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Aktuellste Technik, individuelle Behandlung, gehobenes Ambiente: Die neue Privatklinik in der Nähe des Saarbrücker Winterbergs legt Wert auf Exklusivität. Kein Wunder, dass man die Ermittlungen zum Tod eines Patienten diskret behandeln will und froh ist, als der Fall ad acta gelegt wird. Einzig eine Krankenschwester glaubt an die Tat eines Todesengels und sucht Hilfe bei ihrer Schulfreundin Willa Stark, die nach ihrem Koma in den Innendienst versetzt ist. Trotz der aktuellen Beweislage nimmt die Polizistin den abgeschlossenen Fall wieder auf. Das saarländische Ermittlerteam zeigt wenig Verständnis, doch dann kommt es in der Klinik zu einem weiteren mysteriösen Todesfall.
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Seitenzahl: 351
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Wir alle tragen eine Bestie in uns. Sie unterscheidet sich nur in ihrem Ausmaß, nicht in ihrer Art.
Douglas Preston
I Komazeit
1
Hinter dir! Dreh dich um! Gefahr!
Drei Warnsignale aus dem Unterbewusstsein.
Drei Abläufe folgen.
Eins: Du wirbelst herum und siehst dem Unheil ins Auge.
Das Unheil, oder besser dein Untergang, ist eine Person, die dir bekannt ist. Jemand, mit dem du erst kürzlich ein Gespräch über das Wetter geführt hast.
Das Wetter?
Der bewusste Teil deines Verstandes will sich entspannen, Entwarnung geben. Aber jede Faser deines Körpers schreit »Nein.«
Es vergehen wertvolle Sekunden. Eine winzige Zeitspanne, die über Leben und Tod entscheiden mag. Denn deine Instinkte schreien: »Renn! Lauf! Beweg dich!«
Doch über den Instinkten liegt dein Verstand, der eins und eins immer noch nicht zusammenzählen möchte.
Zwei: Hände heben sich. Du siehst angewinkelte Arme und ausgestreckte Finger, die sich krümmen und deinen Hals umschließen.
»Wa–?«
Sagst du noch. Meinst du: Was? Oder: Warum?
Die Haut der fremden Handflächen mit ihrer glatten, kühlen, fast schlüpfrigen Berührung stößt dich ab. Handschuhe, denkst du. Es müssen Handschuhe sein. Leder? Nein, nicht rau genug. Samt? Zu glitschig.
Latex.
Latexhandschuhe an deiner Kehle, deinen seitlichen Halssträngen.
Finger unter synthetisch dehnbarem Stoff, die zu pressen beginnen. Daumen, die auf deinen Kehlkopf drücken.
Du möchtest lachen, denn in deinem Leben hast du viele schlimme Momente mit Humor überspielt.
Komm, öffne die Lippen, lächle deinem Gegenüber zu, das sich wie in einem Film verwandelt zu haben scheint. Zeig ihm, dass du verstanden hast, ihm nichts übel nimmst und keiner Menschenseele von dieser irren Aktion erzählen wirst. Versprochen!
Ich habe verstanden, dass es Ihnen nicht gut geht. Gerne können wir darüber reden, wenn Sie möchten.
Das wirst du anschließend sagen. Wenn sich die Wogen geglättet haben.
Und: Außerdem sind es nur Gerüchte. Dummes Geschwätz. Aber jetzt bitte aufhören.
Diese Sätze und diese Bitte könntest du auch auf der Stelle äußern, wenn deine Stimmbänder ihren Dienst tun würden. Doch statt Worten rutschen Gurgellaute über deine Lippen. Die Comics fallen dir ein, die du als Kind so gerne gelesen hast.
Dein Mund tut dir immerhin den Gefallen und öffnet sich weit. Aber bevor etwas anderes entweichen kann, streckt sich die Zunge vor.
Der Schmerz setzt ein.
Verspätet, aber mächtig.
Kein Brennen, kein Stechen oder krampfartiges Zusammenziehen. Es ist keine Art von Schmerz, die du benennen kannst. Es tut weh.
Wie weh?
Einmal bist du über eine glühende Kohlenfläche gelaufen, spät abends an einem Lagerfeuer. Aus Spaß. Weil du etwas betrunken warst, bist du mitten in der Glut stehengeblieben. Hast die Arme nach oben gereckt und »Tschakka!« gerufen. Bis der Schmerz kam.
So weh wie damals tut es.
Jetzt, wo dir endlich ein winziger möglicher Vergleich eingefallen ist, scheint es leichter zu werden. Es ist nicht mehr weit bis zum Ende. Nicht deinem Ende, nein, sondern dem Moment, in dem sich die Klammerfinger wieder lösen und eine Entschuldigung fällig wird.
Eine mächtige Entschuldigung.
Das Sichtfeld verändert sich. Vor deinen Augen verschwimmt das unfassbar bekannte Gesicht und wird ersetzt durch einen Sternenregen. Farben mischen sich zwischen dem Aufblitzen und Explodieren der Himmelskörper. Ein Gelb, ein Orange, ein grelles Blau. So ein Feuerwerk hast du noch nie gesehen.
Deine Lungen melden sich. Sie gieren nach Sauerstoff. Du versuchst zu atmen, zu schnappen, einzusaugen. Nichts. Als wärst du unter Wasser. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt und du bist zu einem Fisch geworden. Aus dem Wasser gespült, ohne die Fähigkeit, an Land zu atmen.
Dein ganzes System steht vor dem Kollaps.
Drei: Deine Hände gehen nach oben. Um den Eisengriff zu lösen. Dein linkes Bein schlägt nach vorne aus, während dein rechtes einknickt. Du gehst in die Knie, zur gleichen Zeit trittst du. Ein verrückter Tanz. Deine Muskeln ziehen sich zusammen, zucken, ziehen, zappeln. Schmerz kannst du es nicht mehr nennen, denn es ist größer.
Du schrumpfst und dein Gegenüber wächst hoch in den Himmel, zwischen all den explodierten Sterne, die nun verblassen. Über dich gebeugt steht kein Mensch mehr, sondern ein eigenartig verschwommenes Wesen, das über deine weitere Existenz entscheidet.
Sollte nicht dein Leben vor dir ablaufen, die Bilder, die Erinnerungen? Sollten nicht die lieben Verstorbenen auftauchen und dich auf die andere Seite geleiten? Wo ist das Licht, das verdammte Licht?
Ein Schnappen erklingt. Es hört sich wie das Einrasten eines Verschlusses an.
Eine kleine Erinnerung lugt endlich doch noch um die Ecke.
Du, als Kind, vor einem Wunschbrunnen auf einem Rummelplatz. ›Dreimal wünschen‹, stand auf einem Schild davor. ›Und einmal spucken‹, hatte jemand mit schwarzem Filzstift darunter gekritzelt. Sehr lustig, damals wie heute.
Du gehst, du fliegst, du löst dich auf.
Am Ende ist kein Licht im dunklen Tunnel. Aber ein Funken Humor. Ein letztes Augenzwinkern, das du mit Freude umarmst.
