Die Alpen sehen und sterben - Isabella Archan - E-Book

Die Alpen sehen und sterben E-Book

Isabella Archan

4,0

Beschreibung

Killerjagd mit Alpenblick Ein kaltblütiger Mord im idyllischen Kufstein. Die einzige Zeugin ist Mitzi, eine naive junge Frau. Was sie zunächst aus der Bahn wirft, übt bald eine düstere Faszination auf sie aus, und sie kommt dem Täter immer näher. Kann die ehrgeizige Inspektorin Agnes Kirschnagel, die mit der Aufklärung des Falls betraut ist, ihr trauen? Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Menschen sterben. Und der Killer findet immer größeren Gefallen an der "MörderMitzi".

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Nach vielen Jahren als Schauspielerin an Staats- und Stadttheatern in Österreich, der Schweiz und Deutschland lebt und arbeitet Isabella Archan heute freiberuflich in Köln. Hier begann auch ihre Laufbahn als (Krimi-)Autorin. Neben dem Schreiben ist die gebürtige Grazerin immer wieder im TV zu sehen, u.a. im Kölner »Tatort« und in der »Lindenstraße«.

www.isabella-archan.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende findet sich ein Glossar.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Michael Zegers/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-489-6

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Und wenn dir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt,bist du ganz sicher, dass es nicht doch deine Schuld war?

Arthur Schnitzler

Drah di net um, oh, oh, oh.Schau, schau, der Kommissar geht um! Oh, oh, oh!

Falco

I.

CowboyhutNacht

»MörderMitzi.«

Hinter ihr.

Der Lukas grinst. Na warte nur. Sie wird ihm eine reinhauen in der Pause.

»MörderMitzi, MörderMitzi, MörderMitzi.«

Links von ihr, weiter hinten, aus der vierten Reihe.

Alle wird sie verprügeln.

Stattdessen kommen ihr die Tränen.

Die Lehrerin, Frau Meike, dreht den Kopf von der Tafel weg.

»Ja, wer tuschelt denn da?«

Frau Meike redet immer so, als wären sie alle noch Babys.

Sie sieht Mitzi weinen.

»Maria, was ist denn mit dir?«

Mitzi kann es nicht fassen, dass Frau Meike fragt.

»MörderMitzi.«

Neben ihr zischt ihre beste Freundin Karla ihr den neuen bösen Spitznamen ins Ohr. Das war’s mit der Freundschaft.

Überhaupt nie mehr Freunde. Braucht sie nicht. Will sie nicht.

Karla lacht schrill, als ob alles nur ein Witz wäre.

Frau Meike runzelt die Stirn.

»Musst du Pipi, Maria?«

In der Klasse beginnt ein Gurren und Quieken.

Taubenschlag und Schweinestall, denkt Mitzi. Aber das Wasser aus ihren Augen will nicht aufhören zu rinnen.

Sie steht auf. Geht hinaus und schlägt dabei die Tür zu.

»Die Türen schließen wir immer leise, gell!«

Frau Meike ruft Mitzi hinterher, wendet sich dann an die Klasse. »Ja, was is denn mit der Maria los, weiß das einer von euch?«

»Ihre Familie ist doch gestorben, Frau Meike«, erklärt Karla.

Frau Meike lässt einen auffallend lauten Seufzer hören, als es ihr wieder einfällt.

»MörderMitzi«, ruft der Lukas noch einmal.

»Lukas, so etwas sagen wir nicht.«

Frau Meikes Stimme klingt schwach.

»Aber wenn es doch stimmt.« Er kichert, als ob die Sache komisch wäre. »Die hat doch Schuld, hat mein Papa gesagt. Und der weiß es.«

»Lukas, sei einfach still, ja?«

Mitzi kann vor der Tür alles hören. Sie wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, die Nase, den Mund. Speichel, Tränen und Rotz.

Immerhin hält Lukas den Mund, und der Unterricht geht weiter.

Eine ganze Weile dauert es, bis Mitzis Tränenflut versiegt. Sie stellt sich vor, dass sie die Tür aufreißt, hineinstürmt und mit einem Zauberspruch alle Mitschüler in Tauben verwandelt.

Oder eben in Schweine.

Frau Meike lässt sie ganz verschwinden.

Die Idee gefällt Mitzi.

Sie kehrt ins Klassenzimmer zurück.

Bis zur Pause hat sie Ruhe.

Dann geht es von vorne los.

1

»Servus«, sagt der Mann freundlich und lüftet seinen Hut.

Karsten muss lächeln. Hier in Österreich, im schönen Kufstein in Tirol, ist man selbst mitten in der Nacht freundlich zu den Touristen.

»Geht es gut?« Die Stimme klingt weich und angenehm.

Karsten schwankt vor und zurück. Er hat ein kleines bisserl über den Durst getrunken. Na ja, ein wenig mehr war es schon. Und eben hat er sehr unmanierlich in den Inn gekotzt. Danach hat er schuldbewusst nach links und rechts geschaut, aber um zwei Uhr morgens ist keiner mehr auf der Brücke zu sehen gewesen. Gleich will er sich noch eine nächste Zigarette anheizen.

Seine Saufkumpane sitzen immer noch in der tollen Kneipe, pardon, in dem bärigen Beisl, in das er eigentlich schon gehen wollte, seit er am zweiten Urlaubstag vorbeigeschlendert ist. »Stollen 1930« hörte sich urig an. Im Inneren der Bar musste es, der Meinung des Hotelportiers nach, ebenso supergeil sein. Deshalb hat er sich heute nach dem Zigarettenholen zusätzlich einen Absacker nach genau dort drinnen gegönnt.

Dabei will er sich das Rauchen abgewöhnen, hat seinen Konsum auf fünf am Tag reduziert. Wegen seinem Mausi, weil er für sie gsund und fit bleiben will. Dazu ein guter Liebhaber, der es auch mit über fünfzig noch ohne Viagra draufhat.

Ein wilder Kerl halt, ein ewiger Bub, der auch mal was Dummes macht, wie eben beim Zigarettenholen abbiegen in eine Bar, die wie ein Stollen ausschaut und in der man mitten im Felsengestein sitzt. Dazu noch an der Theke auf interessante Menschen trifft. Perfekt, oder?

Spontane Freundschaften hat er dort geschlossen, ratzfatz, mit einem Karli, einem Hansi und einem Gustl. Er liebt Österreich, schon wegen der Sprache und der Namen und wegen der herrlichen Marillenschnäpse. In der Stollenbar hätte es auch Gin aller Sorten und Cocktails gegeben, aber er war bei den Schnapserln geblieben. Schad, dass die alle wieder aus ihm raus sind.

Sein Mausi im Hotelzimmer wird auch angekotzt sein, wenn er zurückkommt. Als er vor einer Stunde das letzte Mal auf sein Smartphone geguckt hat, hatte sie ihm sage und schreibe zwölf Nachrichten geschrieben.

Im Dutzend billiger, hat er gedacht, und »eh schon wurscht« hat er zu den anderen gesagt und eine nächste Runde ausgegeben.

»Grias di«, antwortet Karsten jetzt, so gut er es in seinem Zustand kann und wie man es ihm in der Bar beigebracht hat. »Isch desbärig.«

»Servus ein zweites Mal.«

Wieder hebt der Mann seinen Hut und bringt Karsten damit zum Grinsen.

»Pfiat di und baba, weil isch muss jetzt heim zu mein Mauschi. Pfiat di und baba. Baba. Baba.«

Mit »Baba« ist »Tschüss« gemeint, und Karsten spricht es gern mehrfach hintereinander aus. Besser kann man sich gar nicht verabschieden.

Der Fremde sieht übrigens mit seiner Kopfbedeckung wie ein Cowboy aus. Wie ein großer Cowboy.

Ohne Gesicht, denn die breite Hutkrempe bewirkt, dass seine Züge im Schatten bleiben und nicht von einer der Laternen entlang der Brücke erhellt werden.

Mann in Schwarz, denkt Karsten, Mann ohne Gesicht, auf Österreichisch: Mann ohne Gfries. Lustig, denkt er auch noch, saukomisch.

Karsten rülpst.

Morgen wird sein Mausi schmollen, aber das ist okay, denn wenn sie schmollt, ist sie noch putziger. Sie hasst es, wenn er immer versucht, seine Sätze in diesem Dialekt zu formulieren, zusammengestoppelt aus ganz Österreich, denn er ist Frankfurter, so wie die Würschtel in dem Land auch schon mal heißen. Aber er lässt sich nicht beirren. Selbst in seinem Kopf denkt er in seinen eigenen Austriazismen, die eben keinem Bundesland zugeordnet werden können und auf keinen Fall tirolerisch klingen, sondern eben so, wie der Tourist Karsten denkt, wenn er auf einheimischen Österreicher im Allgemeinen macht.

