, wo sie gewesen ist und wo sie jetzt hinfährt. Na, sie ist so zwei, drei Tage daheim geblieben, ja, und sie hat sich immer so gesetzt, dass sie aus dem Fenster hat gucken können und sehen, wer kommt, so, als ob sie wen erwartet - einen, der ihr was will.«
»Und? Ist er gekommen?«
»Nein.« Sie war nicht auf die Frage gefasst gewesen und zuckte zusammen. Dann ergänzte sie berichtigend: »Das heißt, nicht, während Genia da war. Aber später, wie sie schon lange weg war, da klopft es auf einmal. Vormittags war das, und ich wollte gerade anfangen mit Erbsenschälen - wir hatten schrecklich viel Erbsen letzten Sommer, wissen Sie... Ja, also da steht dann auf einmal so ein Kerl vor der Tür. Ich hab’ ihn bis damals noch nie gesehen. Ziemlich jung war er; so in Genias Alter ungefähr.
Ich bin ein Freund von Genia, hat er gesagt, und ich hab ihn reingebeten und bin nett zu ihm gewesen, weil ich gedacht hab’, vielleicht ist es ihr Verehrer, obwohl, sie hat uns nie was gesagt von einem Verehrer. Na, er setzt sich also, ja, und ich frag’ ihn, wo er her ist und ob er länger in Chanute bleiben will - was man so fragt, nicht wahr? Aber dann... Ich hab’ so ein ganz komisches Gefühl gekriegt, Mr. Ripley; ich kann’s nicht erklären, aber auf einmal hab’ ich gewusst, der Kerl lügt.
Wo ist Gerda?, hat er mich gefragt. Na, in Los Angeles doch, sag’ ich - ich war jetzt sicher, dass es kein Verehrer war, sonst hätte sie ihm doch gesagt, wohin sie gereist ist, nicht wahr? Nein, da ist sie nicht, sagt er da auf einmal ganz scharf, sie ist hier gewesen. Wo steckt sie jetzt?
Da hab’ ich gesagt: Wieder zurück nach Los Angeles, weil ich gewusst hab’, der hat nichts Gutes vor. Na, dann hat er mir erzählt, er weiß, dass ich Genia beschützen will, und sie ist in großen Schwierigkeiten. Wenn ich ihr helfen will, dann soll ich ihm doch sagen, wo sie steckt. Da hab’ ich ihn gefragt, ob er von der Polizei ist, und da hat er gesagt: Gewissermaßen, aber ich hab’ gewusst, dass es nicht wahr ist. Dann ist er gegangen; er wird sie schon finden, hat er gesagt, und er wird ihr helfen.«
Rip lehnte sich zurück und schlug die langen Beine übereinander. »Was waren denn das für Schwierigkeiten, Mrs. Martinek?«
»Also wirklich, Mr. Ripley, ich hab’ keine Ahnung.« Es lag fast so etwas wie Schuldgefühl in ihrer Stimme: Eine ehrliche Frau, die fürchtet, man werde ihr womöglich nicht glauben.
Er legte sich Block und Bleistift zurecht und forderte sie auf, den Besucher zu beschreiben. Aber wie die meisten Menschen konnte sie sich nur an ziemlich nichtssagende und allgemeine Dinge erinnern. Er war groß, etwa fünfundzwanzig, von bräunlicher Gesichtsfarbe, hatte braune Haare und ebensolche Augen, sah »so ein bisschen wie ein Ausländer« aus, sprach aber ohne Akzent. Er hatte »stechende« Augen, trug einen guten braunen Anzug und sah nicht wie ein armer Teufel aus. Man hätte ihn als hübsch bezeichnen können, wenn da nicht so ein grausamer Zug um die Augen herum gewesen wäre.
Dann notierte Rip die Namen von Verwandten und Freunden der Familie, die in anderen Städten lebten, so dass FBI-Beamte dort nachforschen konnten, ob man etwas von Genia gehört habe; er ließ sich auch die verschiedenen Adressen in Los Angeles geben, unter denen das Mädchen während seines Aufenthaltes dort zu erreichen gewesen war. Er fragte nach ihren Interessen, nach Hobbys und erfuhr, dass sie Ballettstunden genommen, ein wenig Geige gespielt und gelegentlich Gedichte geschrieben habe - zwei davon, Der Tod der Antigone und Asokas Liebe, waren veröffentlicht worden. Sie tanzte gut, rauchte Chesterfield, trank auch gelegentlich ein Gläschen; sie war eine Leseratte und verschlang alles, vom Kriminalreißer bis Jean Paul Sartre.