2
Der Chaostheorie zufolge konnte der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Naturkatastrophe wie einen Tsunami auslösen.
Galt diese Annahme auch für einen Mord? Hatte ein leichtes Flattern zum Tod der Frau geführt, zu ihrem Ableben? Oder waren es ihre schmutzigen Gedanken, ihr böses Gerede und ihre eigenen gierigen Wünsche, die sie in diesen Zustand versetzt hatten?
Konnte denn der Schmetterling in seiner Pracht und Unschuld überhaupt etwas dafür, dass seine Flügel im Moment der Bewegung Unheil gebracht hatten? Ein reines und unschuldiges Wesen war er, wundervoll in seiner Transformation. Ein derartiges Geschöpf vermochte kein Unheil zu bringen.
Trotzdem lag auf dem Boden des Krankenzimmers der Unfallstation eine tote Frau.
Mit Würgemalen am Hals.
Es würde nicht lange dauern, bis Karin, die so freundliche und kompetente Nachtschwester, entdeckt werden würde.
Ihre Augen waren im Tod weit geöffnet, man hätte meinen können, sie hätte ein Wunder bestaunt. Vielleicht war der Schmetterling ein solches, und Karin hatte im letzten Brechen der Pupillen sein wahres Inneres erkannt. Wäre nicht die Zunge gewesen, die dick und unansehnlich über die Lippen der Toten quoll, wäre sie durchaus ein schöner Anblick gewesen.
Der Schmetterling beherrschte sich, sich über den Körper zu beugen und die Zunge in die Mundhöhle zurückzupressen. Trotz der Latexhandschuhe sollte es keine weitere Berührung geben. Mit einem seiner Insektenbeine, an dem noch ein Schuh hing, stupste er Karin an, schob sie ein kleines Stück am Boden entlang. Näher ans Krankenbett.
Als der Kopf der toten Frau das Rad am unteren Bettpfosten berührte, stoppte der Schmetterling.
Es war dumm zu glauben, dass irgendjemand denken könnte, einer der beiden Patienten in diesem Zimmer hätte Schwester Karin getötet. Herr Fischer, Klaus Fischer aus Hürth, war mit seinem eingegipsten Bein nicht in der Lage, sich zu bewegen. Herr Wasserburg neben ihm, war heute Nachmittag erst vom Aufwachraum hierher gebracht worden. Beide schliefen tief und fest. Herr Fischer schnarchte leise.
Der Schmetterling seufzte. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass es keine weiteren Spuren geben würde, außer den DNA-Resten, die alle hier tagtäglich hinterließen. Was, wenn doch? Wenn sich der Schmetterling irrte, käme die nächste Katastrophe in Gang.
In seinem Rücken begann es zu ziehen, das Gewicht der großen Flügel war zu spüren wie ein schwerer Rucksack. Wäre ein unbeteiligter Zuschauer anwesend, hätte er ein menschengroßes herrliches Geschöpf zu Gesicht bekommen. Perfekt in dieser Verwandlung. Was für einen Stellenwert konnte dagegen eine erwürgte Frau am Boden haben?
Je länger der Schmetterling auf die Tote vor ihm starrte, desto klarer wurde Nachtschwester Karin zur Schuldigen. In Wahrheit war ihre Freundlichkeit aufgesetzt gewesen, ihre Kompetenz hatte aus überheblichen Bemerkungen bestanden. Eine schlechte Frau, eine Frau ohne Anstand.
Draußen waren Schritte zu hören.
Der Schmetterling hielt den Atem an. Er würde sich auf den Hereinkommenden stürzen und eine weitere Tat begehen. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Einmal vollbracht, konnte es auch ein zweites Mal gelingen.
Mit wenigen Flügelschlägen war er an der Tür, legte den Kopf an den Rahmen und lauschte. Die Schritte wurden lauter, näherten sich. Nicht einer, nein zwei Menschen hielten vor dem Krankenzimmer an.
»Und, alles im Lack, Frieda?«
»Mein Dienst ist in genau achtzehn Minuten vorbei, so knapp vor Feierabend habe ich immer gute Laune.«
»Glückskind. Ich fange gerade erst an. Kann sich ziehen, die Nacht.«
»Willst du die Nachtmedikationen der Neuen durchgehen oder zuerst in die Zimmer sehen?«
Kommt nur herein, dachte der Schmetterling. Das Holz an seiner Wange fühlte sich warm an.
Dann töte ich euch beide. Ich kann es.
»Zuerst einen Kaffee, Frieda. Mein Hirn läuft ausschließlich mit Koffein. Plus Zuckerzeug.«
»Dann wird dir die milde Gabe von Herrn Fischers Töchtern gefallen. Ungefähr eine Tonne Gummibärchen haben sie uns hingestellt. Die Jumbopackung.«
»Schnapp dir welche und verstecke sie vor mir, wenn du morgen auch noch welche essen willst.«
Die Schwestern kicherten und auch der Schmetterling musste lächeln.
»Wollte der Doktor heute Abend nicht noch kommen wegen Herrn Bindner in der 19? Ist Karin schon da?«
Der letztgenannte Name ließ das Lächeln erstarren. Der Schmetterling drehte seinen Kopf und sah zu dem Körper am Boden hin. Doch statt eines Menschen lag dort ein zusammengekrümmter Wurm. Die Getötete war zu einem augenlosen, geschlechtslosen Ding geworden.
Der Raum schien sich mit einem Mal in schräger Lage zu befinden, das Insekt krallte sich am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Draußen bewegten sich die Schritte weiter.
Eine Weile geschah nichts. Dann öffnete der Schmetterling die Tür zum Krankenzimmer.
Das wunderschöne Wesen flatterte heraus.
Dass niemand in der Zeit auf dem Krankenhausflur war, fand es erleichternd, aber doch auch ein wenig schade.
3
Harro deNärtens, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Köln am Melatengürtel, saß wie jeden Abend am Krankenbett seiner Kollegin Willa Stark.
Seit siebenundzwanzig Tagen kam er zu der jungen Inspektorin aus Graz. Nachdem sie K.o. geschlagen und gestürzt war, hatte sie einen Schädelbruch mit Hirnblutung erlitten. Seither lag sie im Koma. Wann sie erwachen würde und mit welchen Konsequenzen, ließ sich derzeit noch nicht absehen.
Meine Inspektorin, dachte Harro.
Was für eine trügerische Illusion.
Er war in sie verliebt, seit Willa über Europol zum Ermittlerteam um Hauptkommissar Peter Kraus gestoßen war. Schweigend und schmachtend bis über beide Ohren und darüber hinaus, hatte er die Rolle des heimlichen Verehrers gespielt. Der Altersunterschied von achtzehn Jahren, seine Leibesfülle, die beruflichen Verknüpfungen, all das hatte ihn davon abgehalten, ihr seine Liebe zu gestehen.