Ich bin ein Fantasy-Ösi, denkt er und macht in seinem Kopf seine Aussprache noch breiter und gedehnter, wie bei einem Spagat.

Egal, alles wurscht und a Schaas, nach fünf Marillenschnapserln ist alles wunderbar. Nein, acht waren es oder vielleicht auch zwölf, wie die Anzahl der Nachrichten von seinem Mausi.

Dabei darf sie nicht zu sehr mit ihm schimpfen, er ist ohnehin als Erster von der Trinkrunde aufgestanden und hinausgewankt, weil er morgen früh rausmuss. Sie beide um sechs Uhr morgens aufstehen müssen. Sein Mausi und er. Wobei es eigentlich schon morgen und früh ist. Lustig, wie die Zeit manchmal vorbeifliegt.

In einem tiefen Winkel seines teilvernebelten Gehirns graut ihm vor dem anstehenden Kater. Aber den letzten Urlaubsabend hat er noch mal etwas Empörendes machen, etwas Schlimmes anstellen wollen. Wie ein kleiner Bub hat er über die Strenge schlagen wollen.

Der böse Karsten.

»Isch bin ein böser Karschten«, lallt er dem freundlichen Servus-Mann neben ihm zu. »Und isch entschuldige misch für die Sauerei im Wascher. Pfiat di und baba. Baba.«

Er schaut über die Brüstung, das Wasser darunter ist ganz schwarz. Karstens Magen möchte sich noch einmal heben.

»Nein, nein, nein. Nicht noch mal erbrechen, ja?«, sagt der Cowboy streng.

Wo ist der Mann mit dem Hut überhaupt so schnell hergekommen? Vorhin war Karsten allein auf der Brücke. Egal. Er nickt und hält sich am Geländer fest. Der Weg zurück Richtung Hotel scheint unendlich weit und verschwommen.

»Schind Schie Polilei? Könnten Schie misch in den ›Goldenen Löwen‹ bringen? Isch trau misch net, mein Mausi anzurufen. Die isch sicher ganz bösch mit mir.«

Karsten muss über sich selbst lachen. Was für einen Blödsinn er redet. Aber etwas Hilfe wäre tatsächlich nicht schlecht.

Ein Auto fährt über die Brücke, und für ein paar Sekunden sind sie beide in das grelle Licht der Scheinwerfer getaucht. Dann wird es wieder dunkel um sie, nur die Laternen geben sich Mühe zu leuchten.

Karsten guckt nach oben. Über die eine Laterne hinaus, an der ein Blumenschmuck befestigt ist, in den Himmel darüber. Viele tausend Sterne meint er zu sehen. Oder liegt das daran, dass er alles doppelt wahrnimmt?

»Sie sind Karsten Trinckas, nicht wahr?«

Karsten senkt seinen Kopf ganz langsam und versucht, den Mann mit Hut genauer in Augenschein zu nehmen. Seine Finger umklammern das Geländer. Wenn diese Brücke nicht so schwanken würde, wäre es leichter.

»Schie kennen misch?«

Dann ist eigentlich alles klar. Sein Mausi hat den Mann geschickt. Er ist der Nachtportier oder einer der Kellner vom »Goldenen Löwen«, den seine Freundin ihm auf den Hals gehetzt hat, als sie es leid war, eine dreizehnte Nachricht einzutippen.

»Karsten Trinckas, wenn Sie möchten, können Sie noch einen letzten schönen Gedanken fassen. Da es schnell gehen wird, wird Sie dieser Gedanke begleiten, und es wird leichter, als man gemeinhin denkt.«

Gemeinhin? Nur dieses komische Wort bleibt bei Karsten hängen.

»Ist die Mausi sehr bös auf mich?«

Diese wichtige Frage geht ihm besser von der Zunge, der längere Aufenthalt an der frischen Luft macht sich langsam bemerkbar.

Der schwarze Cowboy antwortet nicht, hat seinen Kopf erhoben und sieht wie vorhin Karsten zum Nachthimmel hoch.

Am Ende der Brücke sind Stimmen zu hören. Eine Gruppe verlässt eben eine der anderen Bars. Kufstein im Sommer hat für Nachtschwärmer viel zu bieten, nicht nur die Berge rundum und die Festung am Tag.

Im nächsten Moment fühlt sich Karsten von dem Fremden umarmt.

Na, na, na, Freunderl, will er sagen, das geht jetzt aber zu weit, wir kennen uns ja gar nicht.

Aber die Arme des Mannes schließen sich so fest um seinen Oberkörper, dass aus Karstens Lunge die Luft mit einem Pfeifton entweicht. Er will sich wehren, aber ihm ist zu schwindlig und flau im Magen. Die Stimmen entfernen sich, einer in der Gruppe lacht noch gackernd, dann kehrt wieder Ruhe ein. Die Umklammerung ist ebenso schnell vorbei. Karsten atmet durch.

»Was war das denn? Geht’s noch?«

Sein Sprachvermögen bessert sich von Sekunde zu Sekunde, es ist, als würde die Begegnung mit dem Mann mit Hut seinen Alkoholpegel sinken lassen. Aber sein Österreichisch büßt er damit ebenfalls mehr und mehr ein. Er wird wieder der Frankfurter, nicht das Würschtel, sondern der selbstständige Anlageberater in der Bürogemeinschaft im Bankenviertel. Daran will er in der letzten Urlaubsnacht nicht denken, in diesen zehn Tagen hat er ohnehin zu oft die Aktienkurse gecheckt. Ganz loslassen geht in seinem Metier niemals.

Sakra, Himmel, Arsch und Zwirn. Mit Gewalt holt er sich sein Urlaubsfeeling zurück.

»Den Gedanken jetzt gefasst?« Eine Gegenfrage kommt von dem Mann mit Hut, die für Karsten keinen Sinn ergeben will.

Trotzdem muss er an sein Mausi denken.

Nicht an die beleidigte Freundin im Hotelzimmer, die sich über ihn ärgert und ihn bei seiner Rückkehr beschimpfen wird, sondern an die Geliebte mit der weichen Haut und den vollen Lippen. An den Sex, den sie am Nachmittag hatten, und wie sie nach dem Akt beide verschwitzt und gut gelaunt im Bett lagen.

Danach hat er die letzte Zigarette seiner sonstigen Tagesration geraucht. Jetzt steckt eine neue Packung in der Tasche seiner Khaki-Shorts. Marillenschnaps und Zschigg passen gut zusammen. Er wird seinem Mausi als Erstes versprechen, dass er endgültig damit aufhört. Auch fünf am Tag bringen Teer in die Lunge, wie sein Mausi ihm vorgelesen hat, aus einem Artikel in einer Frauenzeitschrift, und können schaden. Schluss also mit dem Rauchen, aber nicht mit dem Trinken und nicht damit, manchmal ein böser Karsten zu sein. Ein Mann braucht das, selbst wenn er ganz narrisch nach seiner achtzehn Jahre jüngeren Gefährtin ist.

Was für schöne Brüste sie hat.

»Mein Mausi«, flüstert Karsten und weiß, dass er immer und immer wieder aufs Neue seine Gattin für diese Geliebte verlassen hätte.

Auch nach diesem Jahr, das seit dem Eklat vergangen ist, tut ihm seine Entscheidung nicht leid. Seine Ehe war ohnehin beendet, Punkt und Schluss, soll seine Ex doch zur Hölle fahren. Wenn sie nur endlich die Scheidungspapiere unterzeichnen würde. Wie gemein sie ihn beschimpft hat. Den Tod hat sie ihm gewünscht.

Er konzentriert sich lieber auf einen guten Gedanken: Mausis Busen. Klar und scharf wie ein Schnapserl.

Karsten schließt seine Augen, vielleicht, um dieses Bild festzuhalten, vielleicht auch, weil ihn die Müdigkeit einholt, nach dem Saufen und dem Kotzen. Speiben, wie der Österreicher so sagt. Er holt tief Luft, würzig schmeckt sie in seiner Nase. Duft einer Urlaubsnacht im August.

»Na, geht doch«, hört Karsten den Mann sagen.

Was geht?, denkt er.

Es ist höchste Zeit, ins Hotel zurückzugehen. Er braucht den Cowboy nicht mehr, er ist nüchtern genug, um sich allein auf den Weg zu machen. In fünf Minuten wird er bei seinem Mausi sein.

Der Schmerz braucht nicht einmal fünf Sekunden, um von seinem Bauch zum Schmerzzentrum in seinem Gehirn weitergeleitet zu werden.

Die Überraschung kommt sogar noch früher dort an, und Karsten reißt seine Augen wieder auf. Er sieht eine Gesichtsform vor sich, deren Inneres immer noch schwarz wie das Wasser des Inn ist. Darüber die Hutkrempe. Höher noch die Laterne, darüber hinaus die ebenfalls dunklen Umrisse der Berge, der Himmel mit seinen Sternen.

