Die Ansiedler in Kanada - Frederick Marryat - E-Book

Die Ansiedler in Kanada E-Book

Frederick Marryat

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Beschreibung

Im Jahre 1794 schickt sich die englische Familie Campbell, die in der Heimat Not und Unglück zu leiden hat, zur Niederlassung in Kanada an. Vor dem Hintergrund der kanadischen Wildnis bauen sich die Campbells in der Neuen Welt eine neue Existenz auf. In ihrer neuen Heimat in Ontario haben sie eine Reihe von Schwierigkeiten zu bewältigen und viele Abenteuer durchzustehen, bis sie sich in der Fremde etabliert haben und sie zu ihrem neuen Zuhause geworden ist. Eine spannende Lesefreude für Jung und Alt und ein sehr interessantes und lesenswertes Dokument über die Siedlergeschichte in Kanada, das den Vergleich mit einem literarischen Meisterwerk wie James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Roman "Die Ansiedler" nicht zu scheuen braucht!-

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Frederick Marryat

Die Ansiedler in Kanada

Saga

I.

Es war im Jahre 1794, als eine englische Familie sich zur Niederlassung in Kanada anschickte. Diese Provinz war uns von den Franzosen abgetreten, welche sie seit 30 Jahre kolonisierten. Eine Ansiedlung in Kanada war zu jener Zeit eine andere Sache, als in unseren Tagen. Die Transportschwierigkeiten und die damit verknüpften Gefahren waren bedeutend, denn noch hatte man keine Dampfschiffe, um gegen den Strom der Flüsse zu fahren und gegen die Stromschnellen anzukämpfen; noch hatten die Indianer ganze Teile von Kanada inne; wilde Tiere verheerten das Land; Europäer waren in geringerer Zahl vertreten, deren größerer Teil aus Franzosen bestand, die mißvergnügt darüber waren, daß die Engländer das Land erobert hatten. Eine Anzahl englischer Kolonisten war bereits eingetroffen und hatte sich auf verschiedenen Farmen niedergelassen, doch da die französischen Ansiedler die besten Landstriche Unterkanadas besaßen, sahen sich die neuen Ankömmlinge genötigt, nach Oberkanada zu gehen; dort war der Boden zwar besser, allein die Entfernung von Quebec und Montreal eine so beträchtliche, daß sie, ganz auf Selbsthilfe angewiesen, fast ohne Schutz dastanden.

Mr. Campbell war von gutem Herkommen, doch da sein Vater — als Sproß eines jüngeren Zweiges der Familie — nicht reich war, wurde Mr. Campbell für den Beruf eines Wundarztes erzogen. Nachdem er die Hospitäler absolviert, ließ er sich selbständig nieder und galt schon nach wenigen Jahren für einen in seinem Fache besonders tüchtigen Mann. Seine Praxis wuchs und noch vor dem dreißigsten Jahre verheiratete er sich. Er besaß eine Schwester, die nach dem Tode beider Eltern bei ihm lebte. Etwa fünf Jahre nach seiner eigenen Verheiratung bewarb sich ein junger Mann um sie, der zwar nicht reich war, aber wegen seines tadellosen Charakters und guter Aussichten ihr Jawort erhielt. Miß Campbell vertauschte ihren Namen mit dem einer Mrs. Percival und verließ das Haus ihres Bruders, um ihrem Gatten zu folgen. Schnell schwand die Zeit und nach Verlauf von zehn Jahren sah sich Mr. Campbell als vielbeschäftigter Arzt und als Haupt einer größeren Familie, denn seine Frau hatte ihn mit vier Knaben beschenkt, von denen der jüngste erst wenige Monate zählte.

Obwohl so glücklich in den eigenen Verhältnissen, wurde Mr. Campbell von einem harten Schlage betroffen. Es war der Verlust seiner Schwester Mrs. Percival, an der er innig gehangen hatte. Ihr Tod war von Umständen begleitet, die ihn um so trauriger erscheinen ließen, denn vor ihrem Hinscheiden fallierte das Geschäft, dessen Teilhaber ihr Mann gewesen war; letzterer verfiel infolge vieler Arbeit und Sorgen in ein heftiges Fieber, das mit seinem Tode endigte. In tiefster Trauer wurde die Witwe, die ihre zweite Entbindung erwartete, mit ihrem ersten Kinde, einem zweijährigen Mädchen, in das Haus ihres Bruders gebracht, der mit seiner Gattin sein möglichstes tat, um sie zu trösten. Doch sie hatte durch den Verlust ihres Mannes zu schwer gelitten, ihre Kräfte waren erschöpft, und sie starb bald darauf, nachdem sie einer zweiten Tochter das Leben geschenkt. Mr. und Mrs. Campbell nahmen die beiden Waisen in ihre Obhut und erzogen sie mit den eigenen Kindern.

So lagen die Dinge, als ein unerwartetes, aber willkommenes Ereignis eintrat.

Mr. Campbell war von seinen ärztlichen Besuchen heimgekehrt und saß nach dem Mittagessen im Kreise seiner Familie. Man hatte nach der Kinderfrau geklingelt, damit sie die beiden kleinen Mädchen und den jüngsten Knaben herunterbringen sollte, als der Postbote anklopfte und einen Brief mit einem großen schwarzen Siegel überbrachte.

Mr. Campbell öffnete ihn und las folgendes:

Mein Herr!

Wir beehren uns Ihnen mitzuteilen, daß nach dem am 19ten vergangenen Monats erfolgten Ableben Mr. Sholto Campbells auf Wexton-Hall in Cumberland die von demselben hinterlassenen Güter an Sie als den nächsten des Geschlechtes gefallen sind, da man von dem ursprünglichen Erben seit zwanzig Jahren nichts gehört hat. Derselbe ist mutmaßlich zur See oder in Ostindien umgekommen. Wir bitten demnach, Sie als die ersten zur Erlangung eines Einkommens von 14 000 Lstr. jährlich beglückwünschen zu dürfen. Ein Testament ist nicht gefunden worden, und man hat sich vergewissert, daß ein solches von dem verstorbenen Mr. Sholto Campbell niemals gemacht worden ist. Wir haben daher den persönlichen Nachlaß versiegelt und erwarten Ihre Bestimmungen. Noch fügen wir hinzu, daß, falls Sie geschäftlichen Rat bedürfen und mit solchem nicht bereits versehen sein sollten, Sie nur zu gebieten haben über Ihre

gehorsamsten DienerHarvey, Paxton und Co.

„Was hast du nur, mein Lieber?“ rief Mrs. Campbell, die in ihres Gatten Miene die ungewöhnliche Erregung bemerkt hatte.

Mr. Campbell antwortete nicht, sondern reichte seiner Frau den Brief.

Mrs. Campbell las ihn und legte ihn auf den Tisch. „Nun, meine Liebe?“ fragte Mr. Campbell.

„Ein unerwartetes Ereignis!“ versetzte Mrs. Campbell bedachtsam. „Oft habe ich daran gedacht, daß wir dem Unglücke gegenüber gewappnet sein müßten. Ich hoffe zu Gott, daß wir ebenso gut gerüstet sind, das Glück zu empfangen — die bei weitem schwerere Aufgabe, mein lieber Campbell.“

„Du hast recht, Emilie“, erwiderte Campbell, „wir sind glücklich und waren es schon lange.“

„Dieser Reichtum kann unser Glück nicht vermehren, lieber Mann; ich weiß, er wird nur unsere Sorgen vergrößern; doch laß uns ihn, in der Hoffnung, das Glück anderer damit fördern zu können, mit Dankbarkeit empfangen.“

„Sehr richtig, Emilie; wir müssen unsere Pflicht im Leben auf dem Platze tun, auf den Gott uns gestellt hat. Bisher durfte ich meinen Mitmenschen in meinem Berufe nützen, und wenn ich künftig nicht mehr mein warmes Bett verlasse, um ihre Leiden zu lindern, so werde ich die Mittel besitzen, ihnen in anderer Weise zu helfen. Wir dürfen uns nur als Diener dessen ansehen, der uns diesen Reichtum geschenkt hat!“

„Nun spricht mein Gatte, wie ich es von ihm voraussetzte“, rief Mrs. Campbell und erhob sich, ihn zu umarmen. „Wer so wie du empfindet, kann niemals zu reich sein.“

Mr. Campbell nahm Wexton Hall in Besitz und lebte dort in einer Weise fort, die seinem vermehrten Einkommen entsprach; er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, Gutes zu tun, wobei seine Frau ihn bereitwillig unterstützte. Mrs. und Mr. Campbell wurden schon nach drei bis vier Jahren als ein Segen für die Gegend angesehen, denn sie förderten die Gewerbe, unterstützten die Bedürftigen, trösteten die Unglücklichen, errichteten Armenhäuser und Schulen, sie taten, was in ihrer Macht stand, um Wohlstand und Glück aller derer zu sichern, die im Umkreise vieler Meilen von Wexton Hall lebten. Als Mr. Campbell das Gut übernahm, befand es sich in vernachlässigtem Zustande und es mußten große Summen hineingesteckt werden, wodurch der Wert des Gutes sehr erhöht wurde.