»Wann sind Sie in Chicago angekommen?«, erkundigte er sich.
»Gestern. Ich bin erst raus zu Genias Appartement, aber da hat sie seit Thanksgiving niemand mehr gesehen, und sie wollten die Miete von mir bezahlt haben. Und das Zimmer war ganz durcheinander, obwohl doch Genia sonst immer so ordentlich ist. Dann hab’ ich Mr. Huss angerufen, aber der hatte auch nichts von ihr gehört - außer, dass er einen Brief gekriegt hat, wo dasselbe drinsteht wie in dem, den ich habe.«
Rip erhob sich langsam. »Wir hätten gern Ihre Erlaubnis, uns das Zimmer Ihrer Tochter einmal anzusehen.« Sie nickte bereitwillig. Mr. Huss habe sie eingeladen, berichtete sie noch; sie wohne bei der Familie, und dort könne man sie erreichen.
»Und ich fahr’ gleich raus und mach’ Ordnung bei Genia«, schloss sie, »damit es ordentlich ist, wenn Sie kommen.«
»Nein, tun Sie das bitte nicht«, bat er. »Wir möchten den Raum so sehen, wie sie ihn verlassen hat.«
Nachdem sie gegangen war, nahm er sich den Aktendeckel mit den Unterlagen über den Autodiebstahl vor. Betr.: Martinek, Eugenia; nennt sich auch Martinek Genia. Gegenstand: Überführung eines gestohlenen Kraftfahrzeugs in einen anderen Bundesstaat. Zusammenfassung: Kaskoabteilung der OverlandVersicherungsgesellschaft teilt am 12. 10. mit, dass der Eigentümer des Cadillac, poliz. Kennzeichen 66 XX 7789 (Illinois), am 12. 9. Diebstahl des Fahrzeugs durch Eugenia Martinek gemeldet hat, usw. usw....
Sieh mal an: Eugenia Martinek, Kleinstadtmädchen aus Kansas möchte in Hollywood Karriere machen. Und dieses Mädchen klaut Cadillacs? Er überlegte, ob sie den Wagen wohl in einem Augenblick der Verzweiflung, in einer Kurzschlussreaktion genommen haben könnte, ob es sich wohl überhaupt um eine vorsätzliche Gesetzesübertretung handelte. Die Unterlagen ließen keine Rückschlüsse über die Ursache einer solchen Kurzschlussreaktion zu. Aber worum es sich dabei auch handeln mochte; Wenn sie wirklich in die Klemme geraten war, dann saß sie noch drin; andernfalls wäre sie längst wieder aufgetaucht. Das heißt, wenn sie noch am Leben war.
Dunkelbraune Augen. Dunkelbraune Haare, aschblond gebleicht. Er unterstrich aschblond in seinen Notizen.
Ein paar Minuten später rief Agent Danton an und bat ihn, ein Protokoll als Zeuge zu unterschreiben.
Ein neunzehnjähriger Bursche, bleich und unrasiert, ungekämmt und nachlässig gekleidet, saß vor Dantons Schreibtisch.
Danton war ein wahrer Elefant von einem Mann; seine Schultern hingen nach vorn, schwere Lider verdeckten halb die tiefliegenden Augen, und die Haut hing locker um Kinn und Hals. Er wies auf den eintretenden Rip und sagte:
»Corcoran, das ist Agent Ripley; ich habe ihn als Zeugen gebeten. Ich möchte Sie nochmals auf das aufmerksam machen, was ich Ihnen schon zu Beginn der Vernehmung gesagt habe: Ihre Aussage kann vor Gericht gegen Sie verwandt werden, und Sie können sie verweigern.«
»Ich will’s hinter mir haben.« Er begann, in fast unleserlicher Schrift auf den Vernehmungsbogen zu kritzeln.
