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Zwölf gruselige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte in Köln, angelehnt an Ereignisse und Legenden von der Antike bis in die Gegenwart: Wie eine der Jungfrauen von St. Ursula Angst und Schrecken verbreitete. Welchen grausamen Ursprung die Rivalität zwischen den beiden großen Rheinstädten hat. Wie eine alte Dame die grausame Geschichte erzählt, die hinter einem Wandbild voller Blüten steckt. Wie die Deutzer Brücke zum Zentrum einer tragischen Liebe wurde, und viele mehr.
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Seitenzahl: 277
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L. Kreutzer / U. Gardein (Hrsg.)
Die gruseligsten Orte in Köln
SCHAUERGESCHICHTEN
Grusel und Schauer in Köln Zwölf gruselige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte in Köln, angelehnt an Ereignisse und Legenden von der Antike bis in die Gegenwart: Wie eine der Jungfrauen von St. Ursula Angst und Schrecken verbreitete. Welchen grausamen Ursprung die Rivalität zwischen den beiden großen Rheinstädten hat. Als ein Messdiener im Dom von einem Geist und einer bösen Tat heimgesucht wurde. Wie zwei Liebende in einem Turm am Rhein ihrem grausamen Schicksal ausgeliefert wurden. Warum die Erbin des Postmeisters sich spät, sehr spät, doch noch rächte. Als ein Mann auf den Rheinwiesen den fatalsten kleinen Fehler seines Lebens machte. Was sich alles zuträgt in einer alten Villa, die niemand mehr betreten will. Auf welche skurrile Weise eine Mumie in einem Nobelhotel einen Mord vereitelte. Wie eine alte Dame die grausame Geschichte erzählt, die hinter einem Wandbild voller Blüten steckt. Warum ein alter Mann immer wieder auf einen Spielplatz zurückkehrte, um einen kleinen Jungen zu beschenken. Als eine alte Frau nach dem Tod ihres Mannes glaubte, den wahren Messias zu kennen und wie die Deutzer Brücke zum Zentrum einer tragischen Liebe wurde.
Dr. Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg geboren und lebt in München. Er ist Autor von Thrillern und Kriminalromanen, coacht Autoren auf den großen Buchmessen sowie Kongressen und richtet den deutschsprachigen Self-Publishing-Day aus. Mehr unter www.lutzkreutzer.de
Uwe Gardein wurde 1945 in Berlin geboren und lebt in der Nähe von München. Er ist Autor von Kriminalromanen sowie historischen Romanen und erhielt das Förderstipendium für Literatur der Landeshauptstadt München.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Die gruseligsten Orte in München (Hrsg.)
Uwe Gardein:
Das Mysterium des Himmels (2010)
Die Stunde des Königs (2009)
Die letzte Hexe (2008)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:St._Ursula_(Köln),_Goldene_Kammer.jpg
Karte S. 6: Katrin Lahmer
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6056-2
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Karte
1 Spinne und Kreuz
von Isabella Archan
2 Die Toten vom Bruch
von Michael Schreckenberg
3 Der Messdiener
von Elke Pistor
4 Tod im Weckschnapp
von Andreas Schnurbusch
5 Geh sterben
von Regina Schleheck
6 Altweibersommer
von Jutta Wilbertz
7 Mein eigen Fleisch und Blut
von Christina Bacher
8 Der Mumienmörder
von Tatjana Kruse
9 Die Blüte der Erinnerung
von Lutz Kreutzer
10 Die Sache
von Michaela Grünig
11 Der Messias und Margalit
von Leon Sachs
12 Der Friedhof der schönen Dinge
von Angela Eßer
Die Autoren
Lesen Sie weiter …
http://grusel-koeln.lutzkreutzer.de/
Wenige Gehminuten vom Kölner Dom entfernt, befindet sich Sankt Ursula. Das Bauwerk zählt zu den großen romanischen Kirchen Kölns und beherbergt tatsächlich einen Schatz: Die goldene Kammer, in der sich Reliquienbüsten und Schädelreliquiare verbergen.
In diesem auch Schreckenskammer genannten Raum ist in der Anordnung der Knochen zu lesen: S. Ursula pro nobis ora. Ursprünglich wurden die Gebeine für die sterblichen Überreste der berühmten Kölner Jungfrau gehalten, die, der Legende nach, im 4. Jahrhundert nach Christus durch den Pfeil des Hunnenfürsten als Märtyrerin starb.
Sie und ihre elf jungfräulichen Gefährtinnen waren bei der Landung ihrer Schiffe, von einer Wallfahrt kommend, in Köln auf die Hunnen gestoßen, die damals die Stadt besetzt hielten.
*
Hallo, Bernd!
Bernd hatte die E-Mail geöffnet.
Das weiße schmale Haus im Kölner Veedel Deutz, das Bernd mit seiner Mutter bewohnte, war bereits vorweihnachtlich geschmückt an diesem 1. Dezember. Auf den Klebebildern am Fenster in seinem Zimmer flogen kleine nackte Engelchen über weißen Wolken.
Das andere Bild, das die schöne fremde Frau mit ihrer E-Mail gesendet hatte, zog Bernd mehr an. Nun ja, sie zog ihn mit ihren schwarzen Haaren, dem wohlgeformten Mund und dem weißen Stern im Haar nicht nur an, sie verzückte ihn.