Nun saß er in einem der Intensivzimmer des Evangelischen Krankenhauses in Köln-Weyertal. Er saß auf einem harten Stuhl, der seinem Rücken Abend für Abend Schmerzen bereitete, und er schwitzte.
Doch das Schwitzen und die Rückenschmerzen waren nichts gegen die Angst.
Die Angst, dass Willa nur noch einmal ihren Atem einziehen würde, um ihn dann nie mehr auszustoßen. Dass ihr Herz ein letztes Mal schlug, um in Folge seinen Dienst einzustellen.
Tagsüber, während seiner Arbeit in der Rechtsmedizin, egal wie viel Hektik ihn umgab, wie interessant die Aufgaben waren, hielt ihn diese Angst in ihrem festen Würgegriff. Nachts fand er selten die Ruhe, die er brauchte.
Lieber hätte er Willa in ihrem Dornröschenschlaf gelassen, als sich eine Welt ohne sie vorzustellen. Von draußen klopfte Regen gegen die Fensterscheiben des steril eingerichteten Raumes, passend zu der Trostlosigkeit und den Geräuschen der Geräte drinnen.
Dass er überhaupt hier sitzen durfte, spät abends, hatte er Hauptkommissar Kraus zu verdanken. Kraus hatte Verbindungen spielen lassen, in dem Fall ein klein wenig Kölner Klüngel, um seinem Kollegen und Freund etwas Gutes zu tun.
Denn Harro war weder ein naher Verwandter noch Willas Ehemann. Doch jetzt galt er als Bezugsperson. Zusätzlich hatte er die Erlaubnis von Anna Stark erhalten, Willas Mutter, die drei Tage nach den Vorfällen von Graz nach Köln gereist war. Nach einer weiteren Woche hatte sie mit traurigem Gesichtsausdruck die Rückreise angetreten. Seither telefonierten sie fast täglich, Anna wurde auf dem Laufenden gehalten. Ganz offiziell also durfte Harro seine Abendsitzungen an der Seite der jungen Ermittlerin abhalten.
Er war es auch, der anfallende Extrakosten aus eigener Tasche übernahm und sich bereits nach einer Rehabilitationsklinik umsah. Lange würde sie hier nicht mehr bleiben können.
Siebenundzwanzig Tage.
Harro hatte mit Willa gesprochen: laut, flüsternd, heulend, wütend, flehend. Er hatte ihr vorgelesen, ihr die Zeitung mit ihrem Foto auf der Titelseite mitgebracht. Er hatte einen Gedichtband gekauft und laut Poesie rezitiert, ihr über das Handy sanfte Musik vorgespielt. Alles das, weil er in einer Fachzeitschrift gelesen hatte, dass der aktive Kontakt zu Komapatienten den Faden zum Leben stärken konnte.
Am dreizehnten Tag hatte Harro sogar in einer Tasche Willas Kater Jimmy ins Intensivzimmer eingeschleust. Er hätte mit mehr als einer Standpauke rechnen müssen, wenn er erwischt worden wäre. Doch der Kater hatte sich als vorbildlicher Komplize entpuppt und ein einziges leises Miauen von sich gegeben, als Harro den Reißverschluss der Tasche aufgezogen und Willas Hand über den Kopf des Tieres geführt hatte.
Doch nicht einmal davon war sie erwacht. Harro war mit dem verbotenen Kater in der Tasche wieder nach Hause zurückgekehrt.
Er versorgte Jimmy, trotz seiner Katzenallergie. Tränende Augen und Niesen nahm er gern in Kauf. Die Anwesenheit des Katers brachte Trost für den Rechtsmediziner, obwohl das Tier ihm gegenüber scheu und misstrauisch blieb.
Und Willas Kollegen hatten nicht nur regelmäßig die Schwerverletzte im Krankenhaus, sondern auch öfter als üblich Harro im Rechtsmedizinischen Institut besucht. Ohne, dass es für das Team einen zwingenden Grund gegeben hätte. Die Hauptkommissare Marielle Kaiser-Rhön und Clemens Wächter hatten ihm bei ihrem letzten Auftauchen in seinem Büro Puddingteilchen mitgebracht. Sie hatten Kaffee getrunken und über den Fall, der Willa im wahrsten Sinn des Wortes zu Fall gebracht hatte, spekuliert.
Hauptkommissar Peter Kraus hatte sich nicht angeschlossen, aber ausrichten lassen, dass die neue Festanstellung bei der Kripo Köln für Willa Bestand hatte, sobald sie wieder gesund wäre. Ihr großer Wunsch, fix im Team aufgenommen zu werden, war für die Inspektorin Stark in Erfüllung gegangen. Leider ohne, dass sie sich darüber freuen konnte.
Keiner sprach die Möglichkeit von Willas Tod an.
Immerhin hatte es einen Fortschritt in den letzten zwei Tagen gegeben. Eine anschwellende Hirnaktivität, eine Art Aufflackern. Die sich bewegende Kurve konnte ein Anzeichen eines möglichen Erwachens sein. Der behandelnde Arzt war trotzdem skeptisch geblieben. Alles immer mit einem Fragezeichen und einem Konjunktiv versehen, bei Komapatienten gab die Medizin keine klaren Prognosen.
Nicht zuviel Hoffnung, dachte auch Harro auf seinem harten Sessel.
Er schloss die Augen. Hörte den Geräuschen zu, lauschte nach den Atemzügen von Willa. Siebenundzwanzig Tage oder siebenundzwanzig Jahre spielten dabei keine Rolle.
Es klopfte.
Harro schreckte aus seinen trüben Gedankenspielen hoch.
»Herein, herein.«
Es war Zeit für die Nachtschwester und Zeit, dass er nach Hause ging.
Statt jemand vom Krankenhauspersonal, betrat eine große schlanke Frau das Krankenzimmer. Sie blieb an der Tür stehen.
»Tine? Was machst du hier?«
Tine Latisch war die Sektionsleiterin aus dem Institut. Harro hatte sie vor drei Jahren befördert. Sie waren Kollegen und seit langer Zeit Freunde.
»Hey, Harro. Mir wurde erlaubt, dass ich zu dir hineinhusche. Eine Minute habe ich. Alles klar bei dir?«
Er nickte und hievte sich mit einem Ächzen aus dem Stuhl. Seine Beine waren gefühllos, sein Rücken hingegen schmerzte.
»Ich wusste gar nicht, dass du Willa kennst, Tine.«
Sie lächelte verlegen.
»Ich komme deinetwegen.«
»Warum das denn?«
Leichter Unmut stieg in Harro hoch. Seine Mitarbeiter machten sich vermehrt Sorgen um ihn, weil er, neben seinem stressigen Job, jede freie Minute im Krankenhaus verbracht. Tine betreute manchmal Kater Jimmy, wenn er es nicht schaffte, zwischen Dienstschluss und Krankenwache nach Hause zu fahren.
»Harro, so geht es nicht weiter.«
Tine blieb stehen. Kam nicht näher. Ihr Blick ging zur schlafenden Willa und wieder zurück zu ihrem Chef.
