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Die Geschichte des größten Gebirges Europas, von Hannibal bis Heidi und darüber hinaus.
Ganze Armeen sind über ihre Pässe marschiert, Herden von Pilgern mussten sie auf dem Weg nach Rom überqueren, Schmuggler und Räuberbanden nutzten ihre vielen Täler als Unterschlupf und nicht wenige Bergbauingenieure und alpine Pioniere ließen ihr Leben bei dem Versuch, ihnen einen menschlichen Stempel aufzudrücken. Heute leben etwa 14 Millionen Menschen zwischen den Gipfeln des größten Gebirges Europas und die einst furchterregenden Höhen sind ein beliebtes Ziel von vielen Millionen Bergwanderern, Skifahrern und Wellnessurlaubern geworden. Dieses Buch nimmt seine Leser mit auf eine spannende und unterhaltsame Reise quer durch die Geschichte der Alpen. Der Historiker Stephen O'Shea begegnet den Einheimischen, ihren Eigenarten und erzählt wie im Vorübergehen die zahlreichen Mythen und Legenden, die sich an den Hängen und in den Tälern zwischen Grenoble und Triest finden lassen. Der Bogen dieser einzigartigen Reise spannt sich über 800 Kilometer durch Frankreich, Italien, die Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Österreich und Slowenien und über mehr als 2000 Jahre Geschichte – von Hannibal bis Heidi und darüber hinaus.
Mit großer Übersichtskarte im Vor- und Nachsatz, erstellt von Peter Palm.
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Seitenzahl: 465
Buch
Ganze Armeen sind über ihre Pässe marschiert, Herden von Pilgern mussten sie auf dem Weg nach Rom überqueren, Schmuggler und Räuberbanden nutzten ihre vielen Täler als Unterschlupf und nicht wenige Bergbauingenieure und alpine Pioniere ließen ihr Leben bei dem Versuch, ihnen einen menschlichen Stempel aufzudrücken. Heute leben etwa 14 Millionen Menschen zwischen den Gipfeln des größten Gebirges Europas, und die einst furchterregenden Höhen sind ein beliebtes Ziel von vielen Millionen Bergwanderern, Skifahrern und Wellnessurlaubern geworden.
Dieses Buch nimmt seine Leser mit auf eine spannende und unterhaltsame Reise quer durch die Geschichte der Alpen. Der Historiker Stephen O’Shea begegnet den Einheimischen, ihren Eigenarten und erzählt wie im Vorübergehen die zahlreichen Mythen und Legenden, die sich an den Hängen und in den Tälern zwischen Grenoble und Triest finden lassen. Der Bogen dieser einzigartigen Reise spannt sich über 800 Kilometer durch Frankreich, Italien, die Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Österreich und Slowenien und über mehr als 2000 Jahre Geschichte – von Hannibal bis Heidi und darüber hinaus.
Autor
Stephen O’Shea ist Historiker und Autor zahlreicher Bücher über europäische Geschichte. Er zog bereits 1980 nach Paris und war nach einem Studium an der Sorbonne und am renommierten Institut d’Etudes Politiques als Frankreich- und Europa-Korrespondent für diverse Zeitungen und Magazine tätig, darunter Elle, Variety, The Observer, The Times of London, Harper’s Bazaar, Interview und Allure. Er lebt mittlerweile mit seiner Familie in Providence, Rhode Island, USA.
Stephen O’Shea
Die Alpen
Von Hannibal bis Heidi – Geschichten, Mythen und Legenden
Aus dem Amerikanischen
von Regina Schneider
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Alps« bei W. W. Norton & Company, Inc., New York.
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Deutsche Erstausgabe Dezember 2017
Copyright © 2017 der Originalausgabe: Stephen O’Shea
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Nick Misani
Redaktion: Linde Wiesner
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
JT ∙ Herstellung: CB
ISBN 978-3-641-21481-4V003
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Helfer
H. Ellison, Dana H., Edward H., Ernst H.
Inhalt
Vorwort
TEIL EINS
Vom Genfer See zum Gotthardpass
1.Genfer See
2.Mont Blanc
3.Col de l’Iseran und Savoyen
4.Col du Mont Cenis
5.Großer St. Bernhard und Matterhorn
6.Furkapass und Gotthardpass
TEIL ZWEI
Von Heidiland bis Grindelwald
7.Heidiland, Meiringen und Eiger
TEIL DREI
Von Innsbruck nach Triest
8.Fernpass, Sudelfeld und Berchtesgaden
9.Salzkammergut und Großglockner
10.Dolomiten und Stilfser Joch
11.Plöckenpass und Vršičpass
Dank
Sachregister
Personenregister
Vorwort
Die beste Beschreibung der Alpen, die mir je begegnet ist, stammt aus der Feder eines Geologen namens Richard Fortey. In Der bewegte Planet: Eine geologische Reise um die Erde schildert er die gewaltige Kollision der Afrikanischen mit der Europäischen Kontinentalplatte, verursacht durch die Macht tektonischer Vorgänge über Jahrtausende, und schreibt: »Alpine Gebirge können mit schlecht gemachter Lasagne verglichen werden, grob übereinander geschichtet und bei der Zubereitung verbogen.«
Geboren aus einem Prozess der Gebirgsbildung, der vor rund 65 Millionen Jahren begann, sind die Alpen heute furchterregend hoch aufgefaltete Gesteinsmassen, die sich nicht etwa an der Saumkante Europas befinden, sondern hinderlicherweise mittendrin.
Fast zwei Jahrzehnte lang lebte ich in Paris, danach einige Jahre in Perpignan im Schatten der Pyrenäen. Und immer wieder war ich angezogen von den Alpen, Europas mächtigster Gebirgskette, habe sie überflogen, ihre Tunnel im Zug durchfahren, ihre atemberaubenden Passstraßen im Auto überquert und ihre beschneiten Hänge auf Skiern befahren.
Man mag versucht sein, die Alpen als winterliches Märchenland abzutun, als eine Kulisse für Skisportbegeisterte, die sich dort dick eingemummelt selbst fotografieren. Doch die Alpen sind – und waren stets – weit mehr als das. Sie stehen der ungehinderten Passage zwischen dem nördlichen und südlichen Europa im Weg. Durch ihre schiere Größe und Unzugänglichkeit bilden sie eine Trennlinie zwischen Sprachen, Küchen, Kulturen, Religionen, historischen Entwicklungen und vielem mehr. Genau diese Humangeografie ist es, was mich am meisten interessiert. Die versteckten Täler der Alpen haben seit der Antike vieles gesehen – marschierende Heere, waffenklirrende Kreuzzügler, wandernde Pilger. Über ihre widrigen Pässe haben sich Händler ebenso gekämpft wie Bischöfe, Kaiser, Edelfrauen und Diebe. 14 Millionen Menschen leben heute in den Alpen, und viele von ihnen können sich nicht miteinander unterhalten, derart groß sind die Sprachbarrieren, die das Gebirge geschaffen hat. In ihrer bewegten Geschichte bestand die Rolle der Alpen also hauptsächlich im kulturellen Bruch bzw. in der Disruption, um einen derzeit sehr populären Begriff zu verwenden.
Ehe ich meine Neugierde befriedigte und zu meiner Reise ins Herz der Alpen aufbrach, war mir nicht bewusst, dass dieses Gebirge die Geburtshelferin der »romantischen Revolution« war. Es war mir nicht bewusst, dass die Alpen die Art und Weise, wie wir heute die Natur betrachten, verändert haben, dass das, was einst als abweisend erachtet wurde, eine geradezu sinnlich-ästhetische Anziehung entfaltete. Die Alpen haben den Tourismus mehr oder weniger erfunden und die Wintersportmanie entfacht. Sie haben Künstler und Kriminelle inspiriert. Sie haben Draufgängern und Intellektuellen ganz neue Herausforderungen eröffnet. Die Bergsteigerei ist hier ebenso wie die Wissenschaft der Geologie ihren Kinderschuhen entwachsen. Die Alpen sind ein Ort grandioser Meisterleistungen der Ingenieurskunst, aber auch ein Ort schrecklicher Katastrophen.