Auf diese Art wurde Mr. Campbells großes Einkommen nützlich und vorteilhaft verwandt. Natürlich änderten sich mit dem Wechsel der Vermögenslage auch die Zukunftspläne für seine Kinder. Henry, der Älteste, der für den Beruf seines Vaters bestimmt gewesen war, wurde einem Privatlehrer übergeben und später auf das Kolleg geschickt. Alfred, der zweite Knabe, hatte sich zum Seemanne entschieden und war an Bord einer Fregatte gegangen. Die beiden jüngsten Knaben, von denen der eine, Percival, über zwei Jahre, der andere, John, erst wenige Monate alt war, als der Vater die Erbschaft antrat, blieben zu Hause und wurden von einem jungen Pfarrer unterrichtet. Für Mary und Emma Percival, die sich als hübsche und gescheite Mädchen entwickelten, wurde eine Erzieherin angestellt. Zehn Jahre befand sich Mr. Campbell bereits im Besitze des Gutes, als ihn eines Tages Mr. Harvey besuchte, der Chef jener Firma, die ihm damals seine Erbschaft angekündigt hatte. Er kam, um ihm mitzuteilen, daß jemand aufgetaucht sei, der sich für den Sohn des verstorbenen rechtmäßigen Erben ausgebe, und die Absicht hege eine Klageschrift gegen ihn einzureichen, um das Besitztum für sich zu fordern. Mr. Harvey äußerte, daß er es für seine Pflicht hielte, Mr. Campbell hiervon in Kenntnis zu setzen, er der Sache aber keinerlei Bedeutung beilege, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach als Betrug irgend eines Winkeladvokaten herausstellen würde, der auf einen Vergleich rechnete. — Er bat Mr. Campbell, sich keinesfalls zu beunruhigen und versprach, so bald er Näheres höre, sogleich Mitteilung darüber zu machen. Da Mr. Harvey die Angelegenheit so leicht nahm, erwog auch Mr. Campbell dieselbe kaum weiter in Gedanken und erwähnte sie nicht einmal seiner Frau gegenüber.

Doch noch waren keine drei Monate verstrichen, als er von seinem Sachverwalter einen Brief erhielt, worin dieser ihn benachrichtigte, daß die Forderung des Landgutes betrieben würde, und er ihm leider mitteilen müsse, daß die Sache schlecht aussehe. Die Gegenpartei würde Mr. Campbell zu einer beträchtlichen Zahlung nötigen. Der Sachverwalter erbat sich Verhaltungsmaßregeln, versicherte indessen von neuem, daß er das ganze nur als einen, wenn auch geschickt eingefädelten Erpressungsversuch ansehen könne.

Mr. Campbell sandte ein Antwortschreiben, worin er seinen Anwalt zu jeder nötigen Vorsichtsmaßregel und allen damit verbundenen Kosten ermächtigte. — Obwohl jetzt selbst besorgt, beschloß er nach reiflicher Überlegung seiner Frau nichts davon zu sagen. Er fürchtete sie zu beunruhigen und hielt es für das beste, sie noch in Unwissenheit zu lassen.

II.

Nach Verlauf einiger Monate wandte sich Mr. Harvey an Mr. Campbell, um zu melden, daß der Anspruch der Gegenpartei, weit entfernt davon, betrügerisch zu sein, wie er es angenommen, so klar wäre, daß er die schlimmsten Ergebnisse befürchte. Es stelle sich heraus, daß jener Erbe Mr. Campbells Rechten voranstand, sich in Indien verheiratet und dort verstorben sei; auch sei der Beweis vorhanden, daß die Ehe giltig gewesen, und der jetzt auftretende Kläger sein Sohn sei. Freilich könne Mr. Campbell, wie Mr. Harvey bemerkte, die Rückerstattung des Besitztums noch für einige Zeit hinausschieben, doch werde er es wahrscheinlich übergeben müssen.

Nach Empfang dieses Schreibens begab sich Mr. Campbell zu seiner Frau und teilte ihr mit, was seit einigen Monaten im Werke war.

Nachdem Mrs. Campbell den Brief gelesen, versetzte sie: „Es hat den Anschein, lieber Mann, daß wir berufen wurden, ein Eigentum in Besitz zu nehmen und viele Jahre hindurch zu behalten, das einem anderen gehört. Wir werden aufgefordert, es dem rechtmäßigen Besitzer zu übergeben. Du fragst mich um meine Meinung. Jetzt, wo wir die Berechtigung der Klage erkennen, müssen wir so handeln, wie wir in gleichem Falle wünschen müßten, daß man gegen uns verführe.“

„Das heißt, meine Liebe, wir müssen das Gut ohne Prozeß übergeben. — Dies war auch mein Gedanke, als ich Mr. Harveys Brief las. Aber hart ist es, als Bettler dazustehen!“

„Es ist hart, lieber Mann, doch ist es der Wille der Vorsehung. Wir empfingen das Besitztum in der Voraussetzung, daß es unser Eigen sei; ich hoffe, wir haben es nicht mißbraucht während der Zeit, wo es uns anvertraut war, und da es dem Himmel gefällt, es uns wieder zu nehmen, so laß uns wenigstens die Befriedigung haben, gewissenhaft und gerecht zu handeln. Für alles weitere wollen wir auf Gottes Hilfe vertrauen.“

„Ich werde Mr. Harvey mitteilen“, versetzte Mr. Campbell, „daß ich zwar so lange prozessiert hätte, als die Klage für zweifelhaft angesehen werden konnte; jetzt aber, wo er mich benachrichtigt, daß mein Gegner der rechtmäßige Erbe ist, möge er das gerichtliche Verfahren einstellen, da ich willens bin, den Besitz sofort abzutreten.“

„Tue dies, mein Lieber“, erwiderte seine Frau, indem sie ihn umarmte. „Wir mögen arm sein, doch ich hoffe, wir werden uns trotzdem glücklich fühlen.“

Mr. Campbell schrieb an seinen Anwalt, versiegelte den Brief und sandte einen Reitknecht damit zur Post.

Sobald der Diener die Türe hinter sich geschlossen hatte, bedeckte Mr. Campbell sein Antlitz mit beiden Händen.