Doch nicht der Blick in das dunkle Oval vor dieser Kulisse tut weh, sondern das glühende Eisen, das sich zwischen seine Eingeweide geschoben hat. Was ist ihm da unten geschehen? Was um Gottes willen hat sich in seinen Bauch gebohrt? Karsten muss hinsehen, schafft es aber nicht, seinen Kopf zu beugen.

Als hätte der Cowboy seine Gedanken gelesen, packen die Finger des Mannes Karsten am Genick und drücken seinen Schädel nach unten. Etwas glitzert auf Höhe seines Bauchnabels, etwas schimmert und reflektiert das Laternenlicht. Etwas, das nicht zu seinem Körper gehört. Ein Gegenstand ragt ein Stück dort heraus, während der Rest von diesem Ding in seinen Leib hineinragt, nein, hineinsticht. Deshalb dieser Schmerz, der sich hochzieht, festbohrt und schreit.

Karsten möchte mitschreien, doch weitere Finger legen sich über seine Lippen, pressen den Schrei wieder hinein und seinen Kehlkopf hinunter. Finger, die sich samtig anfühlen, aber knallhart zudrücken.

Handschuhfinger.

Es brennt und sticht und tobt und schäumt in Karstens Eingeweiden.

Warum? Was? Wie? Weitere Fragewörter blitzen durch sein Hirn. Ein Schmäh ist das oder ein Scherz oder ein saublöder, ein damischer Witz.

Es tut so weh, dass er das Bild von seinem Mausi verliert, ja, er wäre sofort bereit, sie zu verlieren, zu verlassen, wenn nur diese grelle, heiße Qual ein Ende hätte.

»Servus«, sagt der Fremde ein drittes Mal und zieht das Ding aus Karstens Bauchmitte heraus.

Flupp, meint Karsten zu hören, aber er kann sich auch irren. Wie eine Reaktion auf diesen Vorgang löst sich auch Karstens bewusstes Schmerzempfinden von seinem tödlich verwundeten Körper und der unerträglichen Pein. Papier, das von einem Abziehbild gezogen wird. Er gibt nach, gibt sich hin, lässt sich fallen in die Arme des Fremden. Er gleitet in eine Blase der Schmerzlosigkeit.

Wer sind Sie? Warum machen Sie das? Die Sätze mit Fragezeichen, in astreinem Hochdeutsch haben sich klar in seinem Kopf gebildet.

»Wsswrms?«, kommt stattdessen über seine Lippen.

Dann werden Karstens Denkinhalte ein letztes Mal durcheinandergeschüttelt beim Abheben seines Körpers.

Hochgehoben wird er von dem schwarzen Mann.

Karsten kann spüren, wie seine Füße den festen Untergrund verlieren, wieder schwindelt ihn, doch diesmal ist nicht der Marillenschnaps daran schuld. Unten wird oben, und er wird seitlich übergestülpt, die Perspektive dreht sich. Statt Bergmassiv und Nachthimmel sieht er ein schwarzes Loch auf sich zukommen.

Nein, kein Loch, sondern dunkles, sich schnell bewegendes Nass. Wasser, schwarz und wild und nicht weniger tödlich, als das glitzernde Ding in seinem Bauch es war.

Eine Sekunde bevor Karsten aufschlägt und eintaucht, hat er doch noch einen wirklich allerletzten Gedanken. Die neue Packung mit den restlichen Zigaretten. Die werden in seiner Hosentasche völlig nass werden. Tatsächlich ein guter Zeitpunkt, um mit dem Rauchen ganz aufzuhören. Das wird sein Mausi freuen.

Servus und pfiat di und baba. Baba. Baba.

2

Es war dieser Moment.

Wenn er davon in Büchern las oder die Pupillen eines Sterbenden in Großaufnahme auf einer Kinoleinwand im neuesten Blockbuster vorgeführt bekam, überkam ihn immer ein leises Giggeln. Kein richtiges Lachen, denn in der Menge der anderen Kinobesucher wollte er nicht auffallen. Doch Giggeln ging, bei diesem Laut konnte sein Sitznachbar gemeinhin denken, sein Magen würde sich nach der riesigen Tüte Popcorn melden, die er schon am Beginn eines Filmes gern verschlang.

Gemeinhin.

Das erste seiner Lieblingswörter im Monat August.

Beim Frühstück im Hotel hatte er es an einem der Nachbartische aufgefangen, und wie alle seine Ohrwurmwörter war es hängen geblieben. Bis in die Nacht hinein hatte er es bereits in einige seiner Sätze eingebaut. Der Juli und mit ihm zehn auserkorene Lieblingswörter waren eingetütet, der August begann also mit »gemeinhin«.

In diesem schönen Ausdruck steckte der Begriff »gemein«, ohne dass die Bedeutung wirklich eine gemeine war. Es bezog sich auf »allgemein«, »Gemeinschaft«, »Gemeinde« und vieles mehr. Die Interpretationen gefielen ihm.

Dutzende Varianten konnte er damit bilden. Selbst zu diesem magischen Augenblick hatte es gepasst.

Magie des Sterbens.

Nicht das Erstarren der Pupillen, nicht das Ausbleiben des nächsten Atemzugs begeisterte ihn. Seltsamerweise atmeten sie alle immer noch einmal aus, bisher kein einziger Tod, wo nach dem Einatmen Schluss gewesen wäre. Manchmal, an stillen Orten, konnte er den Herzschlag hören, das schnelle Rasen, wenn die Angst ihn beschleunigte, das Galoppieren. Gefolgt vom Abschwellen, Langsamerwerden, bis zum letzten Klopfen. Eine individuelle Komposition des Abgangs, er hatte unterschiedliche Tempi herausgehört. Ebenso different gestaltete sich das Einsetzen der Schreie und ihre erreichbare Lautstärke, die er jedoch nur selten zulassen konnte.

Hier zeigte sich gemeinhin die Einzigartigkeit eines Individuums.

Wenn er länger keinen Auftrag annahm und seine Finger symbolisch juckten – »symbolisch« war eines seiner Lieblingswörter im Juli gewesen –, dachte er manchmal daran, ein Tier als Ersatz zu nehmen. Würde sich der verebbende Herzschlag einer Katze anders anhören als der eines Hundes oder eines Schafs? Aber dies blieb ein Gedankenspiel, er tötete niemals Tiere. Einer seiner Grundsätze. Nicht für alles Geld der Welt hätte er jemandes Nachbartöle beiseitegeschafft. Den Nachbarn ja, aber das Haustier niemals.

Es war also nicht der Blick, nicht der Herzschlag, nicht der Atem und schon gar nicht das Entweichen einer Seele. Auch wenn er an Gott in einer abstrakten Form glaubte, dachte er nie über ihn nach. Die Tötung eines Geschöpfes war Sünde, und deshalb ließ er alles göttlich Mahnende außen vor. Er hatte keine Seele je entweichen sehen. Vorher war der Mensch da, danach war der Mensch tot, das war es.

Was ihn betörte, war das Fallenlassen.

Dieses Erschlaffen nach der Anspannung in den Muskeln, im gesamten Körper. Das Loslassen nach dem Widerstand. Kämpfe hatte es nur zweimal gegeben, denn auch die Wütenden, sich Aufbäumenden kapitulierten und gaben sich ihm schließlich hin.

»Hingabe«.

Ein Wort, das er seit Jahren mochte.

Er empfand keine Zuneigung, kein Mitleid, nur der Moment wirkte, ließ die Zeit stillstehen und hallte nach. Die kurze Zweisamkeit, in der ein Mensch in seine Arme glitt. Oft blieben nur noch Sekunden, wenn er dieses Gleiten spürte. Und er verweigerte den Sterbenden nie ihre letzte Umklammerung.

Als Teenager hatte er in einem Buch über die Mythologie des Fährmanns Charon gelesen, der die Toten über den Styx hinüber in den Hades, die Unterwelt, brachte. Er selbst hob sie hinüber, wo und wie diese Welt nach dem Tod auch sein würde.

Auch Karsten Trinckas hatte losgelassen.

Als er Karstens erschlaffenden Körper in seinen Armen hielt, unter ihnen der Fluss und über ihnen die sternklare Augustnacht, war es fast, als würden sie einen Grundstein ihrer eigenen Mythologie setzen. Beide vereint an einem Knotenpunkt zwischen Leben und Tod.

Großartig.

