Die seligen Jahre der Züchtigung - Fleur Jaeggy - E-Book

Die seligen Jahre der Züchtigung E-Book

Fleur Jaeggy

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Beschreibung

Ein Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Gehorsam und Disziplin prägen die Ordnung des Hauses. Die heitere Landschaft vor den Fenstern treibt die vierzehnjährige Ich-Erzählerin zu stundenlangen einsamen Spaziergängen. Eines Tages erscheint eine Neue während des Mittagessens: Frédérique, schön, streng, verächtlich und voller Überdruss. Frédérique ist anders, etwas Leises und Schreckliches umgibt sie. Ihr sind Beherrschung, Gehorsam und Perfektion bereits zur zweiten Natur geworden. Die Erzählerin ist gebannt von ihrer Erscheinung, sie will sie erobern, sucht ihre Freundschaft. Empfänglich für den morbiden Reiz der Disziplin verfällt sie Frédérique mehr und mehr. Und erst ein ganzes Leben später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe in Worte fassen.

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Seitenzahl: 110

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Cover

Titel

Fleur Jaeggy

Die seligen Jahre der Züchtigung

Novelle

Aus dem Italienischen von Barbara Schaden

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel I beati anni del castigo bei Adelphi Edizioni S.p.A, Milano.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5427.

© 1989 Fleur JaeggyFür die deutschsprachige Ausgabe © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagfoto: Privatarchiv Fleur Jaeggy

eISBN 978-3-518-77903-3

www.suhrkamp.de

Mit vierzehn war ich Zögling in einem Internat im Appenzell. In einer Gegend, in der Robert Walser viel spazieren ging, während er in Herisau, nicht weit von unserem Institut, in der Nervenheilanstalt war. Er ist im Schnee gestorben. Fotografien zeigen seine Spuren und die Lage seiner Leiche im Schnee. Wir kannten den Schriftsteller nicht. Nicht einmal unsere Literaturlehrerin kannte ihn. Manchmal denke ich, es ist schön, so zu sterben, nach einem Spaziergang, sich in eine natürliche Gruft, den Appenzeller Schnee fallen zu lassen, nach fast dreißig Jahren Irrenhaus in Herisau. Es ist wirklich schade, dass wir von Walsers Existenz nichts wussten, wir hätten sonst eine Blume für ihn gepflückt. Auch Kant war gerührt, als vor seinem Tod eine Unbekannte ihm eine Rose schenkte. Im Appenzell kann man nicht anders, man muss spazieren gehen. Wenn man die kleinen Fenster mit den weißen Rahmen betrachtet und die emsigen, glühenden Blumen auf den Fensterbänken, spürt man ein tropisches Gären, ein im Zaum gehaltenes Wuchern, man hat den Eindruck, dass im Inneren etwas vor sich geht, was bei aller Heiterkeit düster und ein wenig krank ist. Ein Arkadien der Krankheit. Dort drinnen scheinen Frieden und Todesidylle im schmucken Glanz zu herrschen. Ein Jauchzen aus Kalk und Blumen. Vor den Fenstern ruft die Landschaft, und das ist kein Trugbild, sondern ein Zwang, wie wir im Internat sagten.

Ich hatte Französisch und Deutsch und Allgemeinbildung. Aber ich lernte überhaupt nicht. Von der französischen Literatur erinnere ich mich nur an Baudelaire. Jeden Morgen stand ich um fünf Uhr auf, um spazieren zu gehen, stieg in die Höhe und sah in der Ferne gegenüber, tief unten, einen Streifen Wasser. Das war der Bodensee. Ich betrachtete den Horizont und den See und wusste noch nicht, dass auch an diesem See ein Internat auf mich wartete. Ich aß einen Apfel und marschierte. Ich suchte die Einsamkeit und vielleicht das Absolute. Aber ich war neidisch auf die Welt. Es war eines Tages während des Mittagessens. Wir saßen alle auf unseren Plätzen. Ein Mädchen erschien, eine Neue. Sie war fünfzehn, ihre Haare waren so glatt und glänzend wie Klingen und ihre Augen streng, starr, beschattet. Die Nase war scharf und gebogen, und ihre Zähne, wenn sie lachte – und sie lachte wenig –, waren spitz. Eine schöne hohe Stirn, auf der man die Gedanken greifen konnte, auf der ihr frühere Generationen Talent, Intelligenz und Charme hinterlassen hatten. Sie sprach mit niemandem. Sie sah aus wie ein Idol, verächtlich. Vielleicht hatte ich deshalb den Wunsch, sie zu erobern. Sie wirkte nicht menschlich. Außerdem schien sie voller Überdruss. Das Erste, was ich dachte, war: Sie ist weiter gegangen als ich. Als wir aufstanden, trat ich zu ihr und sagte: »Bonjour.« Ihr »Bonjour« kam rasch. Ich stellte mich vor, mit Vor- und Zunamen, wie ein Neuling, und nachdem ich ihren Namen gehört hatte, schien das Gespräch beendet. Sie ließ mich dort stehen im Speisesaal, zwischen den anderen Mädchen, die miteinander schwatzten. Eine Spanierin erzählte mir irgendetwas in lebhaftem Ton, aber ich beachtete sie nicht. Ich hörte ein Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen. Den ganzen Tag über ließ die Neue sich nicht sehen, aber am Abend stand sie pünktlich hinter ihrem Stuhl. Reglos, sie war wie verschleiert. Auf ein Zeichen der Leiterin sitzen wir alle, und nach einem Augenblick Stille beginnt das Stimmengewirr von neuem. Am Tag darauf begrüßt sie mich zuerst.