„Es ist eine schwere Prüfung“, sagte Mrs. Campbell und nahm die Hand ihres Gatten, „aber du hast deine Pflicht getan.“

„Ich sorge nicht um mich, ich denke an meine Kinder.“

„Sie müssen arbeiten“, versetzte Mrs. Campbell; „die Arbeit ist das größte Glück.“

„Ja die Knaben mögen durchkommen, aber die armen Mädchen! Welcher Wechsel wird es für sie sein.“

„Ich hoffe, Campbell, sie sind nicht so schlecht erzogen, um ihn nicht mit Frohsinn zu erdulden, und hierdurch für uns beide eine Quelle des Trosts zu werden. Außerdem sind wir vielleicht doch nicht Bettler.“

„Das hängt von unserm Gegner ab. Er kann alle rückständigen Renten verlangen, in diesem Falle sind wir noch schlimmer daran als Bettler. Doch Gottes Wille wird geschehen!“

„Es bleibt uns die Hoffnung“, versetzte Mrs. Campbell in heiterem Tone, „laß uns das beste hoffen.“

„Wie wenig wissen wir, was zu unserm Besten dient“, bemerkte Mr. Campbell. „Wäre dieser Grundbesitz nicht an uns gefallen, hätte ich als Wundarzt aller Wahrscheinlichkeit nach gut für meine Kinder sorgen können; jetzt macht mich jene scheinbare Wendung zum Glücke arm. Ich bin zu alt, um meinen Beruf wieder aufnehmen zu können. Du siehst, was uns und jedermann als das glücklichste Ereignis unseres Lebens dünkte, hat sich als das Gegenteil erwiesen.“

„Soweit unsere begrenzte Anschauung der Dinge uns zum Urteil befähigt, bestätige ich dies“, versetzte Mrs. Campbell, „doch wer weiß, was geschehen wäre, wenn wir die Güter behalten hätten. Unserm Blicke ist alles verborgen. Er handelt, wie Er es für uns am besten hält, und wir müssen es hinnehmen ohne Murren. Komm, Liebster, laß uns ins Freie gehen; die frische Luft wird dir die heiße Stirne kühlen.“

Zwei Tage nach diesem Gespräch traf ein Brief von Mr. Harvey mit der Nachricht ein, daß er Mr. Campbells Entschluß, ohne Prozeß auf das Besitztum zu verzichten, kundgegeben habe. Die Antwort des Gegners sei höchst ehrenwert, indem jener erkläre, daß es nicht in seiner Absicht liege, irgendwelche Ansprüche auf frühere Einkünfte zu erheben, und er Wexton Hall noch ein Vierteljahr Mr. Campbell und seiner Familie zur Verfügung stelle, damit derselbe seine Dispositionen treffen, über seine Einrichtung verfügen könne, etz.

Der Inhalt dieses Briefes erleichterte Mr. Campbells bedrücktes Gemüt, da er jetzt seine künftigen Mittel übersehen konnte. Dankbar erkannte er das ehrenwerte Verhalten des neuen Besitzers an, der keine Entschädigung für bezogene Einkünfte verlangte, wodurch Mr. Campbell in äußerste Armut versetzt worden wäre. Er schrieb an Mr. Harvey und bat um Angabe der Prozeßkosten, damit dieselben berichtigt werden könnten.

Nach drei Tagen erhielt er die Rechnung, begleitet von einem Schreiben, worin Mr. Harvey ihm mitteilte, daß der neue Besitzer sich zu seinem großmütigen Benehmen bewogen gefühlt habe teils dadurch, daß Mr. Campbell das Eigentum so bereitwillig aufgegeben habe, sobald die Berechtigung der Klage anerkannt worden sei, teils durch die Kenntnisnahme, wie sehr sich das Gut während der zehn Jahre, die er es besessen, gehoben habe.

Dies zu hören, war sehr befriedigend für Mr. Campbell, doch die Prozeßkosten erwiesen sich als bedeutend, denn sie beliefen sich auf mehrere Tausend Pfund.

Mr. Campbell warf die Papiere verzweifelt auf den Tisch. „Wir sind trotzdem zu Grunde gerichtet, meine Liebe“, sagte er traurig.

„Das wollen wir nicht hoffen“, versetzte Mrs. Campbell. „Wir wissen jetzt das Schlimmste und müssen es klar ins Auge fassen.“

„Es fehlen mir gegen tausend Pfund zur Bezahlung dieser Rechnung.“

„Das mag sein“, erwiderte Mrs. Campbell, „aber wir haben noch die Möbel und Wagen, diese sind sicherlich weit mehr wert.“

„Doch wir haben noch andere Rechnungen zu bezahlen, das vergißt du.“

„O nein, ich habe sie alle gesammelt; sie betragen nur etwa dreihundert Pfund. Doch wir haben keine Zeit zu verlieren, Liebster, und müssen Mut zeigen.“

„Was rätst du denn, Emilie?“, fragte Mr. Campbell.

„Wir müssen jede unnötige Ausgabe vermeiden; unsere Einrichtung muß sofort aufgegeben werden. Laß morgen früh unser Dienstpersonal kommen und teile ihm mit, was geschehen ist. Heute abend werde ich es den beiden Mädchen und Miß Paterson sagen, die natürlich entlassen werden muß, da wir nicht länger eine Gouvernante halten können. Wir müssen uns auf die Köchin, das Hausmädchen, den Diener und einen Stallknecht beschränken, der nach den Pferden sieht, bis diese verkauft sind. Schreibe an Mr. Bates, den Auktionator und kündige ihm den Verkauf unseres Mobiliars an. Ferner mußt du an Henry schreiben; er kann nicht länger auf dem Kolleg bleiben. Wir haben Zeit, unsere Zukunftspläne zu überlegen.“

Dieser verständige Rat fand Mr. Campbells Billigung. Miß Paterson war sehr betrübt, als Mrs. Campbell ihr die Nachricht mitteilte. Mary und Emma bemitleideten auf’s tiefste ihre gütigen Pflegeeltern, ohne an sich zu denken. Sobald sie erfuhren, was geschehen, eilten beide zu Mr. Campbell, fielen ihm um den Hals und erklärten, daß sie alles tun würden, was in ihrer Macht stände, um ihn glücklich zu machen und daß sie, wenn es nötig wäre, vom Morgen bis in die Nacht für ihn arbeiten wollten.

Am folgenden Tage wurde die Dienerschaft im Eßzimmer versammelt und durch Mr. Campbell von dem Geschehenen und der Notwendigkeit ihrer sofortigen Entlassung in Kenntnis gesetzt. Ihr Lohn wurde allen ausbezahlt, bevor sie das Zimmer verließen, was unter vielen Kundgebungen des Bedauerns geschah. Miß Paterson erbat die Erlaubnis, noch einige Tage als Freundin im Hause bleiben zu dürfen.

„Gott sei Dank, dies ist vorüber“, rief Mrs. Campbell, nachdem das Personal entlassen war. „Es ist mir eine wahre Erleichterung.“

„Onkel, hier ist ein Brief von Alfred“, sagte Emma ins Zimmer tretend. „Er ist in Portsmouth eingetroffen und schreibt, daß der Befehl gekommen sei, das Schiff sofort abzulohnen. Sein Kapitän ist für ein Schiff mit fünfzig Geschützen bestimmt und beabsichtigt, ihn mitzunehmen. Er denkt in wenigen Tagen hier zu sein und —“

„Und was, mein Kind?“ fragte Mrs. Campbell.

„Er meint, daß seine Zeit kurz bemessen ist, doch hofft er, ihr werdet nichts dagegen haben, wenn er zwei seiner Kameraden mitbringt.“

„Armer Junge, wie leid tut es mir, daß er enttäuscht wird“, versetzte Mr. Campbell. „Du mußt ihm schreiben Emma, und ihm mitteilen, was geschehen ist.“

„Ich muß ihm schreiben, Onkel?“

„Ja, liebe Emma, schreibe du es ihm“, entgegnete Mrs. Campbell. „Onkel und ich haben jetzt viel zu besorgen.“

„Wenn du es wünschest, werde ich es tun“, sagte Emma, deren Augen sich mit Tränen füllten.

„Mr. Bates, der Auktionator, wünscht Sie zu sprechen, Sir“, meldete der Diener.

„Laß ihn hereinkommen“, befahl Mr. Campbell.

Mr. Bates, der Auktionator, erschien und übergab einen Brief; man nötigte ihn Platz zu nehmen, während er das Schreiben las. Dasselbe war von Mr. Douglas Campbell, dem neuen Besitzer des Gutes, an Mr. Bates gerichtet, der gebeten wurde, bei Mr. Campbell anzufragen, ob er gewillt sei, die Hauseinrichtung nach dem Taxwerte zu verkaufen. Wenn dies der Fall sei, so ersuche er Mr. Bates, den Wert in freigebiger Weise zu bestimmen und für ihn in Rechnung zu stellen.“

„Dies ist sehr schätzenswert von Mr. Douglas“, bemerkte Mrs. Campbell. „Sicherlich hast du nichts dagegen, lieber Mann.“

„Durchaus nichts; übermitteln Sie Mr. Douglas meinen besten Dank für seine Güte, und wenn Sie, Mr. Bates, bereits morgen oder übermorgen die Sachen taxieren könnten, so würde es mir besonders angenehm sein.“

„Es soll geschehen, Sir“, erwiderte Mr. Bates, indem er sich verabschiedete.

