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In sieben Erzählungen entwirft Fleur Jaeggy Wirklichkeiten von äußeren und inneren Zwängen, in denen sich die Menschen beunruhigend gut eingerichtet haben. Eingeengt in Ehen, Beziehungen, Altersheimen und Anstalten versuchen sie zurechtzukommen mit dem, was das Schicksal ihnen zugedacht hat. Stets ist es ein Kampf auf Leben und Tod und manchmal erscheint das Unglück als ein Geschenk des Himmels.
Mit schonungsloser Präzision erschafft Fleur Jaeggy ein Kaleidoskop aus subversiven Figuren, die eine Aura von Gewalt umgibt.
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Seitenzahl: 105
Veröffentlichungsjahr: 2024
Fleur Jaeggy
Die Angst vor dem Himmel
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Barbara Schaden
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel La paura del cielo bei Adelphi Edizioni S.p.A, Milano.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5428.
© 1994 Fleur JaeggyFür die deutschsprachige Ausgabe © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München
Umschlagfoto: Alice de Kruijs/plainpicture
eISBN 978-3-518-77904-0
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Ohne Schicksal
Eine Ehefrau
Ein Haus umsonst
Das Versprechen
Porzia
Die Zwillinge
Die eitle Greisin
I
II
III
Informationen zum Buch
Unterdessen empfand sie Hass. Marie Anne war den ganzen Nachmittag damit beschäftigt gewesen, Pflanzen zu beschneiden, mehr als nötig. Sie gibt ihrer Wut nach. Die Sauberkeit an erster Stelle. Das Erdreich war weich, es hatte geregnet. Und es schien schmutzig. Ihr Garten war ein Hinterhof, die Sonne drang nicht in die Erde vor. Unschlüssig stockt die Hitze bei der Umfriedungsmauer. Nichts Besonderes, dieser Garten. Feucht. Winters war er weiß. Schmutzig weiß. Im Frühjahr war er noch schmutziger, Kälte und Moder wollten aus diesem Flecken Erde nicht weichen. Im Sommer verdorrt er. Und die Jahre vergingen. Marie Anne sitzt im Garten und stößt den Kinderwagen mit dem Fuß bis an die Mauer, dann zieht sie ihn am Seil wieder zu sich. So hatte die Kleine ein wenig Bewegung.
Das Kind sah sich stumpfsinnig um. Marie Anne hatte sie gehasst, seit sie auf der Welt war. Zwischen hundert Neugeborenen war sie aufgetaucht, ein kleines Schild daran, und das war dann ihre Tochter. Normal. Sie war nicht blind, sie hörte gut. Ihre Freundin Johanna wollte sie haben, die Kleine. Sie ist ein Mischling. »Wieso gibst du sie nicht mir, wenn du sie nicht magst?« Sehr beharrlich war Johanna gewesen. Und auch die Herrschaft, bei der Johanna diente – als Zimmermädchen –, hätte die Kleine gewollt. Wenn sie dir nicht gefällt, gib sie uns. Wir werden sie adoptieren. Marie Anne hatte sich das schöne Haus von Johannas Dienstherren angesehen. Und den schönen Garten. Die weißen Korbsessel, elegant und unbequem. Sie zeigten ihr sogar das Zimmer für die Kleine, ein Zimmer, das auf den Garten hinausging. Mit einem Bettchen wie aus Erdbeereis und Schlagsahne. Auch Spielsachen gab es, in einem anderen Zimmer. Die Spielsachen, die dem toten Mädchen von Johannas Herrschaft gehört hatten. Niemand hatte sie mehr angefasst. Manchmal ließ die Mutter abends das kleine Pferd hin- und herschaukeln. Man kann nicht mit dem Spielzeug von Toten spielen, das sagte der Mann. Ein vernünftiger Mensch, er hätte selbst gern mit den Puppen seiner toten Tochter gespielt. Die Puppen lachten über dieses Paar, dem es nicht gelang, das Mädchen zu vergessen. Sie waren immer noch unversehrt. Das Mädchen hatte nicht die Zeit gehabt, ihre Gesichter zu zerschlagen, die Beine oder einen Arm auszureißen. Das bekümmerte die gnädige Frau: der mangelnde Verschleiß, so dass sie nichts reparieren konnte. Verfrühte Spielsachen. Auch die Puppenkleider waren intakt. Gebügelt. Und die Haare. Lauter kleine weiche Perücken in Schachteln. Blonde, schwarze, auch gelockte, wie Johannas Haar. Das Mädchen hatte sie nie gekämmt. Vielleicht tut sie es jetzt. In ihrem frivolen Grab kämmt sie Haare, unermüdlich wie die Loreley. So stellt die