»Du machst dich kaputt.«
»Das geht keinen etwas an.«
»Doch Harro. Vielleicht nicht in deinem Privatleben, obwohl ich auch als eine gute Freundin zu dir spreche, aber sehr wohl im Kollegenkreis. Meinst du, wir merken nicht, wie zerstreut du bist? Anwesend, aber nicht wirklich mit deinem Verstand bei uns. Müller und Lehrkamm wollten dir schon raten, eine Auszeit zu nehmen.«
»Ich habe keinen Tag gefehlt.«
»Trotzdem bist du nicht einsatzfähig. Wie lange mag es noch dauern, bis sich in deinen Berichten Fehler einschleichen, du etwas übersiehst?«
»Was erwartest du von mir, Tine? Soll ich hinschmeißen? Kündigen? Die Leitung Müller oder diesem Schleimer Lehrkamm übertragen?«
»Nein, Harro. Du sollst den Dingen ihren Lauf lassen. Willa liegt im Koma. Dass du hier sitzt und ununterbrochen grübelst, lässt sie nicht aufwachen.«
Aber vielleicht auch nicht sterben, dachte er.
»Harro, sie ist gut aufgehoben hier. Sie wird versorgt. Und du, du kommst jetzt mit mir und wir gehen einen Happen essen.«
Harros Ärger verschwand so schnell, wie er erschienen war. Natürlich hatte Tine recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Willa erwachte, änderte sich nicht durch seine Anwesenheit. Er streckte sich, seine Gelenke knackten. Er schüttelte seine Beine aus.
»Einverstanden, lass uns gehen.«
Tines Lächeln wurde breiter.
»Gut so.«
»Ich will mich noch verabschieden, ja? Dann komme ich nach.«
»Ich warte am Haupteingang auf dich. Aber nicht ewig.«
»Klar.«
Sie nickte und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Der Regen prasselte und die Geräte summten, das stetige Piepen veränderte sich nicht. Willa lag in ihrem Bett wie Dornröschen, dieser Vergleich fiel ihm wieder ein. Keine hundert Jahre, aber Wochen, sogar Monate, mochte es noch dauern, wenn nicht doch das Schlimmste eintrat. Willa hätte ihn wie Tine ermutigt, sein Leben wieder aufzunehmen. Seiner Arbeit mit Konzentration nachzugehen. Keine Frage.
Für eine Minute konnte sich Harro dennoch nicht bewegen. In seinem Kopf schrie er, brüllte er: Willa! Wach auf! Sofort! Oder ich gehe.
Die Tür wurde erneut geöffnet. Harro aus seiner Starre katapultiert. Sein Herzschlag beschleunigte sich, jetzt war er tatsächlich verärgert.
»Tine, ich habe dir doch gesagt, ich komme gleich nach.«
»Verzeihen Sie«, es war nicht Tine Latisch, die ins Zimmer kam, sondern einer der Krankenpfleger. »Sie sind doch vom Rechtsmedizinischen Institut?! Der Leiter, Doktor deNärtens, nicht?«
»Ja, der bin ich.«
Der junge Mann räusperte sich.
»Ich habe die letzten Tage öfters darüber nachgedacht, Sie anzusprechen.« Er wirkte verlegen. »Also, um auf den Punkt zu kommen: Ich war auf der Universität, bei einem Ihrer Vorträge. Vor dem Sommer. Sie hatten über die neuen Möglichkeiten der Todeszeitbestimmung mit digitalen Hilfsmitteln referiert. Es war öffentlich zugänglich und deshalb konnte ich dabei sein. Es war toll.«
»Kommen Sie bitte zur Sache.«
»Verzeihen Sie. Ich habe Dienstschluss und wollte die Gelegenheit beim Schopf packen und Sie etwas fragen. Könnte ich aus meinem Job heraus einen weiteren Werdegang an der Rechtsmedizin machen? Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Es ist okay, als Pfleger zu arbeiten.«
»Ich verstehe Sie durchaus richtig, junger Mann.« Harro überlegte kurz. »Eine meiner Mitarbeiterinnen, Tine Latisch, hat ihren Beruf ebenso über den zweiten Bildungsweg in Angriff genommen. Im Moment wartet sie am Haupteingang. Eigentlich auf mich, aber sie beide könnten stattdessen einen Happen essen gehen und sich dabei unterhalten. Eine großgewachsene hübsche Frau. Sprechen Sie sie an, erzählen Sie ihr, was ich eben vorgeschlagen habe. Okay?«
»Wenn Sie meinen? Geht das denn?«
»Klar doch. Ich werde doch noch etwas länger hier bleiben.«
Der Pfleger ließ sich von Harro aus dem Zimmer schieben.
Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte Harro.
Ihm war bewusst, dass Tine sich den Abend anders vorgestellt hatte, aber er konnte Willa nicht verlassen. Noch nicht. Vielleicht würde er in einer halben Stunde zu den beiden dazu stoßen. Tine konnte ihm per SMS mitteilen, in welches Lokal es sie verschlagen hatte. Er würde nachkommen. Hungrig war er ohnehin nicht. Unfassbar, wo er sonst all seine Probleme und seinen Stress mit Essen löste.
Hoffnung, dachte er, Hoffnung ist eine wundervolle Betrügerin.
Er setzte sich zurück auf die harte Sitzfläche.
4
Der neu transformierte Schmetterling bewegte sich umsichtig.
Zuerst langsam in Schleifen den Gang entlang.
Trotzdem stieß er gegen einen Rollstuhl, den einer der Pfleger achtlos neben der Toilettentür hatte stehen lassen. Der Schmerz im unteren Bein hätte ihn fast aufschreien lassen.
Er bedeckte seine Lippen. Das Latex der Handschuhe fühlte sich staubig an und roch nach verdorbenen Eiern. Zeit, sie auszuziehen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er seine bloßen Hände, die eben einen Mord begangen hatten, und sah doch nur die feinen schwarzen Beinpaare eines Insekts, an denen sich dornenartige Haken befanden.
Illusion und Realität überlappten sich. Wieder schlug er mit den Flügeln und wagte es, auf seiner Flucht Geschwindigkeit aufzunehmen.
Nach der offenen Doppeltür kam eine Treppe. Auf dem Weg nach unten schwirrte er in der Luft, wechselte in einen Zickzackkurs. Auf dem nächst unteren Stockwerk lagen die Intensivzimmer.
›Zutritt nach Anmeldung‹, war auf einem Schild zu lesen. Daneben ein Klingelknopf. Doch die Anmeldung war verwaist. Während des Schichtwechsels und so spät am Abend war die Chance hoch, dass der Schmetterling ungesehen weiterfliegen konnte.
Wenn er es schaffen würde, auch diesen Gang zu durchqueren, kam er ins hintere Treppenhaus. Er wollte zu einem der Personalausgänge, der von dort aus zu erreichen war. Diese Tür ließ sich ausschließlich von innen öffnen. An der Stelle saß kein Pförtner.