Sobald die Abschätzung beendigt, war Mr. Campbell imstande, einen Überschlag von dem zu machen, was ihm verblieb; es stellte sich heraus, daß sich die ganze Summe auf 1700 bis 1800 Pfund belief.

III.

Es mag seltsam erscheinen, daß Mr. Campbell, nachdem er zehn Jahre lang im Besitz des Gutes gewesen war, keine größere Summe erspart hatte. Indessen findet dieser Umstand volle Erklärung. Erstens war das Gut in schlechtem Zustande, als Mr. Campbell es übernahm, er benutzte daher einen großen Teil seines Einkommens, um es zu verbessern; zweitens hatte er eine beträchtliche Summe zur Errichtung von Armenhäusern und Schulen verwandt, gute Werke, die er nicht aufschieben mochte, da er sie als religiöse Pflichten ansah. Die Folge davon war, daß er erst ein Jahr, bevor der Anspruch auf das Gut geltend gemacht wurde, angefangen hatte, für seine jüngeren Kinder zu sparen, und da der Landsitz damals 2000 Pfund jährlich mehr brachte als zu der Zeit, wo er ihn übernahm, hatte er beschlossen, jedes Jahr 5000 Pfund zurückzulegen, was einmal bereits geschehen war. Diese Summe und mehr noch war indessen für die enormen Gerichtskosten aufgegangen, und so war er um Hunderte ärmer als zu der Zeit, wo ihm der Grundbesitz zufiel. Am Tage nach der Abschätzung traf der älteste Sohn Henry ein. Er schien sehr niedergeschlagen, mehr noch als seine Eltern und alle, die ihn kannten, es von ihm erwartet hatten. Doch war dies eher seinem Gefühle für die Eltern, als für sich selbst zuzuschreiben.

Zwischen Mr. und Mrs. Campbell fanden viele Beratungen über ihre Zukunftspläne statt, doch es fiel ihnen nichts ein, was versprechend für sie gewesen wäre. Sie wußten nicht, wohin sie mit 1600 bis 1700 Pfund gehen, und was sie unternehmen sollten. Mr. Campbell wußte, daß er bei der Rückkehr zu seinem früheren Berufe keine Chancen haben würde, seine Familie zu erhalten. Henry konnte eine Anstellung bekommen, doch paßte er nur zum Juristen oder zum Prediger, aber wie sollten sie so lange für ihn sorgen, bis er auf eigenen Füßen stand? Alfred, der jetzt Steuermann war, konnte sich freilich selbst erhalten, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten; auch hatte er wenig Aussicht auf Beförderung. Außerdem waren noch zwei Knaben und die schnell heranwachsenden Mädchen da, kurz eine Familie von acht Personen. Eine so geringe Summe in Wertpapieren anzulegen, würde nutzlos sein, da sie von den Zinsen nicht leben konnten. Was sollten sie also mit dem Gelde beginnen? Wieder und wieder erwogen sie die Sachlage, und jeden Abend legten sie ihr Haupt bekümmert auf die Kissen. Sie waren bereit, Wexton Hall zu verlassen, wußten aber nicht, wohin sie ihre Schritte lenken sollten, wenn es geschah. So schwankten sie, bis ihr Sohn Alfred eintraf, der, sobald sein Schiff abgelohnt worden war, in die Arme seiner Eltern eilte.

Als die erste Freude des Wiedersehens vorüber war, sagte Mr. Campbell: „Es tut mir leid, daß ich deinen Kameraden kein Vergnügen bereiten konnte.“

„Sie empfinden dasselbe Bedauern um euretwillen wie ich. Doch wie es nun einmal ist — so ist es und daran kann nichts geändert werden; darum müssen wir es von der besten Seite ansehen. — Wo aber sind Henry und die Basen?“

„Sie sind im Park, Alfred, geh nur zu ihnen, sie erwarten dich mit Ungeduld.“

„Das werde ich tun, Mutter, adieu für eine halbe Stunde“, sagte Alfred, indem er seine Mutter nochmals küßte und dann hinaus eilte.

„Seine Laune ist keinesfalls getrübt“, bemerkte Mrs. Campbell. „Gott sei gedankt dafür.“

Alfred war bald bei seinem Bruder und seinen Basen, und nachdem das Umarmen und Küssen vorüber war, erkundigte er sich nach dem Stand der Angelegenheit seines Vaters.

Henry, der sehr niedergeschlagen war, sagte: „Mary und Emma, vielleicht geht ihr hinein; ich möchte gern mit Alfred allein sprechen.“

„Du bist entsetzlich mutlos, Henry“, bemerkte Alfred, als die Basen sie verlassen hatten. „Stehen die Sachen denn so schlecht?“

„Unserm Vater ist nur die geringe Summe von etwa 1700 Pfund geblieben, doch was mich quält, ist folgendes:

Als ich auf dem Kolleg war, geriet ich in eine Schuld von 200 Pfund, die ich zu Weihnachten abtragen wollte. Vater warnte mich immer, mit meinen Ausgaben das von ihm Bewilligte zu überschreiten und er glaubt auch nicht, daß ich es getan habe. Nun kann ich den Gedanken nicht ertragen, das Kolleg auf diese Weise zu verlassen, während es ein schwerer Schlag für den armen Vater sein wird, von seinem geringen Überreste noch 200 Pfund abzugeben, um meine Schuld zu decken. Dies macht mich so unglücklich. Ich kann mich nicht entschließen, es ihm zu sagen, weil ich überzeugt bin, daß er so ehrenwert ist, die Summe sofort zu bezahlen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Den ganzen Tag über mache ich mir Vorwürfe und des Nachts kann ich nicht schlafen. Ich bin sehr leichtsinnig gewesen, doch hoffe ich, du wirst dich in meine Lage versetzen können. Ich habe auf deine Ankunft gewartet, weil ich glaube, du könntest Vater die Sache besser mitteilen, denn mir ist, als müßte ich vor Scham und Ärger dabei sterben.“

„Nun schau, Henry“, versetzte Alfred, „der Polizei durch die Finger zu laufen, wie wir Seeleute es nennen, ist etwas ganz Alltägliches, und alles in allem tatest du kein so großes Unrecht, da du die Mittel zu haben glaubtest, die Schulden zu bezahlen. Drum nimm es dir nicht so zu Herzen. — Daß du deine rechte Hand dafür geben würdest, es nicht getan zu haben, so wie die Dinge jetzt liegen, glaube ich dir; doch hat es keinen Zweck, sich darüber zu grämen. Ich habe meinen Dreijahressold bekommen und die Prisengelder für die letzten achtzehn Monate; das beträgt 250 Pfund, die ich dem Vater geben wollte, jetzt wo er auf dem Trockenen sitzt; doch kommt es nun auf eins heraus, ob ich es dir gebe, um deine Schulden zu bezahlen, oder ihm, damit er sie für dich bezahlt. So, hier ist das Geld; nimm davon, was du brauchst, und gib mir zurück, was übrig bleibt. Der Vater weiß nicht, daß ich das Geld habe und braucht es auch nicht zu wissen; das macht die Rechnung quitt, und er fährt ebensogut dabei.“

„Ich danke dir, lieber Alfred. Du weißt nicht, wie du mir das Herz erleichtert hast. Jetzt kann ich dem Vater wieder in’s Gesicht blicken.“

„Das wirst du hoffentlich; wir an Schiffsbord beunruhigen uns nicht mit so zarten Gefühlen, Henry. Ich würde ihm schon längst die Wahrheit gesagt haben und es nicht auf dem Herzen behalten. Wäre das Unglück vor unserer letzten Kreuzfahrt geschehen, hätte ich mich genau in deiner Lage befunden; denn ich hatte eine Schneiderrechnung so lang wie ein Fregattenwimpel und besaß in meiner Tasche nicht so viel, um das Frühstück für eine Maus zu kaufen. Doch nun laß uns wieder hineingehen und vergnügt sein, um die anderen etwas aufzumuntern.“

Sobald der Diener nach dem Tee das Zimmer verlassen hatte, gab Mr. Campbell, der sich vorher mit seiner Frau darüber besprochen hatte, eine offene Darlegung der ihnen gebliebenen Mittel.