Er fragte sich, ob es möglich wäre, dass er tatsächlich diese mysteriöse und zugleich wundervolle E-Mail-Verfasserin kennenlernen könnte. Wie er in den Zeilen aufgefordert worden war. Ein Treffen. Es klang nach Fake, aber Bernd konnte sich nicht überwinden, die Nachricht in den Spamordner zu verschieben.
Sag zu, wenn du mich sehen möchtest. Heute. Um sieben Uhr abends an der Kirche Sankt Ursula. Wir werden uns erkennen – auch nach Ewigkeiten. Cordula.
Wir kennen uns? Ewigkeiten? Bernd war die E-Mail-Adresse der Absenderin völlig neu. Auch der Name sagte ihm nichts. Cordula. Er sah sich erneut das Foto an, blickte in diese umwerfenden Augen, die ihn zu fixieren schienen. Nein, an eine derartige Begegnung hätte er sich erinnert.
Ein Scherz? Eine Verwechslung?
Die wichtigste Frage allerdings lautete: Sollte er zusagen und hingehen?
Bernd musste über den Treffpunkt schmunzeln. Eine Kirche. Sankt Ursula.
Einmal in all den Jahren, seit er mit seiner Mutter in Köln lebte, hatte er sich in die eindrucksvolle Basilika verirrt. Heiß war es gewesen. Die verlockende Kühle im Inneren des Gebäudes hatte ihn angezogen, denn von Gotteshäusern im Allgemeinen hielt er nicht viel. Er war bei dieser Gelegenheit durch die Schreckenskammer gelaufen, die als Touristenattraktion galt. Es war überwältigend, wie auch irritierend gewesen. Sich Totenschädel und Reliquiengebeine anzusehen, war nicht seins. Angeblich von im 4. Jahrhundert nach Christus von Hunnen ermordeten Jungfrauen. Einfach gruselig. Nach wenigen Minuten war er wieder draußen und hatte sich lieber auf eine der Kirchenbänke gesetzt, um durchzuatmen. Die Gänsehaut auf seinen Armen war nicht von den Innentemperaturen gekommen.
Er könnte die Kammer noch einmal besuchen. Mit Cordula.
Bernd schüttelte seinen Kopf. Es musste ein Irrtum sein. Doch schon während des Schüttelns dachte er darüber nach, ob er seiner Mutter den Vorschlag machen sollte, am frühen Abend den Weihnachtsmarkt am Dom zu besuchen. Mit der Nachbarin Elke. Die beiden Tratschtanten würden sich anschließend ins Café »Ludwig« setzen, und er hätte mindestens eine Stunde freien Spielraum, indem er behauptete, er würde sich nach Weihnachtsgeschenken umsehen.
Wenn diese Cordula nicht kam, dann würde er früher zu Mutti und Nachbarin stoßen und sich nicht völlig lächerlich vorkommen.
Ein Hauch von Verbotenem wehte Bernd an und ließ ihn schlucken. Das Bild war aber auch anziehend. Er zoomte es größer und bemerkte erst jetzt, dass das Schmuckstück in Cordulas Haar ein Seestern zu sein schien. Nein, genau betrachtet, war es eine Spinne.
Spinne und Kreuz lautete der Betreff der E-Mail.
Ah ja, dachte Bernd und konnte absolut nichts damit anfangen.
Seine Finger kreisten über der Tastatur. Landeten. Tippten. Er klickte auf Senden. Eine Zusage ging ins Netz, ein passender Vergleich zum Spinnenhaarschmuck. Seine Hände zitterten nach der Aktion.
Bernd hatte noch nie auf eine derartige Nachricht geantwortet.
Von Zeit zu Zeit kamen schon mal gewisse Angebote herein. Junge Frauen mit freizügigen Fotos schickten Kontaktanfragen und sehnten sich angeblich nach einem wie ihm. Denn manchmal surfte Bernd auf Seiten, die seiner Mutter sicher nicht gefallen hätten. Aber er war eben auch nur ein Mann, und wenigstens hin und wieder brauchte er ein bisschen Wagemut in seinem braven Leben in dem weißen schmalen Haus in der Thusneldastraße. Hoffentlich kostete ihn seine Kühnheit durch seine Antwort nicht eine Stange Geld. Im World Wide Web war man immer einer potenziellen Abzocke ausgeliefert.
Ein leiser Ton holte ihn aus seinen Überlegungen.
Das Bild der geheimnisvollen Cordula tauchte erneut in einer Rückmail auf seine Zusage auf. Der neue Text lautete: Wundervoll – im Namen von Ursula – ich freue mich auf dich, Bernd!
Bernd fühlte sich berührt, und zugleich stieg seine Aufregung. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Es war, als würde sein Name nicht nur auf dem Bildschirm erscheinen, sondern wie ein gehauchtes Versprechen durch sein Arbeitszimmer schweben. Aber wer zum Teufel war denn dazu auch noch Ursula?
Bernd legte seine linke Hand auf seine Brust und tippte mit dem Zeigefinger der Rechten ein Wer bist du? ein.
Diesmal kam keine weitere Antwort. Eine halbe Stunde später gab Bernd das Warten auf. Doch nicht das Fünkchen Hoffnung, das ihn daran glauben ließ, hinter der Frau mit den schwarzen Haaren könnte ein realer Mensch verborgen sein. Eine Frau, die ihn in den Tiefen des virtuellen Kosmos auserkoren hatte.
Immerhin schien Cordula Bernd ja zu kennen.
