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Albert Stähli befasst sich in dem zweiten Band seiner orientalischen Trilogie – angesiedelt zwischen den "Mauren" aus dem Frühjahr 2016 (siehe Backlist) und den "Osmanen", geplant für Herbst 2017 – mit der Blütezeit der arabischen Welt. Diese begann mit der Geburt Mohammeds um 570 n. Chr. und endete mit dem Einfall der Mongolen 1258 in Bagdad. Dabei führt er die großen Errungenschaften der Araber – Toleranz und Großzügigkeit, kaufmännisches Geschick und strategisches Gespür – auf ihre innere, der Religion verpflichteten Haltung zurück und wirft die Frage auf, wessen es in modernen (Staats-)Organisationen bedarf, um Gesellschaften unter den neuen Vorzeichen Globalisierung, Digitalisierung und Individualismus zu befördern. Im 13. Jahrhundert vereinigten die Araber mehr Wissensfülle als die Länder Europas zusammen. Das hatte direkt mit dem Islam zu tun: Weil jeder Gläubige den Koran lesen und auswendig rezitieren können musste, lernten die Kinder in Koranschulen Lesen und Schreiben. Der Begabungselite standen anschließend die besten Universitäten als Teile der großen Moscheen offen. Gleichzeitig waren sie große Integratoren fremdländischen Wissens. Ein Land Arabien gab es zwar nie – aber sechshundert Jahre eine großartige Kultur der Araber.
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Seitenzahl: 192
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Albert Stähli
DIE ARABER
Toleranz, Integration und Bildung im Namen des Islams
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Albert Stähli
Die Araber
Toleranz, Integration und Bildung im Namen des Islams
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Frankenallee 71–81
60327 Frankfurt am Main
Geschäftsführung: Oliver Rohloff
1. Auflage
Frankfurt am Main 2016
ISBN 978-3-95601-241-9
Copyright
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Frankenallee 71–81
60327 Frankfurt am Main
Umschlag
Julia Desch, Frankfurt am Main
Satz
Wolfgang Barus, Frankfurt am Main
Titelbild
Artwork Julia Desch
Der Schriftzug auf dem Titelbild bedeutet:
Es gibt keinen Gott außer Allah.
E-Book-Herstellung
Zeilenwert GmbH 2017
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.
Für Nada, Esther und Lotfi
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1Zur Einführung
Warum der Schrecken der Gegenwart nicht den Respekt für die Vergangenheit verstellen darf
Kapitel 2Allahs Prophet und Mohammeds Nachfolger
Vom Erwachen des arabischen Zeitalters bis zum Ende des Umayyaden-Kalifats
Kapitel 3Das Reich zerfällt – der Glaube triumphiert
Die Araber verlieren sich in Streit und Kleinstaaterei
Kapitel 4Was das Kalifat zusammenhält
Sprachliche Arabisierung und geistige Islamisierung: Wie der Glaube zur kulturellen Einheit führt
Kapitel 5Ex oriente lux
Der arabische Raum wird Zentrum für Wissenschaft, Forschung und Bildung
Kapitel 6Was wir von den Arabern lernen können
Toleranz, Wissensdurst – und wenn Neues errungen werden soll, dann mit Kraft und voller Energie
Epilog
Einladung zu einer Reise in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten
Abbildungsnachweise
Literatur
Der Autor
Hinweise
Seit jeher werden die arabischen Schriftzeichen auf unterschiedliche Weise ins Lateinische transkribiert. Der besseren Lesbarkeit halber wird in diesem Buch auf Akzente und Apostrophe außerhalb von Zitaten verzichtet und die gängige latinisierte Variante der arabischen Namen verwendet. Dabei bleibt die Aufteilung in Namensbestandteile weitgehend erhalten.
Bei Zitaten aus dem Koran wird folgende Schreibweise vorgenommen: Nummer der Sure, Nummer des Verses. Der dritte Vers der 96. Sure lautet dann kurz so: Koran 96, 3.