Der Schmetterling versuchte sich daran zu erinnern, wer ihm von all den Dingen und Namen, die er wusste, erzählt hatte. Wer hatte ihm das Krankenhaus gezeigt? Ein Bild tauchte auf. Eine Gestalt. Liebe. Schmerz. Hass.
Stopp. Zuviel.
Nicht mehr denken. Nicht mehr fühlen. In seinem Hirn löschte er das Leben vor der Transformation. Im Grunde war es nicht wichtig. Nicht im Moment. Das Gebäude ungesehen zu verlassen, war sein Ziel.
Doch noch bevor er ans Ende des Flurs kam, gab es eine Abfolge von unerwarteten Ereignissen.
Zuerst war ein markerschütternder Schrei von oben zu hören.
Der Schrei, nein, das Schreien, denn bei einem blieb es nicht, würde ziemlich rasch die Menschen aus den Stationen und Zimmern locken. Zumindest die, die fähig waren, ihre Betten zu verlassen. Samt denen, die sie betreuten.
Dass die tote Frau so schnell entdeckt worden war, erschreckte den Schmetterling nun doch. Panik durchflutete ihn.
Seine Flügel schienen ihm den Dienst zu versagen, schwer wie Blei zu werden. Seiner Fortbewegung beraubt, erstarrte der Schmetterling und hielt sich an einer der Türklinken fest, um nicht zu Boden zu gehen.
Genau diese Tür wurde aufgerissen und der Schmetterling fiel in die Arme eines Mannes. Ein Zusammenstoß ihrer Köpfe folgte.
»Oh Gott, das tut mir leid.« Der Fremde räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«
Der Schmetterling wollte antworten, doch sein Rüssel war nicht dafür gemacht. Er bewegte also seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück.
»Hat da jemand geschrien?«
Der Mann sah sich um.
Das Insekt bog seinen Oberkörper zurück, um sich aus der unfreiwilligen Umklammerung zu befreien. Jede Sekunde konnte der Unbekannte die Transformation erkennen. Und dann? Würde er ebenfalls zu schreien beginnen?
»Ist mit Ihnen wirklich alles okay?« Noch eine Nachfrage des Mannes.
Bevor der Schmetterling mit seinem Kopf von oben nach unten und wieder zurück wippen konnte, folgten nächste Rufe von oben. Diesmal konnte man »Hilfe, Hilfe« verstehen.
Zwei Ärzte kamen den Gang entlanggelaufen, blass sahen sie aus, als wären sie eben aus dem Schlaf gerissen worden. Sie hasteten im Gleichschritt Richtung Treppenhaus. Weitere Türen öffneten sich. Der Fremde ließ los und schloss sich den Laufenden an, ohne zurückzusehen.
Der Schmetterling huschte mit letzter Kraft in das Krankenzimmer hinein. Kaum drinnen gab sein Körper nach. Er lehnte sich an die Wand, rutschte nach unten, kam in eine sitzende Position. Draußen am Gang war jetzt Stimmengewirr zu hören und jemand brüllte um Ruhe.
Hier drinnen waren die Geräusche gedämpft.
Es herrschte keine Stille, die gab es in einem Intensivzimmer nie. Ein stetiger Piepton und ein regelmäßiges Klacken waren zu hören. Leise Atemgeräusche. Der Schmetterling schloss sich dem fremden Atemrhythmus an, atmete ebenfalls ein und wieder aus. Immer weiter ein und aus, um die Schwere abzuschütteln, um die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen.
Auf den Schwingen der Nacht gilt es zu entfliehen, dachte er.
Ein Anflug von Humor gab ihm die nötige Energie, sich vom Boden hochzustemmen. Er würde noch ein paar Minuten in diesem Zimmer ausharren, bis sich die Menschen draußen alle zum Schauplatz des Verbrechens aufgemacht hatten, und dann verschwinden.
Eine Frage stellte sich. Wie gefährlich konnte eine mögliche Entdeckung durch den Fremden, der den Schmetterling aufgefangen hatte, werden? Überhaupt keine Gefahr. Von ihm war nichts zu befürchten. Er war durch die Schreie in seiner Aufmerksamkeit völlig abgelenkt gewesen.
Der Schmetterling trippelte näher ans Krankenbett.
Jetzt konnte er die Frau darin sehen.
Die Haut war bleich. Den Kopf, der auf dem Kissen ruhte, umspielten dunkle Locken. Die Schläuche, die von Nase und Mund zu den lebenserhaltenden Geräten führten, wirkten wie Schlangen, die sich zu dem schmalen Körper unter dem Laken geschlichen hatten.
Der Anblick berührte den Schmetterling. Anders als für die Tote vorhin, empfand er Mitleid.
Eine der dunklen Locken war über die Stirn und Wange der Patientin gerutscht und der Schmetterling beugte sich vor. Er streckte sein Insektengliedmaß aus, um die Haare zurückzuschieben und berührte die Haut der Schlafenden. Weich. Kühl und zart. Unter den geschlossenen Lidern rollten die Augäpfel.
Was für Träume sie wohl heimsuchten? Welche Gestalt sie im körperlosen Nichts schwebend annehmen mochte?
Der Schmetterling schloss nun ebenfalls die Augen. Blieb über der Frau gebeugt stehen, verharrte eine Weile wie in Trance. Als wäre mit der Berührung ein Stichwort gefallen, setzte die Rückverwandlung ein, die ohne weitere Komplikationen ablief. Er hatte sich entschlossen, in Menschengestalt weiter unterwegs zu sein.
Einige Minuten später verließ eine Person das Zimmer, ging den Flur entlang bis zum Notausgang.
Erneut unbeobachtet.
5
Harro schreckte hoch.
Er war eingedöst, während er Willas Hand gehalten hatte. Jetzt hatten ihn Geräusche von draußen geweckt. Nicht die üblichen Schritte oder das Geschirrgeklapper. So spät am Abend gab es keine Essenausgabe mehr und nur wenige Leute waren in den Gängen unterwegs. Die Besuchszeit war ohnehin vorbei, er hätte längst das Zimmer verlassen müssen. Er ging davon aus, dass die Nachtschwester ihn mit hängendem Kinn und geschlossenen Augen sitzen gesehen und ihn aus Mitleid nicht verscheucht hatte.
Langsam nahm sein Verstand seine Funktionen wieder auf.
Tine hatte sich übers Handy gemeldet, der junge Pfleger hatte sie tatsächlich angesprochen. Harro hatte beide zum Essen fortgeschickt und versprochen, nachzukommen. Eine halbe Stunde hatte er sich zusätzlich herausnehmen wollen, doch in der Zeit musste er eingeschlafen sein.
Er ordnete das Geräusch ein.
Es war ein Schrei gewesen.
Er warf einen schnellen Blick zur schlafenden Willa. Bestand Gefahr für sie? Konnte es sein, dass ein Feuer ausgebrochen war? Hatte es einen Alarm gegeben?
Ein nächster langgezogener Schrei erklang von draußen. Weiter entfernt. Diesmal gab es keinen Zweifel. Etwas war geschehen oder geschah immer noch.
