LÖSEGELD FÜR SHERI - The Gordons - E-Book

LÖSEGELD FÜR SHERI E-Book

The Gordons

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Beschreibung

Erst nach verzweifelter Gegenwehr konnte Sheri aus dem Taxi entkommen... Sie wusste nicht, dass dieser Überfall nur der Auftakt war zu alptraumhaften Geschehnissen in der fremden, exotischen Welt von Hongkong... Der Roman LÖSEGELD FÜR SHERI erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1968. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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THE GORDONS

 

 

LÖSEGELD FÜR SHERI

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

LÖSEGELD FÜR SHERI 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

Impressum

 

Copyright © by Gordon Gordon/Mildred GordonSignum-Verlag.

Published by arrangement with the Estate of The Gordons.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Übersetzung: Renate Steinbach und Christian Dörge.

Originaltitel: Menace.

Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

 

Das Buch

 

 

Erst nach verzweifelter Gegenwehr konnte Sheri aus dem Taxi entkommen...

Sie wusste nicht, dass dieser Überfall nur der Auftakt war zu alptraumhaften Geschehnissen in der fremden, exotischen Welt von Hongkong...

 

The Gordons ist das Pseudonym eines Autorenduos, bestehend aus Gordon Gordon (* 2. März 1906 in Anderson, Indiana; † 14. März 2002) und Mildred Gordon (* 24. Juni 1912 in Kansas; † 3. Februar 1979 in Tucson, Arizona).

Der Roman Lösegeld für Sheri erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1968. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  LÖSEGELD FÜR SHERI

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die Nacht war kalt und regnerisch. Als Sheri Jones aus dem Hotel New Japan trat, fegte der Wind die Straße entlang und überschüttete das Mädchen mit einer eisigen Dusche. Ärgerlich beugte Sheri sich vor und schlug ihren Mantel an den Knien übereinander. Warum, zum Kuckuck, ließ sich das verflixte Ding eigentlich nicht bis ganz hinunter zuknöpfen?

Vor dem Hotelportal war die Straße in ein sonderbar unwirkliches gelbes Licht getaucht. Sheri wartete ungeduldig, während der Portier zwei anderen Gästen in einen Wagen half. Sie hatte sich um eine Viertelstunde verspätet, und Chris würde sich gewiss schon Gedanken machen. In diesem Augenblick musste sie über sich selbst lachen. Sie kannte Chris erst seit einer Woche, und schon bildete sie sich ein, alles über ihn zu wissen. Manche Leute kamen einem vom ersten Augenblick an eben wie gute, seit langem vertraute Freunde vor.

Ein Taxi zu siebzig Yen - der Preis stand weithin sichtbar auf den vorderen Türen - kurvte schlingernd und spritzend um den anderen Wagen herum und stoppte mit quietschenden Reifen. Der Fahrer sprang heraus und hielt Sheri diensteifrig die Tür auf. Sie stieg ein, schlug in dem winzigen Coupé ihre langen Beine übereinander und zog ihren Rock über die Knie.

Eine junge Japanerin kam durch die Drehtür des Hotels, sah sich suchend um und rannte auf Sheri zu. »Sie haben vergessen«, rief sie und drückte Sheri drei Yen in die Hand. Es war die Verkäuferin vom Zeitungsstand. Sheri hatte ihr fünfzehn Yen für eine Zeitung hingelegt und nicht auf das Wechselgeld gewartet. Drei Yen - das war noch nicht einmal ein Cent.

»Danke schön«, sagte sie, und das Mädchen nickte ihr lächelnd zu.

»Zum Nikkatsu«, rief sie dem Fahrer zu, sehr stolz darauf, dass sie das Wort richtig aussprechen konnte. Sie war erst seit fünf Tagen in Tokio. Als der Wagen anfuhr, verkrampfte sich alles in ihr, obwohl diese Art von Schrecken nicht mehr neu für sie war. Jedes Mal, wenn sie in Tokio ein Taxi bestieg, hatte sie das Gefühl, sie sitze in einem altrömischen Kampfwagen und rase geradewegs ins Verderben.

Dem Fahrer machte es nichts aus, dass er von seiner Umgebung kaum etwas wahrnahm. Durch die Windschutzscheibe sah die Straße wie ein Aquarium aus, in dem gespenstisch anmutende, schemenhafte Ungeheuer herumschwirrten. Das Taxi raste auf sie los, kurvte nach rechts, nach links und raste weiter. Oft entging der Wagen einem Zusammenstoß nur um Haaresbreite.

Sheri starrte angestrengt durchs Fenster. Allmählich kamen ihr Bedenken. Das war bestimmt nicht der kürzeste Weg zum Nikkatsu-Gebäude. Sie hatte die Fahrt von ihrem Hotel dorthin schon dreimal gemacht, weil man unter den Arkaden besonders günstig einkaufen konnte. Diesmal waren sie weder an den Mauern des Kaiserpalastes vorbeigekommen noch an dem Laden, in dessen Schaufenster ein Samurai in seiner malerischen Tracht ausgestellt war. Gestern hatten sie und Chris den Krieger bewundert, und Chris sagte: »Ich wollte, ich hätte auch so eine Rüstung. Dann würde ich mich im Tokioer Verkehr sicherer fühlen.« Und dann hatten sie beide schallend gelacht.