Die Gebirgsketten der Alpen nehmen eine Gesamtfläche von 220000 Quadratkilometern ein und erstrecken sich in einem 1200 Kilometer langen und 200 Kilometer breiten Bogen von Frankreich bis Slowenien – Tausende von Gipfeln: riesige, mittlere und kleine. 1599 von ihnen sind höher als 2000 Meter. Nach langem Hin- und Herüberlegen entschied ich mich für eine Route von West nach Ost, vom Genfer See in der Schweiz bis nach Triest in Italien. Dies bedeutete, dass ich die Mammutgipfel zu Beginn meiner Reise angehen konnte. Zudem war es mir wichtig, mich auf die Hochgebirgspässe der Alpen zu konzentrieren, nicht auf ihre hohen Gipfel. Man muss einen Pass überqueren, erst dann erkennt man die Vielfalt in der kulturellen Geografie, erfährt die verschiedenen Geschichten, die man sich zu beiden Seiten des Berges erzählt, sieht, dass es Dinge gibt, die man hüben albern findet, drüben aber großartig. Der Aufstieg zu einem Pass führt zunächst durch Wälder, die allmählich schwinden, bis sich oberhalb der Baumgrenze nur noch alpine, schneebedeckte Tundra hinzieht. Bergab geht es über unzählige Haarnadelkurven, und am Ende landet man meist ganz woanders. Vielleicht hat man eine Staatsgrenze passiert, eine »Schweinefett-Grenze« (Schweinefett vs. Olivenöl, dazu später mehr), eine linguistische Trennlinie (die germanisch-romanische oder die germanisch-slawische), eine architektonische Schwelle oder eine, die einen plötzlichen Wandel menschlicher Verhaltensweisen und Bräuche mit sich bringt. Auf jemanden wie mich, der sich schon immer für Grenzen und Unterschiede interessiert hat, üben die hohen Alpenpässe einen unwiderstehlichen Reiz aus. Und mit diesem Gefühl bin ich wohl kaum allein. Der britische Bergsteiger William Conway schrieb 1904:
»Einen Gipfel zu besteigen gleicht einer Expedition, aber einen Pass zu überqueren bedeutet, eine Reise zu machen. Im ersteren Falle kehrt man normalerweise zum Ausgangspunkt zurück; im anderen geht man vom Bekannten ins Unbekannte, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren dahinter. Der Gipfel, den man vor sich sieht, sobald man sich aufmacht, ihn zu erklimmen, wird beim Aufstieg lediglich deutlicher, nicht offenbar; jeder Pass hingegen ist eine Offenbarung: Er führt dich hinüber in einen anderen Landstrich. Du lässt eine Gegend hinter dir und betrittst eine andere; du findest dich wieder inmitten von Fremden in gänzlich neuem Gefilde. Alles, was gestern noch vertraut war, sperrst du aus und eröffnest dir eine völlig neue Welt.«
Ich habe mir viel vorgenommen: sechs Alpenländer, Zehntausende Kilometer bergauf, bergab, bergauf, bergab. Ich habe nicht die Absicht, für jeden einzelnen Pass eine ausführliche Routenbeschreibung zu geben – das wäre angesichts der schieren Anzahl ein Ding der Unmöglichkeit. Vielmehr will ich mich auf jene Pässe mit den tollsten Geschichten konzentrieren. Die Aussichten sind grandios, beängstigend gar, aber die gewonnenen Einsichten lohnen alle Anstrengung und Angst.
Und hatte ich schon erwähnt, dass ich Höhenangst habe?
TEIL EINS
Vom Genfer See zum Gotthardpass
1. Genfer See
Ich starte in Paris. Die Straße nach Süden liegt vor mir, die Luft über dem Asphalt flimmert in der Hitze. Gleich hinter den Randbezirken der französischen Hauptstadt rücken die Waldgebiete der Île de France heran, nur um etwa eine Autostunde später von den Reblandschaften rund um Chablis abgelöst zu werden. Weiter im Süden von Burgund stehen oben auf den Kämmen der sanften Hügel befestigte Gehöfte, Zeugen einer seit dem Mittelalter reichen Weidewirtschaft. Der heiße Tag zieht sich auf der Autobahn dahin. Zu meiner Rechten tauchen die Weinberge von Beaujolais auf, während sich hinter der Saône zu meiner Linken die ersten Ausläufer des Jura-Gebirges erheben. Die grünen Hügel sind Vorzeichen darauf, wo ich den Sommer verbringen werde: in einem geologischen Chaos.
Der Kilometerzähler schnurrt nur so dahin, bis ich etwa eine Stunde nördlich von Lyon bin. Nach einem kurzen Übernachtungsstopp in einem verschlafenen Weindorf fahre ich am nächsten Morgen von der Nord-Süd-Autobahn ab, um mich nach Osten zu wenden, mitten hinein in die Schweiz. Richtig heiß ist es noch nicht, und so lasse ich die Scheiben herunter und genieße die morgendlich kühle Brise. Die sanften Hügel und ziegelrot bedachten Häuser der Franche-Comté, der Freigrafschaft Burgund, ziehen vorüber, und keines der öffentlichen Gebäude, auf die ich einen flüchtigen Blick erhasche, scheint ohne eine riesige Uhr auszukommen, ganz so, als ob niemand hier die Zeit vergessen wollte. Seltsam, denke ich, wo diese wunderschöne Region doch so gänzlich aus der Zeit gefallen scheint.
Schließlich erreiche ich die Grenze. Eine Frau in Schweizer Uniform verlangt von mir umgerechnet 20 Euro für eine Plakette, mit der ich für die nächsten zwölf Kalendermonate sämtliche Schweizer Autobahnen benutzen darf. Nur wenig später rollt mein Wagen durch die Straßen von Genf. Immer wieder drehen sich Köpfe nach mir um, fast durchweg männliche, sodass ich mich langsam zu fragen beginne, ob irgendetwas an meiner Erscheinung verkehrt ist. Und dann komme ich drauf: Klar, ich sitze am Steuer eines Renault Mégane Sport – noch dazu eines limitierten Sondermodells, grafitfarben mit roten Zierleisten und besonders viel Dampf unter der Haube, den ich mir für die Tour durch die Berge gemietet habe.
Träge geht der Tag in Genf an diesem brütend heißen Wochenende im Spätfrühling dahin. Draußen an der Hafeneinfahrt schießt die berühmte Fontäne gewaltige, weiß glänzende Wassermengen mehr als 100 Meter hoch in die Luft. Von der Schwerkraft besiegt, fällt der Strahl als tagheller Dunstschleier in das milchige Wasser darunter. Die Wasser der Rhone, die den Genfer See durchfließen, treten am westlichen Ende des großen, bananenförmigen Sees (des Lac Léman, wie er hier heißt) wieder hinaus, um ihre lange Reise zum Mittelmeer fortzusetzen.
Genf ist kein perfektes Postkartenidyll. Prachtvolle Bauten aus dem 19. Jahrhundert in unterschiedlichsten Farbtönen drängen sich am Ufer des Sees – wie ein von Farbenblinden erbautes Paris. Genf gibt kein geschlossenes Bild ab, kein beschaulich zusammenhängendes Ganzes, das dem Auge schmeichelt, nur unregelmäßig unterbrochene Abschnitte architektonischer Schönheit. Nichtsdestotrotz will ich genau hier meine Reise beginnen – in der langweiligsten interessanten Stadt auf dem europäischen Kontinent, die Fjodor M. Dostojewski einst als »eine langweilige, düstere, protestantische, dumme Stadt mit einem entsetzlichen Klima, doch zum Arbeiten gut geeignet« bezeichnet hat, die als Geburtshelferin der calvinistischen Reformation und Heimat des Gutmenschentums gilt, damals wie heute. Wo Völkerbund, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) ihren Hauptsitz haben. Wo vor über 200 Jahren eine ästhetische Revolution stattfand, eine Umkehr des gesellschaftlichen Denkens, die die menschliche Sicht auf die Natur veränderte. Und damit auch auf die Berge, was für unsere Zwecke weit interessanter ist. Was Genf mit seiner Plattform des World Wide Web und dem Large Hadron Collider, dem Großen Hadronen-Speicherring am Europäischen Kernforschungszentrum CERN, für die Realität der modernen Welt heute tut, haben die Künstler, Denker und Wissenschaftler am Genfer See einst für die Ästhetik getan.
Durch die flimmernd heiße Luft, die von der kopfsteingepflasterten Promenade aufsteigt, zieht die Statue einer Frau am Seeufer die Blicke auf sich. Die kaiserliche Porträtstatue in Bronze ist kantig, bezaubernd schön, obgleich ihr Schöpfer, der schottische Bildhauer Philip Jackson, sie so darstellte, als wolle sie ihre Schönheit hinter einem Fächer verbergen. Das Denkmal wurde zu Ehren der als »Sisi« bekannten Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn errichtet, die am 10. September 1898 – einem ähnlich heißen Sommertag – unweit dieser Stelle ermordet wurde. Die damals 60-jährige Kaiserin war auf dem Weg zu einem Fährschiff, um der lähmenden Hitze zu entfliehen, als sich der italienische Anarchist Luigi Lucheni auf sie stürzte und ihr eine spitze Feile mitten ins Herz stieß. Eigentlich war Lucheni nach Genf gekommen, um ein anderes Mitglied der kaiserlich-königlichen Familie zu ermorden, den Prinzen Henri Philippe Marie d’Orléans. Doch als er vor Ort erfuhr, dass sich sein Opfer gar nicht in der Stadt aufhielt, änderte er seine Pläne kurzerhand und beschloss, stattdessen die Kaiserin zu ermorden. Im Mitteleuropa von damals war Sisi eine Mischung aus Prinzessin Di und Jackie Kennedy Onassis, von vielen bewundert für ihre Schönheit und ihre ausgiebigen Reisen. Sie rauchte Zigaretten (äußerst unschicklich für eine Frau), schrieb Gedichte (äußerst suspekt bei Hofe), lernte Ungarisch (äußerst subversiv), nahm sich Liebhaber (wenn auch diskret, aber keinesfalls gutgeheißen) und reiste inkognito (skandalös für eine Angehörige der kaiserlich-königlichen Familie).