Harro stolperte hastig zur Tür, riss sie auf und wollte hinausstürzen. Im selben Moment spürte er, wie jemand gegen ihn stieß. Kopf gegen Kopf. Automatisch fing er den Körper vor ihm auf.
»Oh Gott, das tut mir leid.« Er räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«
Die Person in seinen Armen schüttelte den Kopf. Beugte sich zurück.
»Hat da jemand geschrien?« Harro sah kurz hoch, wieder zurück. »Ist mit Ihnen wirklich alles okay?«
Diesmal ein Nicken und der Versuch, sich aus Harros unfreiwilliger Umarmung zu befreien.
Eine neue Abfolge von Schreien setzte ein, die signalisierten, dass hier irgendwo nichts okay war. Harro meinte »Hilfe, Hilfe« zu verstehen. Zwei Ärzte kamen gelaufen, Harro kannte einen vom Sehen, aber keinen von beiden hatte er je bei Willa angetroffen.
Immer mehr Türen öffneten sich.
Ohne sich weiter um die Person zu kümmern, schloss sich Harro ihnen an.
Sie liefen den Gang entlang, durch die Flügeltür, die Treppen hoch. Einen Halbstock höher kam ihnen eine Krankenschwester entgegen. Sie stoppte keuchend.
»Frieda hat Karin gefunden. Lutz ist auch da. Und Mike. Schnell, kommen Sie. Karin, es geht um Karin. Oh Gott, oh Gott.«
Vor der ersten Tür im nächsten Flur konnte Harro einen Pfleger sehen, der sich an der Wand abstützte.
»Frieda will nicht herauskommen. Sie beginnt immer wieder zu schreien.« Seine Stimme klang heiser. »Ich konnte nicht drinbleiben. Sorry. Aber Lutz ist noch im Zimmer. Und zwei Patienten. In ihren Betten. Sie haben Todesangst.«
»Was ist passiert, zum Teufel? Lassen Sie mich durch.«
Einer der Ärzte schob den Pfleger zur Seite und verschaffte sich Zutritt. Der zweite drehte sich zu Harro um.
»Wer auch immer Sie sind. Sie dürfen nicht mit hinein.«
»Harro deNärtens. Leiter der Rechtsmedizin Köln. Vielleicht kann ich helfen.«
»Doktor Daniels, Ingo Daniels.«
»Was für eine verdammte Scheiße«, rief Arzt Nummer eins aus dem Zimmer.
Statt Harro weiter den Zutritt zu verwehren, schob Dr. Daniels ihn jetzt wie ein Schutzschild vor sich her. Aus dem Zimmer ertönte ein nächster einzelner Schrei, der hoch war und schrill und in Harros Ohren ein Klingeln verursachte.
Die Szenerie im Krankenzimmer war gespenstisch. Das helle Neonlicht ließ die Gesichter die Anwesenden kalkweiß erscheinen. Zwei Betten waren belegt. Einer der beiden männlichen Patienten mit einem eingegipsten Bein zog sich gerade am Galgen hoch und stöhnte. Der andere saß bereits kerzengerade aufrecht und blickte verständnislos um sich.
Auf dem Boden, neben dem vorderen Krankenbett, lag eine Frau in unnatürlich gekrümmter Haltung.
Einen halben Meter davor kniete eine andere, die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein weiterer Mann in einem Pflegeranzug war anwesend, er stand wie angewurzelt, bewegte sich nicht. Arzt Nummer eins hatte die Hände in die Hüften gestemmt, fluchte nicht mehr.
Von dem gekrümmten Körper am Boden konnten die Hilferufe nicht gekommen sein.
Die Frau war eindeutig tot. Nicht nur das. Sie war, ebenso glasklar, ermordet worden. Erwürgt. Ihre Augäpfel waren hervorgetreten und ihre Zunge hing wie eine fette Made unnatürlich dick über ihren blauen Lippen. Dazu kamen die typischen Würgemale am Hals.
Dr. Daniels beugte sich über die zweite Anwesende, die vor dem Opfer kniete. »Frieda, bitte, kommen Sie. Hilfe ist da. Wir sind da.«
Er versuchte sie hochzuziehen, doch sie kauerte sich stattdessen enger zusammen und begann zu wimmern.
»Was sollen wir tun?«, fragte der Arzt Harro, als wären die beiden Mediziner Briefträger oder Barkeeper, die eben ihre erste Leiche entdeckt hatten.
»Als erstes kümmern wir uns um die Lebenden.« Harro übernahm die Führung. »Lassen Sie den Pfleger eine Trage holen und Frieda hier aus dem Zimmer bringen. Zuerst braucht sie eine Beruhigungsspritze.«
Der erstarrte Pfleger taute abrupt auf und gehorchte, als hätte er nur auf eine Anweisung gewartet. Harro öffnete ihm die Tür. Von draußen war Stimmengewirr zu hören.
»Soll ich die Leute wegschicken?« Dr. Daniels sah hoch.
»Nein, bleiben Sie bei Frieda, um die draußen kümmern wir uns später.«
Die Frau begann sich zu wiegen. Der Arzt nahm sie in den Arm.
»Kann ich aufstehen?«, fragte der Patient mit dem Gipsbein.
Harro schüttelte den Kopf. »Nein, bleiben Sie bitte alle beide in Ihren Betten. Gleich wird man sich um Sie kümmern.«
»Das ist Schwester Karin.« Er zeigte nach unten, ohne hinzusehen. »Sie war immer so freundlich.«
Es klopfte und der Pfleger kam zurück, an seiner Seite eine Krankenschwester mit einem Tablett, auf dem eine Spritze vorbereitet lag. Sie stieß einen spitzen Laut aus, als sie die Tote sah.
»Geben Sie ihr die Spritze, Dr. Daniels. Sofort. Und Sie, Schwester, helfen Sie ihm. Los, machen Sie.«
Harro blieb bei seinem strengen Ton. Das Krankenhauspersonal war es gewohnt, mit Krankheit und Tod umzugehen, aber nicht mit einem Kapitalverbrechen.
Dr. Daniels nahm der Schwester das Tablett ab. Die ging in die Knie und schob den rechten Ärmel ihrer Kollegin nach oben. Widerstandslos ließ sich Frieda die Injektionsnadel in den Oberarm stechen und im Anschluss vom Pfleger hochheben.
»Bringen Sie sie raus. Los.«
Als die Tür geöffnet wurde, sah Harro, dass sich eine Menschentraube davor gebildet hatte.
Harro wandte sich an Dr. Daniels Kollegen, der immer noch die Hände in die Hüften gestemmt hatte.
»Kümmern Sie sich zusammen mit der Schwester um die beiden Kranken. Schieben Sie sie in ihren Betten ebenfalls vorsichtig aus dem Zimmer. Passen Sie dabei auf, dass Sie die Position der Leiche nicht weiter verändern.«
Die Krankenbetten quietschten, als sie über den Boden geführt wurden. Keiner sagte ein weiteres Wort. Dr. Daniels hielt die Tür auf.