KAPITEL 1
Warum der Schrecken der Gegenwart nicht den Respekt für die Vergangenheit verstellen darf
Wohl kaum eine andere Region der Welt löste bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts solch schauerlich-romantische Vorstellungen aus wie das jenseits des Mittelmeeres und damit für die meisten Zeitgenossen der Anschauung entzogene Arabien. In seiner Einleitung zu den von Enno Littmann 1918 neuübersetzten „Erzählungen aus Tausendundein Nächten“ lässt uns der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal an seinen und den von gebildeten Altersgenossen geteilten Fantasien über das Land edler Prinzen, räuberischer Mörderbanden, allmächtiger Dschinns und geheimnisumwitterter Städte wie Bagdad und Basra Teil haben:
„Die Lockungen und die Drohungen waren seltsam vermischt; uns war unheimlich zu Herzen und sehnsüchtig; uns grauste vor innerer Einsamkeit, von Verlorenheit, und doch trieb ein Mut und ein Verlangen uns vorwärts und trieb uns einen labyrinthischen Weg, immer zwischen Gesichtern, zwischen Möglichkeiten, Reichtümern, Düften, halbverhüllten Mienen, halboffenen Türen, kupplerischen und bösen Blicken in den ungeheuren Basar, der uns umgab: wie glichen wir diesen weit von der Heimat verirrten Prinzen, diesen Kaufmannssöhnen, deren Vater gestorben ist und die sich den Verführungen des Lebens preisgeben, wie meinten wir ihnen zu gleichen!“ (Littmann, E., 1953, S.7)
Das Vorwort und die Überarbeitung des bis auf das Jahr 250n.Chr. zurückgehenden indisch-persischen Monumentalepos erschienen erst weit nach Ende des Zweiten Weltkrieges (Littmann, E., 1953). In einem knappen halben Jahrhundert war die wundersame Welt Arabiens den geografischen Allmachtsfantasien der Großmächte erlegen und als geostrategisches Vorratslager der industriellen Antriebskräfte wiedergeboren worden. Mit der Schaffung der modernen Erdölstaaten im Nahen Osten war die Mystik Arabiens auf immer dahin.
Heute weiß jedes Schulkind, dass es ein Land namens Arabien niemals gegeben hat. Die Araber jedoch, deren ethnische Identität vor allem anderen durch den Gebrauch der arabischen Sprache geprägt wurde, sind seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 mit dem Kainsmal des Terrors gezeichnet. Weit besser bekannt als der des Nachts verkleidet durch Bagdad streifende Kalif Harun ar-Raschid (763 bis 809) sind Terroristenführer wie Osama bin Laden und der Anführer des sogenannten Islamischen Staates („Daesh“) Abu Bakr al-Baghdadi. Unter den grellen Suchscheinwerfern einer von Tod und Entsetzen überzogenen Gegenwart offenbart sich der Zauber der arabischen Welt nur noch dem historisch interessierten Beobachter.
Um das gleich klarzustellen: Das Thema des zweiten Bandes meiner orientalischen Trilogie – angesiedelt zwischen den „Mauren“, erschienen im Frühjahr 2016, und den „Osmanen“, vorgesehen für den Herbst 2017 – ist nicht, wie es im Nahen und Mittleren Osten zur neuen Blüte des Islamismus kommen konnte. Das mag sachkundigeren Autoren überlassen bleiben. Ich möchte in diesem Buch die Blütezeit der arabischen Welt beschreiben, die mit der Geburt des Propheten Mohammed um 570n.Chr. beginnt und mit dem Einfall der Mongolen 1258 in Bagdad endet. Mein Anliegen ist – treue Leser werden dies wissen –, aus der Geschichte der Araber jene Substanz und Kraft zu extrahieren und herzurichten, die auch heute noch Großes zu leisten vermag.
Denn wenngleich die arabischen Kernlande seit Beginn des 21. Jahrhunderts mit Gewalt und Schrecken assoziiert werden, so war es doch nicht immer so. Als die Araber die Bühne der Welt betraten, taten sie es mit dem Impetus des Glaubens an ein friedliches Zusammenleben der Völker und Religionen. Ihr Eifer war von einem Gott beseelt, der im Koran als den Menschen zugetan dargestellt wird, als gerecht, aber auch als kämpferisch, wenn es um die Wahrung seiner Vorrechte geht.