Sie beugte sich vor und rief: »Nikkatsu!« Der Fahrer nickte und wiederholte: »Nikkatsu.« Er fuhr noch schneller, und sie schrie: »Nein! Halt!«

Der Wagen bog in eine schmale, dunkle Gasse ein. Einige schwache Lampen brannten hinter den Holzläden kleiner Geschäfte und warfen einen dürftigen Lichtschein nach draußen. Eine schattenhafte Gestalt huschte dicht vor dem Kühler über die Straße. Die japanische Nationalflagge tauchte auf und verschwand aus den Augen. Drei regennasse Pappfische baumelten an einer Bambusstange. Dann schoss ein Schild mit einem blutroten Aal, das Wahrzeichen einer Garküche, auf Sheri zu und an ihr vorbei.

Sie schrie dem Fahrer zu, er solle anhalten, und trommelte ihm mit den Fäusten auf den Rücken. Noch hatte sie keine Angst; sie war nur wütend.

Die Straße wurde immer enger; die Häuserreihen zu beiden Seiten rückten dicht und dichter an sie heran und schienen sie förmlich einzukreisen. Irgendwo plärrte aus dem Radio ein amerikanischer Schlager. Dann sah Sheri den Mann, der am Straßenrand wartete, ein verschwommener Umriss im strömenden Regen. Der Mann hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, aber der Statur nach war es kein Japaner. Der Fahrer ging plötzlich mit der Geschwindigkeit hinunter und nahm gleich darauf sein halsbrecherisches Tempo wieder auf. Bevor sie begriffen hatte, was geschehen war, saß der Mann neben ihr im Wagen, packte sie an den Armen und presste sie gegen die Rücklehne. Ein scharfer Gegenstand in seiner Manteltasche bohrte sich schmerzhaft in ihre Seite.

»Reg' dich nicht auf, Kleine«, sagte er beschwichtigend. »Ich tu’ dir nichts.« Er drückte sie noch fester gegen das Polster.

Sie stieß ihn mit dem Kopf unters Kinn; der Unbekannte zuckte schmerzerfüllt zurück und knurrte wütend: »Mach das noch mal, du verdammte kleine Schlampe...!« Aber er ließ sie nicht los. Und die ganze Zeit über hörte sie, wie der Regen auf das Dach und gegen die Scheiben prasselte und das Wasser unter den Reifen wegspritzte, wenn das Taxi durch Pfützen sauste.

Plötzlich kreischte sie auf. Sie wusste, dass es sinnlos war, aber sie musste schreien; irgendetwas zwang sie dazu. Im nächsten Moment bereute sie es. Ihr Aufschrei erstickte unter den Lippen des Mannes, die sich fest auf ihren Mund pressten. Sein Gesicht fühlte sich so rau an wie Sandpapier. Ihr Instinkt riet ihr, jegliche Gegenwehr aufzugeben. Sie sank schlaff zurück und rührte sich nicht mehr. Er hob den Kopf und holte tief Luft. »So ist’s besser. Hör zu, Kleine, niemand wird dir was tun, wenn du vernünftig...«

Sie zog mit einer schnellen Bewegung die Beine an und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt, dass er sie loslassen musste.

Ihre Hände tasteten nach dem Türgriff, zerrten daran, und gleich darauf landete sie mitten in einer Wasserlache auf dem Pflaster und konnte eine Sekunde lang nur an ihr neues Seidenkleid denken.

Mühselig richtete Sheri sich auf. Vor ihren Augen drehte sich alles. Dann hörte sie in weiter Ferne das Quietschen von Autoreifen und das Knallen einer Wagentür. Sie sah eine Gestalt, die nichts Menschliches an sich hatte, wie von einem Propeller angetrieben auf sich zu stürzen. Sheris Beine setzten sich automatisch in Bewegung und rannten mit ihr davon, rannten und rannten, bis sie glaubte, ihre Lungen müssten bersten und ihr Herz würde zerspringen.

Aber sie lief weiter. Die enge Straße war dunkel und wie ausgestorben und hallte wider vom Geräusch ihrer Schritte und der ihres Verfolgers. Die stillen schwarzen Häuser zu beiden Seiten erinnerten an eine Filmkulisse, traurige Fassaden, hinter denen das Nichts wohnte.

Eine Rikscha tauchte auf, von einem Jungen gezogen, der mit gesenktem Kopf gleichmäßig dahintrabte und Sheri um ein Haar überrannt hätte. Das Gefährt sah aus wie ein aufrechtstehender Sarg. Sheri warf einen Blick ins Innere. Dort saß eine Geisha, die sich wohl auf dem Weg zu einer Verabredung befand und vermutlich ein wenig Englisch verstand. Sheri schrie auf, aber die Rikscha rollte vorbei.