Ihre Statue steht in der Rotonde du Mont-Blanc, am Quai du Mont-Blanc, ganz in der Nähe der Stelle, wo die Rue du Mont Blanc auf den Pont du Mont-Blanc, die Mont-Blanc-Brücke, führt. Doch die Skulptur schaut nach Norden, landeinwärts, auf das vornehme, alte Grand Hôtel Beau Rivage, wo Sisi ihre letzte Nacht verbracht und ihre letzte Mahlzeit eingenommen hatte. Der Standort dieses Kunstwerks ist sinnreich gewählt: Die eitle Kaiserin dreht der berühmten Aussicht auf den See den Rücken zu, als wolle sie nicht Teil dieser glanzvollen Kulisse sein, sondern selbst im Rampenlicht stehen und ein letztes Mal rebellieren.
Und berühmt ist die Aussicht auf den Genfer See nicht von ungefähr!
Wendet man den Blick von der ermordeten Sisi ab, um über das Wasser gen Süden zu schauen, wird die spektakuläre Lage Genfs offenkundig. Die Musik dieser Stadt an diesem herrlichen See spielt im grandiosen Hinterland. Nein, nicht auf einer mittelalterlichen Höhenburg oder einem Kloster wie andernorts in Europa. Vielmehr erheben sich die Alpen oder, um fachlich korrekt zu bleiben, die Voralpen in einer kompakten Wand von Gebirgsausläufern. Zum Wasser hin fallen sie ab wie dunkelgrüne Klippen, scheinbar lückenlos, ohne durch irgendein sanftes Gefälle gebremst zu werden. Wilde Bergeshöhen, die mit dem so zivilisierten Genf einen See gemeinsam haben – ein geradezu grotesker Anblick. Doch wäre dies alles, was der Blick über das Wasser zu bieten hätte, wäre er immer noch imposant, aber nicht unvergesslich. Schon die Namen der Straßen rund um »Sisi« lassen ahnen, dass es mit diesen Bergen dort drüben weit mehr auf sich hat.
Hinter der grünen Wand, versteckt lauernd wie eine mächtige Gewitterwolke, sichtbar sogar an einem so diesigen Tag wie heute, ragen die Gipfel der Mont-Blanc-Gruppe empor, die unter ihrem Mantel aus Eis und Schnee wie ungeheure Alabastermassen erscheinen, in erhabenem Spott über die dampfige Sauna, unter der die Menschen in Genf an diesem Tag zu leiden haben. Die Berge sind weiß, aber keinesfalls unschuldig, und es gibt keinerlei Chance, sie nicht zu sehen. Von Genf nach Süden zu schauen heißt, einen prachtvollen Horizont zu erblicken. Die Berge – gleichmütig, übermächtig – scheinen den Himmel fast zu verdrängen. Es verwundert nicht, dass sie die Fantasien der Menschen seit Jahrhunderten beflügeln.
Berge waren gefürchtet. Auf ihren Gipfeln hausten einst Drachen und Menschenfresser. Sie versperrten unsanft den Weg nach Süden und damit in so wichtige Städte wie Rom, Genua, Venedig oder Mailand. Sie waren Gottes Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen. Unbezwingbar. Man war gut beraten, nicht höher als bis zu den Hochalmen hinaufzusteigen, denn weiter oben lauerte der sichere Tod. Berge waren eine befremdliche Welt, und die Menschen, die mitten darin lebten, waren inzüchtige Schwachsinnige, les crétins des Alpes, wie man auf Französisch sagt. Und als solche passten sie in ihren schaurigen Lebensraum.
»Diese verkrümmten, schlichten Gemüter mit ihrer widerlichen, abgrundhässlichen und ungehobelten Erscheinung, mit ihren obszönen Gebärden und ihrem unsinnigen Gebrabbel erwecken Ekel und Abscheu« – so drückte es einmal der Brite Edward Whymper etwas unsanft aus.
Auch das Urteil über die gebirgige Kulisse fiel meist vernichtend aus. Goethes Beschreibung der Alpen aus den 1780er-Jahren steht beispielhaft für Dutzende ähnlicher Kanonaden: »Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen!« Genau wie heute die vielen Deutschen, die am Steuer eines schnellen Mercedes gen Süden brettern, wollte damals auch Goethe nichts anderes, als die Berge rasch hinter sich bringen, um in den sinnlichen Landschaften Italiens zu schwelgen.
Etwa zur gleichen Zeit trat eine andere Sicht auf die Berge in den Vordergrund. Die Berge, so das neue Argument, vermittelten etwas Furchterregendes, genau das aber mache sie wunderschön, nicht hässlich. Damit vollzog sich vor 200 Jahren eine Verschiebung der empfundenen Wahrnehmung, die inzwischen derart tief in unserer kollektiven Psyche verankert ist, dass der Mont Blanc heute wohl jedes romantische Liebespaar dahinschmelzen lässt.
Dieser ästhetische Wandel vollzog sich jedoch nur langsam. Im 17. und 18. Jahrhundert begaben sich nach und nach immer mehr Söhne aus Adelsfamilien in Begleitung eines sogenannten Cicerone, eines gelehrten Reiseführers, auf eine sogenannte Grand Tour, eine Bildungs- und Lustreise durch fremde Länder. Besonders zahlreich vertreten waren die Sprösslinge des britischen Adels, die sich am Hafen von Dover nach Ostende einschifften, um von dort dann weiter nach Paris und Genf zu reisen. Ihre Kutschwagen wurden am Fuße der Alpen auseinandermontiert, über den Großen St.-Bernhard-Pass geschleppt und dann für die weitere Reise durch Italien, das hochgelobte Mutterland aller Kunst und Kultur, wieder zusammengebaut: von Turin über Florenz nach Rom mit allerlei Abstechern, je nachdem, ob der junge Reisende Jahre oder Monate in der Fremde zu weilen gedachte. Auf der Heimreise suchte manch einer auch die bedeutenden Städte Nordeuropas auf und bestaunte zum Abschluss seiner Tour die hochwertigen Sammlungen in den Palästen und Stadthäusern Flanderns.
Die Grand Tour war gleichsam ein Initiationsritus, eine gute Gelegenheit, sich die Hörner abzustoßen und die hochwohlgeborenen Damen Europas kennenzulernen, eine Art kultureller Aufbaukurs nach dem Oxbridge-Studium und eine mehrmonatige Gelegenheit, sein Französisch aufzupolieren, die damalige Sprache der feinen Gesellschaft. So war es nur eine Frage der Zeit, dass sie eine besondere Station ihrer Reise erreichten: die unbeherrschten, unmenschlichen Alpen. Während die Träger unter der Last der Kutschwagen ächzten, sie bergauf über tückische Gebirgspässe schleppten bis in die sonnigen Ebenen der Lombardei hinein, zückten die jungen Aristokraten immer wieder ihre Skizzenblöcke. Die Ausblicke waren überirdisch, unheimlich, absolut gegensätzlich zu den gepflegten Gartenanlagen rings um die herrschaftlichen Anwesen zu Hause. Wozu solch ein Chaos? Wie kann es sein, dass Gott ein solches Chaos erschaffen hat? Der Geist der Aufklärung, der damals den menschlichen Horizont zu erweitern begann, hatte meist auch diese jungen Männer erfasst, zumindest diejenigen, die ihre Ausbildung ernst nahmen.
In den 1680er-Jahren hatte ein englischer Kleriker namens Thomas Burnet noch behauptet, dass die Alpen erst nach den sieben Schöpfungstagen erschaffen worden seien, und damit das mysteriöse Fehlen von Bergen im 1. Buch Mose (Genesis) erklärt.
Das bislang feste Podest des biblischen Literalismus, die streng wortgetreue Auslegung der Bibel als verbindliche Autorität, geriet Anfang des 18. Jahrhunderts aber durch die entstehenden Naturwissenschaften und den Rationalismus der Aufklärung gehörig ins Wanken. Diese hybride Periode, in der Wissenschaft und Aberglaube gleichberechtigt nebeneinander existierten, färbte auch auf die Alpen ab. Johann Jakob Scheuchzer, ein Schweizer Arzt und Naturforscher, fertigte zwar enorm präzise Karten der Berge an, war aber überzeugt, dass auf deren Gipfel immer noch Drachen umherstreiften. Die zahlreichen Fossilien in den Gesteinsschichten der Alpenhänge seien einzig und allein durch die zurückweichenden Wasser der biblischen Sintflut dort abgelagert worden, so die gängige Meinung.
Vor allem ein Ereignis aber erschütterte die naturreligiöse Vorstellungswelt des 18. Jahrhunderts in ihren Grundfesten und bewog viele, zwischen Gott und Natur zu unterscheiden: Kurz vor zehn Uhr am Morgen des 1. November 1755, dem kirchlichen Fest Allerheiligen, wurde die portugiesische Hauptstadt Lissabon von einem verheerenden Erdbeben in Schutt und Asche gelegt und von einem gewaltigen Tsunami überrollt. Ausläufer der Erdstöße waren bis nach Großbritannien und Irland zu spüren, meterhohe Flutwellen brandeten bis an die Küsten Brasiliens. Vor allem aber, und das war die eigentliche Erschütterung, beeinflusste dieses verheerende Beben das europäische Weltbild und Denken nachhaltig. War das Uhrwerk-Universum eine (tickende) Zeitbombe? War diesem Gott am gottgefälligen Tun der Menschen überhaupt gelegen, wo er doch offenbar von einem höchst gottlosen Temperament beherrscht war und sämtliche katholischen Kirchen von Lissabon, Zeugen seiner großartigen Herrlichkeit, zerstörte? Schlimmer noch: Alfama, Lissabons Hurenviertel, blieb verschont und überstand die Katastrophe völlig unbeschadet.