Endlich kam Ruhe in den Raum. Harro und Dr. Daniels blieben bei der Toten zurück. Das Krankenzimmer sah plötzlich verlassen und groß aus.
»Wir müssen die Polizei verständigen.« Dr. Daniels flüsterte.
»Übernehme ich sofort.« Harro nickte dem Arzt zu. »Wir sollten nichts mehr anfassen.«
Er holte sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Kraus’ Nummer. Nach dem dritten Klingeln wurde der Anruf angenommen.
»Ja?«
»Hallo, Peter. Hier Harro.«
»Hab’ es auf dem Display gesehen. Hallo.« Der Hauptkommissar klang verschlafen.
»Die späte Störung hat einen Grund, Peter. Im Evangelischen Krankenhaus in Weyertal ist ein Mord geschehen.«
»Bitte? Was? Ist mit Willa alles in Ordnung?«
»Ja, ist es. Mit ihr hat es, Gott sei Dank, nichts zu tun. Ich bin vor Ort und stehe vor der Leiche einer Krankenschwester. Ich gehe davon aus, dass bereits jemand den Notruf gewählt hat und die Polizei jede Sekunde eintrifft. Ich wollte, dass du und dein Team ebenfalls Bescheid wisst, damit du die Sache schnell in die Hand nehmen kannst. Ist ohnehin dein Revier.«
Peter Kraus legte auf.
Harro klopfte Dr. Daniels auf die Schulter.
Von der Straße her erklangen Sirenen.
Keine weitere Viertelstunde später waren auch Willas Kollegen vor Ort.
6
Die Besprechung fand diesmal im Rechtsmedizinischen Institut statt. Hauptkommissar Peter Kraus war zu Harro gefahren, um den aktuellen Bericht des Rechtsmediziners persönlich mit ihm zu besprechen. Hauptkommissarin Marielle Kaiser-Rhön und Kommissar Frank Zauber waren dazugestoßen.
Marielle war froh, dass sie direkt in Harros Büro bestellt worden waren. Sie mochte die Kälte und den Geruch in den Sektionsräumen absolut nicht. Obwohl sie gerne ihren Dienst versah und die Aufklärungsarbeit mit Leidenschaft betrieb, hatte sie sich nie an den Anblick von Leichen gewöhnen können.
Frank entschuldigte sich und rannte Richtung Toiletten.
»Was hat er?« Harro sah ihm hinterher.
»Ihm ist übel. Was Falsches gegessen oder wieder zuviel getrunken. Wer weiß das schon.«
Peter Kraus’ Tonfall war ärgerlich.
Frank Zauber entwickelte sich mehr und mehr zu einem Problemfall unter den Teammitgliedern. Obwohl Zaubers Scheidung Jahre zurücklag, hatte sich der Kommissar immer noch nicht mit dem Scheitern seiner Ehe abgefunden. Er trank seither zuviel und wurde im Umgang mit den Kollegen immer öfter ausfallend. Eine Dienstbeschwerde lag bereits auf dem Schreibtisch des Hauptkommissars, ein Kollege hatte sich über angeblichen Alkoholkonsum Zaubers während einer Razzia beschwert. Kraus musste in den nächsten Tagen ein weiteres ernstes Wort mit Zauber wechseln.
Doch der Mord an Karin Lieberstätt hatte Priorität.
Eine Woche war es jetzt her, dass die Krankenschwester erwürgt im Evangelischen Krankenhaus gefunden worden war. Während die Todesursache sofort geklärt werden konnte, tappten sie bei der Tätersuche im Dunkeln. Die Stimmung im Team war angespannt. Es gab zurzeit keinen Platz für Zaubers private Dauerprobleme.
»In meiner Gegenwart war Frank während Ermittlungen nie betrunken.« Marielle schien einen Teil der Gedankengänge von Peter Kraus erraten zu haben.
»Ist alles okay bei euch im Team?« Harro fixierte Peter Kraus.
Der nickte kurz.
»Dann können wir anfangen.«
Sämtliche DNA-Proben des Krankenhauspersonals waren vom Labor zu Harro geschickt worden, in der Hoffnung, Vergleichsmaterial zu finden. Der Rechtsmediziner deutete auf eine Kanne Tee und übereinandergestapelte Tassen in verschiedenen Farben, die auf seinem Schreibtisch standen.
»Tee, Harro, ist das dein Ernst?« Marielle verdrehte die Augen.
»Wir alle konsumieren zu viel Kaffee.«
»Ich kann auch nach zwei Espressi wie ein Murmeltier pennen.« Peter Kraus war wie Marielle überrascht.
»Heute serviere ich euch eben mal grünen Tee, Leute. Lebt damit. Tine Latisch hat ihn zubereitet, sie sorgt sich um mich. Ich möchte nicht die ganze Kanne allein austrinken müssen.«
»Willa hätte dir deinen Tee um die Ohren gehauen.« Marielle schmunzelte.
»Statt dich zu umsorgen, hätte sie dich mit einem starken Meinl Originalkaffee aus Österreich zugedröhnt.«
Harro lächelte matt. »Kleiner Brauner, großes Brauner, Melange, Einspänner. Die Sorten und noch mehr hab ich von ihr gelernt. Dazu das ›Habe die Ehre‹ und das ›Küss’ die Hand‹.«
Jetzt mussten beide lachen.
Auch Peter Kraus entkam ein Schmunzeln. »Sie war schon eine richtige Marke, das Mädel.«
»Gibt es einen Grund in der Vergangenheit vom Fräulein Ösi zu reden, habe ich etwas verpasst?«
Frank Zauber war zurück und sprengte die gute Stimmung.
»Nein, natürlich nicht.« Harro wurde schlagartig blass. »Sie lebt und sie wird aufwachen.«
»Wie lange bisher?«
»Vierunddreißig Tage und zwanzig Stunden inzwischen. Nicht, dass ich mitzählen würde.«
Harro griff sich die Teekanne mit beiden Händen und begann einzuschenken. Ein paar Tropfen landeten auf der Schreibtischplatte. Er wischte sie mit dem Ärmel weg.
Für eine Weile schwiegen sie.
»Ich möchte auf unseren aktuellen Mordfall zurückkommen.« Peter Kraus ergriff das Wort. »Harro, was hast du für uns?«
Der Rechtsmediziner nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Nach Auswertung aller Spuren am Körper der Toten konnte ich für den Vergleich bereits elf verschiedene DNA-Profile erstellen. Nicht von ihrem Hals, allerdings. Der Täter hat die im Krankenhaus üblichen Latexhandschuhe getragen.«
»Hattest du nicht anhand der Würgemale zuerst auf eine Täterin getippt?« Marielle hatte ihr iPad aus ihrer Tasche geholt und scrollte durch ihre Notizen.
