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Verweist man heute auf die Normannen, so erntet man häufig fragende Blicke: Waren das nicht die räuberischen Nachfahren der Wikinger? Oder doch ein Volk, das einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung Westeuropas im Hochmittelalter hatte? In beidem steckt ein wahrer Kern. König Karl II überließ den Wikingern mit der heutigen Normandie einen Teil seines Reiches, diese wiederum unterwarfen sich dem Frankenkönig dafür und schworen ihren heidnischen Göttern ab. Wie Albert Stähli in "Die Normannen" eindrucksvoll zeigt, gaben sie freiwillig ihre Identität für eine größere Idee auf: Sie versammelten Gelehrte aus aller Welt, um Wissen zusammenzutragen, zu fördern, zu verbreiten und für die Nachwelt zu bewahren. Und auch wenn sie alles andere als Pazifisten waren, so sind die Normannen doch Integrationsexperten gewesen. Eroberten Landstrichen gaben sie sich nicht nur hin und wuchsen mit der dortigen Gesellschaft zusammen, sondern hinterließen auch Strukturen, von denen noch viele Generationen nach ihnen profitieren konnten.
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Seitenzahl: 166
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Albert Stähli
Die Normannen
Integrationskünstler und Europäer der ersten Stunde
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Albert Stähli
Die Normannen
Integrationskünstler und Europäer der ersten Stunde
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Frankenallee 71–81
60327 Frankfurt am Main
Geschäftsführung: Hans Homrighausen
1. Auflage
Frankfurt am Main 2015
ISBN 978-3-95601-237-2
Copyright
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Frankenallee 71–81
60327 Frankfurt am Main
Umschlag
Anja Desch, Frankfurt Business Media GmbH –
Der F.A.Z.-Fachverlag, 60327 Frankfurt am Main
Satz
Wolfgang Barus, Frankfurt am Main
Titelbild
© Artwork: Anja Desch, FBM
Druck
CPI Moravia Books s.r.o., Brněnská 1024, CZ-691 23 Pohořelice
E-Book-Herstellung
Zeilenwert GmbH 2017
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.
Für Nada, Esther und Vigo
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1Zur Einführung
Die Normannen – Popolo d’Europa
Kapitel 2Das zweite Zuhause
Die kulturelle und politische Metamorphose der Wikinger zu Normannen
Kapitel 3Aufbruch in die Welt
Die Normannen in England, Italien, Byzanz, Antiochia und Afrika
Kapitel 4Normanitas
Migration, Integration und Identität der Normannen
Kapitel 5Schüler und Lehrer Europas
Die Normannen versammelten die Gelehrten der Welt um sich
Kapitel 6Was wir von den Normannen lernen können
Entdeckergeist, Geduld und die Fähigkeit, das Beste aus allen Welten anzunehmen
Epilog
Sie kamen, um zu bleiben
Abbildungsnachweise
Literatur
Der Autor
Prolog
Was ist von einem Volk zu halten, dessen Anführer beschwerliche, Monate und mitunter Jahre dauernde Erkundungszüge über Land und Meer unternehmen, nur um sich – am Ziel die Macht im Streich erobert – dortselbst friedlich zur Ruhe zu setzen?
Was ist von einem Volk zu halten, das als Kriegerbande loszieht, ankommt, sieht, siegt und sich fortan lieber mit Gelehrten und Künstlern als mit Feldherren und Kämpfern umgibt?
Was ist von einem Volk zu halten, das Könige und Fürsten selbstbewusst und wagemutig herausfordert, aber nach der Eroberung kaum Interesse zeigt, dem Land sein eigenes Siegel aufzudrücken?
Eines ist klar. Die Normannen – denn so heißt das Volk, das uns Nachgeborene oft den Kopf schütteln lässt, weil uns ihre Handlungen angesichts der im Hochmittelalter üblichen Machtausübungsrituale so befremdlich scheinen – waren alles andere als Pazifisten. Als direkte Nachfahren der Wikinger waren sie räuberische und todbringende Kämpfer, wilde Gesellen mit Lust auf Schlagen, Morden und Zerstören. Doch sie hatten auch eine andere, eine glänzende Seite, und die soll in diesem Buch die rechte Würdigung erfahren.