Die Geistesgrößen der Zeit mühten sich, dem Unheil einen Sinn abzuringen. Fasziniert von Zeitungsberichten über die Katastrophe veröffentlichte ein 31-jähriger Doktorand namens Immanuel Kant im damals preußischen Königsberg (dem heutigen Kaliningrad, Russland) mehrere Schriften, die heute allgemein als Grundlage der modernen Seismologie gelten. Und ein gewohnt bissiger Voltaire schickte den Protagonisten in seinem philosophischen Kurzroman Candide oder der Optimismus vom Genfer See aus auf Reisen und lässt ihn just am Tag des Erdbebens nach Lissabon kommen, um ihm seinen naiven Glauben an einen gnädigen Gott, der über eine gutartige Welt herrscht, auszutreiben. Die Katastrophe von Lissabon hatte eine bis dahin bloß vermutete Wahrheit offenbart: Die Welt ist ein gnadenloser Ort, plötzlich auftretenden Verheerungen unterworfen, unabhängig von jedwedem göttlichen Plan.
In diesem Sinne begann man auch die Berge zu begreifen. Ihre furchterregende asymmetrische Gestalt war weder Teufels- noch Gotteswerk. Sie zeugten von Katastrophen in unvorstellbar weit entfernter Vergangenheit. Sie waren eingefrorene Gewaltigkeit in brachialer Manifestation. Und so stellte sich lediglich die Frage, ob sie, wie das Erdbeben von Lissabon, plötzlich aus der Erde hervorgebrochen oder über einen langen Zeitraum hinweg entstanden waren. Die Aufklärung, der Sirenengesang der Vernunft, war damit um eine Attraktion reicher, nährte der Zweifel am Althergebrachten doch ein weiteres naturwissenschaftliches Streben, das derart um sich griff, dass es zu der Obsession des 19. Jahrhunderts schlechthin wurde: die Geologie. Diese Disziplin, die Gesteinskörper zu entschlüsseln sucht, wurde zur Beschäftigung nachdenklicher Menschen in ganz Europa. Nach der Katastrophe von Lissabon ließ sich das »Uhrwerk« nicht mehr zurückdrehen; fortan waren die Geologen, Gelehrte ebenso wie Laien, die Richter über die Zeit.
Bis ich die Stadt hinter mir lasse, ist auch die Hitze in meinem Wagen von der Klimaanlage auf ein erträgliches Maß heruntergekühlt. Östlich von Genf geht es in den französischsprachigen Kanton Vaud (Waadt). Die Uferstraße entlang des Sees ist eine einzige, riesige Parkfläche, was den Eindruck vermittelt, als sei die gesamte Bevölkerung des Kantons auf dem Weg hinunter zum See.
Das Städtchen Coppet fliegt vorbei mit seinem rosafarbenen Schloss auf einer Anhöhe, wo Madame de Staël, die berühmte »femme de lettres«, einst liberale Geister um sich scharte. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gingen hier viele Künstler und Schöngeister ein und aus. Die Gastgeberin entstammte nicht nur einer berühmten Familie (ihr Vater, der Genfer Bankier Jacques Necker, setzte in einem vergeblichen Versuch, die Französische Revolution abzuwenden, Reformen in Kraft), Baronin Anne Louise Germaine de Staël war auch eine Bestseller-Autorin. Ihr Roman Corinne ou l’Italie (deutsch: Corinna oder Italien), die Geschichte einer Dichterin, die in Italien ein skandalträchtiges Liebesleben führt, sorgte in ganz Europa für ein erotisch-heißes Beben.
Was für ein passendes Bild angesichts dieser Horde schwitzender Leiber, die sich unerschrocken durch den Verkehr lavieren, um hinüber auf die andere Straßenseite ans Wasser zu gelangen und am Ufer des Lac Léman östlich von Genf der Hitze zu entkommen. So geht es ein paar Kilometer dahin, auf denen ich ständig waghalsigen Sommerfrischlern ausweichen muss. Als schließlich die Schilder nach Lausanne, der Hauptstadt des Kantons, auftauchen, kommt der gesamte Verkehr so gut wie zum Erliegen. Auf der mit Bäumen gesäumten Avenue de l’Elysée geht es vorbei am Olympischen Museum. Lausanne ist die Heimat des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der wichtigsten Sportorganisation der Welt, deren Funktionäre rund um den Globus reisen, um zu entscheiden, welche Stadt als Nächstes Gastgeber des alle vier Jahre stattfindenden Spektakels sein soll.
Das Meer an Fußgängern, das meinen im Leerlauf stehenden Mégane umwogt, strömt auf den direkt am Seeufer gelegenen Parc du Denantou zu, wo gerade ein Jahrmarkt stattfindet. Ich bin nahe genug dran, um zu erkennen, dass die »Scary Mouse«, in der es einem garantiert den Magen umdreht, sehr beliebt scheint, wobei ich finde, dass die adrenalinsüchtigen Schweizer ihre kostbaren Franken gar nicht für einen derart schaurigen Moment auszugeben bräuchten. Sie müssten nur gen Süden blicken, über den See hinweg, wo sich ein Ausblick bietet, der noch dramatischer ist als der in Genf. Die dunklen, steil abfallenden Gebirgswände von Frankreich her sehen hier noch höher, noch bedrohlicher aus, und die schneebedeckten Gipfel dahinter erscheinen wie spitze Eisfinger, die sich in den Himmel bohren. Schaurig und furchterregend allemal!
Wir sprechen der natürlichen Welt oftmals Eigenschaften zu, die objektiv gar nicht vorhanden sind. Jetzt allerdings, wo ich gerade dabei bin, all jene zu rühmen, die die Berge von ihren jahrhundertealten Dämonen befreit haben, beschleichen mich irgendwie vage Zweifel, ob das mit der »Befreiung von Dämonen« überhaupt stimmt. Für mich jedenfalls haben die Berge ihren Schrecken nicht verloren, sie sind furchteinflößend, schaurig, und ich bin nicht sicher, ob ich dieses Gefühl überwinden kann.
Die Literaten und Schöngeister, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert hierher an die Ufer des Sees pilgerten, hatten derlei Zweifel wohl kaum. Das wunderschöne Lausanne wirkte auf sie wie ein Magnet. Edward Gibbon verfasste hier die letzten beiden Bände seines außerordentlich erfolgreichen Werks Verfall und Untergang des römischen Imperiums. In der Straße zu seinem Haus (das leider längst nicht mehr steht) reihte sich damals ein Buchladen an den anderen, allesamt mit einem breiten Angebot von in der Schweiz publizierten Büchern, die in den absoluten Monarchien der Nachbarländer als viel zu aufwieglerisch galten. Doch Gibbon, damals in seinen besten Jahren, hatte wohl noch einen anderen Grund, in das Lausanne seiner Jugend zurückzukehren: eine junge Frau, die bald die Mutter von Mme. de Staël werden sollte.
Die Straße nach Osten schillert in der Nachmittagssonne. Ausnahmsweise werden die Blicke des Reisenden nicht über den See zu den Alpen hingezogen, sondern bleiben vielmehr an den steilen Weinbergterrassen am Seeufer hängen. Die Hänge der Gutedel- und Gamay-Reben mit ihren grauen Steinstützmauern, die vor mehr als 1000 Jahren von Mönchen errichtet wurden, sind steil und schaffen gefahrvolle horizontale Flächen auf eigentlich vertikalem Terrain. Die farbenprächtigen Châteaus in der grünen Landschaft schmiegen sich ähnlich terrassenförmig an die Hänge. Unschwer zu erkennen, warum die UNESCO diesen naturschönen Ort zum Weltkulturerbe erklärt hat.
Ich erreiche nach ein paar weiteren Minuten den Ferienort Vevey. Ein großer, zentraler Platz direkt am See scheint perfekt für einen Halt. Ich lasse meinen Blick kurz über das Wasser auf das atemberaubende Alpenpanorama an der anderen Uferseite schweifen und nehme dann auf einer Caféterrasse Platz.
»Trois francs nonante.«
»Pardon?«
»Trois francs nonante.«
Die junge Bedienung sieht mich an. Sie stellt mir ein Bier hin und lässt sich von meiner verwirrten Miene nicht irritieren.
»Trois francs nonante.«
Und schließlich fällt bei mir der Groschen. Gemeint sind »drei Franken neunzig«. Im Französischen, das man hier in der Gegend (ebenso wie in Wallonien und Belgien) spricht, heißt »neunzig« nonante. Entsprechend heißt »achtzig« huitante oder octante und »siebzig« septante, was sich vom üblichen französischen Sprachgebrauch unterscheidet. Wer diese Unterscheidung nicht kennt, mag zunächst verwundert darüber sein, dass die französische Sprache, wie sie in Frankreich, Kanada, der Karibik, Afrika und anderswo gebraucht wird, bei Zahlen komplett aus dem logischen Rahmen fällt, sobald man beim Zählen die »70« erreicht: »70« heißt soixante-dix, also »sechzig-zehn« und »75« heißt »sechzig-fünfzehn«. Noch verrückter wird es ab der Zahl »80«, die nämlich heißt quatre-vingts, also »vier-mal-zwanzig«, »85« heißt dementsprechend »vier-mal-zwanzig-und-fünf« und »90« nach der gleichen Logik »vier-mal-zwanzig-und-zehn«. Und jetzt probieren Sie mal, die Jahreszahl 1999 auszusprechen, ohne den halben Nachmittag dafür zu brauchen: mil neuf cent quatre-vingt-dix-neuf, also »tausend-neunhundert-vier-mal-zwanzig-und-neunzehn«.