Wenn jemand Bernd heute Morgen erzählt hätte, dass ihn mittags noch ein anonymer E-Mail-Verkehr mit einer Unbekannten so aus der Bahn werfen würde, hätte er dem einen Vogel gezeigt und seinen Bierbauch mit einem hämischen Gelächter zum Wogen gebracht.
Er googelte nach »Spinne und Kreuz«. Außer Kirchen, Kreuzformen und Bildern von Spinnentieren fand er nichts.
Egal, er würde es wagen. Heute. In sagenhaften – er sah auf die Uhr – sechs Stunden, würde er mit weichen Knien vor dem Eingang der Kirche Sankt Ursula stehen und nach einer Frau namens Cordula Ausschau halten.
»Bernd, ming Jung. Essen ist fertig!«
Mutters Stimme von unten aus dem Wohnzimmer war wie ein Faustschlag, der Bernd in die Realität zurückboxte.
»Was?«
»Dat heißt ›Bitte‹, Bernd. Essen! Trödel nicht, ich habe extra für dich decke Bunne met Speck gekocht. Dat soll net kalt werden.«
»Isch kumm, Mutti. Wollen wir später zum Weihnachtsmarkt am Dom? Mit der Frau Elke?«
*
Cordula verlässt ihr Versteck hinter der Mauer. Sie hätte bleiben können, zusammengekrümmt, erstarrt, den Atem anhaltend. Doch die Männer hätten sie ohnehin unausweichlich aufgespürt.
Sie kann Aukta und Odilia erkennen, die über den Abhang getrieben werden. Bleich, mit angstvoll geweiteten Augen. Den Jungfrauen und Reisegefährtinnen ist die Fassungslosigkeit über das Grauen anzusehen. Odilia schluchzt und wird von Aukta gestützt.
Wir werden alle sterben, denkt Cordula. Ein Schrei der Verzweiflung entkommt ihrer Brust. Im Gehen rauft sie sich die schwarzen Haare, zerreißt die feine Spitze an ihrem Oberkleid.
Dann entdeckt sie Ursula. Dort, am Ufer des Flusses, vor einem der Schiffe, auf denen sie alle nach Köln gesegelt wurden. Auf Pilgerfahrt aus Rom.
Ursula lächelt. Sie sieht ihrem Schicksal mit Gelassenheit entgegen. Hat sie nicht davon geträumt und im Traum dem Engel gedankt, als er ihr das Martyrium prophezeite?
Lieber Tod als Entehrung.
Ich bin nicht mutig, denkt Cordula, ich fürchte mich schrecklich.
Einer der Hunnen, die sie nun eingekreist haben, fasst Cordula schmerzhaft am Oberarm. Es sind wilde Gesellen mit ihren Bärten, ledernen Mänteln und spitzen Helmen. Sie will sich wehren, aber wieder geht ihr Blick zu Ursula.
Ein Schimmer scheint die junge Königstochter jetzt zu umgeben, der sie noch schöner und liebreizender aussehen lässt. Mit erhobenem Haupt steht sie dem Hunnenfürsten auf seinem Pferd gegenüber.
Seitlich, mit Säbeln in Schach gehalten, sieht Cordula all die anderen Jungfrauen sich aneinanderklammern. Eine verlorene Schar, dem Tode geweiht wie sie selbst.
Der Krieger stößt sie vorwärts, ihre Knie knicken ein und sie geht zu Boden. Hart ist der Untergrund, und ihre zarte Haut platzt auf. Der Schmerz ist grell, aber Cordula weiß, dass sie und die anderen erst am Anfang ihres Leidens stehen. Wie kann sie es schaffen, so stark zu sein wie Ursula und mit erhobenem Haupt ihr Schicksal anzunehmen?
Cordula stützt sich am Boden ab, lässt den Kopf gesenkt, holt Atem und sucht in ihrem Herzen nach Gottvertrauen. Unter ihren Handflächen ist Erde, ein Grasbüschel, ein paar Steine. Dazwischen bewegt sich etwas. Klein, flink, behände.
Es ist eine Spinne.
Das Tier ist weiß. Vollkommen weiß. Als würde es die Reinheit, die im jungfräulichen, gottgeweihten Herzen leuchtet, nach außen tragen. In die Welt.
»Spinne und Kreuz«, flüstert Cordula. »Spinne und Kreuz.«
Wut kommt hoch und lässt die Verzweiflung schrumpfen.
Ein Netz werde ich spinnen, denkt sie weiter. Ein Netz über die Zeit, in dem sich der Peiniger verfangen wird.
Sie streckt ihre linke Hand nach vorne, formt mit den Steinen ein Kreuz. Die Spinne krabbelt darüber. Es ist wie eine Vereinigung ihres Glaubens mit ihrem Zorn.
Dann packt der Hunne wieder zu, Cordula wird hochgerissen. Sie sieht in sein Gesicht, seine Augen, da ist kein Funken Mitleid. Und ja, die nächsten Stunden sind Qual, Jammer und Schmerz. Unentrinnbar, am Ende der Tod.
Aber da schimmern auch Stärke und Stolz in den Ritzen des Martyriums. Am Ende wartet ein Licht, das ein neues Zuhause verheißt.
Doch keine Vergebung.
*
Paul trat von einem Bein aufs andere, während Linus direkt an der hinteren Kirchenmauer seine Blase erleichterte.
