Die Angst in unseren Herzen - Sandra Adam - E-Book

Die Angst in unseren Herzen E-Book

Sandra Adam

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Beschreibung

Was, wenn Angst dein Leben bestimmt? Sophie ist eine erfolgreiche und taffe LKA-Beamtin aus Hannover mit erstklassiger Ausbildung und einer Bilderbuchkarriere. Alles in ihrem Leben läuft prächtig, bis sie wenige Tage nach einer aufregenden Nacht mit einem geheimnisvollen Fremden entführt wird. Zwar wird sie gerettet, doch danach ist nichts mehr wie zuvor. Zu allem Überfluss wird sie auch noch auf unbestimmte Zeit suspendiert. Panikattacken und Wutausbrüche bestimmen fortan ihren Alltag. Ihr komplettes Leben steht Kopf und so flüchtet sie in ihre Heimat Kühlungsborn. Bei ihrer Mutter und alten Freunden will sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Doch statt Erholung und Ruhe wartet auch hier eine Überraschung nach der anderen. Für Sophie beginnt eine Achterbahn der Gefühle und eine turbulente Reise durch ihr Leben.

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel

5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

*Leo*

*Marc*

Danksagung

Weitere Bücher

Warum kann Angst unseren Körper so beherrschen, dass wir kaum noch Herr der Lage sind? Wieso haben wir Angst? Die einen mehr, die anderen weniger. Egal wovor wir Angst haben — Spinnen, Höhe, Menschenmenge, Alleinsein — Angst ist ein Gefühl, es ist und bleibt daher relativ. Die einen nehmen sie stärker wahr, die anderen nicht. Aber eines haben wir alle gemein: Jeder von uns hat im Leben vor irgendetwas Angst. Angst ist nicht greifbar, nicht sichtbar, nicht messbar — und dennoch ist sie real.

Prolog

„Darf ich Sie auf ein Glas Wein einladen?“

Wunderschöne, große braune Augen schauen mich verführerisch an.

Endlich reagiert der gutaussehende Kerl auf meine Flirtversuche. Seit einer Stunde tanze ich um ihn herum, um auf mich aufmerksam zu machen, und er ignoriert mich schlichtweg. Ich habe schon befürchtet, er wäre schwul oder gar vergeben.

„Komm lieber tanzen.“ Auffordernd schlängle ich meinen Körper um den Seinen.

Im Schäkern bin ich keine Leuchte, doch heute scheinen meine Versuche, ihn anzubaggern, zu fruchten. Lächelnd nimmt der gutaussehende Mann meine Einladung an, folgt mir auf die Tanzfläche und zieht mich ganz eng an sich. Holla, damit habe ich jetzt allerdings nicht gerechnet. Dafür, dass er so lange zum Reagieren brauchte, geht er jetzt aber forsch ran. Kurz überlege ich, ob es mir vielleicht doch etwas zu schnell geht. Mein Kopf rauscht vom Alkohol, das Gehirn kann nicht mehr richtig denken und mein Körper macht sich selbstständig. Na gut, dann tanzen wir halt etwas enger zu einem Lied, wo es eigentlich nicht wirklich passt. Wir haben gerade unsere eigene Melodie im Kopf. Dieser Körper ist aber auch unwiderstehlich.

Ich sah diesen großen, braungebrannten, dunkelhaarigen Mann schon des Öfteren hier, traute mich aber nie, ihn anzusprechen oder gar mit ihm zu flirten. Und auch er sprach mich nicht an oder schaute gar mal herüber. Er ist anders als die anderen Männer, die sich hier herumtreiben. Oft wurde ich angesprochen, aber nie von ihm. Alle scheinen hier auf der Balz zu sein, nur er nicht. Bisher hat er jedes Wochenende an der Theke gesessen, Wein getrunken, durch die Gegend geguckt und dabei abwesend ausgesehen. Viele Frauen haben ihn schon angesprochen oder anderweitig versucht, auf sich aufmerksam zu machen, ohne Erfolg. Aber heute, heute habe ich es geschafft. Innerlich grinse ich über den Erfolg.