»Nonante!«, rufe ich als eine Art Entschuldigung für mein unbeholfenes Französisch. Die Bedienung bleibt unbeeindruckt. Während ich ihr die Münzen gebe, versuche ich es noch einmal. »Ah, Sie sind Suissese«, sage ich und gebrauche ein Wort für eine Schweizer Frau, das fast alle französischen Muttersprachler als ziemlich dämlich empfinden.
Sie lächelt freundlich gequält. »Suissese, ja. Und stolz darauf«, antwortet sie.
Sie verweilt kurz, als würde sie warten, dass ich noch etwas sage.
Ich nehme einen Schluck von meinem Bier. »Mögen Sie den Blick auf die Berge dort drüben?«, frage ich.
»Ich liebe ihn. Wieso fragen Sie?«
»Ich weiß nicht recht«, sage ich zögerlich. Ich erkläre ihr meine gemischten Gefühle und gestehe, dass mir die Gipfel doch etwas Angst machen.
»Sie sind eben kein Schweizer, Sie verstehen das nicht«, sagt sie im Brustton der Überzeugung. »Wir Schweizer können ohne unsere Berge nicht leben.«
Sie lächelt dabei, als wolle sie einem Ausländer wie mir ihr Mitleid bekunden.
Unsere Augen wandern hinüber zu den Bergen.
»Empfinden alle Schweizer so?«
»Natürlich! Wir sind mit den Alpen aufgewachsen.«
»Und Sie mögen sie auch bei Schnee?«
Aus dem Lächeln wird ein lautes Lachen. »Nein, dann werden sie zum Problem.«
Die aufregende Melange aus nationalistischen Ideen, demokratischen Träumen und individueller Selbstentfaltung im Laufe des 18. Jahrhunderts war verbunden mit einem übersprudelnden Respekt vor der natürlichen Welt, ganz abgesehen von ihrem neuen Status als etwas, das wissenschaftliche Untersuchungen lohnt. Auf der Suche nach dem »Pittoresken« – nach einem »malenswert« schönen Idyll – zog es die Wohlhabenden in meist unbekannte ländliche Gegenden, hinaus aus den wachsenden Städten, die schon bald unter den »finsteren, teuflischen Mühlen« der industriellen Revolution ächzen sollten. Insbesondere in England zog es die Schöngeister hinaus in die Natur, an den Lake District oder in die wilden Scottish Highlands. Viele von ihnen hatten ein sogenanntes Claude-Glas dabei (benannt nach dem französischen Landschaftsmaler Claude Lorrain), einen kleinen, getönten, leicht nach außen gewölbten Spiegel, den man benutzte, um Landschaften unter einem ästhetischen Aspekt zu betrachten. Dieser Spiegel war im Grunde genommen ein Rückspiegel: Sobald sich der kühne Reisende einer »pittoresken« Szenerie gegenübersah, drehte er sich um, sodass er sie im Rücken hatte, zog sein Claude-Glas heraus und hielt es so, dass die sich darin spiegelnde Landschaft einem vergänglichen, wohl komponierten Gemälde gleich, auf dem alle Anblicke, die den Gesamteindruck trüben könnten, außen vor blieben. Auch wenn es albern scheinen mag, dass man der Szenerie, die einen so sehr fasziniert, den Rücken zudreht (eine satirische Romanreihe bespöttelte den passionierten Urheber der Idee des Pittoresken, William Gilpin, als Dr. Syntax), kann es wohl kaum Zufall sein, dass der Nachfolger des Claude-Glases, die Kamera, den Fotografen zwang, durch einen Sucher zu blicken.
Das Claude-Glas, der Geologenhammer, die Skizzenbücher, die Reiseführer über die Schweiz – all dies traf zusammen und entfachte die Glut für eine aufkommende Alpenromantik, die sich 1761 entzündete und Feuer schlug, als der damals berühmteste Sohn der Schweiz, Jean-Jacques Rousseau, seinen Briefroman Julie oder Die neue Héloise veröffentlichte. Das Werk mit dem Originaltitel Lettres de deux amans, habitants d’une petite ville au pied des Alpes erschien wie ein Komet am Firmament der Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts und erreichte bis zum Jahr 1800 ganze 70 Ausgaben in vielen Sprachen. Julie ist ein Briefroman, dessen Geschichte durch den Austausch von Briefen erzählt wird. Die Héloise im Untertitel bezieht sich auf Héloise d’Argenteuil, eine geistreiche und schöne Äbtissin des 12. Jahrhunderts, die eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit ihrem Hauslehrer Pierre Abélard hat, dem einflussreichsten Gelehrten seiner Zeit. Die verheimlichte Affäre hatte die Geburt des gemeinsamen Sohnes Astralabius zur Folge, die Kastration Abélards durch die auf Rache sinnende Verwandtschaft sowie ein paar zutiefst leidenschaftliche und feinsinnige Briefe, die die beiden in viel späteren Jahren austauschten, nachdem die Ereignisse sie zwangsläufig getrennt hatten. In Rousseaus Roman gleitet der Briefwechsel der beiden fiktiven Figuren, dem Hauslehrer Saint-Preux und seiner Geliebten Julie, nie ins Obszöne, vielmehr betören sie einander durch Beteuerungen und Beschreibungen ihrer verbotenen Liebe füreinander (er ein Bürgerlicher, sie eine Adlige), die sie mit philosophischen Ergüssen, großen Gefühlen sowie ihrer gemeinsamen Liebe zur Wahrhaftigkeit und zur Natur durchmischen.
Die erotischen Schäferstündchen finden auf und am Genfer See statt, vor allem in einem kleinen Weiler namens Clarens östlich von Vevey. Das Liebespaar empfindet die bergreiche Kulisse als reinigend, ihrer unbefleckten Seelen würdig. Als sie mitten auf dem See in einen Sturm geraten, bangt ganz Europa mit ihnen. Und als sie den Beischlaf vollziehen, zieht sich manch einer ins stille Kämmerlein zurück. Julie wird zu einem literarischen Meilenstein, einem höchst emotionalen und intellektuellen Vergnügen, das in den Herzen und Köpfen der aufstrebenden Romantiker spielt – und, ganz konkret, am Fuße der Alpen.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass er schwer zu lesen ist. Und mit dieser Meinung steht man nicht allein: Der Historiker Simon Schama nennt ihn »das vielleicht einflussreichste schlechteste Buch, das je geschrieben wurde«. Doch was scharfsinnige Kritiker des 21. Jahrhunderts meinen, spielte damals natürlich keine Rolle; für Rousseaus Zeitgenossen traf die Geschichte den Nerv der Zeit. Die Zeit war reif, um sich zu befreien, das dem Menschen innewohnende Gute zu erkennen, die Natur als einen Freund zu betrachten, sie als ein Spiegelbild zu sehen, das eine sehr viel größere Tiefe birgt, als ein Claude-Glas sie hervorbringen kann.
Zugegeben, man kann sich dem romantischen Gefühl durchaus hingeben. Doch als ich am Seeufer in Clarens stehe, ist sie nach wie vor da, diese schauererregende Sicht über das Wasser auf die Berge. Die grünen Hänge bilden einen dunklen Zaun, der die schneeweißen, in den Himmel ragenden Riesenmonster schützt. Die Kulisse ist eine offene Einladung, dieser Vermenschlichung der Natur nachzugeben – soll heißen, sie mit menschlicher Emotion zu durchdringen. Nicht nur Rousseau sah diese Kulisse einer sich wandelnden Weltsicht unterworfen, sondern auch der viel spätere Komponist Igor Strawinsky, der hier in Clarens die dritte seiner drei großen Ballettmusiken komponierte, Le sacre du printemps. Diese gewaltige Hymne an die Natur, die darin gipfelt, dass sich eine junge Frau zu Tode tanzt, ist nach meinem Dafürhalten ein sehr viel passenderes Werk für diesen Ort.
Nichtsdestotrotz ist es Rousseau, der jedwede nachklingende Verunsicherung über die Reize der unwirtlichen Landschaft ausräumt. Mehr als zwei Jahrzehnte nach Julie erklärte der Philosoph, was ihn an Gebirgskulissen so sehr fasziniert: »Ich bedarf Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, schroffe Pfade, die ebenso schwer zu erklettern wie hinabzusteigen sind, Abgründe auf beiden Seiten, die mir Angst einjagen [...] denn trotz meiner Vorliebe für schroffe Felsen werde ich wunderlicher Weise auf ihnen schwindelig, und gerade an diesem Gefühle des Schwindels habe ich große Freude, solange ich mich dabei in Sicherheit befinde.«
Rousseau liebte den Nervenkitzel, und wo hätte er einen lustvollen frisson, einen lustvollen Schauer, intensiver erleben können als unweit eines todbringenden Abhangs – solange man sich, wie Rousseau es formulierte, »in Sicherheit befindet«?
