Proleterka - Fleur Jaeggy - E-Book

Proleterka E-Book

Fleur Jaeggy

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Beschreibung

Proleterka ist ein großartig nuancierter und leise fesselnder, beklemmender Familienroman, geschrieben in einer kristallklaren Sprache, scharf, unbarmherzig und von unergründlicher Zartheit.

Eine Kreuzfahrt nach Griechenland: Für die fünfzehnjährige Erzählerin und ihren kranken Vater die vielleicht letzte Chance, Zeit miteinander zu verbringen. Zeit für die Tochter, diesen zeitlebens fremden, abwesenden und doch irgendwie geliebten Vater mit den eisblauen Augen kennenzulernen. Zeit, um ihre gierige, wütende Entdeckungslust auf das wirkliche Leben und erste sexuelle Erfahrungen voranzutreiben – außerhalb der sterilen Welt des Mädchenpensionats und unerreichbar für die Befehle der allmächtigen Mutter. Während die Proleterka Meile um Meile ihrem Ziel näher kommt, reist die Erinnerung des Mädchens in die Vergangenheit und fördert die stummen, abgedunkelten Räume einer einsamen Kindheit zu Tage.

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Seitenzahl: 118

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Cover

Titel

Fleur Jaeggy

Proleterka

Roman

Aus dem Italienischen von Barbara Schaden

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Proleterka bei Adelphi Edizioni S.p.A, Milano.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5437.

© der deutschsprachigen AusgabeSuhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2001 Fleur Jaeggy

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Umschlaggestaltung: Anzinger & Rasp, München, nach Entwürfen von Semadar Megged. Umschlagfoto: E. O. Hoppe/Getty Images

eISBN 978-3-518-78079-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Proleterka

Informationen zum Buch

Proleterka

Proleterka

Viele Jahre sind vergangen, und heute Morgen habe ich einen plötzlichen Wunsch: Ich möchte die Asche meines Vaters haben.

Nach der Kremierung hat man mir einen kleinen Gegenstand geschickt, der dem Feuer widerstanden hatte. Einen Nagel. Ich bekam ihn unversehrt zurück. Ich fragte mich, ob sie ihn tatsächlich in der Tasche seines Anzugs gelassen hatten. Er müsse mit Johannes verbrennen, hatte ich den Angestellten des Krematoriums aufgetragen. Sie dürften ihn nicht aus der Tasche nehmen. In seinen Händen wäre er zu sichtbar gewesen. Heute möchte ich die Asche haben. Es wird eine Urne wie viele sein. Der Name auf einem Schildchen eingraviert. Etwa so wie die Erkennungsmarken der Soldaten. Warum ist es mir damals nicht in den Sinn gekommen, die Asche zu verlangen?

Damals dachte ich nicht an die Toten. Sie kommen uns erst spät entgegen. Sie rufen uns, wenn sie spüren, dass wir zur Beute werden und die Zeit für die Jagd gekommen ist. Als Johannes starb, glaubte ich nicht, dass er wirklich stürbe. Ich nahm an der Bestattung teil. Weiter nichts. Nach der Trauerfeier ging ich sofort weg. Es war ein blauer Tag, alles war vorbei. Fräulein Gerda hat sich um alle Details gekümmert. Dafür bin ich ihr dankbar. Sie vereinbarte einen Friseurtermin für mich. Sie besorgte mir ein schwarzes Kostüm. Schlicht. Sie erfüllte gewissenhaft Johannes’ letzten Willen.

Meinen Vater habe ich zum letzten Mal in einem kalten Raum gesehen. Ich habe mich von ihm verabschiedet. Neben mir war Fräulein Gerda. Ich war von ihr abhängig, in allem. Ich wusste nicht, was man tut, wenn ein Mensch stirbt. Sie hingegen wusste über jede Formalität Bescheid. Sie ist tüchtig, schweigsam, auf schüchterne Weise traurig. Unbeirrbar schreitet sie durch die Mäander der Trauer. Sie ist fähig, Entscheidungen zu treffen, sie hat keine Zweifel. Sie war so emsig. Ich konnte nicht einmal ein bisschen traurig sein. Alle Trauer hatte sie an sich genommen. Aber ich hätte sie ihr ohnehin überlassen, die Trauer. Mir blieb nichts.