Unsere Körper bewegen sich wie eine Einheit im Takt, den unser Kopf uns vorgibt. Die anderen um uns herum verschwimmen und wir vergessen, dass sie da sind. Nur wir beide, eng aneinander gekuschelt, wippen hin und her. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als er mit einem Finger über meinen Rücken streicht und noch tiefer wandert. Ganz langsam streichelt er an meinem Hinterteil rauf und wieder runter. Dabei knabbert er an meinem Ohrläppchen sowie meinem Hals. Mein Körper ist übersät von einer Gänsehaut.

O Gott, denken kann ich nun gar nicht mehr. Wie lange ist es schon her, dass ich mit einem Mann zusammen war? Keine Ahnung, aber deutlich zu lange, wenn ich meinen Körper richtig verstehe! An Angeboten mangelt es nun wirklich nicht. Sogar meine Kollegen haben mir während meiner Ausbildung auf der Polizeischule genug Avancen gemacht. Doch zu dem Zeitpunkt hatte ich keinen Kopf und keine Lust mich darauf einzulassen. Mit Kollegen etwas anzufangen, bedeutet immer nur Ärger.

Ich spüre sein Grinsen an meinem Hals. Etwas peinlich ist es mir ja schon, dass er mich, eine bodenständige LKA-Beamtin mit Kampfsporterfahrung, so aus der Fassung bringt. Ich schmelze in seinen Fingern wie Eis in der Wüste. Das hat auch noch kein Mann geschafft. Für solche Gedanken hat mein Körper im Moment allerdings keinen Platz und noch weniger Muse. Ich bin verloren in seinen Armen, jegliche Vorsicht ist vergessen.

Ich will ihn! Jetzt und sofort! Auch er ist nicht abgeneigt, wenn ich die Beule in seiner Hose richtig deute.

„Komm“, nuschelt er mir ins Ohr, beißt vorsichtig rein und zieht dran.

Autsch. Das tat etwas weh, und doch ist es sehr erregend.

Nickend folge ich ihm von der Tanzfläche zur Garderobe. Wir sagen kein Wort, doch die Luft zwischen uns knistert, als er mir in den Mantel hilft.

Ein Gentleman! So etwas gibt es noch? Ich hätte schwören können, die sind ausgestorben, genau wie die Dinosaurier.

„Und nun?“

Etwas Angst schwingt in meiner Stimme mit, Angst davor, dass er mich höflich in ein Taxi nach Hause setzt. Ich will nicht alleine nach Hause. Nicht heute Nacht.

Mit einem Ruck zieht er mich an sich heran und küsst mich leidenschaftlich. Der Boden dreht sich, meine Lippen bewegen sich im Gleichtakt mit den Seinen. Mein Kopf ist leer und mein Körper bebt. Allein gehe ich heute wohl nicht nach Hause. Geschafft, die Angst ist unbegründet!

„Zu dir oder mir?“ Frage ich neckisch unter seinen Küssen.

Ohne Antwort schlendern wir die Straße entlang und halten immer und immer wieder an, um uns leidenschaftlich zu küssen. Seine Hände wandern über meinen Körper und sorgen dafür, dass ich bald vergesse, in der Öffentlichkeit zu sein. Zwinkernd zeigt er auf ein Hotel. Okay, auch eine Idee. Weder zu ihm noch zu mir. Im Moment ist mir völlig egal wohin, Hauptsache wir sind bald da und unter uns. Geduld ist nicht gerade eine meiner Stärken.