Die Alpen sind ein Quell des dramatischen Nervenkitzels, des »Erhabenen« (des Sublimen), wie Rousseau und seine Nachfolger es sehr viel lieber bezeichneten. Die Schweizer haben diesen Begriff nicht populär gemacht, diese Ehre gebührt vielmehr einem Iren, nämlich Edmund Burke. Obgleich der Schriftsteller und Staatsphilosoph heute als geistiger Vater des Konservatismus gilt, schrieb Burke als junger Mann ein einflussreiches Traktat über die Wahrnehmung der Natur: »Die Leidenschaft, die von dem Großen und Erhabenen in der Natur verursacht wird [...] heißt Erschauern. Erschauern aber ist derjenige Zustand der Seele, in dem alle ihre Bewegungen gehemmt sind und ein gewisser Grad von Schrecken besteht«, bemerkte Burke, ehe er fortfuhr: »Erschauern ist also [...] der höchste Grad des Erhabenen, die untergeordneten Grade sind Ehrfurcht, Verehrung und Achtung.«
Burke erteilte der Angstlust damit ein philosophisches Gütesiegel. Rousseau zeigte den Schauplatz, an dem man sie höchst intensiv erleben kann, und lieferte dazu eine romantische Ideologie, welche die Suche nach einer solch gesteigerten Gefühlserfahrung anempfiehlt.
Und während ich den Seeort Montreux passiere (wie zahllose Pilger vor 200 Jahren schon), denke ich, dass meine erste Reaktion angesichts des majestätischen Mont Blanc heute Morgen zwar angstvoll, aber doch ganz nützlich war. Denn hätte ich nicht so empfunden, wäre ich unfähig, die nächste Stufe in diesem Prozess zu begreifen: die wohlige Lust des Schreckens.
Wenige Meter vom Ostufer des Genfer Sees entfernt, umrahmt von Alpengipfeln, thront auf einem Inselfelsen im Wasser das Chateâu de Chillon, dessen ockergelbe Burgmauern die gleiche Farbe haben wie der umgebende Sandstein. Es ist ein mehrfach betürmtes Juwel, ein kleines Meisterwerk malerischer Perfektion. Die landwärts ausgerichteten Mauern sind nahezu fensterlos, und die Wachtürme, Wehrgänge und Schießscharten zeugen von der Rolle der Felsenburg als Beschützerin der Via Italica, jener uralten Handelsroute, die einst die Region Burgund über den nahen Großen St.-Bernhard-Pass mit der Lombardei verband.
Die Fassade zur Seeseite hin ist von schmucken, gotischen Rundbogenfenstern durchbrochen, damit die Herrscherfamilie – der das Schloss regelmäßig als Sommerresidenz diente – den Blick auf das landschaftliche Panorama genießen konnte. Der Blick aus den Paradesälen hebt sich stark ab von der großen Ruhe des Genfer Sees und der Gewalt der Alpen, was mit ein Grund sein mag, warum das Wasserschloss seit Generationen das meistbesuchte historische Gebäude der Schweiz ist. In der Novelle Daisy Miller, dieHenry James gegen Ende des 19. Jahrhunderts schrieb, besucht die todkranke Protagonistin in Begleitung ihres irritierten Verehrers, den sie aus dem nahen Vevey kennt, das Schloss Chillon.
Während ich durch die Säle, Verliese und Höfe wandle, wehen helle Stimmen um die Mauern und Stiegen. Schon habe ich die Quelle geortet: Eine Kindertheatergruppe aus Moskau führt ein Stück auf, um das 200-jährige Bestehen der diplomatischen Bande zwischen Russland und der Schweiz zu feiern – sehr wirkungsvoll und fantasieanregend.
Etwa zur gleichen Zeit, da diese diplomatischen Bande geknüpft wurden, pilgerten drei ganz besondere Rousseau-Anhänger zum Schloss. Im Gegensatz zu unzähligen anderen, die an den Ufern des Sees damals dem süßen Nichtstun frönten, waren diese drei wahre Künstlergenies: Percy Bysshe Shelley, seine zukünftige Frau Mary sowie der berühmteste Verführer und Herzensbrecher seiner Zeit, der klumpfüßige Lord Byron. Bald schon erschienen Gedichte von ihnen, die die Schönheit und Melancholie der Gegend preisen wie etwa Lord Byrons DerGefangene von Chillon. Mit seinem Gedicht über den Mönch François Bonivard, der hier auf Schloss Chillon von 1532 bis 1536 gefangen saß, verewigte er das tausendjährige Gemäuer als eine Redoute der Romantik.
Dann, 1816, wendete sich das Blatt für die englischen Besucher. Wenige Monate zuvor war es auf der anderen Seite der Welt, in Indonesien, zum gewaltigsten Vulkanausbruch der Geschichte gekommen: Bei der Eruption des Vulkans Tambora waren zwischen 50 und 60 Kubikkilometer Asche in die Atmosphäre geschleudert worden. Das anschließende »Jahr ohne Sommer« brachte sintflutartige Regenfälle und fürchterliche Gewitterstürme auch an die Ufer des Genfer Sees. Die drei Freunde, aufgrund der extrem schlechten Wetterlage ans Haus gefesselt, hielten sich bei Laune, indem sie sich vor der surrealistischen, gewitterumtosten Bergkulisse direkt am See schaurige Gruselgeschichten erzählten. Lord Byron war unübertroffen darin, seinen Freunden Angst und Schrecken einzujagen – »mad, bad and dangerous to know« (»verrückt, böse und gefährlich, ihn zu kennen«) umschrieb ihn Caroline Lam, eine seiner verlassenen Geliebten. So war er es auch, der auf die Idee kam, dass ein jeder von ihnen eine Gruselgeschichte zu Papier bringen solle, und die anderen stimmten seinem Vorschlag bei. Letztendlich aber war es nur Mary, die ihre Geschichte zu Ende schrieb und im Jahr darauf (1818) veröffentlichte: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Ob man Frankenstein nun grandios oder albern findet, jedenfalls machte die Erzählung die Berge einmal mehr zu einer melodramatischen Traumlandschaft.
Die Geschichte spielt anfangs zum großen Teil am Genfer See, dem Schlupfwinkel des zu paranoiden Ideen neigenden Wissenschaftlers Victor Frankenstein. Nachdem er sein Monster in der Fremde erschaffen hat, flieht er vor diesem von Panik ergriffen heim nach Genf, um dort festzustellen, dass seine Kreatur ihm vorausgeeilt war und seinen Bruder ermordet hatte. Bestürzt darüber zieht sich Frankenstein in die Einsamkeit der Berge zurück, um dort – und das ist bezeichnend – Trost zu finden. Von all den vielen prosaischen Stellen, die Mary Shelley dem Umland widmet, wo sich das Unheimliche der Berge mit dem Erhabenen in der Natur verquickt, sticht eine als eine Art Manifest für alle Bergliebhaber besonders hervor. Der Erzähler ist Victor Frankenstein selbst:
»Zu beiden Seiten ragten schroffe Felshänge gegen den Himmel, und vor mir lag die mächtige Fläche des Gletschers. Einige zerbrochene Fichten lagen ringsherum zerstreut, und das feierliche Schweigen ward nur unterbrochen durch das Murmeln des Baches oder das Poltern eines herabfallenden Felsstückes, das Donnern von Lawinen oder das Krachen berstenden Eises, das an den Wänden widerhallte. Dieses majestätische Schauspiel vermochte mir etwas Ruhe zu geben. Es erhob mich und ließ mich das als klein empfinden, was ich fühlte. Jedenfalls zerstreuten sie die düsteren Gedanken, über die ich die letzten zwei Monate nicht hinausgekommen war. Als ich abends heimkehrte und mich zur Ruhe legte, verflocht sich das Herrliche, was ich den Tag über gesehen, in meine Träume. Alle kamen sie: die schneebedeckten Bergspitzen, die schimmernden Felszinnen, die Fichten und das zerklüftete Tal, der Adler, der seine Kreise in den Lüften zieht; sie alle kamen und baten, daß ich mich beruhigen möge.«
Mary Wollstonecraft (spätere Shelley) war gerade einmal 18 Jahre alt, als sie diese Zeilen schrieb. Seit Goethes »Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden« waren bereits etliche Jahre ins Land gezogen. Frankenstein wurde, obgleich die Veröffentlichung des Werks auf geteilte Kritiken stieß, umgehend zum Verkaufserfolg und gilt heute als Pionierwerk in der Literatur der Gotik und Romantik ebenso wie als direkter Vorläufer der Science-Fiction-Romane.
Ich verlasse Chillon, um vom nahen Montreux aus einen letzten Blick auf das Panorama zu werfen. Die Stadt ist gespickt mit alten Grandhotels und Kunstboutiquen, die allerlei Tand verkaufen. Ich steuere die blumengeschmückte Uferpromenade an, fahre im Schritttempo durch eine verkehrsberuhigte Zone und finde mich schließlich in einer Sackgasse wieder, wo ein älterer Polizist auf einem Schemel sitzt und mir bedeutet, doch bitte schön ins Parkhaus zu fahren. Mit einem Stirnrunzeln winke ich ihn heran.