Ich sage ihr, dass ich gern einen Moment allein wäre. Ein paar Minuten. Die Kammer war eiskalt. In diesen wenigen Minuten habe ich Johannes den Nagel in die Tasche seines grauen Anzugs geschoben. Ich wollte ihn nicht ansehen. Sein Gesicht ist in meinem Geist, in meinen Augen. Ich brauche ihn nicht anzusehen. Doch ich tat das Gegenteil. Ich betrachtete ihn ziemlich genau, um zu sehen und mich zu vergewissern, ob die Spuren des Leidens zu erkennen seien. Und das war ein Fehler. Denn als ich ihn so aufmerksam betrachtete, entglitt mir sein Gesicht. Ich habe seine Physiognomie vergessen, das wahre Gesicht, das er immer hatte.

Fräulein Gerda kam wieder, um mich zu holen. Ich versuche, Johannes auf die Stirn zu küssen. Mit einer Gebärde des Abscheus hindert sie mich daran. Es war ein so unvermuteter Wunsch, heute Morgen, als ich Johannes’ Asche haben wollte. Jetzt ist er vergangen.

Ich kannte meinen Vater kaum. In den Osterferien nahm er mich einmal auf eine Kreuzfahrt mit. Das Schiff lag in Venedig. Es hieß Proleterka. Proletarierin. Jahrelang war der Anlass unserer Begegnungen ein Trachtenumzug. Wir nahmen beide daran teil. Gemeinsam defilierten wir durch die Straßen einer Stadt am See. Er mit dem Dreispitz auf dem Kopf. Ich in Trachtenkleid und schwarzer Haube mit einem Saum aus weißer Spitze. Schwarze Lackschuhe mit einer Schnalle aus Ripsband. Eine seidene Schürze über dem roten Kleid, einem Rot, in dem ein düsteres Violett lauerte. Und das Mieder aus Seidendamast. Auf einem Platz wurde auf einem Scheiterhaufen eine Puppe verbrannt. Der Böögg. Berittene Männer galoppieren rund um das Feuer. Die Trommeln wirbeln. Die Fahnen werden erhoben. Es war der Abschied vom Winter. Mir kam es vor, als verabschiedete ich mich von etwas, das ich nie gehabt hatte. Die Flammen zogen mich an. Das ist alles lang her.

Mein Vater, Johannes H., war Mitglied einer Zunft. Er war ihr schon als Student beigetreten. Er hatte einen Bericht verfasst, der den Titel trug: Was die Zunft während des Krieges getan hat und was sie hätte tun können. Die Zunft, der Johannes angehörte, war 1336 gegründet worden.

Am Abend vorher war Kindertanz. Ein großer Saal, voll von Trachten und Gelächter. Ich wartete darauf, dass alles vorbei wäre. Vielleicht auch Johannes. Die Tänze gefielen mir nicht. Und ich wollte meine Tracht ausziehen. Als ich das erste Mal am Umzug teilnahm (ich ging noch nicht in die Schule), setzte man mich in eine blaue Sänfte. Durch das Fenster winkte ich den anderen Kindern, die dem Umzug vom Gehsteig aus zusahen. Als die Träger mich absetzten, öffnete ich die Tür der Sänfte und ging fort. Ich hatte keine Flucht im Sinn. Es war keine Auflehnung, sondern reiner Instinkt. Ein Wunsch nach Unbekanntem. Stundenlang streifte ich durch die Stadt. Bis zur Erschöpfung. Die Polizei fand mich schließlich. Und übergab mich meinem rechtmäßigen Besitzer, Johannes. Es tat mir leid. Angesichts der Umstände war die Möglichkeit einer tiefer gehenden Bekanntschaft von Vater und Tochter ziemlich begrenzt. Beobachten und schweigen. Beim Umzug gehen die beiden Seite an Seite. Sie wechseln kein Wort miteinander. Der Vater hat Mühe, mit der Blasmusik Schritt zu halten. Zwei Schatten, der eine bewegt sich langsam, mit sichtlicher Anstrengung. Der andere unruhiger. Sie gehen in Viererreihen. Neben ihnen ein anderes Paar, der Mann in Militäruniform, die Frau im Trachtenkleid. Sie halten das Tempo, schreiten geheiligt, stolz, erhobenen Hauptes einher. Nachts tauchte hinter geschlossenen Lidern manchmal der brennende Böögg wieder auf. Die Trommelwirbel noch martialischer, mit geisterhaftem Klang. In einem Hotelzimmer, zwei Tage später, verließ ich Johannes. Meine Besuchszeit war um.