An der Rezeption schiebt er mich nach vorne, knabbert weiter an meinem Hals und liebkost meinen Rücken. Denken und reden fällt mir so allerdings sichtlich schwer, was der nette junge Mann hinter dem Schalter mit einem Grinsen kommentiert. Lächelnd nimmt er meine Daten auf, gibt mir den Schlüssel und wünscht uns viel Spaß. Den werden wir sicherlich haben! Schon im Fahrstuhl, in dem wir zum Glück allein sind, fallen wir halb übereinander her.

Gott, bin ich ausgehungert! Seine weichen Lippen sind überall und die wundervollen gepflegten Hände verwöhnen meinen bebenden Körper. Nur mit sehr viel Mühe kann ich die Tür aufschließen, bevor wir im Zimmer wild übereinander herfallen. Die Klamotten fliegen quer durch den Raum. Sein Körper ist braungebrannt und durchtrainiert, aber nicht so übermäßig, dass es übertrieben wirkt. Zum dahinschmelzen. Meine Finger streicheln quer über seinen Bauch, was ihm eine Gänsehaut auf seinen Körper zaubert.

Mein Blick wandert umher. Ist das hier wahr? Liege ich wirklich mit diesem unsagbar wunderschönen, zärtlichen Mann im Hotel? Offensichtlich, zumindest wenn ich meinem Körper glauben schenke, der unter seinen Berührungen bebt. Die Nacht soll bitte nie enden.

An ihn kann ich mich gewöhnen. Er hat mich verzaubert. Dieses Gefühl kenne ich gar nicht, so kenne ich mich gar nicht! Dass mir so etwas einmal passiert, damit hätte ich nicht gerechnet. Bis jetzt habe ich nie an eine Beziehung gedacht. Aber er ist irgendwie anders und weckt Gefühle in mir. Bei diesen Gedanken falle ich in einen tiefen Schlaf und in ein Land voller schöner Träume.

Leises Schnorcheln ist zu hören, als ich zur Toilette gehen will. Grinsend nehme ich das Geräusch wahr und schaue ihn an, wie er im Bett liegt. Er schläft eingerollt wie ein kleines Kind. Verdutzt mustere ich seinen wohlgeformten, kräftigen Rücken, der aus der Bettdecke herausragt. Narben zieren diesen wunderschönen, muskulösen und braungebrannten Körper. Die stammen definitiv nicht von einem Unfall, stelle ich mit meiner geschulten LKA-Denkweise fest. Sofort beginnt meine Fantasie abzuschweifen. Dass ich die nicht gleich gespürt habe, lag wohl an meiner Leidenschaft. Entsetzt bleibe ich stehen und lasse meine Finger über seinen Rücken gleiten. Deutlich spüre ich sie unter meinen Fingerkuppen. Sofort bekommt er eine Gänsehaut unter meiner Berührung.

Unglaublich! Was muss er erlebt haben. Wie heißt der gutaussehende Mann mit dem wundervollen Körper eigentlich? Vor lauter Küsserei und Gefummel habe ich gar nicht gefragt. Und jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, gab es einen leidenschaftlichen Kuss. War das etwa Absicht? Ich nehme mir fest vor, ihn am Morgen danach zu fragen. Ihn nur deswegen zu wecken, fällt mir im Traum nicht ein, und außerdem brauche auch ich noch Schlaf. Völlig müde falle ich wieder zurück ins Bett und schlafe unverzüglich ein.

Die Sonne strahlt mir ins Gesicht. Verwirrt gucke ich mich um. Wo bin ich? Ach ja, im Hotel. Meine Hand wandert über den Schlafplatz neben mir, um den gutaussehenden Kerl mit den vielen Narben wach zu streicheln und dabei gleich noch eine Runde einzufordern. Nur leider taste ich ins Leere. Überrascht schaue ich zur Seite. Der Platz neben mir ist leer, die Decke liegt ordentlich gefaltet auf der Stelle, wo ich seinen wundervollen Körper vermutet habe. Ich würde ihn ja gerne rufen, muss aber erneut feststellen, dass ich seinen Namen nicht weiß. Wie peinlich!