Selten hatte er einen dermaßen romantischen Ort und eine perfektere Kulisse erlebt. Das Wasser rauschte, die Luft roch würzig. Ein lauer Wind zupfte an der Krempe seines Cowboyhutes, den er sich in einem der Souvenirläden gekauft hatte. Wie Fremdkörper hatten drei Exemplare zwischen Tirolerhüten und Kappen mit Edelweiß auf dem Verkaufsstand gelegen. Der Shop war voller Touristen gewesen, er hatte keine Sorge gehabt, dass ihn die verschwitzte Frau an der Kasse später möglicherweise beschreiben konnte.

Vor heute Nacht hatte er bereits drei Tage gewartet, immer wieder Möglichkeiten geprüft und Begegnungen vorüberziehen lassen.

Einmal wäre es auf der Herrentoilette neben dem Hotelempfang fast so weit gewesen. Als er jedoch am Urinal gestanden hatte, seinen Penis in der einen Hand, den Griff des Messers unter der Jacke mit der anderen bereits umfasst, hatte er es sich spontan anders überlegt. Vielleicht, weil er noch einen weiteren Tag in Kufstein verbringen wollte, ohne das Hotel wechseln zu müssen, vielleicht auch, weil Karsten Trinckas fröhlich neben ihm gepisst und gepfiffen hatte. Einen Mann in den Tod zu schicken, der gleichzeitig pisste und pfiff, war ihm nicht richtig vorgekommen.

Statt des Messers hatte er sein iPhone aus seiner dunkelblauen Jeansjacke mit der extra angenähten langen und verstärkten Innentasche herausgeholt. Mit Karsten ein Gespräch über die ständige Erreichbarkeit in der modernen Welt – selbst am Klo hatte man keine Ruhe – begonnen. Die Tür hinter ihnen hatte sich geöffnet, und drei weitere Herren hatten den Ort der Erleichterung aufgesucht. Wie immer hatte er instinktiv richtig gehandelt.

Viel besser war die Gelegenheit vorhin nach Verlassen der Bar gewesen. Wie einstudiert hatte sich Karsten schwankend auf die Brücke zubewegt, wie geplant hatte sich kein Mensch außer ihnen dort aufgehalten.

Er hatte den richtigen Zeitpunkt gefühlt.

Genau jetzt, hatte er gedacht, und sich einen Satz mit dem ersten Lieblingswort dieses Monats ausgedacht. Die Idee mit dem guten Gedanken war ihm ebenso zugeflogen. Eine letzte Fragestellung, die sich ab sofort öfter verwenden ließ.

Das Lüpfen des Hutes – wie ein Bonmot als Fußnote des Geschehens. Dazu das herrliche Grußwort »Servus«, das er in dieser Idylle, umgeben von den Tiroler Bergen, als absolut köstlich und passend empfand. Einzig der Geruch nach frischem Erbrochenen aus Karstens Mund hatte ihn gestört, doch diese Winzigkeit war leicht zu verdrängen.

Die Nachfrage zum Namen der Zielperson hätte er sich sparen können. Daran jedoch hielt er grundsätzlich fest, seit er vor ein paar Jahren einmal den falschen Bruder mit dem Messer beglückt hatte. Nein, der Mann war nicht unehrlich, sondern tatsächlich der ältere Bruder der Zielperson gewesen. Eine frappante Familienähnlichkeit und eine zu überstürzte Tötung in einem Hinterhof hatten der Verwechslung damals Vorschub geleistet.

Aber hatten nicht schon Chirurgen Patienten die falsche Niere entfernt, sogar das falsche Bein amputiert?

Seither fragte er.

Ja, es war Karsten Trinckas, und Karsten Trinckas machte ihm die Freude, sich schnell und problemlos töten zu lassen.

In dieser winzigen Zeitspanne des Auffangens von Karstens nachgebendem Körper war ihm, als sei er ein Wesen aus einer längst vergangenen Zeit, wiedergeboren in diesem Akt der Hingabe, gemeinhin mit einem »Servus« und einem seltsamen Hut ausgestattet. Ein Augenzwinkern der Ewigkeit.

Nur Bruchteile später hatte er sogar die neue Inspiration gehabt, die zu der Umgebung auf der Brücke hervorragend passte: Er hievte Karsten Trinckas hoch und warf ihn über das Geländer.

Perfekter ging es kaum.

Der Körper wurde flussabwärts getrieben, es konnte länger dauern, bis man ihn fand. Mit Glück würde die Polizei erst mal davon ausgehen, dass der Mann im betrunkenen Zustand in den Inn gestürzt war. Auch ein möglicher Suizid konnte nicht ausgeschlossen werden. Zwar würde im weiteren Verlauf der Rechtsmediziner an der Wasserleiche von Karsten Trinckas die Stichwunde entdecken, aber damit lag ein Raubüberfall oder ein Streit unter Betrunkenen nahe. Das Wasser würde alle Spuren wegschwemmen, der Körper aufgedunsen und durchweicht gefunden werden.

»Aufgedunsen«, ebenso ein schönes Wort, aber im alltäglichen Sprachgebrauch nicht gut zu verwenden. Der August hatte erst begonnen, es würden noch einige prächtige Formulierungen auftauchen.

Zeit zu gehen.

Wenn ihn jemand auf seinem Rückweg ins Hotel in den nächtlichen Straßen sehen würde und sich später im Zusammenhang mit dem Toten im Fluss überhaupt daran erinnern mochte, dann schützte ihn das neue auffällige Accessoire. Keiner sah einem Mann zuerst ins Gesicht, wenn der einen Cowboyhut mit breiter Krempe trug.

Am liebsten hätte er sich selbst auf die Schulter geklopft. Nach den letzten Wochen tat ihm der heutige Auftrag gut, endlich fühlte er wieder den Flow.

Eine letzte Geste als Anerkennung seiner Leistung musste sein.

Er überlegte kurz, und statt den Hut ein drittes Mal zu lüften, tippte er mit dem Finger an den Rand der Krempe und drehte seinen Kopf vom Wasser Richtung Brückengeländer.

Die junge Frau stand höchstens drei Meter von ihm entfernt. Im Licht der Laterne schien ihr Haar von einem Feenkranz umgeben zu sein.

Die perfekte Nacht kippte, rutschte, klatschte ebenso ins Wasser wie Karsten Trinckas.

Der Mund der jungen Frau stand offen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Nichts an ihr bewegte sich.

»Salzsäule«, fiel ihm dazu ein.

Ebenfalls eine schöne Bezeichnung.

3

»Maria Konstanze Schlager heiß ich, aber ich werde Mitzi genannt. Mitzi!«

»Ihr Rufname spielt hier keine Rolle, Frau Schlager. Haben Sie denn einen Ausweis bei sich?«

»Der is in der Wohnung, Frau Inspektor.«

»Sie sind aus der Stadt?«

»Nein, ich wohne quasi als Feriengast in Kufstein.«

»Quasi?«

»Also, ich meine, ich hab die Wohnung über Airbnb gebucht. Ich mach das hin und wieder. Ich bin nicht so ein Hotelfan, weil ich lieber selber koche und es nicht so anonym ist. Auch günstiger. Solche Wohnungen sind unglaublich interessant. Man entdeckt vieles, was dem eigentlichen Bewohner gar nicht mehr auffällt. Wie gestern einen getrockneten Seestern hinter einem Regal. Toll, was? Aber nicht, dass Sie jetzt denken, ich würde die Zimmer durchsuchen.«

»Darum geht es doch überhaupt nicht, Frau Schlager.«

»Schon klar, ich wollte es nur klarstellen. Ich wohne in der Krankenhausgasse, hinter der Franz-Josef-Straße, dort beim Kreisverkehr, wo auch der Stadtpark ist, wenn Sie den kennen.«

»Ich weiß, wo das ist.«

»Krankenhausgasse, das hat schon im Internet komisch geklungen. Der Park is so schön, da setz ich mich öfter hin und lese. Auch der Kinderspielplatz mit der bunten Röhrenrutsche gefällt mir.«

»Frau Schlager, wir überprüfen Ihre Aussage. Jetzt bitte zum Punkt: Sie haben nicht nur die Polizei und die Rettung, sondern auch den Hausarzt-Notdienst Salzburg angerufen.«

»Den hatte ich gespeichert, weil ich von dort herkomme. Nicht herstamme, nein, ich bin dort nicht geboren, auch nicht aufgewachsen, aber ich wohne dort. Ich könnte überall leben, aber jetzt is es Salzburg. Also eigentlich bin ich selbstständig und korrigiere Texte. Manchmal Doktorarbeiten oder Abhandlungen, auch Manuskripte und Aufsätze. Darin bin ich echt gut. Ich spür die Fehler im Text richtig in meinem Bauch. Beistriche sind meine Leidenschaft. Auch ein Kinderbuch hab ich korrigiert, das besonders gern, das is schon länger her. Aber egal.«

»Stopp, Frau Schlager, bitte konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche.«