»Ich will nur eben ein Foto von Freddie machen«, sage ich.
Er überlegt kurz (sein Job besteht offensichtlich darin, Leute wie mich davon abzuhalten, das Seeufer mit Autos zu verschandeln) und registriert im nächsten Moment meinen dicken Schlitten.
Ich merke ihm sein Auto-Faible an und wittere meine Chance. »Limitiertes Sondermodell«, sage ich.
Er nickt, und ich nutze die Gunst des Augenblicks, springe aus dem Wagen, den ich seinen interessierten Blicken überlasse, biege mit schnellen Schritten um die nächste Ecke und habe sie erneut vor mir – die finstere Alpenwand auf der anderen Uferseite. Ich habe Gesellschaft. Neben mir schaut die knapp vier Meter hohe Bronzestatue von Freddie Mercury, dem aus Tansania stammenden Frontsänger der Rockgruppe Queen, ebenfalls über den See. Er wendet den Blick nicht wie »Sisi« von den Bergen ab.
Mercury lebte viele Jahre in Montreux und nahm hier sein letztes Album Made in Heaven auf. Ich betrachte das Denkmal genau. In der linken Hand hält er ein Mikrofon, während er die Rechte zur Faust ballt und trotzig gen Himmel reckt.
Mein Blick wandert über den See und wieder zurück zur Statue – hinüber zu den Alpen, zurück zu Freddie und wieder zu den Alpen.
Gut, es könnte an der Hitze liegen, aber ich habe den deutlichen Eindruck, dass der Sänger mir zuredet, mich aufzuraffen und kein Feigling zu sein.
Ich kehre zum Auto zurück und verabschiede mich von dem Polizisten. Zeit, die Fahrt in die Berge anzutreten!
2. Mont Blanc
La Route des Grandes Alpes, die Große Alpenstraße, beginnt in Thonon les Bains, einem Ort am südlichen Ufer des Genfer Sees. Von hier aus verläuft sie südwärts in zahllosen kurvenreichen Serpentinen hinauf und hinunter, und wieder hinauf und hinunter, überquert 16 Hochalpenpässe, darunter den höchsten befahrbaren Pass der Französischen Alpen, bis sie schließlich nach ungefähr 700 Kilometern den Kurort Menton am Mittelmeer erreicht. Erste Teilabschnitte dieser berühmten Straße wurden bereits 1913 trassiert, die letzten und schwierigsten in den 1930er-Jahren. La Route des Grandes Alpes ist eine der schönsten Panoramastraßen der Welt. Ich werde nur ein Teilstück davon befahren, und zwar in der Region Savoyen, aber auch dieses verspricht gewaltige Passhöhen.
Ziel dieser ersten Etappe meiner Reise ist der Mont Blanc. Und der ist keinesfalls zu übersehen, auch nicht vom fernen Genf aus. Seine riesige weiße Kuppe kündet gewissermaßen vom disruptiven Ruch der Alpen, erscheint unüberwindbar, dem Reisenden im Weg. Der Mont Blanc und seine gebirgigen Geschwister sind wegen der Rolle, die sie in der Geschichte der Menschheit spielten, indem sie regionale Klüfte geschaffen und Unterschiede befördert haben, allemal eine Betrachtung wert. Ich freue mich darauf, die Schauplätze und Klänge der Alpen zu erforschen ... sobald mein Gehör wieder da ist.
Ich komme nämlich gerade aus einer Bäckerei in Thonon-les-Bains, halb ertaubt vom typisch französischen Gezwitscher der Verkäuferin. So ein piepsiger Singsang ist in sämtlichen Geschäften in Frankreich zu hören, wo es unter Verkäuferinnen zum »guten Ton« gehört, dass sie mit ihren Kunden in einer Stimmlage sprechen, die eine Oktave höher liegt als ihre normale Sprechstimme. Und die weibliche Kundschaft stimmt darin ein. In der Bäckerei nun war ich Zeuge eines »Konzerts«, das Glas zum Bersten bringen könnte.
Die kleine Bäckerei stand voll mit gut einem halben Dutzend Kundinnen, dazu die stämmige Bäckerin und ihre gertenschlanken Helferinnen. Kaum war ich über die Schwelle getreten, prasselte ein Geschnatter auf mich ein, das zum Soundtrack für Picassos Guernica getaugt hätte. Es war, als wäre mein Kopf irgendwie zwischen ein besonders schallintensives Räderwerk geraten. »Et avec ça, Madame?« »Et ça sera tout, Madame?« »Merci, Madame. Passez une bonne journée!« Bis ich an der Reihe war und ein belegtes Brötchen mit Schinken und Gruyère zum Mitnehmen verlangte, war ich derart betäubt, dass ich die höfliche schrille Antwort kaum hören konnte.
Das Brötchen jedenfalls ist richtig lecker. Ich setze mich damit auf eine überlange Parkbank, lasse es mir schmecken und genieße die Aussicht, denn der Park ist auf einer kleinen Anhöhe gelegen, die den See überblickt. Gegenüber, in der Ferne, kann ich Lausanne sehen sowie die als UNESCO-Welterbe eingetragenen terrassierten Reblandschaften von Lavaux. Dahinter erheben sich die niedrigen, braunen Bergspitzen des Jura, einer wohlformierten Gebirgskette, ähnlich der Laurentian Mountains, die ich aus meiner Kindheit in Kanada kenne. In meiner Vorstellung sehen Berge genau so aus – wogende Wellenlinien, die ein abwechslungsreiches Bild an den Horizont malen –, nicht wie die Horrorzacken von Alpengipfeln, die drohlich hinter mir aufragen. Eigentlich hatte ich gedacht, Thonon-les-Bains wäre im Vergleich zum berühmten Nachbarort Evian-les-Bains eine Art B-Klasse-Kurort, doch an diesem Morgen zeigt sich das Städtchen von seiner schönsten Seite, und es gefällt mir ausgesprochen gut. Zum Glück hat sich das Klingeln in meinem Ohr gelegt, und ich schließe frohgemut die Augen.
Als ich sie wieder aufschlage, bemerke ich ein älteres Paar in T-Shirts und Shorts, das anhält, um die Aussicht zu genießen. Der Mann geht auf mich zu und wünscht mir »Bon appétit!« Er stellt einen Fuß auf die Bank und richtet seine Kameralinse auf den See. Die Bank ist, wie gesagt, sehr lang, um die zehn Meter, doch er steht so dicht neben mir, dass ich die Follikel seiner Beinhaare erkennen kann. Dabei wäre Platz genug, denn kein Baum oder sonst irgendetwas versperrt die freie Sicht auf den See, trotzdem rückt er mir bedrohlich nahe auf die Pelle, so nahe, dass ich schon seine Hautschuppen auf meinem Brötchen landen sehe. Ich rücke ein paar Hintern breit von ihm ab und kaue genüsslich weiter.
Verwundert – oder missbilligend? – blickt er zu mir herunter.
Ich kann mir nicht helfen. Aber ich muss unweigerlich an das Volk denken, das die Franzosen nur allzu gerne auf die Schippe nehmen.
»Sind Sie Belgier?«, frage ich.
Seine Frau lacht. Er nicht.
Ich stehe auf und gehe zum Auto. Die Frauenstimme, die aus dem Navi meines Wagens tönt, spricht in einer weiteren typisch französischen Art: dem Flüsterton. In den ersten Tagen habe ich mich damit arrangiert, dann aber entschieden, dass ich mich nicht von einer Stimme durch die Alpen dirigieren lassen will, die klingt wie die von Carla Bruni. Ich schalte das Gerät aus.
Mein Missmut weicht schon bald einem freudigen Hochgefühl. Die Fahrt entlang der Route des Grandes Alpesführt mich mitten hinein in eine sattgrüne Landschaft, wo bewaldete Hänge beidseits der Straße Tausende von Metern hoch in den Himmel ragen. So, als wären die Wolkenkratzer in der 6th Avenue von Midtown Manhattan mit Efeu ummantelt – so, als würde ein rauschender Wildbach mitten durch die 6th Avenue donnern. Bisweilen verstellt üppiges Grün die Sicht; dann wieder, vor allem in den Kurven, wird das Auge von einer gigantischen Szenerie überwältigt. Und dann erblicke ich ein einzigartiges Naturwunder, das ich so nicht für möglich gehalten hätte: einen mit Schnee überzuckerten Riesen, der im Gegensatz zu seinen Berggeschwistern anderswo in der Welt weniger wundersames Staunen heraufbeschwört als vielmehr eine Art Bedrohung.