Nun gut, dann muss ich ihm wohl oder übel ins Badezimmer folgen. Seinen Körper kenne ich ja schließlich. Doch auch da ist er nicht. Hat er mich etwa hier allein liegen gelassen und abserviert? Mein entsetzter Blick wandert durch das Zimmer. Ich sehe nur meine Klamotten, die immer noch verstreut herumliegen. Von den Seinen fehlt jede Spur. Nichts erinnert noch daran, dass er hier war und an die tollste Nacht, die ich je hatte.

Na danke auch.

Ich wurde tatsächlich abserviert von einem Mann, dessen Name ich nicht einmal kenne. Das ist mir auch noch nicht passiert.

Beim Duschen überlege ich mir sämtliche Szenarien, die seine vielen Narben erklären können und wieso er einfach abhaut. Allesamt nicht gerade toll.

Mit hochrotem Kopf wanke ich zur Rezeption, um zu bezahlen. Der junge Mann von gestern ist nicht mehr da, ist wohl schon im Feierabend. Zum Glück. Aber auch der etwas ältere Mann hinter dem Tresen scheint Bescheid zu wissen. Er grinst mich breit an, als ich meinen Zimmerschlüssel hinlege. Na toll, hier kann ich mich nicht mehr blicken lassen, wer weiß, was die von mir denken.

„Ich möchte bitte bezahlen“, nuschle ich kleinlaut.

„Das hat Ihr Begleiter schon erledigt und Ihnen diesen Brief dagelassen. Er musste schnell los und wollte Sie nicht wecken. Das Frühstück können Sie im Restaurant zu sich nehmen“, säuselt der Gute, während er mich von oben bis unten mustert und mir einen Zettel herüberschiebt auf dem „Für Sophie“ geschrieben steht.

Woher kennt er meinen Namen?

Kurz überlege ich und merke, dass ich ja meine Daten gestern an der Rezeption abgeben musste. Himmel wie peinlich, denken fällt mir scheinbar immer noch schwer. Aber zu dem Frühstück sage ich nicht nein, genieße das reichhaltige Buffet, den Kaffee und lese dabei den Brief.

Guten Morgen Sophie. Es war eine wundervolle Nacht, aber ich muss mich verabschieden. Wir werden uns nicht wiedersehen. Es ist besser, wenn du dich von mir fernhältst. Genieße das Frühstück. Gruß und einen dicken Kuss.

Ist das sein Ernst? Das ist ja mal kurz und bündig abserviert. Etwas mehr hätte ich nach so einem Auftritt aber schon erwartet. Jetzt ist meine Neugierde doch erst recht geweckt. Was hat es mit den Narben auf sich und wieso ist es besser, wenn ich mich von ihm fernhalte? Ich muss ihn finden. Er hat mir den Kopf verdreht und lässt mich dann hier mit einer solch kurzen, mysteriösen Nachricht allein zurück? Der spinnt wohl! Es wäre ja gelacht, wenn ich ihn mit meinen Möglichkeiten nicht finde!

Challenge accepted, mein gutaussehender Unbekannter. Ich werde dich finden! Das ist ein Versprechen.

Kapitel 1

Draußen zwitschern die Vögel. Muss das denn so laut sein? Langsam öffne ich meine verschlafenen Augen. Wieso zum Teufel klingelt der Wecker? Muss ich arbeiten? Ne, das kann nicht sein.

Wo bin ich? Nun, jedenfalls nicht zu Hause, das ist eindeutig, da sind die Vögel leiser.

Wer bin ich? Das beantworte ich erst nach einem Liter Kaffee! Vorher kann ich eh nicht reden.

Wieso bin ich? Gute Frage. Das kann nur meine Mutter beantworten und die ist hoffentlich nicht in meinem Zimmer.

Möwen? Weshalb auch immer.