Rip langte sich die Akten vom Schreibtisch. Jimmy Corcoran hatte als Zivilarbeiter in einem Flottenstützpunkt gearbeitet und dort Staatseigentum im Gegenwert von siebenhundertdreiundvierzig Dollar entwendet.
Rip saß nachdenklich daneben, während Danton den Jungen verhörte. Dieser Jimmy Corcoran war fast noch ein Kind und überdies nicht allzu intelligent, nach seinen Gesichtszügen zu urteilen. Gegenüber Erpressern, Kindesentführern und allen jenen, die gleichsam mit vorgehaltener Pistole leben, konnte Rip durchaus so etwas wie einen gesunden Hass empfinden. Aber dieser Junge hier - was war eigentlich los mit ihm? Lag es an den Eltern? Hatten sie ihn herumgeschubst, ihn vernachlässigt, während sie. in der Kneipe hockten? Hatten sie ihn aus eigener Schwäche verhätschelt und verzogen? Oder war er frühzeitig in schlechte Gesellschaft geraten? War es angeborene Charakterschwäche? Lag es ganz einfach an dieser Stadt, in deren schmutzigen Straßen die Kinder beim Spielen vor Lastautos und Taxis beiseite springen mussten?
Rip fühlte, wie sich der alte Skrupel wieder regte: Wenn er den Auftrag gehabt hätte, Jimmy Corcoran festzunehmen, und der hätte auf ihn geschossen - hätte er es dann fertiggebracht, den Jungen niederzuschießen? Er hatte einmal von einem Polizeibeamten gehört, der einen sechzehnjährigen Einbrecher getötet hatte. Musste der nicht immer wieder im Traum das Gesicht des sterbenden Jungen vor sich sehen?
Jimmys Hand zitterte, als er den letzten Satz schrieb und Unterzeichnete. Rip fragte: »Haben Sie denn auch gelesen, was Sie da aufgeschrieben haben?«
»Ist doch ganz egal«, erwiderte Jimmy.
»Uns nicht«, warf Danton ein. »Ich will’s Ihnen noch einmal vorlesen; unterbrechen Sie mich, wenn Sie etwas abgeändert haben möchten.«
Kurz darauf lieferte Danton den Jungen im Gefängnis von Cook County ab, und Rip machte sich wieder an seine Arbeit. Der Nachmittag verging in träger Stille: Es war ja Weihnachten. Er diktierte ein Memorandum zu dem Fall Eugenia Martinek, das noch heute Abend in die Maschine geschrieben werden sollte, erkundigte sich, wer den Autodiebstahl bearbeitete, und erfuhr, dass ein Agent namens Stanley Holland damit beauftragt war. Er kannte ihn nicht. Muss frisch her versetzt sein, dachte er abwesend.
Um sieben machte er Feierabend, verließ das Büro und ging langsam die State Street hinauf, um dann in nördlicher Richtung zum Palmer House Hotel abzubiegen. Lorrie saß schon in der Halle, in ein Buch vertieft. Sie stand rasch auf, und ihre Wangen röteten sich, als ob sie vor einem offenen Kaminfeuer gesessen hätte. Sie war groß, sehr schlank und trug ihre Kleider mit der lässigen Eleganz einer Modeschöpferin. Diesen Beruf wollte sie auch ergreifen.
Sie trafen sich immer in dieser Hotelhalle. Sie wohnte in Evanston draußen, und wenn er Büroschluss hatte, war es zu spät, noch dort hinzufahren. So kam sie eben in die Stadt und erwartete ihn hier, und einmal versetzte er sie wegen eines Bankräubers und das nächste Mal wegen eines Mädchenhändlers.
Sie schob ihren Arm unter den seinen. Er war nicht sehr entgegenkommend, denn er genierte sich immer vor anderen Leuten, selbst vor der fremden Menge in der Hotelhalle, seine Gefühle zu zeigen. »Du bist ja pünktlich«, sagte sie gerade - sie hatte eine eigenartige Art zu sprechen; es klang immer ein wenig überrascht, fast atemlos. »Jetzt haben wir vier Stunden ganz für uns allein.«
In Louies Restaurant, einer niedrigen Kellerkneipe, in der man für die Atmosphäre noch nicht extra zu zahlen brauchte, fanden sie einen Tisch, der nur ein klein wenig wackelte und mit einem lustigen weiß-rot karierten Tischtuch gedeckt war. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, überreichte sie ihm ihr Weihnachtsgeschenk. Es waren drei Bücher - Albert
Schweitzer, Ernest Hemingway und Edgar Allan Poe. »Das sind meine drei Lieblingsautoren«, meinte er lächelnd.