Wie ein Phantom, dachte Sheri. Das einzig Wirkliche war der Regen, der ihr ins Gesicht peitschte, der Wind, der an ihrem Mantel zerrte, und ihre Angst. Endlich schimmerte ihr im Dunkel ein schwacher Lichtschein entgegen. Erschöpft, ausgepumpt lief sie darauf zu. Ihre Füße waren schwer wie Blei und wollten sie nicht mehr tragen. Ihr Körper revoltierte; sie hatte ihm das Äußerste abverlangt. Und ihr Verfolger kam immer näher.

Sie begriff nicht, woher sie die Kraft nahm, aber sie schaffte es. Das Lichtpünktchen wurde größer und verwandelte sich in eine Laterne, die über einer Imbissstube hin und her schwang. Sheri stieß die Tür auf und stürzte hinein. Fünf oder sechs Tische, leise Radiomusik. Wärme und der appetitanregende Duft von Nudelsuppe hüllten sie ein. Im Hintergrund saß eine ältliche Frau und zählte die Tageseinnahmen auf einer primitiven Rechenmaschine zusammen. Ein halbwüchsiger Junge stand auf und sah Sheri verwundert an.

Sheri schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie fragte sich, ob ihr Verfolger es wagen würde, hier einzudringen. Während sie keuchend Atem holte, lauschte sie angespannt nach draußen. Dann versuchte sie zu sprechen, brachte jedoch keinen Ton heraus.

Die Frau hatte sich erhoben und kam auf sie zu. Sie war zierlich wie die anmutigen Frauengestalten auf den japanischen Farbdrucken und trug die landesübliche Frisur. Sheri fuhr sich mit der Hand durch ihr nasses, rotblondes Haar. Ich muss scheußlich aussehen, fuhr es ihr durch den Sinn.

»Sprechen Sie Englisch?«, fragte sie.

Die Frau schüttelte den Kopf. Der Junge war näher getreten. Er hatte angenehme, klare Gesichtszüge und aufgeweckte, neugierige Augen. »Meiner Mutter ist es leider nicht vergönnt, Ihre Sprache zu sprechen«, sagte er freundlich. »Kann ich etwas für Sie tun?«

Hastig erzählte sie ihm, was ihr zugestoßen war, und stellte sich dabei so hin, dass sie die Tür im Auge behalten konnte. Aber es gelang ihr offenbar nicht, sich verständlich zu machen. Der Junge starrte sie verwirrt an.

»Könnte ich vielleicht telefonieren?« Chris würde inzwischen außer sich sein. Sie musste ihn anrufen, und er konnte sie abholen. Der Junge bedauerte. Sie hatten kein Telefon. Er erbot sich jedoch, die Polizei zu benachrichtigen. Sheri lehnte ab. Dann bliebe sie mit dieser gebrechlichen Frau allein. Selbst wenn sie die Tür abschließen würden...

Schritte näherten sich auf der Straße, schnelle, kräftige Schritte, die nicht einmal der Regen zu übertönen vermochte. Sheri erstarrte, horchte angespannt und atmete erleichtert auf, als die Schritte vorbeigingen und sich entfernten.

»Sie wohnen im Hotel?«, erkundigte sich der Junge.

Sie nickte. »Hotel New Japan.«

»New Japan? Wirklich?« Er überlegte. »Wenn Sie es wünschen, bringe ich Sie hin. Wir gehen durch die Hintertür. Niemand sieht uns.«

Er sagte etwas zu seiner Mutter und winkte Sheri. Sie gelangten durch eine winzige Küche in einen Hinterhof, und danach führte der Junge sie über aufgeweichte Wege durch ein Gewirr von baufälligen Schuppen und niedrigen Häusern. Er ging ziemlich schnell, und sie war doch so müde. Ihr Hirn war ein einziges wüstes Durcheinander. Irgendwann kamen sie zu einem Bahnhof. Der Junge kaufte Fahrkarten; sie kosteten hundert Yen, und er wollte nicht, dass sie bezahlte. Sie stiegen in den Zug, standen eingepresst zwischen Leibern, die feuchte Wärme ausstrahlten. Der Zug raste durch die Nacht, donnerte durch einen Tunnel und bremste scharf. Die Luft war verbraucht, und die vielfältigen Gerüche nahmen Sheri fast den Atem. Sie durchlebte noch einmal jede Einzelheit ihres Abenteuers und empfand nachträglich panische Angst. Manchmal ist die Erinnerung schlimmer als das Ereignis selbst. Außerdem hatte Sheri bisher gar keine Zeit gehabt, sich richtig zu fürchten.

In Shibuya mussten sie umsteigen; der Junge bahnte ihr einen Weg durch die Menge. Vier Stationen weiter, in Akasaka, verließen sie die U-Bahn, und als sie wieder auf der Straße standen, entdeckte Sheri erleichtert, dass sie nur noch einen Häuserblock vom Hotel New Japan entfernt waren. Ihr Begleiter brachte sie bis zum Eingang. Sie bedankte sich bei ihm und erbot sich, ihm die Auslagen für die Fahrt zu ersetzen, spürte jedoch sofort, dass sie ihn damit verletzt hatte. Rasch reichte sie ihm die Hand, er nahm sie schüchtern und lächelte.