Folgerichtig wird die geistige und kulturelle Hochblüte der Araber beschrieben als einhergehend mit dem Aufstieg des Islams zur heute zweitstärksten Religion der Welt. Nach einem kurzen Exkurs über die vorislamische Zeit beginnt der historische Teil mit dem Leben und der göttlichen Sendung Mohammeds. Während dessen Zeit in Medina (622 bis 632) gelang es dem Gesandten Gottes (arab. rasul), die islamische Gemeinschaft auf die gesamte Arabische Halbinsel auszudehnen. Bei seinem Tod 632 waren alle Araber im Islam vereint. Auf der Grundlage dieses Glaubens konnten Mohammeds Nachfolger ein Weltreich errichten. Es erstreckte sich in seiner weitesten Ausdehnung von der iberischen Halbinsel und der Atlantikküste Nordafrikas bis weit in den Kaukasus und nach Indien.
Die militärische Expansion des Kalifenreiches begann unter dem zweiten Kalifen Umar. Auf die Eroberung Palästinas, Syriens und Mesopotamiens/Iraks folgten rasch Nordafrika und Ägypten. Doch nicht alle Menschen, die hier lebten, waren Muslime. Der Historiker Julius Wellhausen (1844 bis 1918) bezeichnet das arabische Reich im siebten und achten Jahrhundert als „imperiale Herrschaft muslimischer Araber über nicht-muslimische Nichtaraber“ (zitiert nach Halm, H., 2004, S.30) mit den konstituierenden Bestandteilen: keine Bekehrung, Schutzgarantie für die Ungläubigen als Teil des Rechtssystems der Scharia gegen Zahlung besonderer Abgaben.
Das Kalifat der Umayyaden dauerte von 661 bis 750. Während dieser Zeit kam es zum Schisma (Spaltung) von Sunniten und Schiiten. In der Mitte des achten Jahrhunderts übernahmen die Abbasiden die Macht. Ihre großen Herrscher waren Harun ar-Raschid und dessen Sohn al Ma’mun, deren Leistungen ausführlich gewürdigt werden. Die Abbasiden behielten das Reich bis zur Invasion der Mongolen.
Die historischen Leistungen der Araber
Zwischen 622 und 1258 – dem Jahr, als die Mongolen in Bagdad einfielen – wies das arabische Reich die größte Dimension, die größte Macht, die größte Pracht und weit mehr Gelehrsamkeit und Wissensfülle auf als alle Länder Europas zusammen. Die Araber waren dem im düsteren Mittelalter befangenen Kontinent in der Bildung weit voraus. Das hatte direkt mit dem Islam zu tun: Weil jeder Muslim den Koran lesen können musste, lernten die Kinder in den Koranschulen Lesen und Schreiben. Der Begabungselite standen anschließend die besten Universitäten der Zeit offen, die damals Teile der großen Moscheen waren.
In der Baukunst, in der Mathematik, Astronomie und in der Medizin, überhaupt in den Naturwissenschaften, aber auch in der Dichtkunst und in der Philosophie haben die Araber Hervorragendes geleistet. Sie retteten das Erbe der Griechen, Römer und Perser und wiesen der westlichen Welt damit die Richtung. Auch, weil sie als begnadete Integratoren und Archivare fremdländischen Wissens wirkten. So nahmen sie von China die Zeitmessung und die Kartographie auf, von Indien die Zahlen und die Schiffsbauweise, von den Griechen die Erkenntnisse der Physis und Psyche. Sorgsam bewahrten und vermehrten sie das Wissen um die Welt, um es ihr eines Tages zurückgeben zu können.