Er erklärte, daß er in seiner Bedrängnis der ganzen Familie die Zukunftsfrage vorlegen wolle, um zu hören, ob in einem von ihnen ein Plan auftauchen möchte, für den sie sich entscheiden und wonach sie handeln könnten. Henry wurde zuerst zum Sprechen aufgefordert.

„Meine lieben Eltern, wenn ihr miteinander kein Projekt zu fassen vermögt, so fürchte ich, daß ich euch noch weniger raten kann. Was ich zu sagen habe ist nur, daß ich stets meine Pflichten gegen euch und die Geschwister erfüllen werde, wofür ihr euch auch immer entscheiden mögt. Meine Erziehung war keine derartige, um einem armen Manne besonderen Nutzen zu gewähren, indessen bin ich bereit, mit Kopf und Händen zu arbeiten, soweit es meinen Fähigkeiten entspricht.“

„Davon bin ich überzeugt, lieber Sohn“, versetzte sein Vater. „Nun Alfred, müssen wir auf dich unsere Hoffnung setzen, denn deine beiden Cousinen werden uns vermutlich nicht viel raten können.“

„Gut, Vater, ich habe schon nachgedacht und will einen Vorschlag machen, der euch zwar zuerst befremden mag, mir indessen als unser einziger und bester Ausweg erscheint. Die paar hundert Pfund, die dir geblieben sind, nützen dir in unserem Lande zu nichts weiter, als daß sie dich für ein bis zwei Jahre vor dem Hungertode schützen; in einem andern Lande aber mögen sie den gleichen Wert haben, wie hier ebenso viele Tausende. Bei uns gilt eine große Familie für eine schwere Bürde, in einem anderen Lande ist ein Mann um so reicher, je mehr Kinder er besitzt. Wenn du dich entschließen könntest, mit deiner Familie in ein anderes Land überzusiedeln, könntest du von der Armut wieder zu Reichtum gelangen.“

„An welches Land denkst du, Alfred?“

„Ei, Vater, der Zahlmeister unseres Schiffes hat einen Bruder, der, bald nachdem die Franzosen aus Kanada vertrieben worden waren, sich dorthin begeben hat. Er hatte nur 300 Pfund. Er ist seit vier Jahren dort, und als unsere Fregatte in Portsmouth eintraf, empfing der Zahlmeister einen Brief von ihm, worin er schreibt, daß es ihm gut geht und sein Wohlstand sich zusehends mehrt. Er hat eine Farm von 500 Acres, von denen 200 bereits gelichtet sind und meint, wenn er nur einige Kinder hätte, die in dem Alter wären, um ihm zu helfen, so könnte er bald das zehnfache Vermögen besitzen, da er sofort mehr Land kaufen würde. Dort bezahlt man den Acre mit einem Dollar und kann das Land auswählen. Mit deinem Gelde könntest du es verbessern, und nach einigen Jahren würdest du in behaglichen, wenn auch nicht glänzenden Verhältnissen sein. Deine Kinder würden für dich arbeiten, und du würdest das befriedigende Bewußtsein haben, sie dereinst unabhängig und glücklich zurückzulassen.“

„Ich kann dir einräumen, mein lieber Sohn, daß du einen Plan entworfen hast, der viele Vorzüge besitzt. Doch er hat auch seine Schattenseiten.“

„Schattenseiten“, versetzte Alfred, „nun natürlich hat er die, doch, Vater, ich sehe keine Schwierigkeiten, die nicht zu überwinden wären. Laß uns dieselben näher ins Auge fassen. Zunächst harte Arbeit, Entbehrungen, eine Blockhütte für die erste Zeit, strenge Winter, Abgeschiedenheit, Gefahren durch wilde Tiere und die Eingeborenen. Ich gebe zu, daß dies ein trauriger Ersatz ist für ein prächtiges Haus, für schöne Möbel, ausgezeichnete Küche, gebildete Gesellschaft und das Interesse, das man an allem nimmt, was sich im eigenen Lande zuträgt, wovon uns täglich Kunde wird. Henry und ich werden unser möglichstes tun, um euch die harte Arbeit abzunehmen; wenn der Winter streng ist, ist kein Mangel an Brennholz, und wenn unsere Blockhütte roh ist, wollen wir sie dafür gemütlich machen; abgeschieden von der Welt werden wir aneinander genug Gesellschaft haben, und sind wir in Gefahr, so sollen Feuerwaffen und Tapferkeit uns schützen. Ich sehe nichts anderes, als daß wir sehr glücklich, sehr angemessen und vor allen Dingen sehr unabhängig leben könnten.“

„Alfred, du sprichst, als ob du mit uns ziehen wolltest“, sagte Mrs. Campbell.

„Denkst du denn, daß ich das nicht will, liebe Mutter? Bildest du dir ein, ich würde hier bleiben, wenn ihr dort wäret, wo meine Anwesenheit euch von Nutzen sein könnte? Nein, nein, ich hänge zwar an meinem Berufe, aber ich erkenne auch die Pflicht, meinen Eltern beizustehen und ihr gebe ich den Vorzug. Ein Steuermann hat einen hohen Begriff von der Unabhängigkeit. Ich möchte lieber zu den freien und unabhängigen Wilden Amerikas gehören, als im Dienste bleiben und vielleicht zwanzig Jahre lang vor jedem Unterleutnant an den Hut fassen müssen. Wenn ihr geht, gehe ich auch, so viel steht fest. Wie unglücklich würde ich sein, wenn ihr ohne mich wäret. Jede Nacht würde ich träumen, daß ein Indianer unsere Mary geraubt, oder ein Bär unsere kleine Emma aufgefressen hätte.“

„Nun, ich werde die Gefahr mit dem Indianer schon bestehen“, versetzte Mary.

„Und ich mit dem Bären“, sagte Emma, „vielleicht wird er mich nur so leicht umarmen wie Alfred es heute bei seiner Rückkehr tat.“

„Ich danke Euch für den Vergleich, Miß“, versetzte Alfred lachend.

„Ich glaube wirklich, Alfred, daß dein Vorschlag Überlegung verdient“, bemerkte Mrs. Campbell. „Dein Vater wird sich mit mir darüber beraten, und vielleicht sind wir schon morgen früh zu einer Entscheidung gekommen. Jetzt aber tun wir alle gut, zu Bett zu gehen.“

„Ich werde ganz gewiß von dem Indianer träumen“, sagte Mary.

„Und ich von dem Bären“, fügte Emma mit schalkhaftem Blick auf Alfred hinzu.

„Und ich werde von einem sehr hübschen Mädchen träumen — das ich — in Portsmouth sah“, sagte Alfred.

„Das glaube ich dir nicht“, sagte Emma.

Kurz darauf klingelte Mr. Campbell nach den Dienstboten. Die Abendandacht wurde abgehalten, und dann begaben sich alle guten Mutes zur Ruhe.

Am nächsten Morgen fanden sie sich frühzeitig zusammen, und nachdem Mr. Campbell seiner Gewohnheit gemäß einen Abschnitt aus der Bibel und ein Dankgebet gelesen, setzten sie sich zum Frühstück nieder. Als es beendigt war, sagte Mr. Campbell: „Meine lieben Kinder, nachdem ihr uns gestern abend verlassen, hatte ich mit eurer Mutter noch eine lange Beratung, und wir haben eingesehen, daß uns keine Wahl bleibt als dem Ratschlag zu folgen, den Alfred uns gemacht hat. Wenn ihr alle derselben Meinung seid, sind wir entschlossen, unser Glück in Kanada zu versuchen.“

„Ich bin ganz eurer Ansicht“, versetzte Henry.

„Und ihr, meine Mädchen?“ fragte Mr. Campbell.