Warum höre ich Möwen? Weil die immer Geräusche von sich geben, wenn sie nicht gerade Pommes klauen.

Nur langsam fängt mein Gehirn an, richtig zu arbeiten. Blinzelnd stelle ich fest, dass die Sonne scheint und ich nicht bei mir Zuhause bin. Meine Gedanken kreisen. Ach ja, ich bin in Kühlungsborn in einem kleinen und sehr gemütlichen Hotel. Deshalb also die Möwen. Den Rest meiner Fragen, brauche ich mir somit nicht mehr beantworten, bis auf eine. Wieso zum Teufel klingelt der Wecker?

Aufrecht sitzend schaue ich mich in meinem Zimmer um. Das Bett ist in die Jahre gekommen und knarrt bei jeder Bewegung. Insgesamt ist das Zimmer altbacken eingerichtet. Das Sofa ist schick, mit geschwungener Lehne, aber nicht sonderlich bequem. Ich würde sogar behaupten, das Sofa ist nur zur Zierde da. Das sage ich dem Hotelbesitzer natürlich nicht, sie haben sich solche Mühe mit der Einrichtung gemacht. Vielleicht soll man sich da auch gar nicht draufsetzen. Auf dem Stuhl, der ebenfalls antik aussieht, hängen meine Sachen: eine Leggins, ein Sport T-Shirt und meine Sportjacke.

Nun fällt es mir wieder ein. Ich wollte heute früh laufen gehen, da mein Arzt meint, dies wäre genau das Richtige, um mich auszupowern und mein Herz-Kreislaufsystem zu stärken. Ich finde ja immer noch, er hat unrecht, aber was soll’s. Seufzend stehe ich auf. Na, wenn er meint, dann mache ich das mal. Ab und an höre ich auf ihn.

Träge ziehe ich mich an. Für die Schuhe brauche ich etwas länger. Mein Körper erinnert sich noch mehr als deutlich an die Quälerei meiner Entführung. Nach außen hin deuten nur noch Narben an, was ich durchmachen musste, in der Zeit, als mich mein Stalker gefangen hielt. Ich bin Polizistin beim LKA und hätte nie gedacht, dass ich einmal entführt werde und gerettet werden muss. Für solche Befreiungsaktionen bin ich eigentlich zuständig. Und meinen Job erledige ich auch sehr gut. Meine Aufklärungsquote liegt bei 98%. Darauf bin ich sehr stolz.

Doch dieses eine Mal war alles anders. Bei meinem eigenen Fall habe ich total versagt. Da lag ich voll daneben. Muss das einer von den zwei Prozent sein? Ich habe erst kapiert, was los ist, als die Falle zuschnappte. Bei dem Gedanken schüttelt es mich. Meine Prellungen finden das gar nicht lustig, die verheilen außerdem viel zu langsam für meinen Geschmack. Ob Joggen da wirklich gut ist? Der Arzt spinnt doch.

Mit dem Handy und Kopfhörern bewaffnet gehe ich vor die Tür und atme die kühle, salzige Seeluft ein. So frisch! Wunderbar! Hat der Arzt etwa doch recht?

Gegenüber ist ein kleiner Park mit weißen Bänken, die unter den Bäumen zum Hinsetzen einladen. Ich nutze sie allerdings eher zum Dehnen meiner müden Sehnen, Bänder und Muskeln, die unter meinen Bewegungen ächzen. Ob der Arzt weiß, was er von mir verlangt? Ich würde lieber auf irgendetwas einschlagen, anstatt stumpf herumzulaufen und mich auszupowern. Ich gebe ihm ja recht, dass es nicht sehr klug war, auf meinen Peiniger einzuprügeln, als dieser in Polizeigewahrsam war, aber es tat so gut! Meine Gedanken kreisen um diesen Tag und ich reibe meine Fingerknöchel, die unter meinen Schlägen etwa genauso gelitten haben wie sein Gesicht und seine Rippen.