Dieses Buch führt die Errungenschaften der Araber – Bildung und Suche nach Weisheit, Toleranz und Großzügigkeit, naturwissenschaftliche Neugier und großes Kunstverständnis – auf ihre innere, dem Glauben verschriebene Haltung zurück und wirft die Frage auf, wessen es in modernen Organisationen bedarf, um die Menschheit unter den neuen Vorzeichen Globalisierung, Digitalisierung und Individualismus wieder zu einer neuen Blüte emporzurichten. Und auch wenn die Antwort angesichts engstirniger und zu äußerster Gewalt bereiter Islamisten erschreckend klingen mag, so darf sie doch nicht beiseite gedrängt werden. Ein Land Arabien gab es nie – aber tausend Jahre einer großartigen Kultur der Araber. Sie ist es wert, hochgehalten zu werden.
KAPITEL 2
Vom Erwachen des arabischen Zeitalters bis zum Ende des Umayyaden-Kalifats
Kurz vor dem Ende der Spätantike im sechsten Jahrhundert nach Christi Geburt stehen sich an der Grenze zwischen Europa und Asien die beiden mächtigsten Imperien der Welt bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Misstrauisch und voller Argwohn beäugen sich Byzantiner und Perser schon seit mehr als dreihundert Jahren. Doch nun scheint die Entscheidung zu nahen. Beide Mächte wollen noch mehr Land, Einfluss und Wohlstand. Beide wollen ihre hochstehende Kultur in die Welt tragen. Beide verfügen über reiche Bodenschätze, gefüllte Staatskassen, kluge Strategen, gefügige Vasallen und Heerscharen von Streitkräften.
Divers ist allerdings die Ausgangslage. Während die Byzantiner um den Erhalt des oströmischen Reiches besorgt sind, erobern die Perser unter Führung des Herrschergeschlechts der Sasaniden immer neue Landstriche, schaffen sich mehr Verbündete und Vasallen. Die einen vertrauen auf ihre große Vergangenheit. Die anderen erhoffen sich eine große Zukunft. Beide zählen auf göttlichen Beistand. Und doch wird bald ein arabischer Kaufmann namens Mohammed (arab.: Muhammad) dank seines Gottes beide Hoffnungen zunichtemachen.
In Byzanz, dem Konstantinopel der zurückliegenden Römerzeit und heutigen Istanbul, bemüht sich der oströmische Kaiser Justinian I (gest. 565) mit nicht geringem Erfolg, das seit 480 auseinandergebrochene Imperium Romanum zu retten. Seine Truppen haben die nordafrikanische Küste, den Süden der iberischen Halbinsel, die Balearen, Korsika, Neapel, Sizilien und Malta von den anstürmenden Horden der Goten und Vandalen zurückerobert. Das alarmiert den Erbfeind im Osten. Chosrau I aus dem Geschlecht der Sasaniden, der seit 531 als Großkönig über Persien regiert und in dieser Zeit weite Gebiete vom Mittelmeer bis zum Indus erobert hat, will der Restauration des einstigen Weltreichs nicht tatenlos zusehen. Ihn treibt die Sorge, ein erneuertes, im Westen gefestigtes Imperium könne sich kraftvoll nach Osten wenden.
Byzantiner gegen Perser: Die Endzeit naht und findet beide in Sorgen gerüstet
Der Perserkönig zwingt Justinian zu einem Mehrfrontenkrieg. Im Frühjahr 540 greift er ohne Kriegserklärung an, verwüstet Syrien und bedroht den wichtigen Handelsplatz Antiochia. Von nun an schwelt der alte Kampf der beiden Großmächte unablässig fort, genährt von unerbittlichem Hass zwischen dem Christentum und der persischen Feuerreligion des Zoroastrismus. 561 ringt Chosrau seinem römischen Widerpart Tribut für das besetzte Antiochia ab: welche Demütigung! Im selben Jahr sehen die Sasaniden mit unverhohlener Freude die Hunnen von Norden aus gegen Byzanz vorrücken: Der Feind ihres Feindes ist ihr Freund. Belisar, der berühmteste unter den Heerführern von Justinian, kann die Hunnen zwar zurückschlagen. Doch leere Kassen und ständige Übergriffe an anderen Fronten bringen das oströmische Reich immer wieder in Schwierigkeiten.