Die Proleterka war von einigen Herren gechartert worden, die derselben Zunft angehörten wie Johannes. Den Herren, die im April durch die Stadt defilierten. Sie sollten unsere Reisegefährten sein. Mit dem Zug fuhren wir, mein Vater und ich, nach Venedig. Der Waggon war leer. Von dem Moment an sollte ich mit Johannes, meinem Vater, zusammen sein. Er ist noch keine siebzig Jahre alt. Glatte weiße Haare, gescheitelt. Die Augen hell und eisig, unnatürlich. Wie ein Kindermärchen vom Frost. Winteraugen. Man erahnt den Schimmer einer romantischen Anwandlung. Die Iris von einem verwaschenen Grün, so durchsichtig, dass sie Scheu einflößt. Sie bringt kaum die Festigkeit eines Blicks zu Stande. Als wäre es eine Anomalie, seit Generationen. Johannes hatte einen Zwilling mit ähnlichen Augen. Die Augen des Zwillings waren häufig hinter den Lidern verborgen. Er verbrachte Stunden in einem Garten. In einem Rollstuhl. Er konnte noch sagen: »Es ist kalt«, und in seinem Tonfall verband sich das Bewusstsein einer göttlichen Verordnung mit der bloßen irdischen Feststellung, dass die Kälte vorübergehend ist. So auch seine Krankheit. Damals nannte man sie Schlafkrankheit.

Im Abteil liest Johannes Zeitung. Er liest lange. Vielleicht weiß er nicht, was er mit mir reden soll. Ich beobachte die Finger, die das Papier halten, und die Schuhe. Ich suche nach einem Gesprächsthema. Ich finde keines. Ich denke an das Wort Proleterka, den Namen des jugoslawischen Schiffs. Es gibt schönere Schiffsnamen. Die Indomitable zum Beispiel, die Unbezähmbare, auf der Billy Budd gehängt wurde. Erinnert ihr euch, wie der Kaplan den angeketteten Vortoppmann besucht, um ihm den Gedanken an den Tod nahezubringen? Billy Budds letzte Worte lauteten: »Gott segne Kapitän Vere!« Er segnet den Mann, der den Befehl zu seiner Hinrichtung gegeben hat. Er segnete den Henker. Ich möchte lieber von Billy Budd reden, statt diese kurze Geschichte zu erzählen, an einer Rahe aufgezogen, die im Gegenwind vor dem Nichts schwankt. Billy Budd, ich sehe seine Gestalt, während die Landschaft vorüberzieht, während die Stunden in Johannes’ Gesellschaft vorüberziehen. Billy Budds Vater war unbekannt wie sein Geburtsort. Er wurde in einem hübschen seidengefütterten Körbchen aufgefunden. Billy Budd kenne ich viel länger als meinen Vater. »Wir sind da«, sagt Johannes. Wir haben kein Gepäck. Es ist schon auf dem Schiff. Auf der Proleterka.

Vater und Tochter fahren mit dem Vaporetto bis zum Markusplatz. Die Tochter schaut immer nur nach vorn, sie will das Schiff sehen. Venedig taucht auf und verschwindet. Sie gehen die Riva degli Schiavoni entlang. Die Tochter ist ungeduldig. Johannes kommt langsam voran. Er hat ein Gebrechen am Fuß. Er trägt Schuhe, die bis über den Knöchel hinaufreichen.