Zur Einführung
Die Normannen – Popolo d’Europa
Im Hochmittelalter etwa zwischen 1050 und 1250 – Mediävisten denken bei dieser Einteilung vor allem an das christlich-lateinische Europa – erstrahlen mit den Normannen hier und dort helle Lichter im ansonsten stockfinsteren Europa. Die Normandie in Nordfrankreich wird ihnen zum Lehen gegeben, und sie verwalten sie klug und mehren ihren Reichtum. In England schaffen die administrativ begabten Nordmänner stabile, verlässliche Strukturen und bereiten damit den Boden für die Neuzeit. In Sizilien beendet eine kleine Truppe Normannen die Jahrhunderte währende muslimische Herrschaft. Doch nicht wie ihre Ahnen als alles vernichtender Terror Mundi! Noch über Generationen hinweg erstrahlen Süditalien und die Levante im Widerschein der arabischen Gelehrsamkeit und der Künste aus aller Welt, die sich an den die Freiheit des Geistes versprechenden Gestaden versammeln.
Treue, Noblesse, Heldenmut und Lerneifer
Bis nach Jerusalem und bis an die Nordküste Afrikas tragen die Normannen ihren Erkundungswillen, ihre Anpassungsbereitschaft, ihre Neugier und ihren unstillbaren Wissensdrang. Unter ihrer Regentschaft wird geforscht, gelehrt und gelernt, entstehen großartige Gedanken, Bauwerke und die Grundlagen der modernen Medizin. Der Preis dafür ist die Selbstaufgabe der Normannen als Volk. Sie verschmelzen freudigen Herzens mit den eroberten Landstrichen, wachsen mit den dortigen Gesellschaften zusammen und entschwinden mit der Zeit von der Landkarte der Völker. Allein der Begriff „normannische See“ für das Mittelmeer zwischen Sizilien und Griechenland kündet noch bis heute von ihrer großen Zeit.
Wie alles begann …
Ausgangspunkt der Geschichte der Piraten, die zu Staatengründern wurden, ist das Lehen, mit dem der fränkische König Karl III, zu Unrecht genannt „der Einfältige“, im Jahre 911 den immer wieder sein Reich verwüstenden Wikingern einen Teil seines Landes, eben die nachmalig sogenannte Normandie, überträgt. Verwandtschaftliche Bindungen, Abschwur von den heidnischen Göttern und Unterwerfung unter den Frankenkönig dünken den Wikinger Rollo und seine Nordmännern dafür kein allzu hoher Preis. Und wirklich trägt dieses Abkommen mehr als alles andere dazu bei, die Nachfahren des seeräuberischen Handelsvolkes von den Bräuchen ihrer Vorväter zu lösen und sie zu Europäern der ersten Stunde zu machen. „Diese Piraten, das Verderben mehrerer Generationen, erhielten endlich eine der schönsten Provinzen Frankreichs, das am meisten durch ihre Verwüstungen gelitten hatte. Die wilden Sitten verschwanden, der Geist zu großen Unternehmungen blieb bei Ihnen.“ (Depping, G.-B., 1835/2010, S.32)
Von ihrem Stützpunkt an der nordfranzösischen Küste ziehen sie nach Süditalien, an die nordafrikanische Küste, sammeln, katalogisieren und begünstigen Wissen und Bildung und fördern damit einen umfassenden Wandel im lateinischen Europa. Noch heute zeugen davon der vor dem Arsenal in Venedig aufgereckt sitzende, antike Steinlöwe, der von Athen hierher gebracht wurde, und das Bildnis des britannischen König Artus im Mosaik des Steinbodens der Kathedrale von Otranto in Apulien. Auf Sizilien ist bis heute die Sage verbreitet, König Artus tafle mit seinen Rittern im Inneren des Ätna. In Palermo bietet ein Puppentheater jeden Abend Ritterstücke. Die Marionetten tragen mittelalterliche Rüstungen.