Ich pisse auf dein Haus, dachte er. Schick doch einen Blitz, der mich erschlägt, wenn du es scheiße findest.
Als ihn kein Schlag aus heiterem Himmel traf, schüttelte er die Tropfen ab und zog den Reißverschluss schnell hoch. Die Kälte kribbelte unangenehm auf seiner Haut.
Seinen Baseballschläger hatte sich Linus dabei unter seine linke Achsel geklemmt. Mit seinem Käppi sah er ein wenig wie Charlie Brown aus, hatte ihn Sandra aufgezogen. Sie war eben um die Ecke geschlendert und hielt sich an der äußeren Seitenmauer auf.
Linus’ Zischen war scharf. »Komm sofort zurück, Sandra, du Idiotin. Dort kann dich doch jeder sehen!«
Ein Wagen fuhr die Straße an der Kirche entlang. Sandras bleiches Gesicht erhellte sich für Sekunden. Die Weihnachtsmütze auf ihrem Kopf ließ sie wie eine Figur aus einem Disneyfilm wirken.
Linus packte sie am Handgelenk und zerrte sie grob durch den Eingang und weiter zum Parkplatz zurück. Im winterlich kahlen Gebüsch, das links und rechts an der Kirchenmauer gepflanzt worden war, waren sie auch ohne Blätterwerk von der Straße aus nicht mehr zu sehen. Das Licht, das aus den Kirchenfenstern hinter ihnen schimmerte, gab genug Helligkeit, um sich orientieren zu können.
Bei ihrem Vorhaben würden sie demnach kaum zu erkennen sein. Scherenschnitte in einem diffus erleuchteten Streifen. Die Kunst war, rasch vorzugehen, wenn es so weit war. Sich danach noch schneller aus dem Staub zu machen. Der Nervenkitzel würde sie hochpuschen.
Drei Autos parkten auf der markierten Fläche.
»Ich wollte bloß gucken. Und ich bin keine Idiotin, klar?«
Sandra kaute Kaugummi, ihr schmaler Mund bewegte sich ununterbrochen. Zugleich spielten ihre Finger mit dem Smartphone.
Paul knabberte an seinem Daumennagel. Er war heute das erste Mal dabei und sichtlich nervös. Dass Linus ihn ausgesucht hatte, schlechte Haut, schüchtern im Umgang mit Mädchen, unauffällig, kam ihm immer noch unwirklich vor.
»Was, wenn einer kommt? Eine der Karren eine Alarmanlage hat, oder so?«
»Bis sie es schnallen, sind wir weg.«
»Warum denn ausgerechnet bei einer Kirche, Linus?«
Linus grinste Paul an, während er Sandra den Rücken streichelte. Sie zog die Schultern hoch. Die Weihnachtsmütze wackelte. Linus’ rechter Oberschenkelmuskel zuckte.
»Weil das Tor offen war. Gelegenheit, verstehste? Besser wird’s heute nicht mehr.«
Linus machte einen großen Schritt von Sandra weg zu Paul hinüber. Er packte den schmächtigen Jungen am Kragen seiner Winterjacke und schüttelte ihn durch. Paul machte keine Anstalten zur Gegenwehr, bis Linus ihn wieder losließ.
»Also Pauli, so läuft’s. Ich suche mir eine von den Karren aus, und auf mein Kommando legen wir los. Ich hau mit meinem Schläger das Fahrerfenster ein, du schlitzt die Reifen auf und unser Schätzelein hier«, er war wieder bei Sandra, »sprüht die Kühlerhaube an. Das wird krass.«
Linus grinste. Sandra kicherte, kam näher an Paul heran und strich ihm über die Wange. Ihre Finger waren kalt, Eissplitter. Dann zückte sie aus ihrer Umhängetasche eine Spraydose. »Schwarz. Wie es zu coolen Mädchen passt. Vielleicht gehört ja eines der Autos dem Papst selbst.«
Paul nickte, auch wenn er Sandras Bemerkung strunzdoof fand. Aber Linus hatte das Sagen. In der Klasse ebenso wie hier. Und Sandra war Linus’ Freundin.
Der wurde wieder ernst.
»Am liebsten würd’ ich sie alle drei demolieren. Mal sehen, wie’s anläuft.«
Vorher waren sie über den Weihnachtsmarkt spaziert und hatten sich jeder einen Punsch reingezogen. Sandra dazu noch Zuckerwatte. Paul war vor bis an den Rhein gelaufen, hatte sich am Wasser in den Wind gestellt. Er hatte tief ein- und ausgeatmet und sich so lebendig gefühlt wie selten.
Seine Mutter war ihm eingefallen, ihr Bemühen ihn großzuziehen, und da hatte er ein Zögern gespürt. Aber dann war Sandra neben ihm aufgetaucht mit der Weihnachtsmütze auf dem Kopf. Sie hatte mit ihrem Kaugummi eine Blase gemacht. Jeder Gedanke an Konsequenz oder Schuld war von Paul weg und weiter flussabwärts geflossen.
»Also, auf drei, oder was?« Pauls Stimme wisperte.
Sandra drehte das Display ihres Smartphones in Pauls Richtung und giggelte.
»Ich mach’ ein Selfie, bevor wir abhauen.«
Linus nahm den Baseballschläger in beide Hände und schlenderte an den Autos entlang.