An einem kleinen Touristenladen, wo Reklameschilder auf eine nahe Sehenswürdigkeit hinweisen, fahre ich rechts ran: Les Gorges du Pont-du-Diable, die »Schluchten der Teufelsbrücke«. Klar, es gibt in diesem Teil der Welt jede Menge teuflische Schluchten, Brücken, Tunnel, Gipfel, Wälder, Seen, Kämme und was weiß ich nicht alles, doch diese Schlucht hier macht ihrem Namen alle Ehre. Eine Stegkonstruktion aus Holz und Metall mit einem gottlob robusten Handlauf schlängelt sich in etlichen Metern Höhe über der wild tosenden Dranse de Morzine, die einen tiefen, klaffenden Spalt in den sehr stark mit Rissen durchsetzten Kalkstein gewaschen hat. Ganz vorsichtig trete ich auf den Steg, die Augen fest nach vorn auf ein geradezu unerträglich furchtloses schwules Pärchen gerichtet, das immer wieder stehen bleibt, um Schnappschüsse von sich zu machen, wie sie sich über das Geländer ins Nichts hinauslehnen. Wenn sie anhalten, halte ich auch an. Wenn sie weitergehen, gehe ich auch weiter. Nicht, dass ich Höhenangst hätte, ich sehe nur gerne verliebten Menschen zu.
Zurück im behaglichen Kokon meines Wagens führt mich meine weitere Reise gen Süden aus dem waldigen Schatten der Bäume hinaus und mitten hinein in grasbewachsene Hanglandschaften, durchsetzt von frei liegenden Felsen. Dann erreiche ich Morzine, wie mir ein Schild an einem Kreisverkehr sagt. In der Welt des Skisports ist Morzine vor allem durch seine Schwesterstadt Avoriaz berühmt. Avoriaz ist Höhenkurort und autofreie Retortenstadt, kreiert von der Unternehmer-Schickeria der 1960er-Jahre unter Leitung von Jean Vuarnet, seines Zeichens Ski-Olympiasieger sowie Namensgeber der exklusiven Must-have-Designer-Sonnenbrillen. Ich habe ein Lächeln im Gesicht, als ich durch Morzine fahre, denn an Avoriaz habe ich vor allem zwei Erinnerungen: In einer Après-Ski-Bar saß ich einmal mit einem GI zusammen, der mich ganz kirre machte, weil er mir regelrecht ein Ohr abkaute mit seinem Gerede von »Alvarez«, bis ich irgendwann kapierte, dass er »Avoriaz« meinte und es einfach nur falsch aussprach. Die andere Erinnerung, die ich mit Avoriaz verbinde, war nicht eben mein bester Augenblick. Ich war damals mit einer jungen Profi-Skifahrerin verheiratet. Wir verbrachten den Tag in Avoriaz getrennt voneinander – ich auf dem Anfängerhügel, sie auf der Profipiste. Am späteren Nachmittag trafen wir uns wieder und beschlossen, noch gemeinsam eine Abfahrt zu machen, närrisch und naiv, wie wir als Frischvermählte waren. Ich bemerkte gar nicht, dass sie mich zu den Skilifts führte, die wiederum zu weiteren Skilifts gingen – nun gut, ich war schließlich in liebevollen Händen. Doch als wir unsere Skier hangabwärts richteten, blickte ich eine steile Buckelpiste hinab, auf der es nur im Schuss hinuntergehen würde. Ich war stinksauer. Ja, tut mir leid, es sagen zu müssen, aber ich explodierte regelrecht, schoss feuerwerkähnliche Fluchsalven in die kristallklare Alpenluft, während meine Holde nur völlig perplex zusehen konnte, wie ich vor lauter Schiss total ausrastete. Als ich fertig war, erklärte sie mir kurz und knapp, dass es nur einen Weg nach unten gäbe, drehte sich auf ihren Skiern um und verschwand bergab.
Meine Hysterie war gar nicht so verkehrt, denke ich, während ich durch die Straßen von Morzine fahre. Im 19. Jahrhundert, der Blütezeit dämonischer Hysterien, als Erscheinungen der Heiligen Jungfrau Maria vor allem bei irdischen Jungfern Hochkonjunktur hatten und unter jungen Mädchen fast eine Art Initiationsritual waren, nimmt Morzine mit seinem »dämonischen Jahrzehnt«, wo jede zweite Jungfer von bösen Geistern besessen war, einen besonderen Ruhmesplatz ein. Die zehnjährige Peronne T. trat den Wahn 1857 los. Ihre Tobsuchtsanfälle, Krämpfe, Zuckungen, begleitet von unverständlichem Kauderwelsch, zielten auf den Ortspfarrer und sollten in den nachfolgenden Jahren Dutzende Nachahmerinnen finden. Das damals entlegene Dorf wurde zu einer Art Touristenattraktion – das Spektakel junger Frauen, die sich auf Altären und in Kapellen in verzückte Raserei versetzten, war offenbar ein Anblick, den man sich nicht entgehen lassen wollte. Einmal hatte man einen Bischof herbeigerufen, um die versammelte Schar zu beruhigen. Doch der war bald schon umringt von über 50 Besessenen, die in obszöner Ekstase alles taten, um ihn zu vergraulen. In vielerlei Hinsicht war Morzine das genaue Gegenteil von Lourdes, wo Bernadette Soubirous 1858 (ein Jahr nach Peronne) im Schatten der Pyrenäen mehrere Marienerscheinungen hatte. Anders als in Lourdes richteten die besessenen Frauen in Morzine ihren Zorn gegen die Kirche. In Morzine gibt es keine heilige Grotte, keine Pilgerkirche, die Abertausende Gläubige anzieht, und auch keinen nahen Flughafen, der für große Jumbojets ausgelegt wäre, nein, es gibt lediglich ein sehr großes Skelett, aufbewahrt in einem Schrank in der Dorfkirche. 1873 verschwand das Besessenheitsphänomen auf so mysteriöse Weise, wie es gekommen war.
Apropos Skelett. Es gibt ein weiteres tragisches Ereignis, das mit Morzine verbunden ist. Es betrifft den Lokalhelden Jean Vuarnet, den eben erwähnten Olympiasieger und späteren Unternehmer, dessen Sonnenbrillen den Dude in The Big Lebowski, den Skirennfahrer Bode Miller, Jake Gyllenhaal im Spielfilm Everest oder Daniel Craig als James Bond in James Bond 007: Spectre schmückten. In der privaten Welt des Jean Vuarnet sah es hingegen sehr viel düsterer aus. Irgendwann, Anfang der 1990er-Jahre, traten seine Frau Edith (geborene Bonlieu und ehemalige Skirennfahrerin) und der gemeinsame Sohn Patrick heimlich dem Sonnentempler-Orden bei, einer wahnhaften Sekte, die auf den Idealen der mittelalterlichen Tempelritter beruhte, mit Möchtegern-Weltverbesserern und Gemeinschaften in der Schweiz, in Frankreich und im kanadischen Quebec. Die Sekte wurde durch kollektive Morde und Selbstmorde berühmt und berüchtigt: Zwischen 1994 und 1997 kamen in den drei Ländern, in denen die Sekte aktiv war, insgesamt 74 Sektenmitglieder ums Leben. Zur Wintersonnenwende 1995 starben Vuarnets Frau und sein Sohn zusammen mit 14 anderen unweit von Grenoble auf einem entlegenen Gelände in den Alpen. Die Leichen waren sternförmig auf dem Boden angeordnet. Vuarnet blieb zeit seines Lebens überzeugt davon, dass seine Liebsten ermordet worden seien, doch was genau sich zugetragen hatte, ist bis heute ungeklärt.
Die glorreichen Zeiten sind buchstäblich Schnee von gestern, zumindest aus meiner Sicht, und das habe ich allein mir selbst zuzuschreiben. Ein Glück, dass mich die Straße von Morzine nach Les Gets, ebenfalls ein bekannter Skiort, von meinen Gedanken ablenkt, da sie mir mit ihren engen Haarnadelkurven alles abverlangt. Die ersten paar sind halb so wild, doch ich weiß, dass in den Monaten, die vor mir liegen, noch Hunderte mehr auf mich zukommen, mich schikanieren und demütigen werden. Der Begriff »Haarnadelkurve« übrigens, der seine Entsprechung im englischen hairpin hat, weicht vom französischen lacets völlig ab. Wo die deutsche »Haarnadel« und die englische hairpin auf den Kopf verweisen, deutet das französische lacets (Schnürsenkel) auf die Füße. Wie auch immer man diese Kurven nennen mag, meinetwegen auch »Serpentinen«, ich persönlich fahre auf diesen anspruchsvollen Alpenstraßen mit ständigem Rauf-und-runter-Schalten lieber Rechts- als Linkskurven.
Wie auch immer die Straßen ausgestaltet sind, alle Welt ist sich einig darin, dass es immer noch billiger ist, Haarnadelkurven zu bauen als Tunnel zu bohren – weshalb sie in gebirgigen Landschaften allgegenwärtig sind. Ist ein Berghang zu steil, um ihn auf direktem Wege hoch- und auf der anderen Seite wieder hinunterzufahren, muss er über steile Serpentinen mit 180-Grad-Kehren bezwungen werden. Und die bremsen den Verkehr, was ganz gut ist angesichts der waghalsigen Wege entlang dramatisch überhängender Felsen. Doch sie sind auch extrem gefährlich, was weniger gut ist. Die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren ist jederzeit durchaus möglich, insbesondere wenn man auf steilem Gefälle – dem schwierigsten und gefährlichsten Teil der Passüberquerung – den Fuß auf der Bremse hat. Haarnadelkurven trennen die Spreu vom Weizen, was das fahrerische Können anbelangt, und liefern das unwiderlegbare Argument schlechthin für die Vorteile der manuellen gegenüber der automatischen Gangschaltung.