Die dank ihrer gemeinsamen Wurzeln vernetzte Herrschaft der Normannen über Städte, Fürstentümer und Königreiche und ihre Lernbereitschaft führt zur Wiederentdeckung antiker Schriften. Klosterschulen und Universitäten blühen auf. Doch nicht nur kulturell bringen die Normannen Europa zum Licht. Sie entwickeln eine seit der Antike nicht gekannte soziale Mobilität, sowohl örtlich als auch den sozialen Stand betreffend, vermischen sich am neuen Ort bereitwillig mit den Eingesessenen und bringen ihnen, anstatt die unterworfenen Länder auf Dauer zu bekriegen, für lange Zeit Frieden. Zwei in der Menschheitsgeschichte herausragende Jahrhunderte lang bereiten die Normannen der Renaissance und dem friedvollen Zusammenleben der Völker Europas den Boden.
Wer war dieses aufbruchfreudige Volk?
Verweist man heute auf die Leistungen der Normannen, so erntet man nicht selten einen fragenden Blick. Waren das, mag dieser sagen, nicht Wikinger aus dem Norden, raue, kriegerische, blutrünstige Gesellen? Mitnichten, schüttelt ein anderer den Kopf, verweist auf die liebliche Heimat der Normannen im heutigen Frankreich und deutet auf den normannischen Bezwinger Englands, Wilhelm den Eroberer. Tatsächlich ist die Verwendung des Begriffes „Normannen“ in der Literatur – gelinde gesagt – verwirrend. Der Begriff leitet sich vom lateinischen nortmanni, northmanni oder nordmanni ab, und hierfür gibt es gleich vier unterschiedliche Lesarten, je nachdem, welcher kulturelle Blickwinkel angelegt wird:
Außerhalb Europas
verwendet die Wissenschaft ebenso wie die populäre Literatur den Begriff „Normannen“ vielfach als Synonym für das Raub- und Handelsvolk der Wikinger.
Im angelsächsischen Sprachraum
, besonders in der älteren Literatur, steht das Wort für die Gesamtheit aller im frühen Mittelalter in Skandinavien beheimateten nordischen Völker, zu deren größten Ethnien die Wikinger und Germanen gehören.
Einer dritten, bis heute
in Skandinavien
gebräuchlichen Definition folgend, bezeichnet „Normannen“ die in Norwegen lebenden Menschen.
Für das
deutschsprachige Europa
sind die Normannen die Menschen, die im Mittelalter die Normandie besiedelten, die nach ihnen benannte Küstenregion im Norden Frankreichs. Noch heute nennen sich die Bewohner des Landstrichs vom unteren Seine-Gebiet nördlich von Paris bis hinauf zur Halbinsel Cotentin nach ihrer historischen und regionalen Herkunft „les normands“.
Die Vielfalt der Begriffsverwendungen macht die Spurensuche außerordentlich schwierig. Wann immer das Wort „Normannen“ auftaucht, ist genau zu prüfen, welche Konnotation damit verbunden ist.