»Sie sagen alles der Polizei?«, fragte er.

Sheri zögerte. Man würde sie endlos lange verhören, und morgen war ihr letzter Tag in Tokio. Und was konnte die Polizei schon tun? Jemand hatte versucht, sie zu entführen; der Mann musste verrückt sein, denn eine andere Erklärung gab es nicht dafür. Sie würde sich künftig besser in Acht nehmen. Die hiesigen Taxifahrer galten im Allgemeinen als zuverlässig; sie hatte eben Pech gehabt. »Ja, natürlich«, erwiderte sie dann. Sie musste die Polizei informieren. Diesmal war sie das Opfer gewesen; das nächste Mal würde es irgendeine andere Frau sein, die vielleicht nicht so viel Glück hatte.

Sie dankte ihm noch einmal, und er huschte davon und war verschwunden. Ein lieber Kerl, dachte sie; die hundert Yen waren vermutlich sein Taschengeld für den ganzen Monat.

Niemand beachtete sie, als sie am Empfang vorbei auf den Lift zueilte. Sie fuhr in die siebente Etage hinauf, horchte an ihrer Zimmertür, bevor sie sie öffnete - etwas, was sie noch nie getan hatte -, und trat leise ein. Eine Lampe brannte, und Dusty schlief fest in dem einen Doppelbett. Er war der zwölfjährige Sohn eines Missionars, und Sheri brachte ihn nach Indien zu seinen Eltern. Den Winter über hatte er in den Vereinigten Staaten eine Schule besucht.

Sheri zuckte erschrocken zusammen, als das Telefon auf ihrem Nachttisch zu läuten begann. Jemand vom Empfang erkundigte sich, wann sie abreisen wollte. Sie sagte, sie würde übermorgen früh um 9.37 Uhr nach Hongkong weiterfliegen. Dann rief sie das Hotel Nikkatsu an, setzte sich auf die Bettkante und streifte Schuhe und Strümpfe ab, während sie am Apparat auf Chris wartete. Sie nahm ihr Seidenkleid in Augenschein und stellte freudig fest, dass es nur am Saum ein wenig feucht und schmutzig geworden war. Es war ein Geschenk von Onkel Dan; sie hatten es zusammen ausgesucht.

»Chris...«, sagte sie, als er sich meldete. »Es tut mir so leid...«

»Hallo, Sheri! Wo hast du denn gesteckt?«

Leicht verärgert dachte sie: Er hat sich überhaupt nicht um mich gesorgt. Gleich darauf machte sie sich Vorwürfe. Wann würde sie endlich damit aufhören, von anderen dieselben Reaktionen zu erwarten wie von sich selbst.

»Könntest du herüberkommen, Chris, oder macht dir das zu viel Umstand? Ich würde dich nicht darum bitten, aber...«

»Meinst du, sofort?«

»Wenn das möglich wäre.«

Er spürte offenbar, dass irgendetwas nicht stimmte. »Ist auch alles in Ordnung, Sheri?«

»Ja. Ich erwarte dich unten in der Halle.«

Sie legte auf und sah zu Dusty hinüber, der sich nicht gerührt hatte. Als sie noch in die Oberschule ging, waren sie Nachbarn gewesen, und sie hatte bei dem Dreikäsehoch Babysitter gespielt. Sie kannte ihn so genau, als wäre er ihr eigenes Kind, und wenn sie später mal eine Familie hatte, müssten ihre Jungen wie Dusty sein. Nicht, dass er etwa ein kleiner Engel war. Im Gegenteil, er machte ihr manchmal sehr zu schaffen. Er war ein Rebell, wollte oder konnte sich nirgends einfügen und tat nie das, was man von ihm erwartete. Während sie ihn zudeckte, wünschte sie wie schon so oft, er wäre ihr Sohn. In Wirklichkeit war das natürlich ziemlich unmöglich; sie war erst sechsundzwanzig.

Im Bad betrachtete sie sich verzweifelt im Spiegel. Ihr Haar sah schrecklich aus; von einer Frisur konnte keine Rede mehr sein. Als Sheri sich den Kopf energisch mit einem Handtuch frottierte, fiel ihr plötzlich etwas ein: Am Empfang waren nur Japaner beschäftigt. Die Stimme vorhin, die sich nach ihrem Abreisetermin erkundigt hatte, hatte aber völlig akzentfreies und fließendes Englisch gesprochen. Sheri kannte keine Amerikaner in Tokio. Wen konnte es überhaupt interessieren, wie lange sie noch hier bleiben würde?

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Unten in der Halle verspürte Sheri plötzlich Lust auf heißen Kaffee und bestellte sich eine Tasse, obwohl diese 35 Cent kostete. Amerikanischer Kaffee war in Japan Luxusware; das Pfund kam auf drei Dollar.