Sein Päckchen war sehr flach und länglich, und der Name eines guten Modegeschäfts war auf dem Deckel zu lesen. Während sie es geschickt öffnete, hoffte sie im Stillen, es möchte nicht das sein, was sie gleich darauf in der Eland hielt: eine zartblaue Satinbluse. Fast die gleiche hatte sie bereits im vergangenen Jahr von ihm zu Weihnachten bekommen, aber solche Dinge konnte er sich einfach nicht merken. Sie drückte ihm die Hand ganz fest und zwang sich, nicht zu lächeln. »Sie ist bildhübsch«, erklärte sie; »sie ist.. und sie suchte nach einem Wort, das ihm Freude machen würde, »...atemberaubend.«
Es wurde ein sehr fröhlicher Weihnachtsabend, und die vier Stunden vergingen ihnen im Fluge. Als ihn die Hochbahn klappernd und rasselnd seinem möblierten Zimmer entgegenschaukelte, glaubte er noch zu fühlen, wie sie sich beim Abschied vor ihrer Haustür an ihn gelehnt hatte. Es waren mindestens fünfzehn Grad unter Null.
Am nächsten Morgen wurde er zu Inspektor Perrett gerufen. Perrett sah nervös und zerfahren aus wie immer; er musste alle die Berichte lesen, die seine Agenten diktierten, und er konnte so angestrengt arbeiten, wie er wollte - der Papierberg wurde niemals kleiner.
»Kennen Sie Stan Holland schon, Rip?«, fragte er. »Ist vor vier Wochen von Charleston zu uns versetzt worden. Er bearbeitet die Sache Martinek.«
Rip schüttelte Hollands Hand und musterte ihn. Er sah sandfarbenes Haar, ein nettes, rundes Gesicht und eine untersetzte, Vertrauen einflößende Gestalt. Die blau-grauen Augen waren ein wenig unruhig, und er wusste nicht recht, wo er seine Hände lassen sollte.
»Ich weiß schon, was los ist, Holland«, sagte Perrett. »Sie haben gedacht, die Sache ist nicht so wichtig. Da ist also ein Mädchen, das gern Auto fährt, haben Sie gedacht. Und Sie sind nicht zum FBI gekommen, um hinter Halbstarken herzulaufen. Aber ich will Ihnen mal was sagen: Vergangenen Monat, da haben wir unten in Florida einen Mädchenhändlerring hochgehen lassen. Und wissen Sie auch, wie wir der Bande auf die Spur gekommen sind? Durch einen Autodiebstahl.«
Rip beobachtete Holland, versuchte, ihn einzuschätzen, und stellte fest, dass er ihm sympathisch war. Holland ließ den Rüffel mit unerschütterlicher Ruhe über sich ergehen. Seine Stirn war in Falten gelegt, die ihn älter wirken ließen, als er war.
Perrett fuhr in seiner unpersönlichen Weise fort; es war, als handle es sich bei Holland um einen Motor, bei dem ein Kolben eingeschliffen werden muss. »Jeder Fall ist wichtig, denn weder Sie noch ich, noch das Bureau können von vornherein wissen, ob wir einer großen Sache auf der Spur oder auf dem Holzweg sind.«
»Das sehe ich natürlich ein«, gab Holland zu.