565 schließt der große Justinian seine Augen. Mit Beginn der Regentschaft seines Nachfolger Justin II – er spricht schon kein Latein mehr, sondern Griechisch, ein Menetekel? – wüten Intrigen, Kirchenkämpfe, Ketzerverfolgung, Kaisermorde. Drei Jahre darauf fallen die Langobarden in Italien ein und entreißen dem Reich die wertvolle Westflanke. Aus Verzweiflung zettelt Justin wenig später einen aussichtslosen Krieg gegen Persien an. Mit der Niederlage verliert er seinen Verstand. 591 erneuert Kaiser Maurikios den 532 unter Justinian geschlossenen „ewigen Frieden“ mit den Sasaniden.
Allein mit seiner Ermordung im Jahre 602 flammt die Krise erneut auf. Maurikios’ Nachfolger Phokas ist schwach, als Usurpator fehlt ihm der Rückhalt im Volk. Vierzehn Jahre nach dem Tod Justinians stirbt auch der Perserkönig ChosrauI. Seine Nachfolger sind verweichlichte Despoten, dem Luxus und der Ausschweifung hingegeben. Aus Gewinnsucht plündern ihre Truppen Syrien und Armenien, aus Rache schlagen Römerheere in Mesopotamien zurück. Perser bluten, Byzantiner bluten, und beide Völker ächzen unter hohen Steuern, die für die Fortführung des Krieges und die Belohnung der Vasallen in den ausgedehnten Landstrichen zwischen den in Dauerfehde verkeilten Reichen nötig sind.
Die Araber in der vorislamischen Zeit
Damit geraten die syrische Wüste und die Arabische Halbinsel „ins Spannungsfeld der beiden benachbarten spätantiken Großmächte, deren imperiale Machtansprüche hier im Norden wie im Süden aufeinander stießen.“ (Halm, H., 2004, S.15) Aber nicht Byzantiner und nicht Perser leben in der weitläufigen Grenzregion zwischen den verfeindeten Großmächten. Am steinigen, inneren Rand des fruchtbaren Halbmondes, der sich heute über Palästina, Jordanien, Syrien und den Irak erstreckt – für die Römer war das die Provinz „Arabia Petraea“ –, ziehen seit Urzeiten arabische Stämme durch die Wüste.
Es sind Kamelzüchter und Händler, Wüsten durchstreifende Beduinen und archaische Siedler auf Zeit, deren Selbstbewusstsein weder von einem Staatsoberhaupt noch von einem Staatsgebiet noch von einer Staatsmacht gestützt werden muss. Die Nomaden nennen sich Al-Arab und leben in Großfamilien oder Clans, die in Stämmen (arab.: banu) wurzeln. Ihr Zusammengehörigkeitsgefühl endet bei ihrem Familiennamen. „Stets spielt der arabische Stolz auf die eigene Herkunft dabei eine Rolle – die Genealogie ist wesentlich für die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft.“ (Schlicht, A., 2013, S.11) Erst an zweiter Stelle fühlen sie sich jenen verbunden, die wie sie Arabisch sprechen. Die semitische Sprache tritt jedoch in vielen Dialekten ans Ohr. Die Stammeszugehörigkeit lässt sich heraushören. Das schafft Nähe und Distanz, Geborgenheit und Freiheit gleichermaßen. Die Araber dieser Zeit sehen darin keine Dichotomie, sondern eine Einheit.
Das trifft auch auf das im Inneren der arabischen Halbinsel gelegene Wüstenhochland (Nadschd) zu – ihre ebenso grandiose wie gefährliche Heimat. Die Welt der Araber, die sie niemals zuvor als Staat beansprucht haben, sondern nur als Lebensraum, reicht von Syrien, Jordanien und Irak im Norden bis zum Jemen an der Südspitze der arabischen Peninsula. Mit einer Fläche von 2,73 Millionen Quadratkilometern bildet das Territorium die größte Halbinsel der Welt. Geografisch gehört sie zu Asien, geologisch zu Afrika, und in Besitz genommen wurde sie vor Menschengedenken von den Al-Arab.