»Entschuldigen Sie. Ich hab den Hausarzt-Notdienst extra gewählt, weil ich mir nicht sicher war, ob von Ihnen gleich jemand reagieren würde.«

»Sie haben einen Notfall gemeldet. Natürlich erscheinen wir.«

»Trotzdem. Es brennt ja nicht, keiner is überfallen worden. Deshalb hab ich gedacht, ich sag beim Notdienst, mir geht’s nicht so gut. Und mir geht es ja auch wirklich nicht gut. Wobei die nicht bis Kufstein fahren würden. Eigentlich eh klar. Aber in meiner Verwirrung hab ich daran nicht gedacht.«

»Sie haben vorhin angegeben, dass jemand in den Inn gestürzt ist. Das wäre Notfall genug.«

»Ja, aber eben nicht meine eigene Not. Ich meine, wenn ich in den Inn gefallen wäre, hätte ich ohnehin mein Handy nicht mehr benutzen können.«

»Da haben Sie wohl recht.«

»Mein Gott, wie Sie vorhin mit Blaulicht und Sirene hergerast sind. Da schauen Sie, in vielen Fenstern ist das Licht angegangen. Leute kommen auch schon aus den Häusern heraus.«

»Frau Schlager, nehmen Sie sich zusammen. Wer braucht Hilfe?«

»Sie müssen sofort zu suchen anfangen. Falls er nicht schwimmen kann, is es noch gefährlicher.«

»Bitte, ganz ruhig, Frau Schlager. Sehen Sie, der Sanitäter hat eine Decke für Sie.«

»Aber mir is doch warm. Nach all dem ist mir sogar schrecklich heiß, Frau Inspektor. Gleich muss ich weinen, und wenn das losgeht, kann ich nicht mehr aufhören. Auf geht’s, finden Sie den, der ins Wasser hinein is.«

»Ihr Freund? Ihr Mann? Ein Bekannter?«

»Nein und nein. Und nein.«

»Noch mal von vorne. Sie sind an die Brücke gekommen und haben beobachtet, wie sich ein Mann in den Fluss gestürzt hat. Ist der Vorgang so abgelaufen? Ja oder nein? Ich muss bei der Wasserschutzpolizei Alarm schlagen. Im Ernstfall zählt jede Sekunde.«

»Geworfen wurde der. Kopfüber ins Wasser geworfen. Von einem Cowboy.«

»Frau Schlager. Sie haben meinem Kollegen, dann dem Sanitäter und jetzt mir jeweils eine andere Version erzählt. Einmal waren es zwei, die ineinander verschlungen über das Geländer gesprungen sind, dann ein Mann ohne Gesicht, der aus dem Wasser herausgestiegen ist, und jetzt ein Cowboy, der jemanden übers Geländer geworfen hat. Was ist wirklich passiert?«

»Einer is ins Wasser.«

»Ein Suizid?«

»Nein, kein Selbstmord. Der hat nicht so ausgesehen, als wäre er gerne hinein.«

»Frau Schlager, haben Sie im Laufe dieses Abends zu viel getrunken oder Drogen genommen?«

»Nein.«

»Ich kann einen Bluttest anordnen.«

»Ich war nur spazieren.«

»Mitten in der Nacht? Allein? Wo ist Ihr Freund oder Ihr Mann?«

»In Salzburg. Der Freddy is nur mein Freund, wir werden nicht heiraten, so gut passt es nicht. Er wollte erst mit, dann hatte er doch zu tun, und ich bin allein los.«

»Freunde? Eltern? Geschwister?«

»Bin ganz allein hier. So was macht mir nichts aus.«

»Sie machen also allein Urlaub in Kufstein?«

»Ja.«

»Sie laufen auch öfter allein nachts durch die Straßen?«

»Ich bin erst seit drei Tagen hier, heute war es das erste Mal, dass ich nicht schlafen konnte, und da lauf ich gern los.«

»Sollen wir Ihren Freund verständigen?«

»Nein. Der braucht seinen Schlaf. Er is auch oft unterwegs, im Außendienst. Verkauft Nahrungsergänzungsmittel. Erfolgreich.«

»Jemand anders, den ich verständigen kann? Ein Familienmitglied in Salzburg?«

»Ich bin Steirerin. Familie is nur meine Oma. Aber mir wäre lieber, Sie suchen den Mann, der –«

»Schon klar, Frau Schlager.«

»Wow, die Menschentraube hinter der Brücke wird immer größer.«

»Ja, die verdammten Schaulustigen. Bastian, hallo, bitte stell das Blaulicht ab. Und treib die Leute auseinander, ja?«

»Haben Sie hier das Sagen, Frau Inspektor?«

»Nein, habe ich nicht. Sie können gerne Agnes zu mir sagen.«

»Bitte, Agnes, suchen Sie den, der ins Wasser is.«

»Mitzi. Mein Kollege und ich, wir waren vorhin an der Stelle, die Sie uns bei unserer Ankunft gezeigt haben. Dort ist nichts zu sehen. Dazu Ihre drei Versionen einer Geschichte. Und Sie haben gelacht, als wir angekommen sind.«

»Ich muss manchmal heftig lachen, wenn mich etwas sehr aufregt.«

»Ehrlich! Haben Sie sich einen saudummen Scherz mit uns erlaubt? Das kommt leider öfter vor und ist eine Straftat.«

»Nein, Agnes, nein. Es ist so: Wenn ich schlecht träume oder mich etwas total erschreckt, dann beruhigt mich Lachen. Dabei denke ich mir alternative Wege aus.«

»Frau Schlager! Konzentration!«

»Der Mann, der in den Fluss gefallen is, das war so furchtbar. So unfassbar. Ich bin dort gestanden und konnt mich nicht bewegen. Bis der andere weggegangen ist.«

»Der Täter.«

»Genau. Ein großer Cowboy. Wie in ›Spiel mir das Lied vom Tod‹ oder in den Clint-Eastwood-Filmen.«

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«

»Oh Gott, ja doch. Ich schwöre es. Schwöre.«

»Mitzi. Kommen Sie mit mir mit.«

»Wohin?«

»Wir gehen jetzt gemeinsam noch mal auf die Brücke.«

»Ich trau mich nicht. Der Cowboy könnte noch da sein.«

»Sie machen es mir nicht leicht.«

»Ich weiß.«

»Schauen Sie her. Das ist meine Dienstwaffe.«

»Wahnsinn.«

»Nein, Mitzi, nicht Wahnsinn, sondern für meinen Beruf erforderlich. Ich zeige sie Ihnen, damit Sie wissen, es kann nichts geschehen, wenn wir dorthin gehen. Kommen Sie.«

»Gut, Frau Inspektor.«

»So ist es gut. Jetzt erzählen Sie mir alles noch einmal. Halten Sie sich am Geländer und auch an der Wahrheit fest. Geht beides?«

»Klingt schön. Sich an der Wahrheit festhalten.«

»Reden Sie.«

»Also, ich bin aus der Wohnung hinaus, weil ich nicht schlafen konnte. Ich wollte spazieren gehen, Kufstein ist ja eine lebendige Stadt, in der Nacht is was los. Hab ich zumindest gedacht. Ich bin zur Fußgängerzone. Aber dort war alles recht still. Sind alle in ihren Betten. Dann hab ich den Sternenhimmel über der Festung gesehen und überlegt, unten am Inn muss der Himmel noch viel toller aussehen. Dazu die Berge im Dunklen, wie versteinerte schwarze Raben. Ich bin einmal über die Brücke, weil ich zum Bahnhof wollt.«

»Warum zum Bahnhof?«

»Ich mag Bahnhöfe, ich mag Züge. Ich mag auch, wenn es an solchen sonst so belebten Orten einmal still ist. Wie mitten in der Nacht. Aber dort war es nicht ruhig. Ein paar Betrunkene haben gesungen. Deshalb bin ich zurück.«

»So, hier sind wir. An genau der Stelle. Was ist dann passiert?«

»Nichts. Ich wollt zurück. Bin auf die Brücke. Genau hier, wo wir jetzt stehen, waren zwei Männer.«

»Also zwei?«

»Einer hat den anderen gehalten. Ich hab gedacht, schau her, ein Liebespaar. Deshalb bin ich ganz langsam und ganz leise gegangen. Dann bin ich stehen geblieben, ich weiß nicht, warum. In dem Moment hat der eine den anderen hochgehoben und über das Geländer geworfen. Stark war der. Und einen Cowboyhut hatte er auf. Solche gibt es zu kaufen, hab ich gestern gesehen.«

»Weiter, Mitzi.«

»Ich hab gehört, wie es geplatscht hat. Im Wasser. Der Cowboy hat den Kopf gedreht und mich hier stehen sehen. Ich hab mich keinen Millimeter bewegt.«