In diesem Buch werde ich den Begriff Normannen auf seine engste und präziseste Bedeutung beschränken. Danach bezeichnet es denjenigen Teil der Wikinger, die sich im Verlauf des zehnten Jahrhunderts in der heutigen Normandie in Nordfrankreich ansiedelte, sich mit der dort lebenden, adligen Bevölkerung meist fränkischen Ursprungs vermischte und sehr schnell zur Oberschicht emporstieg. So entstand ein neues Volk, „das zwar die Religion und Sprache seiner Vorfahren aufgab, aber Erinnerungen an skandinavische Wurzeln pflegte, durch die es sich von den anderen Franken/Franzosen unterschied.“ (Houben, H., 2012, S.119)
Die Normannen prägten das heutige Europa
Von einem geografisch relativ kleinen Gebiet aus – die heutige Normandie umfasst kaum mehr als 30.000 Quadratkilometer – nahmen die Normannen während des Hochmittelalters politisch und kulturell enormen Einfluss auf weite Teile Europas. Sie eroberten und besiedelten Süd- und Mittelengland, Sizilien und Süditalien, weite Landstriche an der nordafrikanischen Küste und Antiochia im Nahen Osten. Dank ihres starken kulturellen, ökonomischen und administrativen Einflusses ist ihnen ein großer Anteil an der historischen Entwicklung Westeuropas zuzuschreiben. Selbst wenn die von den Normannen gegründeten oder eroberten Fürstentümer und Staaten nur gut 200 Jahre Bestand hatten, so prägten sie doch die Welt ihrer Zeit bis tief hinein in die Gegenwart.
Indes, die Taten der Normannen finden bis heute noch nicht die volle Würdigung, die sie verdienen. Zuvörderst werden ihre Eroberungen gerühmt, ihr Mut im Kampf, ihr strategisches Denken und ihr diplomatisches Geschick im Umgang mit den ihnen unterlegenen Fürsten. Doch die wohl größte Leistung der Normannen bestand in der freiwilligen Aufgabe ihrer eigenen kulturellen Identität zugunsten einer Idee, die ihnen größer schien als sie selbst: über Jahrhunderte und wo auch immer auf der Welt hinweg akkumuliertes Wissen zusammenzutragen, zu fördern, zu verbreiten und für die Nachwelt zu bewahren. Damit verliehen die Normannen erstmals seit der Antike Bildung und Kultur einen höheren Stellenwert als Eroberung, Vernichtung und Tod. Für diese Überzeugung haben sie sich von ihren kriegerischen Wurzeln losgesagt und auch dort integriert, wo sie als Eroberer hätten gnadenlos über andere herrschen und ihre eigenen Zeichen setzen können.
Die Normannen liefern einen eindrucksvollen Beweis für die These des amerikanischen Evolutionsbiologen und Pulitzer-Preisträger Jared Diamond (Diamond, J., 2012, S.501ff.), nach der die Geschwindigkeit von Diffusion und Migration der Menschen einer der wesentlichen Gründe für das unterschiedliche Entwicklungstempo der Kontinente ist. Man könnte sein Argument sogar noch auf die Spitze treiben: Wären die normannischen Staatengründer zahlreicher und ihre Gegner weniger machtbesessen gewesen, dann hätten die weise gewordenen Krieger Europa schon vor einem Jahrtausend im Frieden vereinigen können. Möglicherweise wäre der Alten Welt viel Leid und Schmerz erspart geblieben.
Das zweite Zuhause
Die kulturelle und politische Metamorphose der Wikinger zu Normannen
Um die Normannen und ihre historische Leistung verstehen und kulturgeschichtlich einordnen zu können, sollte man zunächst die Wikinger studieren. (vgl. Stähli, A., 2014) Als Abkömmlinge dieses Volkes tragen sie seine Wurzeln mitten in das Herz Europas.