Paul merkte, dass er trotz der Kälte zu schwitzen begann. Er spürte das Adrenalin durch seinen Körper strömen. Er griff in seine Jackentasche. In der Sekunde schoss ihm durch den Kopf, dass er das Taschenmesser vergessen hatte, mit dem er die Reifen hätte aufschlitzen sollen. Linus würde ihm den Hals umdrehen und sich morgen vor der ganzen Klasse über ihn lustig machen.
Jetzt raste sein Herzschlag, aber nicht vor Vorfreude.
»Oh Gott, da kommt einer.« Sandras Stimme quiekte.
Linus packte sie.
»Los, wir verstecken uns und warten ab. So ’ne verdammte bescheuerte Scheiße!«
Auch er hörte sich trotz des Kraftausdrucks erschrocken an.
Nur Paul fiel vorerst ein Stein vom Herzen.
*
Der Abend war kalt und windig.
Bernd wäre fast bei Mutti und Nachbarin Elke im warmen Café geblieben. Doch das Bild der Frau hatte eine glühende Spur in seinem Hirn und tieferen Regionen hinterlassen.
Nach dem Trubel auf dem Weihnachtsmarkt am Dom waren auf den Straßen Richtung Sankt Ursula-Kirche kaum Menschen unterwegs. An der Ecke zum Ursulaplatz hatte ein Mann mit seinem Pudel Bernds Weg gekreuzt. Der Hund hatte an Bernds Hose geschnüffelt.
Auf den letzten Metern war ihm eingefallen, dass um diese Zeit das Gittertor am Eingang zum Kirchengelände sicher längst verschlossen war. Es war eine Fake-E-Mail gewesen, das stand jetzt schon fest. Hatte er je eine dümmere Aktion durchgezogen?
Trotzdem ging er weiter.
Das gusseiserne schwere Tor stand offen. Weit. Unfassbar.
Der asphaltierte Eingangsbereich war nicht erleuchtet, dafür fiel Licht durch die bunten Kirchenfenster nach draußen und ließ den breiten Weg leicht schimmern.
Romantisch wirkte das Leuchten, mystisch, ein wenig wie nicht von dieser Welt. In der Stille hörte Bernd sein Herz klopfen. Es schlug zu schnell. Das Blut in seinen Ohren rauschte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie hoch sein Blutdruck im Moment war.
Sein Verstand, der vernünftige desillusionierte Teil, wollte, dass er auf der Stelle kehrtmachte. Seine Sehnsucht ließ ihn weitergehen. Falls es sich doch um eine fiese Abzocke handelte, hatte er zur Sicherheit gerade mal 20 Euro dabei. Sein Handy und sein Portemonnaie hatte er in der Handtasche seiner Mutter gelassen. Aber ein Kondom hatte er eingesteckt. Für den Fall, dass …
Bernd schüttelte seinen Kopf über sein unlauteres Verhalten. Wenn Mutti davon wüsste.
Bernd.
Er wirbelte herum.
Cordula.
Langes schwarzes Haar, helle Haut, volle Lippen. Wunderschön. Ihr Kleid lang, edler Stoff und mit Spitze ausgestattet. Ihr Gang leicht, ihre Bewegung elegant. Sie schien zu schweben. Auf ihn zu.
Woher kam sie? Egal.
Sie war da, das zählte.
Und ja.
Er kannte die Frau.
Wie Schuppen von den Augen fiel es ihm.
Das Erkennen war wie eine Woge aus heißem, geschmolzenem Gold. Es überspülte sein Denken, sein Herz und seine Gefühle. Setzte sie in Flammen. Verbrannte sie.
Die Jahrzehnte, die Jahrhunderte trieben lodernd an ihm vorbei.
Bernd. Das war er jetzt. Ein alleinstehender Mann, der mit seiner Mutter zusammenlebte und auf mehr in seinem Leben hoffte. Ein kleiner, ein dicker Kerl an Statur, mit wenig Ansehen, der in seinen mittleren Jahren mit den Wehwehchen des Übergewichts, mit Sodbrennen und Rückenschmerzen kämpfte. Beruflich ein mittelmäßiger technischer Zeichner, privat ein Muttersöhnchen mit dem unerfüllten Wunsch nach einer Beziehung. Kein schlechter Mensch, aber auch nie wirklich gut und tapfer oder gar kriegerisch gewesen.
Eben Bernd.
Doch nun wurde er zu vielen anderen.
Er spaltete sich auf in Menschenleben, die er durchlebt und erlebt hatte. Männer wie Frauen, jeder und jede Kinder ihres jeweiligen Zeitalters.
Er blieb er selbst und teilte sich doch in Tausende Existenzen.
Geburt, Tod, Wiedergeburt.
Immer schneller kamen die Bilder, rissen ihn mit und taten ihm weh. Denn in allen diesen Leben fühlte er Einsamkeit und Schuld. Nie eine Chance auf Vergebung.
Dann hielt das Wogen an.
Am Anfang standen sie beide.
Er, der Hunne, der Krieger.
Und die Jungfrau.
Cordula.
Damals hatte er ihren Namen nicht gewusst. Nur die Frau gesehen, die er sich nehmen und am Ende töten konnte.
Diesmal ging er in die Knie.
Er wurde klein und sie wurde groß. Sie überragte seine kniende Gestalt wie eine Riesin aus der alten Zeit, in der das Christentum noch jung und die alten Götter mächtig gewesen waren.
Er erinnerte sich.
Vor allem an seine Tat.
Seine Untat.