Sie saß auf einer Art Estrade, auf der die Hotelgäste ihr Frühstück einzunehmen pflegten. Zwei Stufen trennten sie von der eigentlichen Halle und dem Empfangstisch. Die Ausstattung war sehr großzügig; dicke, weiche Teppiche, viel Plüsch, breite, bequeme Sessel, weißgedeckte, niedrige Tischchen. Die Kellnerinnen sahen in ihren farbenfrohen Kimonos wie zierliche Püppchen aus. Von ihrem Platz aus konnte Sheri die Drehtür und ein Stück der Straße sehen. Es regnete nicht mehr. Als sie den letzten Schluck Kaffee trank, kam Chris herein, schlank und groß, von der Sonne gebräunt. Sein Lächeln erwärmte ihr das Herz.

Vor acht Tagen hatte Sheri ihn erst kennengelernt, in Honolulu, wo sie drei Tage lang mit Dusty Station gemacht hatte. Als sie dort in einem Laden auf der Ala Moana einen Badeanzug kaufte, kam sie mit einem frischgebackenen Ehepaar ins Gespräch. Die jungen Leute stammten aus Chicago, und Sheri erzählte ihnen, sie habe dort einen lieben alten Onkel namens Dan C. Jones. Später, am Nachmittag, liefen ihr die beiden wieder über den Weg, aber diesmal hatte Sheri nur Augen für den Mann in ihrer Begleitung. Er sah ungewöhnlich gut aus, hatte tiefblaue Augen in dem braunen Gesicht, scharfgeschnittene Züge und ein kräftiges Kinn.

Sie schlenderten alle miteinander in eine Bar und tranken Ananassaft, und nach einer Stunde waren Sheri, Chris und Dusty die besten Freunde. Alles Weitere ergab sich praktisch von selbst. Sie segelten zusammen, tanzten im Royal Hawaiian Club, gingen im Mondschein am Strand von Waikiki spazieren und fuhren in einem gemieteten Jeep kreuz und quer durch die Insel.

Und sie führten endlose Gespräche. Sheri befand sich auf dem Weg nach Pakistan, um dort bei einer amerikanischen Baufirma als Sekretärin zu arbeiten. Chris war Pilot und flog die Strecke Los Angeles - New York; zurzeit hatte er Urlaub.

Eigentlich wollte er einen Tag länger in Honolulu bleiben. Als Sheri aber um Mitternacht die Düsenmaschine nach Tokio bestieg, war er plötzlich neben ihr. »Bilde dir nur nichts darauf ein«, sagte er mit einem Grinsen. »Ich fahre nicht deinetwegen. Aber nach meinem Horoskop ist heute der günstigste Abreisetermin.«

So kam es, dass er in der Touristenklasse neben ihr und Dusty saß. Obwohl sie müde waren, schliefen sie schlecht während des elfstündigen Fluges, der kein Ende nehmen wollte. Nach der Zwischenlandung auf der Insel Wake wachte Sheri auf und entdeckte, dass ihr Kopf an Chris’ Schulter lag. Als der Morgen dämmerte, erwachte sie wieder und weckte Chris, um ihm die aufgehende Sonne zu zeigen. Aber er grunzte nur und schlief sofort wieder ein. Anscheinend gehörte er nicht zu den Frühaufstehern.

Daran musste sie denken, als Chris durch die Halle auf sie zuschritt. Sie sagte: »Hallo«, und begriff im selben Moment, dass selbst ein so alltäglicher Gruß sehr verräterisch sein konnte. Schnell fügte sie hinzu: »Es tut mir so leid, dass ich dich von deiner Party weggeholt habe, aber ich musste dich sehen...«

Einige seiner Kollegen hatten ihm zu Ehren ein kleines Fest im Hotel Nikkatsu veranstaltet und Sheri dazu eingeladen. Chris hatte sich erboten, sie abzuholen, aber sie hatte erklärt, das kurze Stück Fahrt von Hotel zu Hotel könnte sie auch allein machen.

»Chris, mir ist etwas Furchtbares passiert. Ein Mann wollte mich überfallen.« Als sie seine entsetzte Miene sah, fuhr sie hastig fort: »Es ist ihm nicht geglückt; ich bin ihm vorher entwischt. Als ich hier wegging, war ich ziemlich spät dran und nahm das erste Taxi, das kam. Der Kerl fuhr wie ein Wilder, aber nicht zum Nikkatsu, sondern durch irgendwelche dunklen Gassen. Dann las er einen Mann auf, einen Amerikaner, und der hielt mich auf dem Rücksitz fest, und - und ich wehrte mich schließlich...«

Chris griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Sheri, Sheri, was machst du denn für Sachen«, murmelte er. Sie hatte ihn noch nie so ernst erlebt. Er war eigentlich immer heiter, und sie fragte sich plötzlich, ob seine Unbekümmertheit vielleicht nur Selbstschutz war, eine Tarnung, hinter der sich der wirkliche Chris verbarg.