Die ab dem 8. Jahrhundert von Skandinavien nach Süden, Osten und Westen vorstoßenden Nordmänner sind ein mutiges und für den Handel wie für die Seefahrt gleichermaßen begabtes Volk. Doch sie sind auch furcht- und gnadenlose Krieger, die auf Raub aus sind und unbarmherzig brandschatzen und morden. Als Piraten und Plünderer sind sie der Schrecken der Küsten und Flussufer in ganz Europa, der Levante und Nordafrika. Seit dem Angriff auf das englische Kloster Lindisfarne im Jahr 793 haben es den Wikingern besonders die Kirchen mit ihren reichen Schätzen an Silber und Gold angetan. „Moderne Vorstellungen von einer zivilen Gesellschaft, deren Menschen human miteinander umgehen, waren diesen Skandinaviern fremd. Dagegen gehörte es zu ihrer traditionellen Vorstellung von Männlichkeit, dass ein freier Mann auch ein Krieger war. Moralische Skrupel hegten sie kaum (…). Außerdem existierte in Nordeuropa noch kein Staat, der die Plünderungszüge seiner Bürger unterbunden hätte.“ Mit diesen Worten analysiert der Wikingerexperte Arnulf Krause die geistige, moralische und organisatorische Verfassung der frühen Nordmänner bei ihrem Eintritt in die Geschichte des Mittelalters. (Krause, A., 2012, S.47)
Dem überraschenden und den Zeitgenossen ungeheuerlich brutal dünkenden Angriff auf Lindisfarne folgen schnell viele weitere Plünderungszüge. Bevorzugtes Ziel sind die nahen britischen Inseln, doch auch die übrigen Küsten Europas werden nicht verschont. Wo es ihnen gefällt, verweilen die Nordmänner längere Zeit. Wer anschließend reich an Schätzen und Erfahrungen in die Heimat zurückkommt, gewinnt an Ansehen und kann sich von den „heimskr maðr“, den Daheimgebliebenen, absetzen. (vgl. Stähli, A., 2014, S.62f.)
Die ersten Nordmänner in der Normandie – sie kommen, sehen und plündern
Auch das Frankenreich im Herzen Europas bleibt nicht verschont. 799, ein knappes Jahr vor der Kaiserkrönung Karls des Großen, „lodern Flammen erstmals aus einem fränkischen Kloster: Saint Philibert auf Noirmoutier, einer Insel in der Loiremündung“. (Rademacher, C., 2012, S.709) Bald werden nicht nur Kirchen und Klöster angegriffen, sondern ganze Städte, die leicht erreichbar am Flussufer liegen und den blitzartigen Überfällen der Nordmänner kaum Widerstand entgegensetzen können. In der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts trifft es Nantes (834) und Rouen (841). Die Stadt Paris wurde von 845 an sogar wiederholt angegriffen und 885, 886 über viele Monate hinweg belagert.
Abbildung 1: Invasion und Plünderung der Wikinger im 9. Jahrhundert in Frankreich
Ab 852 überwintern die Wikinger in der heutigen Normandie, ein erster Schritt auf dem Weg zur längerfristigen Präsenz. Die fränkischen Könige, deren Macht Mitte des 9. Jahrhunderts zu bröckeln beginnt, haben den Eindringlingen wenig entgegenzusetzen. Weitgehend ohnmächtig versuchen sie, den Schaden durch die Zahlung von Schutzgeldern in Grenzen zu halten. Im Jahr 845 zahlen die Franken den Wikingern 7.000 Pfund Silber für den Abzug aus Paris (andere Quellen sprechen von 6.300 Pfund), und im Jahr 866 bekommen die Nordmänner 4.000 Pfund Silber im Gegenzug dafür, dass ihre Schiffe die Seine verlassen.
Besonders heftig wüten die Wikinger – in diesem Fall ein großes Heer von Dänen mit Söldnern aus Norwegen, England und wahrscheinlich auch gedungenen Franken – in den Jahren ab 879. Von mehr als 10.000 Kriegern, vermutlich begleitet von einem Tross aus Frauen und Kindern, berichten zeitgenössische Chronisten. Stets auf der Suche nach Beute und Reichtümern, ziehen sie heuschreckengleich durch fränkisches Gebiet, rauben Klöster aus, zerstören eine Stadt nach der anderen und richten verheerenden Schaden an. Anders als in England machen die Skandinavier aber im Frankenreich keine Anstalten, längerfristig an einem Ort zu bleiben und die eroberten Ländereien selbst zu nutzen und zu beherrschen. Sie kommen, sie plündern, und sie ziehen weiter.