gnädige Frau es sich vor. Aber der Mann sagt, das sei unmöglich und sie solle so etwas nicht denken. Was im Grunde auch er dachte. Im Grab wuchs sein Mädchen heran, jetzt wäre sie fünf geworden. Und dass es ein Häufchen Staub war, das war ihm gleichgültig. Sie würden keine Kinder mehr bekommen. Und jetzt empfand er große Befriedigung, dass er Marie Anne das Zimmer seiner Tochter zeigen konnte. Marie Anne betrachtete alles, starrsinnig und verblüfft. Sie sprach ihr Lob aus und fand sich großmütig, sie meinte, es müsse der gnädigen Frau eine Freude machen, wenn jemand ihr sagte, wie schön sie das Zimmer ihrer toten Tochter ausstaffiert hatte. Auf der Tapete rote Kirschen und weiße Iris mit Blättern. Auch ein Tischchen mit Spiegel stand da; darin hätte das Mädchen sich betrachten sollen, während Johanna ihr die Haare flocht. Alles war so eingerichtet, als wäre sie bereits ein junges Fräulein. Im Schrank hingen noch die Kleider des Mädchens. Alle rosa. Unten standen die Schuhe, bereit zu laufen. Manche waren weiß. Andere aus blauem Kalbsleder. Im oberen Fach lagen kleine Strohhüte. Es war Sommer. Johanna litt so sehr unter der Hitze, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Abends vor dem Schlafengehen stand sie mit gespreizten Beinen vor dem Fenster. Auch die Wiese schwitzte. Aus der Ferne drangen Stimmen, und auch sie schienen schweißüberströmt. Der Himmel war farblos. Wenn es sehr heiß ist, sieht er aus wie ein verseuchtes Laken, und in dem verseuchten Laken erblickte sie böse Vorzeichen. Aber dann fiel sie fast augenblicklich in einen schweren Schlaf. Ihr Leben gefiel ihr nicht besonders. Marie Anne sagte, das sei deshalb, weil sie die Männer nicht mochte. Johanna wollte nichts anderes als den Fußboden schrubben, Stunde um Stunde, mit gekrümmtem Rücken, und dann schlafen. Sie sah noch gut aus. Es gab nichts, was ihr wirklich Vergnügen machte. Vielleicht lag es an ihrer Herrschaft. Weil sie beide trauerten und ihre Trauer verheimlichten. Wenn Johanna sie bei Tisch bedient, heucheln sie Fröhlichkeit. Man braucht nicht zu lachen, um so zu tun, als sei man nicht traurig, dachte sie. Sie waren nie ausgelassen. Ihr Lachen ist pädagogisch. Wenn sie, Johanna, lacht, dann aus vollem Hals. Als Marie Annes Kind zur Welt kam, lachte sie vor Freude. Alle in der Klinik hörten sie. Aber Johanna war nicht Marie Annes Ehemann. Obwohl sie einmal miteinander im Bett gewesen waren. Johanna konnte Marie Anne kein Kind machen. Vielleicht war alles passiert, nachdem Marie Anne mit Johanna im Bett gewesen war. Gegen Morgengrauen verließ sie das Haus und ging spazieren. Und neun Monate später lachte Johanna im Krankenhaus. Neun Monate waren vergangen. Sie fühlte sich als der Vater. Als Marie Anne sagte: »Ich will sie nicht, nehmt sie fort«, lag das Kind in ihren Armen, wohin eine Schwester es gelegt hatte. Johanna war daraufhin auf die Idee gekommen, Mutter und Vater zugleich zu sein. »Gib sie mir, gib mir das Mädchen«, hatte sie immer wieder gedrängt. Und jetzt drängte auch ihre Herrschaft und ließ nicht nach. Johanna begriff, dass die Herrschaft die Oberhand gewinnen würde. Das Mädchen würde eine reiche und ehrbare Tochter werden und Johanna ihre Zofe, wie sie es für das tote Mädchen gewesen war. Marie Anne sieht sich um und findet das Zimmer nach ihrem Geschmack. »Sicher«, sagte sie, »es wäre das Richtige für mein Mädchen.« Und dachte dabei an das Zimmer, in dem ihre Tochter schlief, das beengt und fensterlos war. Aber wenn man die Tür offen ließ, fiel durch das Küchenfenster ein wenig graues Licht herein. Johanna hatte ihr die Wiege, die Hemdchen und alles andere geschenkt. Johanna betrat die Geschäfte und fragte nach Wäsche für ihre Tochter: »Denn wissen Sie, ich habe vor ein paar Tagen ein Kind bekommen«, erzählte sie. Die Verkäuferinnen machten ihr Komplimente und beglückwünschten sie. Sie kaufte nur erstklassige Ware und kehrte stolz zu Marie Anne zurück, die den ganzen Tag damit zubrachte, in ihrem Garten Pflanzen zu beschneiden – und zu fluchen.