»Gut. Na, Sie sind schließlich auch erst seit sieben Monaten bei uns. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen; nehmen Sie’s nicht so tragisch. Klemmen Sie sich lieber hinter den Fall Martinek. Und ich schlage vor, dass Sie erst mal eine Weile mit Ripley Zusammenarbeiten.«
Rip grinste, als sie draußen waren. »Als ich noch neu in der Branche war, da hab’ ich den Inspektor mindestens fünfmal am Tag gesehen. Weil er nämlich dauernd nach mir gebrüllt hat. Konnte einfach nicht mehr arbeiten ohne mich, der Mann.«
Holland war dankbar und verbarg es nicht. »Womit fangen wir an, Sir?«
»Um Himmels willen, nennen Sie mich nicht Sir, Holland. Kein Mensch sagt das in diesem Laden. So, und dann wollen wir uns mal das Zimmer von diesem Mädchen ansehen. Rufen Sie mal die Mutter an; sie soll uns dort erwarten.«
»Soll ich meine Kanone einstecken?«
Rip blieb vor Überraschung stocksteif stehen; dann musste er lachen. »Wie du willst, mein Junge. Aber ich glaube kaum, dass es heute knallt.«
An der Hausvermittlung saß ein schwarzhaariges Mädchen, dessen Hüften auf reichlichen Schlagsahnekonsum schließen ließen, und sprach in den Hörer hinein:
»...da hab’ ich gesagt, Ed, hab’ ich gesagt, lass deine Pfoten da weg, du bist kein Chiropraktiker. Das war vielleicht ’n Abend, kann ich dir sagen...! So was von langweilig wie dieser Knilch, so was hab’ ich noch nicht erlebt...«
Sie sah über die Schulter zu den beiden Beamten hinüber. »Tschüss, Mary. Ich muss einhängen. Kundschaft im Laden. Pass auf, dass du nicht verschüttgehst.«
Sie wandte sich um. »Ja, bitte?«, sagte sie und musterte sie mit einem Blick, der deutlich ihren Unwillen über die Störung erkennen ließ.
»Ich bin Agent Ripley vom Federal Bureau of Investigation«, stellte sich Rip vor und zeigte seinen Ausweis. »Und das ist Agent Holland.«
»Na, so was«, sagte sie und stand auf. Sie trug einen gelben Pullover; an verschiedenen Stellen dehnte sich die Wolle erheblich. Das Haar war kurz geschnitten und aus der Stirn gekämmt.
»Also G-Men seid ihr?« Sie betrachtete sie, als ob die Verteidiger einer berühmten Fußballmannschaft vor ihr stünden; dann blieb ihr Blick an Rip hängen. »Mensch, was für Schultern. Mr. Hoover ist bestimmt stolz auf euch, was?«
Rip ignorierte das. Er musste an die Jahre im College denken: Schon damals hatte er kein Gefallen an dem zwischen Studenten und Studentinnen üblichen Geblödel gehabt. In Hollands Augen stand etwas zu lesen, was auf größere Talente in dieser Hinsicht schließen ließ. Aber er beherrschte sich.
»Wo ist das Zimmer von Miss Eugenia Martinek?«, erkundigte sich Rip kurz angebunden. »Wir sind mit ihrer Mutter verabredet.«
»Eugenia Martinek?«, fragte sie. Sie will Zeit zum Überlegen gewinnen, dachte Rip; hinter den Plüschaugen und dem Wasserfall ihres Geschwätzes verbarg sich offenbar so etwas wie Intelligenz.