»Hast du den Mann schon früher mal gesehen?«

»Meines Wissens nicht, und heute Abend habe ich ihn auch nicht richtig gesehen. Nur seine Augen. Es war dunkel, und es ging alles zu schnell.«

»Hattest du irgendwelche Wertsachen bei dir? Geld?«

»Nur ein paar Dollar und das hier.« Sie berührte ihre Kette aus Bergkristall. »Kostenpunkt zwei Dollar. Nein, er wollte etwas ganz Bestimmtes - mich.«

»Was ich nicht begreife, ist, warum er so viele Umstände machte und sich sogar einen Komplizen zulegte. Im Allgemeinen sind diese Typen Einzelgänger. Sie drücken sich in dunklen Winkeln herum und überfallen wahllos irgendeine Frau, die ihnen über den Weg läuft.«

»Ja, aber das ist doch die einzig mögliche Erklärung, Chris. Er wollte mir etwas antun, das spürte ich, als ich mit ihm kämpfte. Er küsste mich, um mich am Schreien zu hindern, und der Kuss war gar nicht zahm. Außerdem hat mich vorhin jemand angerufen und sich erkundigt, wie lange ich noch in Tokio bleibe. Es war ein Mann, ein Amerikaner, aber ich kam zu spät darauf. Ich muss natürlich die Polizei benachrichtigen. Meinst du nicht auch?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Was willst du der Polizei sagen? Du hast dir weder die Nummer des Taxis gemerkt, noch kannst du den Mann beschreiben, der dich überfallen hat.«

»Du glaubt mir nicht, oder?« Die Frage rutschte ihr heraus, und Sheri bereute es sofort. Ihr Vater hatte ihr, als sie noch ein Kind war, immer wieder gesagt: Sieh mal, Sheri, die meisten Leute wollen gar nicht deine Meinung hören; sie wollen nur, dass du ihre Meinung bestätigst. Und sie war genauso. Sie war böse, weil Chris ihr nicht beigepflichtet hatte. Sie sehnte sich nach Trost und einer Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. »Du glaubst mir nicht«, wiederholte sie vorwurfsvoll.

»Doch, mein Engel. Ich würde dir sogar glauben, wenn du sagtest, du hättest einen Elefanten in deiner Badewanne gefunden.«

»Entschuldige. Ich bin völlig durcheinander.«

Sie lächelte, er lächelte zurück, und die Spannung war verflogen.

Als sie aufblickten, stand ein Japaner vor ihrem Tisch, ein Mann Mitte Vierzig, in einem sauberen, abgetragenen dunklen Anzug. Er hatte sanfte, freundliche Augen. »Verzeihen Sie bitte. Ich muss Sie leider stören. Mein Beruf zwingt mich dazu. Ich bin Inspektor Tanaka von der Kriminalpolizei. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Sheri gab ihm die Hand, und Chris fragte: »Was möchten Sie trinken, Inspektor? Kaffee? Ein Coca?«

Der Inspektor wies das Angebot dankend zurück, setzte sich und sah sich um. »Ein hübsches Hotel, nicht wahr?«

»Sehr schön, sehr amerikanisch und sehr teuer«, antwortete Sheri.

»Ja, das dachte ich mir. Der Bau und die Einrichtung haben viel gekostet.« Er saß ganz still, aber seine Augen waren ständig in Bewegung. »Ein Junge meldete sich vorhin im Polizeirevier von Kojimachi. Er sagte, Sie hätten ein böses Erlebnis gehabt, Miss Jones. Stimmt das?«

Sie bejahte und erzählte ihm ihr Abenteuer und vergaß auch nicht, den geheimnisvollen Telefonanruf zu erwähnen. Der Inspektor nickte teilnahmsvoll und bat sie, ihm das Taxi und den Fahrer zu beschreiben, aber sie konnte ihm so gut wie gar nichts darüber sagen. Geduldig fragte er weiter, durchforschte beharrlich ihr Gedächtnis, und allmählich fiel ihr das eine oder andere wieder ein. Sie berichtete ihm von dem Schild mit dem roten Aal und von den drei aufgeweichten Pappfischen an der Bambusstange.

»Die Familie hat drei Söhne«, erklärte er. »Ein Fisch für jeden Sohn.« Er fügte stolz hinzu: »Vor meinem Haus hängen vier Fische. Das ist gut, nicht wahr? Nächste Woche feiern wir das Fest der Jungen.«

Er schwieg einen Moment lang und fragte dann: »Warum haben Sie das Verbrechen nicht gemeldet, Miss Jones?«

»Ich wollte es melden, aber...« Sheri warf Chris einen hilfesuchenden Blick zu.