Keinem Römer, keinem Perser, keinem Griechen und auch keinem Makedonier war das ausgetrocknete Land jemals einen Streitzug wert. Denn dauerhaft bewohnbar sind nur die halbwegs fruchtbaren Küstenregionen im Süden („Arabia felix“, glückliches Arabien), im Westen der Küste des Roten Meers folgend (Hedschas) und im Osten entlang des Persischen Golfes. 85 Prozent der Halbinsel, ihr gesamtes Inneres, ist sandige, lebensfeindliche Wüste („Arabia deserta“, wüstes Arabien). Dass das darunter ruhende, schwarze Gold die Besitzer des verachteten Terrains eines fernen Tages zu unvorstellbarem Reichtum führen wird, ist Tragik und Treppenwitz der Geschichte zugleich.
An dem vermeintlichen Ödland sind weder Byzanz noch Persien interessiert. Brennend jedoch daran, sich die im Grenzgebiet des Nordens siedelnden arabischen Stämme mit Geschenken und Schmeicheleien geneigt zu machen. Westlich des unteren Euphrat, im Süden des heutigen Nadschaf, haben die byzantinischen Kaiser die Lachmiden (arab.: Banu Lachm) als Pufferstaat gegen die Perser aufgebaut. Die wiederum versichern sich des Wohlwollens der christlichen Ghassaniden (arab.: Banu Ghassan). Der Stamm soll die syrischen Provinzen gegen die Wüste abschirmen. Denn auch von Süden droht Gefahr.
Die Weihrauchstraße
„Der persisch-oströmische Gegensatz bleibt nicht auf den Raum beschränkt, in dem die Landesgrenzen der beiden Reiche verlaufen. Die byzantinisch-iranische Konkurrenz bezieht sich auch auf die Handelswege nach Asien.“ (Schlicht, A., 2008, S.15) Im Jemen, dem ehemaligen Königreich von Saba, ringen Byzantiner und Perser ebenfalls um die Vormacht. Die direkte Linie zu den Kampfgebieten im Norden führt nämlich über die sogenannte Weihrauchstraße quer durch ihr Land. Die 3400 Kilometer lange Strecke, eine der ältesten Handelsstraßen der Welt, reicht von Dhofar im heutigen Oman bis zum Jemen, knickt dann nach Norden ab und verläuft parallel zur Ostküste des Roten Meers bis zum syrischen Gaza und Damaskus. Wichtige Handelsstationen sind Sanaa und Medina. Gläubige Araber machen in der Kaufmannsstadt Mekka Halt. Sie liegt etwa 350 Kilometer südlich von Yathrib, den nachmaligen Medina, und beherbergt neben dem heiligen Brunnen Zemzem die quaderförmige Kaaba mit einem in die Wand eingelassenen schwarzen Stein, vermutlich ein Meteorit. Die Kaaba wird von den arabischen Stämmen als Heiligtum des Gottes Hubal verehrt. Er ist ein Gott unter vielen.
Abbildung 1: Verlauf der Weihrauchstraße
Über diese Karawanenroute transportieren Dromedare und Maultiere, angeführt von Kameltreibern und Kaufleuten, in einem ununterbrochenen Strom Harze, wie beispielsweise die des für den christlichen Kult unabdingbaren Weihrauchbaums, Gewürze, Stoffe, Edelsteine und Sklaven aus Afrika, Indien und Südostasien nach Norden. „Die Bewohner des Jemen haben eine Art Monopol für die Schifffahrt im Indischen Ozean, stellen eine Verbindung zwischen Indien, Ostafrika und dem Mittelmeerraum her. Südarabien stellt eine frühe Drehscheibe des interkontinentalen Fernhandels dar. Seide, Edelsteine, aromatische und pharmazeutische Pflanzen sowie Gewürze vermitteln die südarabischen Handelsstaaten der ‚alten Welt‘ den Ländern im Norden, so dass man in der klassischen Antike gar nicht wusste, dass es [sich] etwa um indische Produkte handelte, sondern annahm, es seien ‚Reichtümer Südarabiens‘.“ (Schlicht, A., 2013, S.17)
Juden- und Christentum bedrohen die altarabischen Götter
Von Dhofar nach Gaza dauert es nach Berichten antiker Autoren etwa 100 Tagesmärsche mit Kamelen. Mit Streitelefanten ginge es schneller. Sowohl für Persien als auch für Ostrom ist es daher ein Gebot der Gefahrenabwehr, stets auch das Land der Al-Arab im Süden unter Beobachtung zu halten.