Ich dachte, er sei so zur Welt gekommen. Und habe schon immer Schwierigkeiten beim Gehen gehabt. Aber die Ursache war ein Karzinom. Das habe ich in einem Album gelesen, wie man es zur Geburt eines Kindes geschenkt bekommt. Darin sind die ersten Lebensjahre, die ersten Monate beinahe Tag für Tag festgehalten. Im achtzehnten Monat notiert Johannes, die Tochter habe ihn im Krankenhaus besucht. Wenn sie irgendeine Auskunft über die ersten Jahre ihres Daseins sucht, braucht sie nur in dem Album zu blättern. Es ist ein Beweis. Es ist die Bestätigung einer Existenz. Lakonisch schrieb Johannes auf, was die Tochter tat, wo man mit ihr hinging, wie ihr Gesundheitszustand war. Kurze Sätze, kommentarlos. Wie Antworten in einem Fragebogen. Keine Eindrücke, keine Gefühle. Das Leben wird vereinfacht, als wäre es gar nicht vorhanden. Johannes schreibt auf: Die Tochter hat nie geweint. Sie hat nicht getrotzt, sie benimmt sich tadellos. Eine korrekte Kindheit. Alles ist an der Oberfläche. Über ihn selbst, Johannes, zwei persönliche Anmerkungen. Ein leichter Infarkt und das Karzinom. Als die Tochter zwei Jahre alt ist, schreibt Johannes, stirbt der Großvater (den Großvater nennt er mit Vor- und Nachnamen). Zahlreiche Freunde bei der Einäscherung. Die Tochter zeigt sich freundlich und entdeckt alles. Johannes schreibt nicht »begreift«, sondern »entdeckt«. Der Mann beobachtet also seine Tochter. Mit zwei Jahren, meint Johannes, entdeckt die Tochter, was sterben heißt. Sie muss sich gegenüber dem Tod ihres Großvaters wirklich liebenswürdig und wohlerzogen benommen haben, dieses Mädchen. Vielleicht dachte Johannes schon damals an seinen eigenen Tod und wünschte sich, dass das Mädchen zu allen freundlich sei. Zur ganzen Welt freundlich. Mit dem Schmerz. Als sie noch klein war, musste sie sich von Johannes trennen. Kinder hören auf, sich für ihre Eltern zu interessieren, wenn sie verlassen werden. Sie sind nicht sentimental. Sie sind leidenschaftlich und kalt. In gewisser Weise lassen manche ihre Empfindungen, ihre Gefühle fallen, als wären es Gegenstände. Mit Entschlossenheit, ohne Trauer. Sie werden Fremde. Manchmal Feinde. Sie sind nicht mehr die im Stich gelassenen Wesen, sondern sie selbst treten innerlich den Rückzug an. Und gehen fort. In eine finstere, fantastische und jämmerliche Welt. Und doch tragen sie manchmal Glückseligkeit zur Schau. Wie ein Seiltänzerkunststück. Die Eltern sind nicht notwendig. Wenig ist wirklich notwendig. Manche Kinder regieren sich selbst. Das Herz, ein unverderblicher Kristall. Sie lernen vorzutäuschen. Und die Fiktion wird der aktivste, realste Teil, verführerisch wie Träume. Sie tritt an die Stelle dessen, was wir für wahr halten. Vielleicht ist es nur das, manche Kinder besitzen die Gnade der Loslösung.

Vater und Tochter stehen vor dem Schiff. Es sieht aus wie ein Kriegsschiff. Am Schornstein leuchtet der rote Stern. Ich sehe mir sofort den Schriftzug Proleterka an. Geschwärzt, voller Rußflecken, vergessen. Eine souveräne Schrift. Es ist Abend, die Sonne steht tief. Das Schiff ist riesig, verbirgt die Sonne, die im Begriff ist, im Wasser zu versinken. Es ist dunkel, Pech und Geheimnis. Es ist den Unwettern, den Schiffbrüchen entronnen, ein Piratenschiff, konstruiert wie eine Festung. Wir gehen den Landesteg hinauf. Die Offiziere erwarten uns. Wir sind die Letzten. Johannes hat Mühe beim Einsteigen, ein Offizier hilft ihm. Man zeigt uns die Kabine. Winzig. Dort werde ich mit Johannes schlafen. Zwei Betten, übereinander. Ich werde oben liegen müssen. Um achtzehn Uhr lichtet die Proleterka den Anker. Sanft gleitet sie über das Wasser. Dem Aufbruch geht ein heiserer Ton voraus. Ein Abschiedslaut. Es gibt kein Zurück mehr. Ich schaue durch das Bullauge. Ich frage mich, wie ich es anstellen soll, hinauszukommen, ins Meer einzudringen, falls ich Lust haben sollte, zu verschwinden wie Martin Eden.