Ein Geräusch hinter mir lässt mich die Luft anhalten und mein Puls schießt in die Höhe. Ich wirble herum und stehe nach einem katzenähnlichen Sprung in Kampfstellung ala Karate Kid vor einer entsetzten Joggerin, die mich mit weit aufgerissen Augen ängstlich anblickt. Auf ihren entsetzten Schrei entschuldige ich mich und laufe rot an, ehe ich mich schnell wieder umdrehe.

Ich bin einfach noch zu schreckhaft und wegen der stets viel zu laut eingestellten Kopfhörer habe ich sie erst gehört, als sie direkt hinter mir war. Mein Arzt scheint recht zu haben. Ich brauche diese Auszeit. Dringend!

Tief einatmend laufe ich los. Genug gedehnt. Erst einmal zwei Runden zum Aufwärmen durch den Park drehen, dann allen Mut zusammennehmen und das kleine Stück durch den Wald in Angriff nehmen.

Ach komm schon, Sophie! Das ist nur ein kleines Stück. Los, das schaffst du!, spreche ich mir selber Mut zu.

Seit meiner Entführung habe ich Schwierigkeiten, mich zu weit von für mich sicheren Orten zu entfernen, und gerate schnell in Panik. Meistens endet das dann entweder in einem Heulkrampf oder ich schreie aus Leibeskräften.

Mein Puls rast, und das hat nichts mit dem Tempo zu tun, mit dem ich meine Strecke laufe. In den Ohren höre ich schon wieder dieses verdächtige Rauschen meines eigenen Blutes.

„NEIN!“, brülle ich und stelle meine Musik noch lauter.

Immer schneller bewege ich mich in Richtung Sonne, die durch die Bäume blitzt. Etwa genauso schnell kommen die Bäume immer näher. Es sieht so aus, als wollen sich mich umzingeln und mit ihren Ästen nach mir greifen. Noch dazu schwankt der Boden unter mir. Ich nehme links und rechts davon kaum noch etwas war, ich erlebe einen regelrechten Tunnelblick. Nun wird auch noch der Tunnel immer enger, möchte mich einfangen, erdrücken, während meine Füße förmlich über den Waldboden aus Sand, Wurzeln und Tannenzapfen fliegen.

Jetzt auf keinen Fall stolpern, Sophie.

Der Schweiß rinnt mir die Stirn und den Rücken hinab. Das Shirt ist klatschnass, genau wie meine Haare. Schwer atmend komme ich am letzten Baum an und bekomme kaum noch Luft. Abgehetzt reiße ich meine Arme in die Höhe und konzentriere mich auf meine Atmung.

Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.

O Gott, das war zu schnell. Ich bin nicht so fit, wie ich gehofft habe.

„Diese Touristen! Müssen die immer übertreiben?“, höre ich eine Stimme neben mir, als das Lied in meinen Ohren eine Pause einlegt.

Erst jetzt stelle ich fest, dass ich wie eine Tomate aussehen muss, mitten auf dem Weg stehe und japse wie ein Marienkäfer auf dem Rücken. Himmel ist das peinlich. Meine Kondition hat wohl ebenso gelitten wie mein Körper. Nun gut, den Wald habe ich geschafft, nun geht es langsam weiter Richtung Promenade. Sofern mir meine Beine nicht den Dienst verweigern.

Touristen! Am liebsten hätte ich diesen Typ angebrüllt, dass ich hier aufgewachsen bin und somit alles andere als ein Tourist bin. Für wen hält der sich eigentlich? Eingebildeter Fatzke!

Ich denke mich in Rage und muss aufpassen, dass mein Temperament nicht mit mir durchgeht, sonst prügle ich doch noch auf jemanden ein. Als ich wieder klarer denken kann, muss ich zugeben, damals ebenso gedacht zu haben. Die Touristen habe ich genauso missbilligend beäugt, auch wenn sie das Geld hierlassen und viele Einheimische davon leben, bis ich von hier weggegangen bin, um Karriere zu machen.