Im Internatsleben erfindet sich jede von uns, wenn sie auch nur eine Spur von Eitelkeit besitzt, ein Bild von sich, eine Art zweites Leben, legt sich eine bestimmte Art zu sprechen, zu gehen, zu schauen zu. Als ich ihre Handschrift sah, war ich sprachlos. Fast alle unsere Handschriften waren einander ähnlich, unbestimmt, kindlich, mit rundem, breitem o. Ihre Schrift war vollständig konstruiert. (Zwanzig Jahre später sah ich etwas Ähnliches in einer Widmung von Pierre Jean Jouve in einer Ausgabe von Kyrie.) Natürlich tat ich, als wäre ich keineswegs erstaunt, ich sah kaum hin. Aber insgeheim übte ich. Und noch heute schreibe ich wie Frédérique, und die Leute sagen, ich hätte eine schöne und interessante Handschrift. Niemand weiß, wie lange ich daran gearbeitet habe. Damals lernte ich nicht – ich lernte nie, denn ich hatte keine Lust dazu, ich schnitt Reproduktionen der deutschen Expressionisten aus und Zeitungsberichte über Verbrechen. Und klebte sie in ein Heft. Ich deutete ihr an, dass ich mich für Kunst interessierte. So erwies mir Frédérique die Ehre, sich durch die Korridore und auf ihren Spaziergängen begleiten zu lassen. Im Unterricht war sie – überflüssig zu erwähnen – die Beste. Sie wusste schon alles, wahrscheinlich von den Generationen ihrer Vorfahren. Sie hatte etwas, was den anderen fehlte, ihr Talent konnte ich nur als ein Geschenk der Toten erklären. Man brauchte ihr bloß zuzuhören, wenn sie im Klassenzimmer französische Gedichte vorlas, sie waren in sie eingeflossen, sie beherbergte sie. Wir waren vielleicht noch unschuldig. Und die Unschuld hat vielleicht eine gewisse Grobheit an sich, eine Pedanterie und Affektiertheit, als trügen wir alle Pluderhosen.

Wir kamen aus der ganzen Welt, viele aus Amerika und aus Holland. Ein Mädchen, eine Farbige, wie man heute sagt, sie war eine kleine Afrikanerin, kraushaarig, eine Puppe; wir im Appenzell bewunderten sie. Ihr Vater hatte sie eines Tages gebracht. Er war der Präsident eines afrikanischen Staates. Von jeder Nation wurde ein Mädchen ausgewählt – ein repräsentativer Querschnitt vor dem Eingang des Bausler-Instituts: eine Rothaarige aus Belgien, eine blonde Schwedin, die Italienerin, das Mädchen aus Boston, jede applaudierte dem Präsidenten, mit ihren Flaggen in der Hand standen sie in Reih und Glied und schienen tatsächlich die Welt zu verkörpern. Ich stand in der dritten Reihe, der letzten, neben Frédérique. Die Kapuze des Dufflecoats auf dem Kopf. Vorne – hätte der Präsident einen Bogen gehabt, hätte der Pfeil sie direkt ins Herz getroffen – die Internatsleiterin Frau Hofstetter, groß, massig, würdevoll, das Lächeln im Fett versenkt. Daneben ihr Gatte, Herr Hofstetter, mager, klein und schüchtern. Sie schwenkten die Schweizer Fahne. In der Hierarchie wurde die kleine Afrikanerin die Wichtigste. Es war kalt, und sie trug ein blaues glockenförmiges Mäntelchen mit blauem Samtkragen. Ich muss gestehen, dass der schwarze Präsident im Bausler-Institut erheblichen Eindruck machte. Das Oberhaupt eines afrikanischen Staates hatte Vertrauen zur Familie Hofstetter! Das eine oder andere Schweizer Mädchen missbilligte das Gepränge, mit dem der Präsident empfangen wurde. Sie sagten, kein Vater sei mehr wert als der andere. Irgendein aufmüpfiger Zögling versteckt sich immer in einem Internat. Es sind die ersten Anzeichen politischen Denkens oder dessen, was man eine allgemeine Vorstellung schlechthin nennen könnte. Frédérique hielt eine Schweizer Flagge in der Hand, es sah aus, als hielte sie einen Pfahl. Das jüngste Mädchen machte einen Knicks und überreichte einen Strauß Wiesenblumen. Ich weiß nicht mehr, ob die kleine Afrikanerin je eine Freundin fand. Wir sahen sie häufig an der Hand der Leiterin, die mit ihr spazieren ging, sie persönlich, Frau Hofstetter, vielleicht hatte sie Angst, wir könnten sie aufessen. Oder sie bliebe nicht anständig. Tennis spielte sie nie.