»Ich heiße Tommy Brooks«, verkündete sie, noch immer auf Zeitgewinn bedacht, »aber die Jungens rufen mich Schnuckiputzi. Ihr beide...«, und ein Blick streifte sie, der Na komm schon, Kleiner, zu sagen schien, »ihr dürft Schnuckiputzi zu mir sagen.«
Rip widerstand der Versuchung. »Wenn Sie uns jetzt bitte sagen würden, wo Miss Martineks Zimmer ist, Miss Brooks...«
»Was hat sie denn angestellt?«
»Sie ist verschwunden.«
»Ach du grüne Neune! Wenn die ermordet worden ist, dann haben Sie mehr Verdächtige, als Ihr Mr. Hoover Akten hat! Die hat an jedem Finger ein halbes Dutzend Kerle gehabt.«
»Feste Verehrer darunter?«
»Ja, einer. Antoine Remarque heißt er - klingt so Französisch, nicht? Bloß, er ist kein Franzose. Sieht aus wie aus ’m Herrenjournal ausgeschnitten, so wie ein Diplomat, verstehn Sie; läuft rum, als ob er ’n Lineal verschluckt hätte, und immer prima in Schale... Ja, und der ist jeden Samstagabend hier aufgekreuzt. Ich hab’ sie mal gefragt - die Martinek, meine ich -, warum sie mit dem alten Nussknacker rumzieht. Wissen Sie, was sie da gesagt hat? Tommy, hat sie gesagt, mit den Männern ist das wie mit dem Wein: Die alten Jahrgänge sind die besten. Aber jetzt sag’ ich Ihnen was: Der ist ihr völlig gleichgültig gewesen, verstehn Sie? Die war doch nicht bekloppt!«
»Hat sie Ihnen das selber gesagt?«
»Nee, das hat sie natürlich nicht. Aber Sie bilden sich ja wohl nicht ein, ich setz’ mich allein für die fünfundzwanzig Piepen pro Woche hier an die Vermittlung? Was man hier zu hören kriegt, das ist spannender als jedes Groschenheft!«
Als ob er auf sein Stichwort gewartet hätte, meldete sich der Klappenschrank mit einem hartnäckigen Summton. Schnuckiputzi hatte es nicht eilig. »Ja, Mrs. Koster?... Gewiss, Mrs. Koster... Nein, Mrs. Koster, bestimmt nicht.« Sie trennte die Verbindung. »Mrs. Koster hat die ganze Nacht hindurch ihr Horoskop studiert, und jetzt will sie keine Gespräche raufgelegt bekommen.«
Rip lächelte mühsam. »Können Sie sich erinnern, wann Sie Miss Martinek zuletzt gesehen haben?«
»Klar. Am Tag vor Thanksgiving war das. Ich hatte gerade meinen Dienst angefangen, da kam der Anruf. So um sieben Uhr früh muss das gewesen sein; ich hab’ sie aus dem Bett geklingelt. Es war ein Mann am Apparat, und er hat ganz leise gesprochen; so, als wenn er nicht allein im Zimmer ist, und die anderen sollen’s nicht hören. Na ja. Und die Martinek, die hat Angst gehabt vor ihm. Um Himmels willen, Nicky, hat sie gesagt, warum verfolgst du mich? Ich hab’ dir doch versprochen, dass ich den Mund halte, und ich hab’ wirklich nichts gesagt da- von. Da hat er sie angeschnauzt: Warum biste dann abgehauen, du kleine... Na, also ich kann nicht alles wiederholen, was er gesagt hat; da seid ihr noch zu jung dafür. Aber... was wollte ich doch gleich... ach so, ja: der Klappenschrank hat auf allen Anschlüssen gesummt und geblinkt, aber ich hab’ mich um nichts gekümmert; ich hatte so was Aufregendes nicht mehr erlebt seit vorigem Jahr an Silvester, als ein Besoffener meine falschen Ohrringe klauen wollte; ich hab’ weiter zugehört. Er hat dann gesagt, er kommt rüber zu ihr, daraufhin schreit sie ihn an, wenn er sie nicht in Ruhe lässt, dann bringt sie ihn um. Sagt er: Mich auch? Dann hat sie eingehängt. Und ’ne knappe Viertelstunde später ist sie runtergekommen. Mit ’m Koffer. Tommy, sagt sie zu mir, ich fahr’ nach Hause für ’n paar Wochen, aber wenn wer kommt und will dich ausfragen, dann sagste, du weißt nicht, wo ich bin.«
Damit klappte sie eine Puderdose auf, warf einen Blick in den Spiegel, murmelte: »Meine Güte!« und begann mit Verschönerungsarbeiten.
»Hat Nicky sich sehen lassen?«, fragte Rip.
»Nee. Aber Remarque. So ’ne Woche später war das. Hat mir Löcher in den Bauch gefragt, aber ich hab’ mich doof gestellt. Weil die Genia nämlich eine verrückte Nudel war.«
»Eine...?« Holland zog die Augenbrauen hoch.
»Na ja doch. Sie war eben prima, versteh’n Sie? Du lieber Himmel, ich hab’ immer gedacht, Mr. Hoover tut was für eure Bildung. Verstehen Sie immer bloß Bahnhof?«
»Also gut; sie war eine verrückte Nudel.«