Und was hat es mir eingebracht? Einen psychisch kranken Stalker, der mich entführt hat, und eine Suspendierung wegen Polizeigewalt. Na danke auch. Klasse gemacht, Sophie! So habe ich mir meine Karriere nun wirklich nicht vorgestellt. Eigentlich wollte ich hoch hinaus, bin aber leider tief gefallen.

Meine Mutter meinte immer, ich solle nicht wegziehen, sondern hier an der Ostsee arbeiten. Sie hat mich regelrecht angefleht. Aber was passiert hier schon? Diebstähle am Strand, weil die Leute ihre Habseligkeiten in ihren Rucksäcken verstecken, welche sie unter die Decke oder das Handtuch packen, wenn sie ins Wasser baden gehen. Da haben Diebe doch leichtes Spiel und werden selten gefasst. Das ist doch keine Karriere. Ich wollte in die Welt hinaus und wirkliche Bösewichte fangen. Die Menschheit retten und keine kleinen Diebstähle aufklären. Auch wenn das Leben hier sicherlich ruhiger gewesen wäre. Ich wollte es nicht, sondern brauchte Aktion und Abenteuer. Und genau das habe ich auch bekommen, ganz viel Aktion und noch mehr Abenteuer.

Die Ausbildung war hart, aber sie gefiel mir. Egal in welchem Fach, ich war immer die Beste und arbeitete doppelt so hart wie meine Kameraden. Während sie tranken und feierten, ging ich in die Sporthalle und trainierte Kampfsport oder machte Kraftübungen. Dieser Ehrgeiz machte sich schnell bezahlt und ich bekam noch in der Ausbildung ein Angebot vom LKA. Ich nahm es nur zu gerne an. Erst wurde ich belächelt, doch auch hier war mein Ehrgeiz noch lange nicht erschöpft. Ich legte mich richtig ins Zeug, arbeitete erneut doppelt so hart wie meine Kollegen. Besonders die männlichen Kollegen machten sich erst lustig und foppten mich. Spätestens beim Kampfsport legte ich sie alle auf die Matte, und sie verstummten. Der Respekt war also meiner und das Foppen sowie das belustigte Lächeln verschwanden schnell. Seither gehöre ich zu ihnen.

Deutlich langsamer als zuvor im Wald laufe ich an der Promenade entlang, sonst falle ich bald mit Herzinfarkt um oder meine Beine sacken mir einfach weg. Auch wenn ich mir vor ein paar Wochen fast gewünscht habe zu sterben, heute sieht das ganz anders aus. Die frische Seeluft tut sehr gut. Ich spüre jeden Atemzug tief in den Lungen, spüre die Sonne auf meinem Gesicht und lächle. Ich mag es kaum zugeben, aber meine Mutter hatte recht, als sie meinte, ich solle hier Urlaub machen.

„Es gibt nichts, was Seeluft nicht heile macht“, sagte sie zu mir.

„Heile machen.“ Als wäre ich eine Glasschale, die man kleben muss. Wenn das bei mir doch auch so einfach wäre.

Ich bin etwas stolz auf mich, dass war ich schon länger nicht mehr. Der innere Schweinehund ist für heute überwunden. Das Stück im Wald war hart, aber ich bin dort entlanggelaufen. Okay, etwas schnell und kurz vor einer Panikattacke, aber ich bin dort entlang! Das habe ich die ganzen Tage, seit ich hier bin, noch nicht geschafft. Plötzlich muss ich scharf bremsen. Eine Frau steht vor mir. Ich springe noch schnell zur Seite, um sie nicht doch noch über den Haufen zu rennen.

„Sind Sie blind?“, brülle ich erbost, ohne zu gucken, wer und warum sie dort steht. Meine Aggression habe ich noch nicht wieder ganz im Griff.