Frédérique entfernte sich von Tag zu Tag mehr. Manchmal besuchte ich sie in ihrem Zimmer. Ich schlief in einem anderen Haus, sie wohnte bei den Großen. Wegen eines Altersunterschieds von ein paar Monaten musste ich bei den Kleinen schlafen. In meinem Zimmer war eine Deutsche, ihren Namen habe ich vergessen, so uninteressant war sie; sie schenkte mir ein Buch über die deutschen Expressionisten. Frédériques Schrank war makellos ordentlich, während ich nicht in der Lage war, die Pullover so zu falten, dass nicht ein Zentimeter hervorstand, und eine schlechte Note für Ordnung bekam. Ich lernte von ihr. Nachdem wir in zwei verschiedenen Häusern wohnten, schien es, als trennte uns eine ganze Generation. Eines Tages fand ich in meinem Fach einen Liebesbrief; er war von einem zehnjährigen Mädchen, das mich bat, mein Schützling werden zu dürfen, sie wollte, dass wir ein Paar würden. Spontan lehnte ich ab, ungnädig, und es tut mir heute noch leid. Es tat mir auch damals leid, gleich nachdem ich geantwortet hatte, ich wolle keine Schwester, ich sei nicht daran interessiert, eine Kleine zu beschützen. Ich hatte angefangen, unfreundlich zu sein, weil Frédérique mir aus dem Weg ging, und ich musste sie erobern, denn zu verlieren wäre eine zu große Demütigung gewesen. Ich sah mir die Kleine zu spät an, erst nachdem ich sie gekränkt hatte. Sie war wirklich hübsch, anziehend, ich hatte eine Sklavin verloren, ohne etwas von ihr gehabt zu haben.

Von diesem Tag an sprach die Kleine kein Wort mehr mit mir, sie grüßte mich nicht einmal. Wie man sieht, hatte ich damals noch nicht die Kunst des Vermittelns gelernt, ich glaubte noch, um etwas zu bekommen, müsse man geradewegs das Ziel ansteuern; in Wahrheit aber sind es nur die Ablenkungen, die Unbestimmtheit, der Abstand, die uns dem Vorhaben näherbringen – das Ziel trifft uns, nicht umgekehrt. Dennoch wandte ich bei Frédérique eine Taktik an. Ich hatte eine gewisse Erfahrung im Internatsleben. Seit meinem achten Lebensjahr war ich Internatsschülerin. Und im Schlafsaal lernt man die Mitschülerinnen kennen, vor den Waschbecken, in den Pausen. Mein erstes Internatsbett war durch weiße Vorhänge abgetrennt; darauf lag eine Decke aus weißem Pikee. Auch die Kommode war weiß. Die Attrappe eines Zimmers, gefolgt von zwölf weiteren. Eine Art keuscher Promiskuität. Man hört das Atmen. Meine Zimmergenossin im Bausler war eine Deutsche, brav und gemein, wie dumme Mädchen es sein können. Ihr Körper in der blütenweißen Wäsche war recht schön, fast schon weiblich gerundet, aber ich verspürte einen gewissen Widerwillen, wenn ich sie aus Versehen berührte. Vielleicht stand ich deshalb morgens in aller Früh auf, um spazieren zu gehen. Gegen elf, während des Unterrichts, überkam mich der Schlaf. Ich starrte ein Fenster an, und das Fenster erwiderte meinen Blick, und so nickte ich ein.

Frédérique und ich waren nicht nur nachts in verschiedenen Häusern untergebracht, sondern hielten uns auch tagsüber in verschiedenen Klassenzimmern auf. Bei Tisch saßen wir zwar nicht nebeneinander, aber ich konnte sie sehen. Und sie sah mich endlich an. Vielleicht war auch ich interessant. Mich zogen die deutschen Expressionisten an und das Leben, die Verbrechen – Dinge, die ich noch nicht erlebt hatte. Ich erzählte ihr, dass ich mit zehn eine Mutter Oberin beleidigt hatte, indem ich sie »Kuh« nannte. Was für ein simples Wort, ich schämte mich meiner Einfalt, als ich es ihr erzählte. Ich wurde aus dem Internat ausgeschlossen. »Bitte um Verzeihung«, sagte man mir. Ich entschuldigte mich nicht. Frédérique lachte. Sie war so freundlich, mich zu fragen, weshalb ich das getan hätte. Und ich fing ganz allmählich an, ihr von mir, von meinem Leben als Achtjährige zu erzählen. Damals spielte ich mit den Jungen Fußball und wurde daraufhin in ein düsteres Internat gesteckt. Am Ende eines düsteren Flurs lag die Kapelle. Links eine Tür. Dahinter eine Mutter Oberin, ein durchscheinendes, zartes Wesen; sie nahm sich meiner an. Sie streichelte mich mit ihren sanften und schmalen Händen. Ich saß neben ihr, als wäre sie eine Freundin. Eines Tages verschwand sie. An ihre Stelle trat eine üppige Schweizerin aus dem Kanton Uri. Wie man weiß, hasst die neue Macht die Favoritinnen der alten. Ein Internat ist wie ein Harem.