„Wir folgen dir bis ans Ende der Welt, Onkel“, entgegnete Mary, „und werden alles tun, was in unserer Macht steht, um eure Güte gegen uns arme Waisen zu vergelten.“

Mr. und Mrs. Campbell umarmten ihre Nichten, tief gerührt über Marys Antwort.

Nach kurzem Stillschweigen sagte Mrs Campbell: „Und nun, nachdem wir zur Entscheidung gekommen sind, müssen wir unsere Vorkehrungen treffen. Wie sollen wir uns arrangieren? Sagt, Alfred und Henry, was schlagt ihr vor?“

„Ich muß nach Oxford zurück, um meine dortigen Angelegenheiten zu ordnen und über meine Bücher und sonstigen Sachen zu verfügen.“

„Wirst du ausreichend Geld haben, um alles zu bezahlen?“ fragte Mr. Campbell.

„Ja, lieber Vater“, versetzte Henry, errötend.

„Ich nehme an, euch hier nichts nützen zu können“, sagte Alfred, „und schlage daher vor, daß ich noch heute nachmittag nach Liverpool fahre, denn von dort aus werden wir uns am besten einschiffen können. Ich werde an unseren Zahlmeister schreiben und ihn um weitere Auskunft bitten, und dann sehe ich, was ich in Liverpool in Erfahrung bringen kann. Sobald ich etwas von Wichtigkeit mitzuteilen habe, schreibe ich.“

„Schreibe, sobald du angelangt bist, Alfred, wir erfahren dann deine glückliche Ankunft.“

„Das werde ich tun, liebe Mutter.“

„Hast du Geld, Alfred?“

„Ja, genügend, Vater; ich reise ja nicht mit vier Pferden.“

„Gut, wir werden hierbleiben und packen, und du, Alfred, mußt dich nach einem billigen Quartier umsehen, das wir in Liverpool, sobald wir ankommen, beziehen können. Zu welcher Zeit segeln die Schiffe nach Quebec?“

„Gerade um diese Zeit, Vater. Wir sind im März; es wird jede Woche ein Schiff abgehen. Je eher wir fortkommen, desto besser; damit wir vor dem Winter bereits behaglich eingerichtet sein können.“

Wenige Stunden nach diesem Gespräch verließen Henry und Alfred Wexton Hall. Mr. und Mrs. Campbell und die beiden Mädchen hatten vollauf mit dem Einpacken zu tun. Es hatte sich bald in der Nachbarschaft das Gerücht verbreitet, daß die Familie sich zur Auswanderung nach Kanada vorbereite, und die Pächter, welche unter Mr. Campbell Farmen inne hatten, kamen und boten ihre Wagen und Pferde an, um seine Sachen nach Liverpool zu schaffen, ohne eine Vergütung dafür zu verlangen. Inzwischen traf ein Brief von Alfred ein. Er hatte Bekanntschaft mit einigen Kaufleuten angeknüpft, die nach Kanada Handel trieben, und war von diesen an einige Personen gewiesen worden, die sich dort vor mehreren Jahren niedergelassen hatten und ihnen jede Auskunft geben konnten. Sie rieten ihm, was am besten mitzunehmen sei und wie man sich bei der Landung zu verhalten habe. Von höherem Werte aber war es, daß sie ihm Empfehlungsschreiben an englische Kaufleute in Quebec gaben, deren Beistand bei Auswahl und Kauf des Landes sowie bei dem Transport ins Innere sie in Aussicht stellten. Alfred hatte auch ein Schiff ausgesucht, das in drei Wochen absegeln wollte; er hatte bereits wegen des Preises der Überfahrt verhandelt.

Henry kehrte, nachdem er seine Rechnungen bezahlt hatte, von Oxford heim mit dem Erlös in der Tasche, den er durch Verkauf seiner Bücher erzielt hatte. — Er war jetzt besseren Mutes und leistete seinen Eltern den größten Beistand. Alfred hatte bei allem, was er unternommen, so viel Überlegung gezeigt, daß sein Vater ihm schrieb, sie würden sich für das von ihm bezeichnete Schiff fertig halten, er möge die Kajüten bestellen und die verschiedenen Gegenstände besorgen, die man ihm mitzunehmen geraten habe. Nach vierzehn Tagen waren alle reisefertig. Die Wagen mit den Sachen waren früher abgegangen. Mr. Campbell schrieb einen Brief an Mr. Douglas Campbell, dankte ihm für seine Güte und Schonung und benachrichtigte ihn, daß er am folgenden Tage Wexton Hall verlassen würde. Als Gunst erbat er sich nur, daß der Lehrer und die Lehrerin der Dorfschule in ihrem Amt belassen würden, da es von großer Wichtigkeit sei, daß der Unterricht der Arbeiter nicht vernachlässigt würde. Er fügte hinzu, daß er durch die Zeitung Mr. Douglas Campbells kürzlich vollzogene Vermählung erfahren habe, und er, wie Mrs. Campbell ihm und seiner Gattin hierzu die besten Glückwünsche ausssprächen.

Nachdem dieser Brief befördert war, gab es vor ihrer Abreise von Wexton Hall nichts mehr zu tun, als die wenigen Dienstleute, die noch bei ihnen waren, abzulohnen und zu entlassen. Zum letztenmal gingen sie durch die Felder und den Park. Mrs. Campbell und die Mädchen machten einen Rundgang durch die Zimmer, um sich zu überzeugen, daß alles ordentlich und sauber zurückgelassen wurde. Die Mädchen seufzten, als sie im Wohnzimmer an der Harfe und dem Klavier vorüberkamen, denn diese waren ihre liebsten Freunde.

„Laß nur, Mary“, sagte Emma, „wir haben unsere Guitarren und können in den Wäldern von Kanada auch ohne Harfe und Klavier musizieren.“

Am andern Morgen fuhr die Postkutsche vor ihrer Schloßtür vor; sie stiegen ein, umgeben von den Pächtern und armen Leuten, die respektvoll mit abgezogenen Hüten vor ihnen standen, und ihnen alles Gute wünschten, während sie durch die Allee nach dem Parktor fuhren. Wexton Hall und der Park waren längst ihren Blicken entschwunden, bevor sie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Sie hielten ihre Tränen zurück und ihre Herzen waren zu voll, um sprechen zu können. Am folgenden Tag kamen sie in Liverpool an, wo Alfred eine Wohnung für sie besorgt hatte. Es wurde alles an Bord des Schiffes, das bereits in den Strom gebracht worden war, geschafft. Da sie nichts mehr am Lande zurückhielt, und der Kapitän den ersten günstigen Wind zu benutzen wünschte, schifften sie sich vier Tage nach ihrer Ankunft in Liverpool ein.

IV.

Mr. Campbell war ein Mann mit vielen liebenswürdigen Eigenschaften, ein religiöser guter Mensch, seiner Frau, deren Ansichten er häufig den Vorzug vor den seinigen einräumte, sehr zugetan und sehr eingenommen von seinen Kindern, die er bis zu übergroßer Nachsicht liebte. Er war verständig und wohl unterrichtet, doch besaß er wenig Energie. In seiner Herzensgüte war er leicht zu täuschen, denn er vermutete niemals einen Betrug, obwohl man ihn bereits vielfach hintergangen hatte. Sein Charakter war der eines einfachen, guten, ehrenwerten Mannes.

Mrs. Campbell war für ihn eine sehr geeignete Frau, denn in ihrem Charakter lag die Willenskraft und Entschiedenheit, welche ihrem Gatten bisweilen fehlte. Trotzdem hatte sie weder in ihrer Art und Weise noch in ihrem Äußern etwas Männliches an sich, im Gegenteil; sie war eine zarte Erscheinung und sehr sanft in ihrem Auftreten. Sie besaß große Festigkeit und Selbstbeherrschung und hatte ihre Kinder vorzüglich erzogen. Gehorsam gegen die Eltern hatte sie ihnen als vornehmstes Gebot, nächst den Pflichten gegen Gott, eingeprägt. Wenn je eine Frau geeignet war, Schwierigkeiten und Gefahren zu trotzen, wie sie ihr jetzt drohten, so war es Mrs. Campbell, denn in ihrem Charakter war Mut, Tatkraft und Klugheit vereinigt.