Die Wikinger unterliegen erstmals den Franken
Schließlich, nach Jahren ungesühnter Wiederholungstaten, gelingt es den Franken doch, den dreisten Eindringlingen Widerstand entgegenzusetzen. Klöster werden ins sichere Hinterland verlegt, Städte mit Steinbauten befestigt. Neu gebaute Brücken erschweren den Wikingern die Fahrt die Flüsse hinauf und dienen als Verteidigungslinien. Die für beide Seiten zermürbende Belagerung von Paris bringt einen Wendepunkt. Odo von Paris gelingt es 886, die Belagerung seiner Stadt aufzuheben. Dieser Sieg trägt nicht unerheblich dazu bei, dass er nur zwei Jahre später zum ersten nichtkarolingischen König des Westfrankenreiches gewählt wird (und damit das karolingische Zeitalter endgültig der Vergangenheit anheim gibt). Für kurze Zeit ziehen sich die Wikinger aus dem Seine-Becken zurück. An anderen Orten führen sie das Rauben und Plündern ungehindert fort.
Um die Jahrhundertwende herum setzen die Franken verstärkt auf diplomatische Lösungen. Denn die Wikinger beschränken sich nicht mehr nur auf sommerliche Raubzüge, sondern beginnen im Norden des Frankenreichs zu siedeln. Der Grund: Die räuberische Piratenseele bildet nur einen Teil ihrer skandinavischen Identität. Als kluge und technisch versierte Seefahrer bauen die Wikinger nicht nur die besten Schiffe ihrer Zeit, vielmehr entdecken und besiedeln sie auch gern neues Land, wo immer sich passende Gestade finden. Island und Grönland werden so kulturell zu Teilen Skandinaviens; ein Einfluss, der bis in unsere Zeit nachwirkt. Der Entdeckergeist der Wikinger führt sie als erste Europäer in Neufundland auf amerikanischen Boden. Vermutlich sind die charakteristischen Wikingerschiffe noch weiter entlang der amerikanischen Ostküste nach Süden gesegelt – vielleicht sogar bis in die Gegend des heutigen New York oder noch weiter südlich. Geforscht wird darüber bis zum heutigen Tag. (vgl. u.a. Horwitz, T., 2010)
Weniger bekannt, aber für ihren historischen Beitrag ungleich bedeutsamer ist die Geschäftstüchtigkeit der mittelalterlichen Skandinavier. Ihr Handelsnetz erstreckt sich über ganz Europa bis hinter den Ural, Kleinasien und nach Nordafrika. Über zentrale Standorte in Nord- und Osteuropa, allen voran Haithabu, Ribe, Helgö, Kiew und Nowgorod, errichten sie eine komplexe logistische und kommerzielle Infrastruktur. In Osteuropa entwickelt sich durch die Vermischung der Skandinavier mit den einheimischen Slaven ein neuer Volksstamm, der bis heute zu den mächtigsten der Welt zählt: die Rus.
Karl III und Rollo schließen einen Pakt
Im 9. Jahrhundert unterscheidet sich das Auftreten der Wikinger in der Normandie insgesamt kaum von ihrem Verhalten im übrigen Europa: Wo immer sie eine lohnende Beute erspähen, kämpfen, rauben und plündern sie. Größere Siedlungen sind meist von kurzer Dauer und dienen lediglich als Überwinterungs- und Vorratslager: mithin eine logistische Basis für Überfälle. Trotzdem lassen sich natürlich auch an den Ufern der Seine und der weiteren Umgebung immer wieder einzelne Dänen, Schweden und Norweger aus dem Wikingerheer nieder und gründen eigene Haushalte. Einige Wikinger – zumal aus dem Kreis der Anführer – vermählen sich mit Frauen aus dem fränkischen Adel.