»Sie wünschten es nicht, Mr. Harrigan?«

»Nun, ich fand, dass sie eigentlich nichts Konkretes zu berichten hatte - ich meine, sie weiß weder die Wagennummer noch... Oh, zum Kuckuck, vermutlich habe ich die Sache nicht ernst genug genommen. Jetzt hat’s allerdings den Anschein, als würde ein Fall für das Oberste Bundesgericht daraus.«

»Wir in Japan haben es gern, wenn Verbrechen gemeldet werden«, sagte Tanaka milde. Er wandte sich Sheri zu. »Kennen Sie hier in Tokio jemanden von ihren Landsleuten, der Grund hätte, Sie zu hassen?«

»Nein. Ich kenne hier überhaupt keine Amerikaner außer Mr. Harrigan. Ich habe mich natürlich mit einer ganzen Reihe amerikanischer Touristen unterhalten. Sie wissen ja, wie das ist. Auf so einer Reise begegnet man häufig denselben Leuten, im Flugzeug, im Hotel, und da wechselt man eben ein paar nichtssagende Worte, schon aus Höflichkeit.«

»Sie sind zum ersten Mal in Japan, Miss Jones?«

Sheri nickte. »Ich war drei Jahre lang in Saigon; so weit nördlich bin ich damals aber nicht gekommen.« Sie erriet seine nächste Frage und kam ihr zuvor. »Ich arbeitete als Sekretärin bei einer amerikanischen Firma, die Straßen in Vietnam baute.«

»Wohin reisen Sie von hier aus, Miss Jones?«

»Über Hongkong, Bangkok, Colombo, Delhi nach Karatschi, wo ich für zwei Jahre eine Stellung habe.«

»Und Sie, Mr. Harrigan?«

»Formosa, Hongkong und Bangkok, und von da aus wieder in Richtung Heimat. Mein Zuhause ist eine kleine Wohnung in Los

Angeles, die ich mit einer wertlosen, aber treuen schwarzen Katze teile.«

Tanaka lächelte. »Ich liebe Katzen. Ich habe auch eine. Sie ist wie ich - sehr, sehr neugierig. Noch eine Frage, Miss Jones. Wer wusste, dass Sie das Hotel noch einmal so spät am Abend verlassen würden?«

»Niemand. Außer Mr. Harrigan natürlich. Ich war mit ihm verabredet.«

Der Inspektor betrachtete seine Fingernägel. »Sind Sie sicher, Miss Jones, dass Sie mir sonst nichts weiter sagen können...?«

Heuchler, dachte sie. Warum sagst du nicht offen, dass du mich für eine Lügnerin hältst? Chris beobachtete sie besorgt. Er wusste, dass sie einen ungewöhnlich niedrigen Siedepunkt hatte und rasch aufbrauste. »Der Inspektor versucht lediglich ein Motiv zu finden, Sheri«, sagte er beschwichtigend.

Aber es war bereits zu spät. »Ich weiß, was Sie denken: Sie denken, ich wäre in irgendwelche dunklen Geschichten verwickelt. Aber wenn Sie meine Angaben nachprüfen, werden Sie feststellen, dass ich wirklich nur eine kleine Sekretärin bin, die sich mit ihrem knappen Gehalt keine großen Sprünge erlauben kann. Ich bin überzeugt davon, dass er mich vergewaltigen wollte«, fügte sie in ruhigerem Ton hinzu.

Tanaka blickte sich geistesabwesend um. »Das Risiko war beträchtlich - und in Tokio gibt es viele amerikanische Frauen. Außerdem regnete es.« Er versank in nachdenkliches Schweigen. »Ich hoffe, Sie haben sich bei dem Sturz aus dem Taxi nicht verletzt?«

»Nein.«

»Nein«, wiederholte er höflich.

Er verstummte, aber die Luft hing voller unausgesprochener Fragen, und Sheri ertappte sich dabei, wie sie vergebens nach den Antworten suchte. Wieso hatte sie sich bei dem Sturz eigentlich nicht verletzt? Bei dem Aufprall aufs Pflaster hätte sie sich zumindest Hände und Knie aufschlagen müssen. Ein verstauchtes Handgelenk, ein paar blaue Flecke würden der Sache ein ganz anderes Gesicht geben. Aber sie hatte nichts dergleichen vorzuweisen. Chris sah nachdenklich aus. Oh, er war auf ihrer Seite; er glaubte ihr; dass er sich wunderte, konnte man ihm nicht übelnehmen. Als sie merkte, dass sie ihre Hände genau betrachtete, blickte sie rasch hoch.

»Ihr Kleid war durchnässt. Sie haben sich umgezogen, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nur am Saum ein bisschen nass und schmutzig geworden; ich hatte ja einen Regenmantel an. Sie glauben mir nicht, Inspektor. Sie halten mich für eine von diesen neurotischen Frauen, denen die Phantasie durchgeht. Sie sind überzeugt davon, dass ich...«

»Sheri, bitte!«, sagte Chris beschwörend.

»...dass ich mir das Ganze bloß eingebildet habe. Stimmt’s, Inspektor?«

Tanaka erhob sich und brachte seinen Rockkragen in Ordnung. »Ich bedaure sehr, dass Sie diesen Eindruck von mir haben, Miss Jones.«

Sie sank enttäuscht und niedergeschlagen in sich zusammen. Der Inspektor verabschiedete sich von ihnen, wandte sich zum Gehen und drehte sich nach zwei Schritten noch einmal zu ihnen um: »Es gibt bei uns ein kleines Gedicht, das lautet:

 

Der Schmetterling schlummert friedlich

auf der Glocke des Tempels...

bis jemand sie läutet.