»Warum sind Sie nicht geflüchtet? Wenn der Mann gerade einen anderen über das Geländer geworfen hat, hätte er Sie angreifen können, weil Sie doch eine Zeugin seiner Tat geworden sind.«

»Hat er aber nicht. Er hat nur geschaut. Also, er hat mich angesehen. Meine ich zumindest. Wissen Sie, Agnes, durch den Hut hat die Laterne sein Gesicht nicht erhellen können. Es hat ganz schwarz ausgesehen. Es war gruselig. Eine Zeit lang ist nichts passiert, überhaupt nichts. Dann hat er seine Hand gehoben und mit dem Finger an die Krempe getippt, bevor er verschwunden is. Erst in dem Moment hab ich Panik bekommen. Ich bin losgerannt, bis zum Ende der Brücke. Von dort aus hab ich Sie alle angerufen. Gut, dass ich mein Handy dabeihatte.«

»Das Ganze hört sich immer noch etwas phantastisch an, Mitzi.«

»Agnes, drehen Sie sich bitte um. Ihr Kollege winkt wie blöd nach Ihnen.«

»Warten Sie hier, ich bin sofort wieder bei Ihnen.«

»Darf ich mit zurück? Bitte. Ich hab immer noch Angst.«

»Na gut, kommen Sie. Schnell. Bastian, was gibt es?«

»Agnes, eben is eine Vermisstenmeldung hereingekommen. Eine Frau wartet seit Stunden im Hotel auf ihren Mann oder Freund, er wollte nur schnell Zigaretten holen. Schließlich hat sie die Nerven verloren, und der Nachtportier aus dem ›Goldenen Löwen‹ hat die Polizei verständigt.«

»Glauben Sie mir jetzt, Agnes?«

4

In den Urlaubstagen, die Mitzi bisher in Kufstein verbracht hatte, hatte sich bereits ein Gewohnheitsplatz herauskristallisiert.

Die Sitzbank gegenüber der Post.

Solche Entscheidungen traf sie an fremden Orten so rasch wie möglich, es half ihr, sich zu verankern.

Die Bank war vor einem Brunnen am Oberen Stadtplatz platziert, auf dem sich zwei kupferne Fische kreuzten und Wasser spuckten. Dahinter führte eine Gasse zur Festung hoch. Dort eine Rast einzulegen und die Menschen zu beobachten, die bei der Poststation ein und aus gingen, hatte sie schon am ersten Nachmittag gemocht. In der Hand ein Eis oder ein kühles Getränk, neben ihr das Gemurmel des Wassers, überall um sie das geschäftige Treiben der Touristenschwärme.

Dorthin trieb es sie auch an diesem Tag eins nach dem unheimlichen und schockierenden Erlebnis.

Wenn sie nach rechts blickte, konnte sie auf der anderen Straßenseite das Hotel sehen, in dem der Mann gewohnt hatte, der in den Inn gestürzt war. Zumindest laut ersten Medienberichten. Eigentlich musste es heißen: der Mann, der in den Fluss geworfen worden war.

Fünf Stunden nach ihren Anrufen und ihrem Gespräch mit der Inspektorin hatten sie ihn gefunden. Den ertrunkenen Touristen Karsten T.

Zu der Zeit hatte Mitzi bereits wieder in ihrem Bett gelegen. Schlaflos und auf ihrem Smartphone ein Sudoku nach dem andern lösend, den Fernseher die ganze Nacht an, um sich abzulenken. Später beim Frühstück war das Geschehen eine Schlagzeile in den News geworden: »Deutscher Tirol-Tourist ertrinkt im Inn«.

Noch wurde nichts von einem Mord bekannt gegeben.

Mitzi fragte sich, ob es daran lag, dass man ihr immer noch nicht glaubte und ihre Geschichte von dem schwarzen Cowboy anzweifelte, oder ob es eine Nachrichtensperre gab, bis man Gewissheit hatte. Davon war in den TV-Krimis oft die Rede, damit sich der Täter in Sicherheit wiegen sollte. Gab es hier überhaupt schon einen solchen Hauptverdächtigen? Suchten die Beamten nach einem Kerl mit einem Cowboyhut auf seinem Kopf?

Je mehr Zeit verging, desto mehr zweifelte Mitzi an sich selbst und ihrer Aussage. Was genau hatte sie gesehen in der Dunkelheit, in dieser einen Minute des Schreckens? Je öfter sie überlegte und rekapitulierte, desto verschwommener wurde der Ablauf. Sie hatte die Polizei gerufen, weil sie Zeugin eines Verbrechens geworden war, ein Mensch war zu Tode gekommen.

Immerhin diese Tatsache stand inzwischen unwiderruflich fest.

Wie dumm sie sich angestellt hatte. Schon bei der ersten Befragung durch Agnes’ Kollegen und ihrer Beschreibung, »ein großer, dunkler Mann mit einem Cowboyhut, der den anderen hoch über das Geländer gehoben hat«, hatte sie begonnen, die Tatsachen zu verdrehen und umzugestalten, um das Geschehen dem Polizeibeamten noch greller vor Augen zu führen. Sie hatte das Gefühl gehabt, er würde ihr sonst keinen Glauben schenken. Ihr Hang zum Geschichtenerzählen konnte manchmal übermächtig werden, dann ließ sie sich von ihren eigenen Phantasien täuschen.

Wenigstens hatte ihr danach die Inspektorin zugehört.

Agnes, hübscher Name. Wie freundlich sie geblieben war. Eine angenehme, beruhigende Stimme. Ohne Tiroler Dialekt. Vielleicht stammte sie nicht von hier oder hatte hierher geheiratet. Mitzi hätte gern länger mit ihr geplaudert, aber nachdem klar war, dass es tatsächlich um einen Notfall ging, war der Trubel erst richtig losgegangen.

Sie scrollte durch die Online-Nachrichten auf ihrem Smartphone. Keine weiteren Neuigkeiten über den Ertrunkenen.

Neben Mitzi kam ein alter Mann zum Sitzen. Er roch intensiv nach Käse und zu lange getragenen Socken. Seine Kleidung war schmutzig, sein Haar zerzaust.

»Na, Puppi?« Ein zahnloses Grinsen kam zu ihr herüber. »Wärst du was für mich?«

Sofort konnte sich Mitzi sehen, wie sie neben dem heruntergekommenen Alten durch den Gang einer Kirche zum Altar schritt, in einem weißen Spitzenkleid und einen Blütenkranz im Haar. Ihr Bräutigam, der Verwahrloste, genauso angezogen und stinkend wie jetzt auf der Bank neben ihr, wartete vorn am Altar beim Priester. Sie trug keine Schuhe und konnte unter ihren Fußsohlen den kalten Marmor fühlen. Die Gäste kannte sie nicht. Doch eine, Agnes, war gekommen. Galt Mitzi als Verdächtige, und die Inspektorin war zu ihrer Hochzeit erschienen, um sie an einer möglichen Flucht aus Kufstein zu hindern? Aber der Cowboy war der eigentliche Täter. Auch er unter der Hochzeitsgesellschaft, seinen Hut auf den Knien, um unerkannt zu bleiben.

Mitzis Smartphone vibrierte. Sie zuckte zusammen, stand auf und ließ die Bank hinter sich. Dieser Platz war ab sofort verdorben.

»Fesches Dirndl, du. Hast wenigstens einen Schilling für mich?«, rief der Alte ihr gackernd hinterher. »Lire oder D-Mark nehm ich auch, Puppi.«

Mitzi drehte sich um, stolperte über das Kopfsteinpflaster am Gehweg, ließ fast ihr Handy fallen. Während sie den Anruf annahm, lief sie weiter auf die Fußgängerzone zu.

»Ja, bitte?«

»Frau Schlager? Hier spricht Inspektorin Agnes Kirschnagel.«

»Oh, ich hab eben an Sie denken müssen.«

Mitzi würde ihr nicht erzählen, in welchem Zusammenhang, doch solche Zufälle liebte sie. An jemanden denken und er meldete sich. Von einem neuen Café hören und daran vorbeilaufen. Sich etwas wünschen und es bekommen, wenn auch meistens nicht so, wie sie es sich ausgemalt hatte. Trotzdem, besser als nichts.

»Wie geht es Ihnen heute, Mitzi?«

»Na ja, geht so. Ich bin unterwegs.«

»Sie haben Kufstein verlassen?«

»Nein, natürlich nicht. Laut Ihren Anweisungen muss ich doch noch bleiben. Und eigentlich hat mein Urlaub erst begonnen. Wie sieht es denn aus? Is der eine nun von dem anderen ermordet worden? Hat diesem Karsten T., oder wie der heißen mag, der Wurf ins Wasser den Garaus gemacht? Im Internet steht, dass er Deutscher war. Ein Tourist, wie ich auch.«

Bei all dem Schrecken fühlte es sich ein wenig aufregend an, in einen Kriminalfall verwickelt zu sein. Noch hatte Mitzi ihrem Freund Freddy nichts davon berichtet, sie wollte ihn während seiner Verkaufstour nicht beunruhigen. Lange jedoch würde sie sich nicht mehr beherrschen können.