Die Tränen kamen, ohne dass er es merkte. Der Schmerz. Nicht der körperliche, den, den sie damals erduldet hatte, sondern der aus der Seele. Tief aus seinem Inneren quoll die Erkenntnis und das Verstehen seiner Grausamkeit, schoss aus dem Brunnen der Vergangenheit das ungesühnte Verbrechen.
Die Gefühle waren zu mächtig, um sie zu ertragen.
Sein Mund begann Schreie auszustoßen. Schrill. Hoch. Schmerzhaft.
Immer weiter. Schrei um Schrei, sich selbst verschlingend im Verstehen.
Er sah nach oben, blind geworden für die Welt, die ihn umgab. Ihrer Gnade ausgeliefert. Sein Tod würde ihren nicht wiedergutmachen, aber ein Gewicht in die Waagschale legen, wenn er am Ende aller Leben einst vor der großen Abrechnung stehen würde.
Das Schreien hörte ohne sein Zutun auf.
»Verzeih’ mir«, sagte er, oder dachte er, oder träumte er.
Cordula beugte sich näher zu ihm. Sie strich über seine Stirn.
Mit ihrer anderen Hand griff sie sich ins Haar und nahm das Schmuckstück ab.
Die weiße Spinne.
Die sich bewegte und kein totes Ding mehr war. Sie krabbelte über Cordulas Hand auf seinen Kopf, über seine Stirn und seine Lippen. Er öffnete seinen Mund. Die Spinne verschwand darin.
Er schloss seine Augen.
Alle Leben strömten wieder auseinander und nahmen ihren Platz in Zeit und Raum ein.
Zurück blieb nur Bernd.
Dann kam die Dunkelheit.
*
Die Trockenheit in dem Verhörraum machte Paul zu schaffen.
Die Tür ging auf.
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, Herr Sanger. Oder darf ich Sie Paul nennen?«
Der Name des Polizeibeamten war ihm entfallen. »Paul, ja.« Er flüsterte.
»Wie alt?«
»Ich bin 15. Also noch 23 Tage lang. Hab direkt am 24. Dezember Geburtstag. Doof.«
»Eigentlich doch ganz schön. Ein heiliges Kind, also, könnte man sagen.«
»Ja. Das meint meine Mutter auch immer. Sie können mich gern duzen.«
»Gut. Willst du etwas trinken?«
Paul schüttelte den Kopf und nickte zugleich.
Der Polizist zauberte eine kleine Flasche Wasser aus seiner Jacke und reichte sie ihm.
Während Paul den Verschluss drehte, schmerzten seine Finger, als wäre er geklettert. Nach dem ersten Schluck musste er plötzlich daran denken, dass nun seine DNS oder DNA, oder wie das mit den Genen hieß, am Flaschenhals kleben geblieben war.
Paul begann mit seiner freien Hand nach einem sauberen Taschentuch in seiner Winterjacke zu kramen, mit dem er seine Spuren wieder abwischen konnte. Er bekam nur die Fetzen eines gebrauchten zu fassen.
»Fällt dir ein Grund ein, warum du und deine Freunde vor der Kirche wart, als die Sache mit dem Mann geschehen ist?« Der Polizist setzte sich Paul gegenüber. »Kommt es öfter vor, dass ihr abends durch die Stadt stromert?«
Stromern. Was für ein Wort. Paul hatte weder in der Schule, noch in den Büchern, die ihm seine Mutter aus der Bibliothek mitbrachte, jemals eine solche Bezeichnung gelesen.
Er schwieg.
Endlich bekamen seine Finger ein sauberes Taschentuch zu fassen. Das erleichterte Paul so sehr, als wäre er eben entlassen worden und hätte mit den anderen wieder »stromern« können. Er zog es heraus. Zugleich nahm er die Flasche zwischen seine Knie unter die Tischplatte und begann, den Flaschenhals damit abzureiben. Er kam sich dabei bescheuert vor, konnte aber nicht anders.
»Ich schwöre, ich habe dem Typen nichts getan. Keiner von uns.«
Dieser Satz arbeitete in Pauls Hirn weiter. Plötzlich tauchten vor seinem inneren Auge all die Krimiserien auf, die er sich zusammen mit Mama angesehen hatte. Diese Behauptung war darin oft gesagt worden. Vor allem von dem am Ende Schuldigen.
Doch hier war es die Wahrheit. Warum hätte Paul einen Menschen töten sollen? Er war zu doof, um Autoreifen aufzuschlitzen.
Drei Stunden waren seit dem Vorfall an der Kirche vergangen.
Der Blick zurück war immer noch verstörend.
Sich vorsichtig umsehend, kommt der Typ durch das offene Gittertor und betritt das Kirchengelände. Paul quetscht sich in die Büsche. Linus geht mit Sandra hinter den Autos in Deckung, die sie eigentlich demolieren wollten.
Ein kleiner, übergewichtiger Mann ist es. In einem grauen Parka. Breit wie hoch, denkt Paul grinsend.
Dann bewegt sich der Typ Richtung Kircheneingang, nicht auf den Parkplatz zu. Paul atmet erleichtert aus.
In dem Moment kippt die gesamte Situation.
Warum und vor allem wie genau, kann Paul auch später nie mehr artikulieren. Dafür gibt es in ihm keine Worte, die er zu vernünftigen und glaubwürdigen Sätzen hätte formen können.
Der Typ bleibt stehen.