 

Wir müssen nun herausfinden, wer die Glocke geläutet hat. Gute Nacht.«

Chris begleitete Sheri im Lift nach oben und bis vor ihre Zimmertür. Das junge Mädchen schlug sich seine Befürchtungen und seinen Ärger über Inspektor Tanaka aus dem Kopf und lächelte Chris zu. Der Abend durfte nicht mit einem Misston enden.

»Schließ die Tür ab und mach niemandem auf«, mahnte Chris.

»Zu Befehl«, erwiderte sie. Es klang wie ein Schnurren.

Unvermittelt legte Chris einen Finger unter ihr Kinn, hob es hoch und blickte auf ihr Gesicht hinunter. Er beugte sich über sie, so dicht, dass sein Mund fast den ihren berührte, und flüsterte: »Und was ich noch sagen wollte, Sheri - die scheußliche Sache von heute Abend tut mir sehr, sehr leid. Von jetzt an werde ich besser auf dich aufpassen.«

Sie hatte gehofft, dass er sie küssen würde. Er hatte sie noch nie geküsst. Aber er richtete sich auf, machte kehrt und schlenderte zum Lift zurück. Sie sah Chris nach. Er summte leise vor sich hin, und das störte sie. Es kam ihr irgendwie ungehörig vor.

 

Danach stand Sheri lange Zeit in ihrem Zimmer am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Es war wirklich am besten, wenn sie das unangenehme Erlebnis von heute Abend so schnell wie möglich vergaß. Sie wollte das Zusammensein mit Chris genießen, solange es noch dauerte; es waren ohnehin nur noch einige Tage. Was darauf folgte - die zwei öden Jahre in Pakistan, das Heimweh, die Sehnsucht nach vertrauten Gesichtern -, musste eben überstanden werden.

Das Lichtermeer da draußen, das war Tokio, die größte Stadt der Erde mit ihren neun Millionen Einwohnern. Nirgendwo sonst war Sheri ein solch unübersehbares Menschengewimmel begegnet. Stets bewegte man sich in einer Mauer von Leibern, wurde geschoben, beiseite gedrängt, ließ sich treiben. Es war überwältigend und erschreckend zugleich, und man musste sich wundern, dass ein Volk, das unter so verzweifelter Raumnot litt, sich so viel Würde und Selbstachtung bewahrt hatte. Sheri dachte an die gepflegten kleinen Felsengärtchen mit den winzigen Teichen und geschwungenen Brücken, die festlichen bunten Papierlaternen, die farbenfrohen Kimonos der Kellnerinnen unten im Hotel, die wie Schmetterlinge zwischen den Tischen umherflatterten. Schönheit auf kleinstem Raum; diese Menschen hatten aus der Not wahrlich eine Tugend gemacht.

Sheri schlüpfte ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken im Zaum zu halten. Sobald sie nicht aufpasste, entwischten sie ihr und beschäftigten sich mit Dingen, die tabu waren; beispielsweise mit dem merkwürdigen Anruf, der angeblich vom Empfang gekommen war. Sheri rief sich die wundervollen Tage auf Hawaii ins Gedächtnis zurück und den Flug nach Tokio. Chris und Dusty saßen neben ihr in der Düsenmaschine. Sheri selbst schrieb gerade eine Karte an Onkel Dan, als sie sich beobachtet fühlte. Aber hinter ihr gab es nur die üblichen Reihen schläfriger Gesichter. Eine Frau nickte ihr zu, eine ältliche Matrone, die Sheri von Honolulu her kannte. Sie nickte zurück und schrieb weiter. -

Wie lange werden Sie in Tokio bleiben, Miss Jones?, hatte die Stimme gefragt, eine unverkennbar amerikanische Stimme.

Nein, daran durfte Sheri nicht denken. Es gab so viele andere schöne Erinnerungen. Vor zwei Tagen war sie mit Chris und Dusty in Kyoto gewesen und hatte den Goldenen Pavillon besichtigt. Plötzlich befanden sie sich inmitten einer Gruppe von Schulkindern, die fröhlich lärmend um ein Autogramm baten und sich folgsam zurückzogen, als die Lehrerin sie energisch zur Ordnung rief. Sheri hob ihre Kamera und machte eine Aufnahme von ihnen und stellte danach fest, dass sie indessen von vier Japanern geknipst worden war.

Dann zog Dusty auf eigene Faust los, und sie und Chris setzten sich an den See. Chris betrachtete ihre Augen und sagte: Ich wusste gar nicht, dass sie grün sind. Und als sie lachte, fügte er neckend hinzu: Grünen Augen kann man nicht trauen, das ist allgemein bekannt.

Dann sahen sie sich den Nijo-Palast an und probierten den Nachtigallenfußboden aus.

---ENDE DER LESEPROBE---