Was hinter dem Kommerz verborgen bleibt: Die Weihrauchstraße ist mitnichten eine Einbahnstraße. Mit den reisenden Händlern sickern das auf die Tora gestützte Judentum und der in der Bibel kanonisierte christliche Glaube, beides monotheistische Schrift- oder Buchreligionen, von Norden nach Süden ein. Etliche Stämme entlang der Karawanenroute wenden sich von ihren Gottheiten ab und den Auferstehung versprechenden Religionen zu. Widerstand seitens gläubiger Araber bleibt da nicht aus. Im Jemen werden die Anhänger Jesu im ersten Viertel des sechsten Jahrhunderts verfolgt. „Das wiederum rief die christlichen Äthiopier auf den Plan, hinter denen das christliche Byzanz stand; zwischen 523 und 535 eroberte der Negus von Äthiopien den Jemen, entthronte den Christenverfolger und ließ das Land von christlichen äthiopischen Vizekönigen regieren.“ (Halm, H., 2004, S.17)
Der wirtschaftliche Erfolg, so der denn auch gesucht wurde, bleibt allerdings aus. Der Bruch des großen Staudammes Ma‘rib in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts lässt das einstige glückliche Arabien in wenigen Jahren wirtschaftlich veröden.
Dafür zieht das jemenitische Christentum mehr und mehr Pilger in seinen Bann. Dem altarabischen Polytheismus erwächst daraus eine bedrohliche Konkurrenz, was besonders die Stadt Mekka in Mitleidenschaft zieht: Der Pilgerstrom zu ihrem religiösen Heiligtum Kaaba versiegt. Die Fronten zwischen Sanaa und Mekka verhärten sich. Der jemenitische König Abraha unternimmt einen Feldzug gegen die Kaufmannsstadt, doch sein auf Elefanten heranrückendes Heer wird von einer Seuche, entweder der Pest oder den Pocken, vernichtet und die Stadt gerettet. Oder war es göttliche Fügung, die den Christen den Sieg versagte? So jedenfalls steht es in Sure 105 des Korans. Zugetragen haben soll sich das Ereignis 570, im „Jahr des Elefanten“. In der neueren Forschung ist diese Jahreszahl indes umstritten. Lediglich die arabischen und den Koran legitimierenden Quellen lassen das „Jahr des Elefanten“ mit dem Geburtsjahr des Propheten Mohammed zusammenfallen. Historiker und Islamwissenschaftler setzen den Feldzug des Abraha heute früher an, nämlich auf die Zeit zwischen 547 und 552.
Doch wann immer es genau geschah: Der gescheiterte Feldzug bringt die äthiopische Herrschaft in Südarabien ins Wanken. Der Jemen ruft die Sasaniden um Hilfe, die rücken an, und fünf Jahre später verliert Äthiopien seine Kolonie. Mit den Persern gelangt der zoroastrische Glaube, der sich schon mancherorts an der Ostküste der arabischen Halbinsel niedergelassen hat, in den Jemen. „Südarabien wird jetzt zur persischen Satrapie – im Zuge der epochalen Auseinandersetzungen zwischen Persien und Byzanz, die damals den ganzen Orient in Atem hält.“ (Schlicht, A., 2013, S.25)
Furcht allerorten: Ostrom vor dem Untergang, Persien vor den Türken
So verteilen sich die religiösen Strömungen an der Schwelle zum siebten Jahrhundert nach Christi Geburt, und so ist die geostrategische Lage: Ostrom verliert an Kraft und verwandelt sich zusehends in das griechische Byzanz des Mittelalters. Die Perser erringen unter Großkönig Chosrau II die Herrschaft über die meisten oströmischen Provinzen, 620 erobern sie sogar Ägypten und Syrien, die Kornkammern des oströmischen Reichs. Auf dem Balkan brechen die Awaren auf kaiserlichem Gebiet ein. 626 stehen die Perser vor Konstantinopel und Ostrom am Rande des Untergangs. Ein Triumph ist das nicht für die Sasaniden. Denn sie fürchten bereits, dass ihnen mit den kampfbereiten Türken ein neuer, starker Gegner erwachsen könnte.