Ein Licht von oben, das aus den Kirchenfenstern kommt, wird irgendwie lebendig.
Es verdichtet sich. Nimmt Gestalt an. Wie in einem der Superheldenfilme. Genau so!
Das Licht erschafft einen zweigeteilten Körper mit acht Beinen. Paul kennt diese Form, aber er kann sie in diesem Moment nicht benennen.
Was geschieht, widersetzt sich Pauls Verstand.
Der Typ kniet nieder.
Mit einem Mal beginnt er zu schreien wie ein sterbendes Baby. Unheimlich, schrill, verloren.
Dann Stille.
Und das Licht?
Verschlingt ihn? Oder saugt ihn aus?
Auf jeden Fall tötet es ihn. Killt ihn. Er fällt zur Seite und bleibt in einer gekrümmten Haltung am Boden liegen. Als wäre er zusammengefaltet worden.
Und dann?
Paul sieht nach oben. Zu den Kirchenfenstern von Sankt Ursula. Im mittleren Fenster meint er ein Kreuz zu erkennen, das leuchtet.
Spinne und Kreuz.
Ein fremder Gedanke in Pauls Hirn.
Gruselig.
»Los, abhauen!«, brüllt Linus.
Er und auch Sandra werden später aussagen, dass sie nichts außer den Dicken gesehen haben.
Aus dem Verwaltungsgebäude neben der Kirche kommt jetzt jemand mit einer Taschenlampe gerannt. Ein Wachmann. Der schreit wiederum die Teenager an.
»Was, zum Teufel, macht ihr da? Warum ist das Tor offen? Was ist hier passiert?«
»Zum Teufel« vor einem Gotteshaus?, wundert sich Paul noch.
Er hört den Lärm von Sirenen näherkommen, die Polizei muss bereits verständigt worden sein. Sandra steht wie zur Salzsäule erstarrt. Linus sprintet erst los, um nach ein paar Schritten umzudrehen und sich an seine Freundin zu klammern.
Paul senkt seinen Kopf, seine Hände sind gefaltet wie zu einem Gebet.
Sein Blick wandert zu dem Typen am Boden. Im Strahl der Taschenlampe wirken dessen Lippen vollkommen weiß, auch sein Haar. Aus einem seiner Ohren kriecht ein Tier heraus, weiter über die Wange. Dann zu Boden.
Eine Spinne.
Ebenso weiß. Vollkommen.
Sie krabbelt Richtung Kirche und verschwindet in der Dunkelheit.
»Habt ihr den Mann überfallen, weil ihr sein Geld oder sein Handy wolltet? Er wäre fast gestorben.«
Der Polizeibeamte riss Paul aus seiner inneren Rückblende. Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte.
»Wir haben unter einem der parkenden Wagen einen Baseballschläger gefunden. Deiner oder der deines Freundes, Paul? Die Fingerabdrücke werden es ohnehin früher oder später ans Tageslicht bringen, also spuck es aus. Was hat sich abgespielt?«
Paul war bei einer anderen Feststellung hängen geblieben. »Fast? Was meinen Sie mit fast? Der Typ ist also nicht tot?«
»Der Mann wird es überleben. Zumindest gehen die Ärzte in der Klinik davon aus. Er kam im Rettungswagen kurz zu sich. Noch kennen wir seine Identität nicht. Zu eurem Glück waren keine äußeren Verletzungen an ihm festzustellen. Was hattet ihr dort verloren?«
Paul ließ auch diese Frage des Beamten unbeantwortet. »Wir haben nichts gemacht, Ehrenwort. Er hat geschrien, ist einfach umgekippt. Herzinfarkt, vielleicht, oder so was.«
»Vielleicht.« Der Polizist sah in seine Unterlagen, er schien sich selbst über das Vorkommnis zu wundern. »Noch gibt es keine eindeutige Diagnose. Als er bei Bewusstsein war, konnte er weder sprechen noch sehen, hat uns ein Sanitäter gesagt. Aber ich verspreche dir und deinem Anhang, dass ich euch in den Jugendknast bringe, wenn sich herausstellt, dass ihr ihn bestehlen wolltet.«
»Wollten wir nicht.« Paul sah zu dem Polizisten hoch. Sah ihm in die Augen. »Hand aufs Herz. Und die zwei anderen sind nicht mein Anhang. Weder Linus, noch Sandra. Die sind bloß Mitschüler. Nicht mal Freunde von mir.«
Der Polizeibeamte hielt den Blick eine Weile, dann sah er zum Einwegspiegel hin.
»Deine Mutter ist draußen, Paul.«
Jetzt brauchte Paul wieder das Taschentuch, denn seine Augen wurden vor Erleichterung feucht.
Das Weiß der Zellulose ließ ihn an die Spinne denken.
*
Die Geschichte um Bernd ist frei erfunden.
Auch Cordula, eine der Jungfrauen um die heilige Ursula, und ihr Schicksal mögen ins Reich der Legenden gehören.
Doch die Frage stellt sich, wie lange die Energie eines Verbrechens die Zeiten und Leben der Beteiligten überdauern kann.