Henry, der älteste Sohn, war beinahe zwanzig Jahre alt. Er hatte viel von der Gemütsart seines Vaters. Ohne schlimme Fehler zu besitzen, neigte er doch mehr zur Untätigkeit als zum Gegenteil. Dieser Hang war seiner Erziehung und dem Universitätsleben, zumeist jedoch seiner natürlichen Anlage zuzuschreiben.

Alfred, der Seemann, war voller Willens- und Tatkraft, geduldig und arbeitsam, wo es erforderlich war. Er nahm nie eine Sache in die Hand, ohne sie zu vollenden, wenn es irgend anging. Er war etwas schroff, doch nicht roh, in Sprache sowohl wie in Manieren, und zugleich voller Selbstvertrauen, er fürchtete sich vor nichts in der Welt.

Mary Percival war ein sehr angenehmes, sinniges Mädchen. Still, ohne schwermütig zu sein, neigte sie wenig zu Unterhaltungen, außer wenn sie mit ihrer Schwester Emma allein war. Mit großer Hingabe liebte sie ihren Onkel und ihre Tante, und war für manches befähigt, wovon sie selbst keine Ahnung hatte, denn sie war bescheiden und dachte sehr gering von sich. Ihre Gesinnungsweise war liebenswürdig und dies prägte sich auch in ihrem Benehmen aus. Sie war jetzt siebzehn Jahre alt und wurde viel bewundert.

Ihre Schwester Emma, die erst fünfzehn zählte, war ganz anders veranlagt, von Natur heiter und geneigt, bei allem ein Vergnügen herauszufinden. Fröhlich wie die Lerche, sang sie vom Morgen bis zum Abend. Ihr Wesen war, dank der Sorgfalt und Aufmerksamkeit ihrer Tante, ebenso liebenswürdig wie das ihrer Schwester, und ihr lebhaftes Temperament verleitete sie nur selten zu Unvorsichtigkeiten. Sie war das Leben in der Familie, wenn Alfred fort war, der außer ihr allein ein so heiteres Gemüt besaß.

Percival, der dritte Knabe, war jetzt zwölf Jahre alt, er war ein ruhiger, kluger Bursche, sehr gehorsam und aufmerksam. Von Natur sehr wißbegierig, war ihm jede Belehrung willkommen.

John, der vierte Sohn, im Alter von zehn Jahren, war ein derber Junge. Das Lernen liebte er nicht, doch war er gut veranlagt. Seinen Büchern zog er alles andere vor, doch war er gehorsam und versuchte seine Aufmerksamkeit festzuhalten, so gut es nur gehen mochte. Er war in allem sehr langsam, sehr bedächtig, und sprach meist nur, wenn er angeredet wurde. Dabei war er nicht dumm, obgleich mancher ihn dafür halten mochte, vielmehr ein höchst eigentümlicher Knabe, bei dem sich schwer voraussehen ließ, in welcher Art er sich später entwickeln werde.

Am dritten Tag nach ihrer Einschiffung segelte das Schiff mit schönstem Winde den Irländischen Kanal hinab. Der ‚London Merchant‘ fuhr nach Cork, wo sich die amerikanische Konvoiflotte zu versammeln hatte. Der Krieg zwischen den Engländern und Franzosen, die damals alle Schrecken der Revolution zu erleiden hatten, hatte vor kurzem begonnen. Bei ihrer Ankunft in Cork erholte sich unsere Gesellschaft von der Seekrankheit, der ein jeder auf seiner ersten Meerfahrt zum Opfer fiel. Der ‚London Merchant‘ lag vor Anker mit über hundert Kauffahrteischiffen, zwischen denen man die stolzen Masten eines großen Fünfzigkanonenschiffes und zweier kleiner Fregatten bemerkte, welche den Konvoi zu seinem Bestimmungsort führen sollten. Während die übrigen Familienmitglieder, noch leidend, sich bald wieder in die Kajüte zurückzogen, blieb Alfred auf Deck. Gegen die Brüstung des Schiffes gelehnt, hafteten seine Augen an den flatternden Wimpeln der Kriegsschiffe und eine Träne lief ihm die Wange herab, als er sich vergegenwärtigte, daß er nicht länger seinem Lieblingsberufe folgen dürfe. Das Opfer, das er den Seinigen gebracht hatte, war groß. Er hatte zwar leichthin darüber gesprochen, doch nur, um sie nicht ahnen zu lassen, was es ihn koste. Seinem Vater hatte er nicht einmal mitgeteilt, daß er vor seiner Entlassung in Portsmouth das Offiziersexamen gemacht, und sein Kapitän ihm baldige Beförderung im Dienst versprochen hatte. Er hatte nichts darüber geäußert, daß seine Pläne, seine Hoffnungen, sein Lieblingswunsch, Schiffskapitän einer schönen Fregatte zu werden, vernichtet wurden. Dies alles hatte er verborgen und eine Heiterkeit zur Schau getragen, die er nicht empfand; jetzt aber, wo er allein war und sich der Wimpel des Kriegsschiffes seinen Blicken darbot, konnte er seinen Schmerz nicht zurückdrängen. Er seufzte tief und sprach zu sich selbst: „Ich habe meine Pflicht getan. Es ist schwer nach so langer Dienstzeit, wenn man gerade auf dem Punkte steht, im Dienste zu avancieren — wenn man darauf rechnen darf, sich durch Eifer auszuzeichnen und Ansehen zu erlangen, es ist schwer, dies alles aufzugeben und mit der Axt in der Hand in die Wälder zu gehen. Doch wie hätte ich meine Eltern und Geschwister verlassen, sie Mangel und Gefahr aussetzen können, während ich einen starken Arm besitze, ihnen zu helfen? Nein, nein, ich habe meine Pflicht denen gegenüber erfüllt, die darin nie gegen mich gefehlt haben, und ich hoffe, daß mein Gewissen mich belohnen wird und jener Kleinmut mir erspart bleibt, den wir nur zu leicht empfinden, wenn es dem Himmel gefällt, das zu Schanden zu machen, was uns die schönsten Aussichten eröffnete.“

„Hört, guter Bursche“, sagte Alfred nach einiger Zeit zu einem Bootsmanne, „wie heißt jenes Schiff mit fünfzig Kanonen?“

„Ich weiß nicht welches Schiff fünfzig und welches hundert Kanonen hat“, entgegnete der Irländer, „aber wenn Sie das größte von den dreien meinen, so ist es der ‚Portsmouth‘.“

„Portsmouth, dasselbe Schiff, für das Kapitän Lumley beordert wurde“, rief Alfred, „o, da muß ich an Bord gehen.“

Alfred eilte zur Kajüte hinab und bat den Kapitän des Transportschiffes, welcher Wilson hieß, ihm das kleine Boot zu erlauben, um damit an Bord des Kriegsschiffes zu gehen. Sein Wunsch wurde erfüllt, und bald befand sich Alfred auf dem ‚Portsmouth‘. Auf dem Hinterdeck fand er mehrere seiner ehemaligen Kameraden, die ihn herzlich bewillkommten, darauf ließ er durch den Steward an Kapitän Lumley die Anfrage ergehen, ob er ihn sprechen könne und wurde sogleich zur Kajüte befohlen.

„Nun, Mr. Campbell“, sagte Kapitän Lumley, „sind Sie doch noch zu uns zurückgekehrt? Besser spät, als niemals. Sie kommen gerade noch zu rechter Zeit. Ich dachte mir schon, daß die törichte Grille, die Sie in Ihrem Briefe aussprachen, bald genug vergehen würde. Gerade jetzt, wo Sie das Examen bestanden und die besten Aussichten auf Beförderung haben, den Dienst verlassen zu wollen! Wie konnte Ihnen das nur in den Sinn kommen?“

„Die Pflicht, Sir“, versetzte Alfred, „die Pflicht gegen meine Eltern gebot es mir. Es war ein sehr schwerer Schritt für mich, aber Sie mögen selbst urteilen, ob ich anders handeln durfte.“

Alfred berichtete Kapitän Lumley getreulich, was geschehen war, welchen Plan seine Eltern gefaßt hatten, und daß seine Angehörigen an Bord des Transportschiffes seien, das sie ihrem neuen Geschick entgegenführen sollte.