»Die genaue Todesursache wird untersucht, zu einem laufenden Verfahren darf ich keine Auskunft geben.«

»Entschuldigen Sie meine Neugier.«

»Alles gut, Frau Schlager. Wir haben möglicherweise einen ersten Verdächtigen.«

Mitzi blieb vor einer Auslage stehen, ihr fiel ein Stein vom Herzen. Die Tiroler Ermittler hatten den Täter aufgespürt.

Schneller als gedacht würde sie ihr Erlebnis zu einem Abschluss bringen können. Frei von einer möglichen Mitschuld.

In der Nacht war sie von einem Streifenpolizisten zurück in ihre Ferienwohnung gebracht worden, der sich ihren Ausweis hatte zeigen lassen. Gott sei Dank hatte sie das Kärtchen rasch gefunden. Doch als der Beamte mit der Andeutung, dass eine Mittäterschaft einer Zeugin nie ausgeschlossen wurde, die Kennnummer notiert hatte, war ihr schummrig geworden.

»Soll ich versuchen, ihn wiederzuerkennen, Agnes?«

»Genau, Mitzi. Es geht um eine Gegenüberstellung. Ich würde Sie um halb zwei bei Ihrer Ferienwohnung abholen.«

»Das is echt lieb, aber nein. Ich laufe hier noch rum. Muss mir ein bisserl den Kopf auslüften und komme dann direkt zu Ihnen.«

Mitzi ließ sich zur Sicherheit noch mal die Adresse der Polizeiinspektion Kufstein geben und sagte zu, um Punkt vierzehn Uhr dort zu sein.

Kaum war der Anruf vorbei, tauchte die Phantasie in der Kirche wieder auf, nur dass sie diesmal in einem roten Kleid dem Cowboy zu ihrer Trauung entgegenschritt.

Stopp. Keine Bilder mehr. Die Realität war nervenaufreibend genug.

Ihrer Oma hätte Mitzi gern sofort davon erzählt. Aber seit dem letzten Demenzschub vor einem halben Jahr und der endgültigen Einweisung ins Heim konnte sie mit ihrer Großmutter höchstens übers Wetter reden. Manchmal über deren Schulzeit während des Krieges oder darüber, wie sie und Opa sich kennengelernt hatten. Die Zeit danach war aus dem Kopf der alten Frau gelöscht. Zusammen mit allen Menschen, die sie geliebt und verloren hatte.

Selbst ihre Enkelin Mitzi kam darin bis auf eine oder zwei Ausnahmen nicht mehr vor. Eine Fremde für Oma zu sein war ein echter Graus. Aber wenigstens gab es Therese Schlager auf dieser Welt noch. An ihren Tod mochte Mitzi überhaupt nicht denken.

Trotz der sommerlichen Hitze wurde ihr kalt, und sie rieb sich die Oberarme.

Grausig war es auch nachts auf der Brücke gewesen.

Sie meinte immer noch das Aufklatschen des Körpers auf dem Wasser zu hören. Das Gesicht des Täters war in ihrer Erinnerung ein schwarzer Fleck, einem Tintenklecks gleich, der jede Form annehmen konnte. Wenn sie dem Mann in wenigen Stunden gegenüberstand, würde dann die Erinnerung zurückkommen? Was, wenn er durch ihre Gedächtnislücke nicht überführt werden konnte, ihr später nachstellte und sich, wie eben der Alte, morgen oder übermorgen mit einem »Na, Puppi?« neben sie setzen würde? Nein, die Verdächtigen bekamen die Zeugen nicht zu Gesicht, auch das wusste sie aus den TV-Krimis.

Mitzi sah auf ihr Smartphone. Noch hatte sie Zeit bis zur Gegenüberstellung.

Eine Ablenkung war dringend nötig.

Sie hatte vor einem Café angehalten, in dem es auch Bücher gab. Oder war es eine Buchhandlung, in der man einen Kaffee trinken konnte? »Buchcafé im Lippotthaus« stand über dem Laden. Die perfekte Zerstreuung. Kaffee konnte sie immer und überall trinken. Dazu in Büchern stöbern, das würde die Wartezeit, bis sie auf die Polizeiwache musste, verkürzen und ihr Kopfkino im Zaum halten.

Im Innenraum war es angenehm kühl. Der August hatte heiß und trocken begonnen, die Temperaturen kletterten über dreißig Grad.

»Schönen guten Morgen, Fräulein.« Eine rundliche Frau kam auf sie zu. »Herzlich willkommen im Buchcafé.«

Mitzi sah sich um. Vorne einige Tische und Sessel. Ein Stück dahinter eine Theke, darauf die Kaffeemaschine und eine Kuchenauswahl unter einer Glashaube. Seitlich ein erstes Bücherregal. Die Bücherwand zog sich weit in die Räumlichkeit hinein. Bis an die gewölbte Decke hoch stapelte sich Buch um Buch. Sofort speicherte sie das Café als ihren neuen Gewohnheitsort ab.

»Einen Verlängerten, bitte. Schön is es hier.«

»Wir sind auch sehr stolz auf unser Buchcafé. Einen selbst gemachten Kuchen dazu oder ein spätes Frühstück?«

»Danke. Vielleicht später, zuerst schau ich mich um.«

Mitzi ging die Regale entlang und blieb bei den Kinderbüchern stehen.

In Buchhandlungen führte sie ihr erster Weg immer zu den bunten Werken und den phantastischen Geschichten, die darin verborgen lagen. Für ein schönes Kinder- oder Jugendbuch ist man nie zu alt, dachte sie. Ihre Großeltern hatten sie, seit sie sich erinnern konnte, mit Büchern gefüttert, um ihr alles leichter zu machen. Die kleine Mitzi war unendlich oft auf Drachen geflogen, hatte mit Piraten gekämpft oder später mit den »Drei Fragezeichen« unlösbare Rätsel geknackt. Die kleine Mitzi, die dabei vergessen konnte.

»Servus.«

Mitzi sah von dem Buch auf, das sie eben durchzublättern begonnen hatte. Für eine Sekunde meinte sie, der stinkende Alte wäre ihr gefolgt, aber neben ihr stand ein Mann, der zwar nicht mehr ganz jung, aber auch noch kein Greis war. Er roch angenehm, und sein Lächeln war breit und erfrischend. Sein dunkles Haar war voll und zeigte an den Schläfen graue Fäden.

»Sie sehen zwar sehr jung aus, aber über die Raupe Nimmersatt sind Sie doch schon hinaus?«

Mitzi musste automatisch lächeln. »Ich könnt doch schon selbst ein paar Kinder haben.«

»Haben Sie?«

»Nein.«

»Wenn etwas zu Ihnen passt, dann die ›Twilight Saga‹. Geschichten über Vampire und Werwölfe. Ich wette, die Bücher haben Sie mehrmals gelesen. Und sich die Verfilmungen angesehen.«

Mitzi fühlte sich ertappt, denn die »Twilight«-Storys hatte sie verschlungen. Die Filme auch. Doch ging das einen völlig Fremden eigentlich nichts an. Statt einer Antwort klappte sie das Kinderbuch mit einem Klatschen zu.

Der Mann machte einen Schritt nach hinten.

»Entschuldigen Sie, ich habe Sie einfach angequatscht. Das ist sonst nicht meine Art. Guten Tag noch. Oder viel schöner formuliert: Servus!«

Er ging zurück Richtung Kaffeetische. Mitzi sah ihm nach. Mit einem Mal kam der Wunsch in ihr hoch, ihm hinterherzulaufen und ihm von der Nacht zu erzählen, den schlaflosen Stunden hinterher, dem Morgen am Brunnen, von dem Alten mit seinem »Puppi!« und der bevorstehenden Gegenüberstellung. Sie würde ihn festhalten, und er musste ihr zuhören. Der würde Augen machen.

Sie wunderte sich über dieses starke Bedürfnis, sich mitzuteilen. Mitzi war es gewohnt, allein zu sein. Ihre Erlebnisse teilte sie mit sich und dem Raum um sich herum. In ihrer Glaskugel, die sie gewählt hatte und in der sie es vorzog zu bleiben. Darin gab es kein Gegenüber, kein Miteinander.

Freddy und sie lebten mehr nebeneinander her. Nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Und wann war Freddy schon mal mehr als eine Woche von seinen Touren zu Hause? Sonst hatte sie keine echten Freunde. Eher Bekannte. Entfernte Verwandte. Natürlich die Oma, aber die war nicht mehr richtig sie selbst.