Lange bevor der Grundstein des Kölner Doms gelegt wurde, Jahrtausende bevor Köln mit der Gründung des Oppidum Ubiorum seinen Anfang nahm, gab es schon das sumpfige Waldstück, das heute Worringer Bruch heißt. In einem hufeisenförmigen ehemaligen Rheinarm gelegen, entstand es vor mindestens 5000 Jahren – und hat damit mehr Geschichte vergessen, als die Menschheit geschrieben hat, bevor es selbst an einem Sommertag des Jahres 1288 in die Geschichte einging. Am 5. Juni dieses Jahres fand auf den angrenzenden Feldern die Entscheidungsschlacht des Limburgischen Erbfolgestreits statt. Der Graf von Berg kämpfte dabei ebenso wie Bauern aus dem Bergischen Land und Bürger der Stadt Köln auf Seiten des Herzogs von Brabant gegen den Erzbischof von Köln und seine Verbündeten. Am Nachmittag lagen mehr als 1000 Tote auf der Heide und im Wald, die meisten von Pferdehufen zertrampelt und durch Leichenfledderei aller Erkennungszeichen beraubt. Der Erzbischof von Köln hatte eine der blutigsten Schlachten des Mittelalters verloren und die Spuren dieses Tages leben bis heute fort – sei es in der Rivalität der Städte Köln und Düsseldorf.
*
»… und kann es nicht finden.«
Der Boden unter mir ist aufgewühlt, nichts als dieser Boden und dichter Nebel rings um mich. Ich stolpere durch den Nebel, Schemen von Bäumen, stolpere über Totholz, verfange mich in Sträuchern. Ich bin im Wald, da ist jemand, und dann ist etwas, etwas am Boden, ich stolpere, falle, sinke in altes Laub und feuchtkalte Erde. Da ein Baumstamm, ich ziehe mich zu ihm, ziehe mich daran hoch, lehne mich an das Holz. Dunkelheit. Die Borke drückt sich in meinen Rücken, ein angenehmer Schmerz, freundlich fast. Meine Augen sind geschlossen, merke ich jetzt.
Ah. Deshalb ist es dunkel.
Einfache Lösungen. Einfache Eindrücke. Der Nebel wird durchlässig, ich spüre.
Wärme auf meinem Gesicht. Ein leichtes Kitzeln auf meiner Hand, von dem mein Körper weiß, dass es die Beine eines Insekts sind. Altes Wissen.
Immer noch Dunkelheit, die Augen immer noch geschlossen. Der Nebel schwindet immer mehr. Ich höre.
Vögel zwitschern, ein seltsam gleichmäßiges Rauschen. Höre ich Schreie? Ja, aber …
Ich öffne die Augen.
Helligkeit, Flimmern, Sonne durch ein Blätterdach, ich blinzle. Meine Hand zuckt, der Schmetterling fliegt auf, flattert an mir vorbei, ein Tagpfauenauge. Schön.
Der Nebel war nur in meinem Kopf. Jetzt ist er ganz fort. Ich habe etwas gesucht …
Egal.
Ich stehe vom Waldboden auf. Ich hatte mich an eine Pappel gelehnt. Um mich mehr Pappeln, mickrige Birken, Haselsträucher, so alt, dass sie fast wie Nester kleiner Bäume wirken. Der Boden ist uneben, bedeckt von Moos, Gesträuch, Laub und altem Holz in allen Phasen der Verrottung. Ich schlage mich durch den wilden Bewuchs, finde bald einen Weg, dem ich folge, bis er zu einer schmalen, asphaltierten Straße wird, über der sich das Dach und die Wände aus Blättern zu einem Tor öffnen. Jenseits davon: Felder, eingefasst von dem hufeisenförmigen Wald, aus dem ich eben getreten bin. Ich folge der Straße, ziellos eigentlich und doch nicht zufällig. Mein Weg führt mich noch einmal durch den Wald, und dann zum Ende einer Sackgasse. Die nahe Stadt kann ich ahnen, doch hier ist nur ein Haus. Es liegt wie vergessen hinter großen Gittern, die einmal einen Zaun bildeten. Hier wollte jemand bauen. Renovieren. Jetzt sind einige Zaunelemente umgefallen und bilden ein Tor.
Es ist Sommer, und das verschwenderische Grün rings um das Gebäude scheint entschlossen, es zu ertränken. Gräser sind Büsche geworden und Büsche Bäume, sie greifen nach dem Haus, wollen es zu sich herabziehen, eine stille Eroberung, schon haben sie das erste Stockwerk erreicht, schon das zweite, greifen nach den leeren Fenstern und dem Dach. Das Haus ist irgendwo zwischen Rohbau und Ruine, aber es hat sich noch nicht ergeben. Die meisten Fenster sind leer, die unteren mit Holzplatten verblendet. Es wird verfallen – aber noch wehrt es sich.
»Hey, bist du Patrick?«
Ich fahre herum. Es sind zwei Männer und eine Frau in meinem Alter, also Mitte 20. Der, der mich angesprochen hat, ist schlaksig und lang, alles an ihm scheint zu groß, die klobigen Schuhe, die Hose, die ihm – von einer unsichtbaren Macht gehalten – von den schmalen Hüften fließt, das schwarze T-Shirt, das ihn als »Rebell« ausweist, selbst seine Nase, seine Ohren und seine Frisur. Alles zu viel für das bisschen Körper, das er da hat. Der andere Mann ist kleiner, breitschultrig und muskulös oberhalb der Taille. Darunter stecken zwei erstaunlich dünne Beinchen in einer eng anliegenden Jeans. Der übertrainierte Rumpf quillt aus einem T-Shirt, das mich ebenfalls darüber informiert, mit wem ich es zu tun habe: URBEX-DANGERSEEKER.