Johanna hatte Angst vor dem Himmel, wenn sie diese Verwünschungen hörte. Sie drückte die Kleine an sich. Um sie vor dem Himmel zu verstecken. Johannas Herrschaft lud Marie Anne häufig ein. Sie wurde zum Essen gebeten und benahm sich beinahe wie eine Dame. Sie beobachtete, wie die gnädige Frau sich bediente, und tat es ihr gleich. Liebenswürdig lächelte sie den Gatten der gnädigen Frau an, erzählte ein wenig von sich und verschwieg das Schlimmste. Johanna hatte ihr auch Abendkleider geschenkt. Schwarze, gut geschnittene Kleider. Eines Tages schenkte der Gatte der gnädigen Frau ihr eine Perlenschnur, und an einem anderen Tag erhielt sie von der gnädigen Frau ein goldenes Armband mit einem Diamanten. Lauter Dinge, die dem toten Mädchen hätten gehören sollen. Aber jetzt musste man die Mutter eines Mädchens schmücken, das lebte und ihre eigene Tochter werden könnte. Denn es sah ja so aus, als würde Marie Anne ihre Kleine abtreten. Die im Garten im Kinderwagen lag, mit einem Tritt angeschoben und mit einer Schnur zurückgeholt wurde. Das Mädchen konnte sich gar nicht vorstellen, welch strahlende Zukunft sie erwartete. Ihre stillen Augen waren, schien es, ins Leere gerichtet, unerträglich. Es war noch zu früh. Wahrscheinlich. In diesem Alter denkt man noch nicht an sein Schicksal.
Weitere Monate vergingen. Marie Anne wurde mit immer mehr Geschmeide behängt. Johanna sagte jetzt nicht mehr: »Gib mir deine Kleine.« Diese Kleine war inzwischen ihrer Herrschaft versprochen. Sie sah zu, wie die Herrschaft Marie Anne umarmte, mit Tränen in den Augen. Zu dritt betraten sie das Zimmer mit den Spielsachen, hockten sich nieder und begannen zu spielen. Marie Anne saß rittlings auf dem Rücken des Gatten, und die gnädige Frau stand lachend daneben, eine Puppe in der Hand wie eine Hellebarde. Johanna brachte ihnen zu trinken. Sie feierten. Sie stülpten die Perücken über die Gläser. In dieser Nacht waren die Spielsachen kein Totenkult mehr, sondern Puppen, die man mit sanfter Freude ausweiden, zerstören konnte. Sie zogen sie an und aus, auch die gnädige Frau legte ihr Kleid ab. Sie spielten Glücklichsein. Das Glück war schneidend wie eine glühende Klinge. Sie drückten ein-ander die Hände, um den Pakt zu besiegeln. In Marie Annes Blick stand Triumph. Sie gab ihr Ehrenwort. Den Herrschaften ins Angesicht. Es war ein Frühlingstag, und es war spät geworden. Marie Anne war nicht gewohnt, so viel zu reden, sich so lange aufzuhalten. Für sie war Fluchen der Anfang des Wortes. Und der Schöpfung. Jetzt hat Marie Anne ein Versprechen gegeben. »Mein Mädchen wird Ihnen gehören.«
Das Pferdchen schaukelte noch im Morgengrauen. Johanna versicherte, es habe tagelang geschaukelt. Die Puppen hingegen saßen reglos und starrten es an.
Zu Hause ging Marie zu ihrem Kind. Es schlief. Sie betrachtete es lange. Am anderen Morgen trug sie es in den lehmigen Garten hinaus, in dem es nichts mehr zu beschneiden gab. Marie Anne hielt die Schere in der Hand und wusste nicht, gegen wen sie sie richten sollte. Sie sah ihr Kind an. Es wird kein schönes Schicksal haben. Ich werde es nicht diesen Herrschaften überlassen. Es wird kein schönes Zuhause haben. Weshalb sollte diese Kleine, die sie hasst, ein besseres Leben haben? Sie schrieb einen Brief an Johannas Herrschaft. »Ich habe es mir anders überlegt. Es war ein Scherz.« Grüße. Die gnädige Frau erhängte sich fünf Minuten später. Wie das Pferdchen schaukelte ihr Körper hin und her.
Das Mädchen ist herangewachsen. Marie Anne hasst sie. Gestern ist sie mit ihrer Tochter an der Villa der Herrschaften vorbeigegangen und hat ihr alles erzählt. Sie war diesem Haus versprochen. Das Mädchen ist jetzt fünfzehn und geht oft an dem Haus vorbei. Die Leute sagen, sie sei ein bisschen stumpfsinnig. Aber das stimmt nicht. Sie sieht sich nur ihr Schicksal an. Genauer gesagt, sie sieht sich an, wo ihr Schicksal vorübergegangen ist.