Weder Byzantiner noch Perser haben indes auch nur den Anflug einer Ahnung, dass ihr Schicksal längst in der fernen Wüste besiegelt wurde. In den Jahren zwischen dem Ableben von Justinian und Chosrau I wurde in Mekka ein Knabe geboren, dessen Name dereinst als Fanal über der Welt des Ostens und des Westens wirken wird: Mohammed, der Prophet Allahs.
Mohammed empfängt die göttliche Botschaft
Häretiker! Epileptiker! Antichrist! Betrüger! Das sind nur einige der Schmähnamen, die dem 40-jährigen Mohammed vom Stamme der Quraisch um das Jahr 610 herum in Mekka höhnisch nachgerufen werden. (Bobzin, H., 2000, S.9ff.) Nur seine Frau Chadidscha, der Mönch Abu Talib und sein bester Freund Abu Bakr, der eines Tages sein Schwiegervater werden wird, nehmen Mohammed ernst und sehen in ihm den lange angekündigten Gottesgesandten (arab.: rasul) und Propheten (arab.: nabi) Allahs.
Abbildung 2: Der Erzengel Gabriel übergibt Mohammed das Wort Gottes
Sie waren die ersten, denen er von dem Berufungserlebnis erzählt hat, das ihm eines Nachts in der Einsamkeit der Wüste zuteil geworden war: Der Erzengel Gabriel sei ihm erschienen, berichtet Muhammed, und habe ihn aufgefordert, das Wort Gottes zu rezitieren. Dazu habe ihm der Engel ein mit Versen beschriebenes Tuch vorgehalten – und wie durch ein Wunder habe der des Lesens unkundige Muhammed die Worte wiedergeben können, die im Koran 96, 1 so anheben: „Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen.“ (Ullmann, L., Winter, L. W., 1959, S.494)
Eine der rhetorischen Lieblingsfragen vieler am Islam (arab.: Ergebung in Gott) Interessierten lautet: Warum ausgerechnet Mohammed aus Mekka? Gewiss, er gehört zum Stamm der Quraisch, die in Mekka den Ton angeben, aber seine Sippe ist von niederem Rang. Mohammeds Geburtsdatum liegt im Dunklen, doch es soll 570 gewesen sein, der Legende nach im Jahr der wundersamen Rettung der Stadt Mekka vor den heranstürmenden Jemeniten. Früh zur Waise geworden, wächst er erst im Hause seines Großvaters und später bei einem Onkel auf. Mit dessen Sohn, seinem Cousin Ali, verbindet ihn eine herzliche Freundschaft.
In jungen Jahren verdient Mohammed sein Brot als Hirte und Kameltreiber auf Karawanenzügen. Beschrieben wird er als mittelgroß und schlank, mit lockigen Haaren, mit bärtigem Gesicht, leuchtenden Augen und überzeugendem rednerischen Geschick. Damit kommt er in den Dienst der reichen Kaufmannswitwe Chadidscha. Als die beiden heiraten, ist Muhammed 25 und Chadidscha 40 Jahre alt. Das Paar steht fest im altarabischen Glauben, von denen Hubal, Allah, Al-lat, Al-Uzza und Manat nur die Hauptgötter sind; es gibt viele andere. Mohammed führt das Geschäft seiner Frau. Um die Jahrhundertwende wird er von Angstzuständen ergriffen und fällt immer wieder in Trance. Häufig flüchtet er in die Wüsteneinsamkeit des Berges Hira.