Hier schloss sich der Kreis.

Meistens reichte Mitzi das Kopfkino, aber heute lag ein Kribbeln auf ihrer Zunge, und sie hätte sich gern dem Fremden anvertraut, der sofort ihre Begeisterung für Bella und Edward erraten hatte.

Vielleicht könnte sie ihn zu einem Kaffee einladen. Die Zeit überbrücken mit diesem unbekannten Gesprächsmenschen. Selbst wenn sie nicht direkt von ihrem Erlebnis berichten würde, könnte sie über andere Dinge reden. Wie zum Beispiel über die Merkwürdigkeit, dass man im Andenkenladen hier in der Fußgängerzone neben Tirolerhüten auch Cowboyhüte kaufen konnte.

Ob die Polizei dieser Information schon nachgegangen war?

Der Servus-Mann war bereits an der Eingangstür, die bei dem herrlichen Wetter offen stand. Das helle Licht ließ ihn leuchten. Er drehte sich zu Mitzi um und tippte sich an die Krempe eines imaginären Hutes.

Es war lange her.

Mitzi vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Ihre Eltern und ihr Bruder noch am Leben. Auch ein heißer Sommer. Damals lebte die Familie in Graz, war aber bei den Großeltern in Leibnitz auf Besuch.

Der Großvater hatte für Mitzi und Benni einen kleinen Kinderpool vor dem Haus aufgeblasen. Mit dem Blasebalg, der den kleinen Bruder immer erschreckte. Jedes Mal sprintete Benni davon, wenn Opa darauftrat, um Sekunden später glucksend wiederzukommen. Was für ein Spaß. Dann hatten sie zusammen das Wasser eingelassen. Mitzi hatte geduldig gewartet, weil sie zuerst hineinspringen wollte und man nur springen durfte, wenn genug Wasser im Becken war. »Los jetzt!«, hatte Opa gesagt, und Mitzi hatte die Augen zugemacht und sich über den Rand fallen lassen. Es war so heiß gewesen, und sie hatte sich auf die Abkühlung gefreut.

Doch als sie ins Wasser eingetaucht war, hatte die Kälte bei ihr eingeschlagen wie ein eisiger Blitz. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Herz war stehen geblieben, und sie wusste noch, dass sie gedacht hatte, so, jetzt bin ich mausetot, weil ich gefroren bin. Eis am Stiel. Eine Sekunde später hatte ihr Herz seinen nächsten Schlag getan, eine weitere Sekunde danach war ihr Bruder neben ihr hineingestolpert. Mama war dazugekommen, für jeden von ihnen ein echtes Eis am Stiel in der Hand.

Damals.

Heute und jetzt überrollte sie wieder eine Eiseskälte, und sie gefror im Stehen.

Der Servus-Mann war der Cowboy von der Brücke.

Mitzi wusste es. Ihr Herz setzte nicht aus, machte aber einen Sprung, noch einen, bis es seinen normalen Rhythmus wieder annahm.

»Ihr Verlängerter ist fertig, Fräulein.«

Die Buchhändlerin und Cafézubereiterin in einem tauchte vor Mitzi auf und versperrte ihr die Sicht. Mitzi machte einen Schritt zur Seite, doch an der Tür war niemand mehr.

»Nehmen S’ Ihnen ein Buch zum Reinlesen dazu. Wenn S’ Zeit dazu haben.«

»Hab ich, danke«, sagte Mitzi, und ihre Stimme klang wie immer.

Erstaunlich.

In ihrem Kopf fühlten sich die Gedanken immer noch wie Eissplitter an. Sollte sie ihr Smartphone zücken und wieder die Polizei, die Rettung und den Hausarzt-Notruf Salzburg verständigen? Jetzt direkt zur Inspektorin Kirschnagel rennen und Agnes um Polizeischutz bitten? Nein. Schon in der Nacht hatte die Polizei sie anfangs nicht ernst nehmen wollen. Genauso würde es jetzt wieder sein.

Panik zeigte sich an den Rändern.

Pscht, flüsterte eine Stimme. Es war die ihrer Großmutter, wenn auch nicht real, aber in Mitzis Kopf noch gesund und liebevoll wie früher. Ganz ruhig weiteratmen. Nix überstürzen.

Oma hatte recht, wie immer. Lieber einen Kaffee und ein schönes Buch zur Beruhigung und am frühen Nachmittag aufs Revier. Bis dahin würde sich Mitzi wieder gefasst und überlegt haben, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Wie sie es am besten formulieren konnte, ohne eine neue Geschichte um das Zusammentreffen zu erfinden.

Um vierzehn Uhr würde sie auf der Polizeiinspektion Kufstein jedenfalls nicht dem Täter gegenüberstehen. So viel stand bereits fest.

5

Agnes Kirschnagel war unzufrieden.

Sie stand auf der Rückseite der Polizeiinspektion im Schatten und rauchte. Seit Monaten wollte sie sich ihr Laster abgewöhnen, aber das Vorhaben brachte ein dauerhaftes Scheitern mit sich.

Auch Karsten Trinckas hatte seiner Freundin versprochen, seinen Zigarettenkonsum einzustellen, obwohl er höchstens fünf am Tag geraucht hatte. So stand es unter anderem in der Aussage der verstörten Partnerin des Toten. Agnes konsumierte mehr, besonders an stressigen und langen Tagen wie diesem.

Die Hitze hatte gegen Nachmittag zugenommen und strebte einem neuen Rekord entgegen. Abends waren Gewitter angesagt, die Bergwacht hatte eine Warnung für Wanderer ausgegeben. Trotzdem war davon auszugehen, dass ein paar unbeirrbare Touristen aus einer Steilwand oder von einem Gipfel gerettet werden mussten.

Idioten, egal, welcher Nationalität.

Agnes selbst hatte Höhenangst, ein Witz, wenn man in einer Stadt lebte und arbeitete, die von Bergen umgeben war. Ihr wurde bereits schlecht, wenn sie auf die Festung hinaufstieg und von oben hinunterschaute.

Es mochte daran liegen, dass sie in einer Familie aufgewachsen war, die geistige Werte mehr schätzte als die Natur. Ihre Mutter führte in ihrer Freizeit einen literarischen Zirkel, und die Wochenenden hatten aus intellektuellen Diskussionen im Bekanntenkreis bestanden. Ihr Vater, der Buchhalter, bewunderte seine belesene Frau, und Agnes’ Schwester Katja war ein Zwitterwesen zwischen Buch und Buchhaltung, immer vergraben in Lektüre oder Zahlen. In Innsbruck, der Heimatstadt der Kirschnagels, hatten die Familienausflüge ins Museum statt in die Berge geführt.

Nur Agnes hatte beruflich einen anderen Weg gewählt. Sie galt innerfamiliär als das schwarze Schaf oder, liebevoller, als die abenteuerlustige Revoluzzerin. Wenn sie sich manchmal den langwierigen und oft auch langweiligen Polizeialltag ansah, konnte sie nichts Abenteuerliches oder Revolutionäres darin entdecken. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, ohne Berufung, einfach aus Interesse an der Kriminologie.

Kufstein, ihr erster fester Job nach der Fachausbildung und dem Praktikum. Ob es ihr gefiel, wollte sie sich erst nach Beendigung ihres ersten Arbeitsjahres fragen.

Ihr Dienst heute war längst beendet, aber sie war geblieben, wollte die weitere Entwicklung im Mordfall hautnah mitverfolgen. Nach dem Auffinden der Leiche war schnell klar gewesen, dass der Mann nicht Selbstmord begangen hatte. Nicht der Sturz von der Brücke hatte ihn getötet, und ertrunken war er ebenfalls nicht. Die Wunde an seinem Bauch war den Rettungsleuten, die den Körper in den frühen Morgenstunden entdeckt hatten, sofort aufgefallen. Ein paar Kilometer stromabwärts hatte die Leiche sich an einer stark bewachsenen Uferstrecke in den tief hängenden Zweigen eines Baumes verheddert und war nicht weiter abgetrieben.

Vier Stunden später hatten die Todesursache sowie seine Identität festgestanden.

Karsten Trinckas, siebenundfünfzig, wohnhaft in Frankfurt am Main, als freier Anlageberater tätig, verheiratet, aber nicht mit seiner Ehefrau auf Urlaub, sondern mit ebenjener Freundin, die ihn als vermisst gemeldet und später schluchzend identifiziert hatte. Tod durch einen einzigen Messerstich in den Unterbauch. Tief genug, um die Baucharterie zu treffen, keine Chance, so eine Verletzung zu überleben.

Ein brutaler Mord im beschaulichen Kufstein.

Ein Raubüberfall? Ein eskalierter Streit? Oder die Aktion eines psychisch gestörten Menschen?