Kapitän Lumley hörte Alfreds Erzählung an, ohne ihn zu unterbrechen. Nach einer Pause sagte er: „Ich denke, Mr. Campbell, Sie haben recht, und Ihr Entschluß macht Ihnen alle Ehre. Ihr Mut und Ihr Schutz wird für die Ihrigen zweifellos wertvoll sein. Aber schade ist es, daß Sie für unseren Dienst verloren sein sollten.“

„Ich bedaure es am meisten, Sir, davon können Sie überzeugt sein, aber —“

„Aber Sie opfern sich, ich weiß das. Ich bewundere den Entschluß Ihrer Eltern. Wenige würden den Mut haben, einen solchen Schritt zu unternehmen, namentlich wenige Frauen. Ich werde Ihre Eltern besuchen und ihnen meine Hochachtung aussprechen. In einer halben Stunde bin ich bereit; Sie sollen mich begleiten und vorstellen. Inzwischen können Sie Ihre alten Kameraden begrüßen.“

Alfred verließ die Kajüte, angenehm berührt von Kapitän Lumleys Freundlichkeit und begab sich zu seinen früheren Kameraden, bei denen er verweilte, bis der Hochbootsmann mit der Pfeife die Mannschaft zur Kapitänsbarke heranrief. Dann ging er auf Deck und stieg, sobald der Kapitän heraufkam, in das Boot. Der Kapitän folgte und binnen kurzem waren sie an Bord des ‚London Merchant‘. Alfred führte Kapitän Lumley seinen Eltern zu und nach Verlauf einer halben Stunde waren sie in vertrautem Gespräch, als Kapitän Lumley sagte: „Ich glaube, daß Sie, so sehr Sie in Kanada die Hilfe Ihres Sohnes bedürfen werden, seine Gegenwart an Bord des Schiffes doch wohl entbehren könnten. Einer meiner Offiziere wünscht Familienverhältnisse halber, mein Schiff zu verlassen. Er hat mich um Urlaub gebeten, doch ich hielt es für meine Pflicht, ihm denselben abzuschlagen, da wir im Begriff stehen, in See zu stechen, und ich nicht imstande war, Ersatz zu schaffen. Ihres Sohnes wegen werde ich ihn jetzt gehen lassen, und wenn Sie Alfred erlauben, an Bord des ‚Portsmouth‘ zu kommen, werde ich ihn als aktiven Leutnant in Dienst stellen. Sollte sich während der Fahrt irgend etwas zutragen, was keineswegs außer dem Bereich der Möglichkeit liegt, kann er befördert werden; wenn nichts passiert, werde ich seine Ernennung zum aktiven Offizier bestätigen lassen. In Quebec soll er das Schiff verlassen und mit Ihnen gehen. Sie werden begreifen, wenn er den Rang bekommt, er auch den Halbsold behält, was Ihnen eine gute Unterstützung sein kann, wenn er bei Ihnen in Quebec bleibt. Und wenn sich die Dinge so gut gestalten, daß Sie nach ein bis zwei Jahren ohne ihn fertig werden und Sie ihm erlauben können, in seinen Dienst zurückzukehren, hat er die wichtigste Stufe erreicht und wird, woran ich nicht zweifle, bald das Kommando eines Schiffes erhalten. Ich lasse Ihnen Zeit zur Entscheidung bis morgen. Mr. Alfred kann dann an Bord kommen, und mich dieselbe wissen lassen.“

„Ich glaube Ihnen sagen zu können, Kapitän Lumley“, versetzte Mrs. Campbell, „daß mein Mann nur einen Grund hat, der ihn zögern läßt; es ist der, daß er wissen will, ob ich mich während der Fahrt von meinem Sohne trennen möchte. Ich wäre aber eine sehr schwache Frau, wenn ich nicht ein so geringes Opfer zu seinem Besten bringen und Ihnen für Ihre gütigen Absichten im höchsten Grade dankbar sein würde. Ich denke daher, mein Mann wird es nicht für nötig halten, den Vorschlag bis morgen zu überlegen; doch er mag Ihnen selbst antworten.“

„Ich versichere Ihnen, Kapitän Lumley, daß Mrs. Campbell meine Empfindung ausgesprochen hat, und wir Ihr Anerbieten mit bestem Danke annehmen.“

„Dann“, versetzte Kapitän Lumley, „braucht Alfred nur morgen früh an Bord des ‚Portsmouth‘ zu kommen und wird dort seine Ernennung vorfinden. Wir segeln übermorgen ab, falls das Wetter einigermaßen günstig ist. Ich werde während der Fahrt Ihr Schiff im Auge behalten.“

Kapitän Lumley schüttelte Mr. und Mrs. Campbell die Hand und verließ das Schiff. Als er in sein Boot stieg, bemerkte er gegen Alfred: „Es ist ganz traurig zu denken, daß Ihre reizenden Kousinen in den Wäldern Kanadas begraben werden sollen. Morgen um neun Uhr werde ich Sie also erwarten. Leben Sie wohl!“

Obgleich Mr. und Mrs. Campbell der Gedanke, sich von Alfred trennen zu müssen, nicht angenehm war, begrüßten sie doch den glücklichen Zufall, der sich zu Gunsten ihres Sohnes bot; sie schieden in froher Stimmung, als er am folgenden Morgen Abschied von ihnen nahm.

„Kapitän Wilson, Sie segeln so gut, daß ich hoffe, Sie werden sich die ganze Fahrt über dicht an unserer Seite halten“, bemerkte Alfred, während er sich empfahl.

„Es sei denn, daß Sie mit dem Feinde zusammengeraten, dann werde ich mich in respektvolle Entfernung begeben, Mr. Alfred“, versetzte Kapitän Wilson lachend.

„Dann, natürlich! Derartige Tänze sind nichts für Damen, obwohl diese sonst gegen das Tanzen nichts einzuwenden haben — oder doch, Emma? Nun nochmals, lebe wohl. Du kannst mich bisweilen durch das Fernrohr sehen, wenn du Neigung dazu verspürst. Denke daran.“

Alfred war bald an Bord des ‚Portsmouth‘. Am nächsten Tag segelten sie bei günstigem Wind und gutem Wetter fort. Der Konvoi war nunmehr auf hundertzwanzig Fahrzeuge angewachsen.

Mehrere Tage hindurch war das Wetter leidlich, obwohl der Wind nicht immer günstig war, und die Konvoi-Flotte blieb in bester Ordnung beisammen. Der ‚London Merchant‘ war nie weit entfernt vom ‚Portsmouth‘; Alfred benutzte, wenn er nicht Schiffswache hatte, seine Zeit, das Fernrohr auf dieses Fahrzeug zu richten und die Bewegungen seiner Basen sowie der übrigen Familienglieder zu beobachten. An Bord des ‚London Merchant‘ war man ähnlich beschäftigt, und oft wurde ein Tuch als Gruß oder Erkennungszeichen geschwenkt. Endlich kamen sie bei den Ufern Neufundlands vorüber und wurden dort von einem dichten Nebel überfallen, während dessen die Kriegsschiffe beständig Kanonenschüsse lösten, um den Kauffahrteischiffen die Richtung anzugeben, in der sie steuern mußten, während letztere die Glocken zogen, um sich gegenseitig vor einem Zusammenstoß zu warnen. Der Nebel währte zwei Tage und dauerte noch an, als unsere Gesellschaft an Bord des ‚London Merchant‘ während des Mittagessens Lärm und Unruhe auf Deck vernahm. Kapitän Wilson eilte hinauf und entdeckte, daß französisches Schiffsvolk sein Fahrzeug geentert, und von dem Schiff Besitz ergriffen hatte. Er konnte nichts weiter tun, als wieder zur Kajüte hinabzusteigen, um den Passagieren mitzuteilen, daß sie Gefangene wären. Der Schrecken war nicht gering. Die Neuigkeit nahm ihnen allen den Appetit für ihr Mittagessen, das jedoch bald von den französischen Offizieren und ihren Leuten verzehrt wurde.