»Das ist richtig. Aber ich nehme das zurück. Die Abmessung der Handflächen und die Länge der Finger könnten durchaus auch zu einem Mann passen, der zartere Gliedmaßen hat. Wie umgekehrt auch Frauen große Hände haben können.«
»Die Kraft, die man bei einer solchen Tat braucht, könnte zusätzlich auf einen männlichen Verdächtigen hinweisen.«
»Nicht unbedingt. Wenn eine Täterin es gewohnt ist, anzupacken, ist das Abschnüren der Luftzufuhr kein großes Problem.«
»Krankenschwestern arbeiten täglich schwer.«
»Krankenschwestern, Pfleger, Ärzte, das gesamte Personal der Klinik.« Frank Zauber meldete sich zu Wort. »Auch die Leute aus der Küche sind es gewohnt, mit ihren Händen zu arbeiten. Das Reinigungspersonal. Außerdem hätte jederzeit ein Außenstehender die Klinik betreten können. Es gibt zwei Hintereingänge …«
»… die von außen nicht zu öffnen sind.« Marielle schnitt Frank das Wort ab. »Durch diese Ausgänge hätte der Täter unbeobachtet ins Freie gelangen können. An den anderen Zutrittsmöglichkeiten sitzen Tag und Nacht Pförtner.«
»Genau das wollte ich sagen.« Frank Zauber brummte. »Dafür hätte er sich aber auskennen müssen, was wieder das Personal in den Mittelpunkt rückt.«
Marielle vertiefte sich erneut in ihr iPad. »Was ist mit den roten Fasern, die du am Hals entdeckt hast, Harro?«
»Fehlalarm. Karin Lieberstätt hat an ihrem Todestag ein rotes Halstuch getragen, als sie zu ihrem Dienst erschienen ist. Zwar nicht zum Zeitpunkt des Mordes, aber die Fasern stammen davon. Sie sind an ihrer Haut haften geblieben. Durch die Strangulation wurden sie tiefer in die Halsfalten gepresst.«
Kraus war der erste, der sich nach Harro etwas von dem grünen Tee genehmigte. »Ich möchte auf die DNA-Profile zurückkommen. Wie sieht es damit aus, Harro? Meiner Meinung nach sind sie unsere beste Chance, dem Täter auf die Spur zu kommen.«
»Auch diese Hoffnung mache ich euch schneller zunichte, als ihr sie aufkommen lassen könntet.«
Harro umrundete seinen Schreibtisch, tippte stehend auf seiner Tastatur und sah auf den Bildschirm.
»Zuerst ein großes Lob an das Labor, das in Rekordzeit die Spuren ausgewertet hat.«
»Lobe auch mich. Ich habe Oberstaatsanwalt Prunk dazu überreden können, dass er einen DNA-Test für die Krankenhausmitarbeiter bei einem Richter durchgeboxt hat.«
»Und ich, lieber Peter, habe alle eure Teststreifen verglichen. Schon allein in der Abteilung des Krankenhauses, in der das Opfer tätig war, sind Dutzende davon zusammengekommen. Leider liegt genau darin unser Problem. Eine Menge Leute hatten mit dem Opfer Körperkontakt. Bei ihrem Beruf als Krankenschwester war das zu erwarten. Neben den Kollegen kommen noch die Patienten hinzu. Ich habe bereits sechs Übereinstimmungen gefunden.«
»Das heißt, meine Idee mit dem DNA-Test hat höchstens Staub aufgewirbelt, sonst nichts?«
»So möchte ich es nicht formulieren, Peter.«
Marielle mischte sich ein. »Hatte sich denn jemand geziert, die Überprüfung mitzumachen?«
Die Köpfe der drei gingen zu Zauber, der sich nun auch Tee eingoss. Er hatte die Stäbchenabgabe überwacht und war zusammen mit zwei weiteren Kollegen vor Ort gewesen.
»Lasst mich nachdenken.«
»Geht es auch einen Ticken schneller, Frank?« Kraus klang ungehalten.
»Mann, was seid ihr heute unangenehm.« Zauber zog die Mundwinkel nach unten. »Wenn sich einer geweigert hätte, wüsstet ihr es längst.«
Die Spannung, die zwischen Kraus und Zauber in der Luft lag, schien kurz vor der Explosion zu stehen.
»Da bin ich mir nicht so sicher, Frank.«
»Willst du damit etwas andeuten, Peter? Dann spuck es aus.«
»Kein Grund sich aufzuregen, ihr beiden. Und kein Grund, Peter, uns deinen Frust spüren zu lassen.« Marielle hob beschwichtigend ihre Hände. »Überlege bitte noch mal, Frank. Es kann sein, dass sich jemand nicht direkt widersetzt, aber gezögert hat?«
Zauber seufzte einmal schwer. »Einer der Ärzte. Dr. Daniels. Der Oberarzt der ganzen Abteilung. Er hat ebenso argumentiert wie du eben, Harro. Meinte, dieses Szenario würde dem Steuerzahler höchstens einen Haufen Kohle kosten. Allerdings hat er sich der Untersuchung selbst nicht widersetzt.«
»Ich weiß, von wem du redest. Der Doktor war mit mir am Tatort.« Harro brachte sich wieder ein.
Zauber nickte. »Er war aber auch davor im Aufenthaltsraum. Sein Assistent, mit dem er die anstehenden Operationen für den nächsten Tag durchgegangen ist, hat es bestätigt. Er fällt als Verdächtiger weg.«
»Dann bleibt uns nichts, außer, dass ich einen Anschiss beim Oberstaatsanwalt wegen Übereifer erhalten werde?« Kraus stieß die Luft mit einem unwilligen Ächzen aus.
Harro zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Peter, dein Vorstoß war eigentlich eine gute Idee. Ich hätte noch eine.«
»Los, Harro.«
»Die Würgemale. Die Abdrücke. Damit können wir zumindest Handgröße und Fingerlänge vergleichen. Etwas ungenau, aber zumindest eine Art der Auslese.«
»Noch einmal ein Prozedere für das gesamte Personal. Vielleicht verunsichert eine solche Maßnahme den Täter.« Marielle horchte interessiert auf.
Kraus hob die Hand. »Nein. Einen weiteren großen Test werde ich bei der Staatsanwaltschaft nicht durchbekommen.«
»Es geht um den Mord an einer unschuldigen Frau, die noch dazu in einem Beruf gearbeitet hat, der viel Einsatz bei wenig Gehalt verlangt.«
»Marielle, das weiß ich. Wir brauchen aber Verdächtige. Noch haben wir keinen einzigen. Leider.«
»Von den Leuten aus ihrem näheren Arbeitsumfeld könnten wir trotzdem Abmessungen vergleichen.«
»Vielleicht ist das durchzubekommen. Aber nicht von jedem, der in dem riesigen Krankenhauskomplex arbeitet. Schon gar nicht von jedem Patienten oder Angehörigen, der dort einen Besuch abgestattet hat.«
Zauber hustete. »Nadel im Heuhaufen, Leute. Der Täter kann hinein und wieder hinausspaziert sein.«
»Am späten Abend müsste ein Besucher doch auffallen.« Marielle wollte nicht aufgeben.
»Die bisherigen Aussagen haben nichts ergeben.«