Das Jahr 911 bringt die Wende
Die entscheidende Veränderung im Verhältnis zwischen Franken und Wikingern bringt das Jahr 911. Angeführt von dem seines Landes verstoßenen norwegischen Adligen Hróflr, der von fränkischen Chronisten meist „Rollo“, zuweilen auch „Rolf“ und von sich selbst nach seiner Taufe „Robert“ genannt wird, zieht ein großes Heer von Wikingern mordend und plündernd den Unterlauf der Seine entlang. Auch Rouen fällt ihnen auf ihrem mehrere Jahre lang währenden Raubzug wiederholt zum Opfer. Doch die fränkischen Truppen leisten Widerstand und können dabei auf die zwischenzeitlich verbesserte Infrastruktur mit Stadtbefestigungen und Brücken bauen. Vor Chartres halten sie das Wikingerheer an, und nach tagelangen Kämpfen müssen sich die Nordmänner geschlagen geben. Mehr als 6.000 Wikingerkrieger finden den Tod. Karl III, genannt „der Einfältige“, nutzt die Schwäche der Skandinavier und bietet ihrem Anführer Land an, um ihn als Vasallen an sich zu binden. Der im Jahr 911 zwischen Karl III und Rollo in Saint-Clair-sur-Epte geschlossene Vertrag gilt bis heute als Geburtsurkunde der Normandie und ihres Herrschergeschlechts, der Normannen.
Überliefert ist das Abkommen durch den 965 geborenen Chronisten Dudo von Saint-Quentin, der im 11. Jahrhundert von den Geschehnissen berichtet. Ihm zufolge, so erläutert der Historiker Hubert Houben, „sei König Karl gar keine andere Wahl geblieben, als mit Rollo, dem ‚Herzog der Heiden‘, ein Friedens-, Beistands- und Freundschaftsbündnis zu schließen.“ (Houben, H., 2012, S.12) Karl weiß nämlich durchaus, dass die Wikinger die bei Chartres erlittene Schmach nicht auf sich beruhen lassen werden. Er fürchtet um den Wohlstand seines Landes und die Sicherheit seines Volkes.
Die kluge Einbindungspolitik gelingt und wird mit der Taufe des Wikingers, der den christlichen Namen Robert annimmt, und einem Heiratsversprechen an die noch kindliche Königstochter Gisela besiegelt. Wie Dudo weiter bezeugt, wird Rollo in diesem Vertrag ein Landstrich zwischen dem Ärmelkanal und weit südlich von Rouen gegeben. Im Gegenzug verpflichtet sich der Wikinger, fortan Frieden zu halten, keine weiteren Plünderfahrten durchzuführen, als treuer Vasall dem König zu dienen und die Verbreitung des christlichen Glaubens zu fördern.
Was Dudo nicht weiß: Als die Schenkung erfolgt, lebt Rollo schon seit mehr als 30 Jahren an der unteren Seine. Er pflegt enge Verbindungen zum dort lebenden Adel und hat schon 890 die Grafentochter Poppa aus Bayeux geheiratet. Deren Familie gehört zum Geschlecht der Uroachinger. Gemeinsam mit ihr hat er zwei Kinder, den Sohn Wilhelm und die Tochter Gerloc, die später den christlichen Namen Adele bekommt. Rollo ist also mitnichten gerade erst angekommen, sondern bereits tief in der fränkischen Elite verwurzelt. Dass er nun ein Gefolgsmann des fränkischen Königs geworden ist, dürfte die familiären Bande auch politisch aufgewertet haben.
Abbildung 2: Karl der Einfältige und Rollo schließen den Vertrag von St-Clair-sur-Epte
Aus Feinden werden Partner
Sich die gefährlichen Wikinger durch großzügige Schenkungen zu Freunden zu machen, ist keine neue Idee. Schon Ludwig der Fromme (778 bis 840) und Lothar I (795 bis 855) überlassen dem Wikinger Harald Klak Land in Friesland. Auch der Nordmann Gottfried bekommt von Karl III Ländereien geschenkt, kann aber den Erwartungen des Königs nicht gerecht werden und scheitert als Herrscher in Friesland kläglich. Letztlich erfüllt keine der früheren oder späteren Schenkungen ihren Zweck, nachhaltig Frieden zu schaffen.