Die Asche meiner Tochter - Ramona Onwuka - E-Book

Die Asche meiner Tochter E-Book

Ramona Onwuka

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Beschreibung

Tjark de Vries ist ein alter Hase der Mordkommission in der Stadt Sneek. Seit dem Tod seiner Frau Adda lebt er nur noch für die Arbeit. Auf der Jagd nach einem psychisch kranken Serienmörder verschwindet seine Tochter Luca auf dramatische Weise. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Tjark ist bereit, jede Grenze zu überschreiten und jedes Gesetz zu brechen, um seine Tochter zu retten und den Täter zu ergreifen.

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Ein Kind das zur Abhärtung in die Schlachtabfälle der letzten Hirschjagd gesteckt wird, versucht sich ein Leben lang zu reinigen.

Prolog

Der junge Sohn war zwar nicht ungehorsam, aber er hat nicht richtig gehandelt. Es war dem Vater ein Dorn im Auge, das sein Zögling zögerte, wenn er Wild erlegen sollte. Auf der Jagd sollte er schnell und sicher handeln. Es durfte keine Ausnahmen geben, er sollte nicht darüber nachdenken ob eine Hirschkuh schwanger ist oder nicht. Es galt die Familie zu versorgen, mit wertvollem Fleisch. Als zukünftiger Ernährer seiner eigenen Familie musste er lernen, Entscheidungen zugunsten der Familie zu treffen. Dies galt für die Jagd sowie auch im späteren Geschäftsleben. Der Vater peitschte immer mit dem Gürtel auf ihn ein. Er sollte für seine Fehler bezahlen, sowie im echten Leben. Eine geschäftliche Fehlentscheidung aus Mitgefühl, wurde mit roten Zahlen bestraft. Aber der Sohn war einfach zu weich, ja fast schon weiblich bei seinen Entscheidungen. Als einziger Sohn und Erbe seines Imperiums durfte der Vater das einfach nicht zu lassen.

Eines Tages erlegte der Vater zwei Hirsche und ein Wildschwein, dessen Eingeweide er wie immer in einen Trog aufbewahrte für die Hunde. Der alte Trog stank nach Verwestem, auf dessen Rand sich im Sommer immer Maden tummelten.

Wie immer sah der Sohn mit blassem Gesicht dabei zu, wie der Vater die Tiere ausnahm. Es war ihm zu wieder dabei zu zusehen, er musste sich immer beherrschen nicht zu erbrechen. Was dem Vater nicht entging.

An diesem Tag hatte der Vater sehr schlechte Laune und bei dem Ausweiden viel Alkohol getrunken. Er nahm seinen kleinen Sohn bei den Schultern, schrie ihn an und schüttelte ihn. Dann riss er ihn vom Boden und stellte ihn in den Trog voller Eingeweiden. Der Sohn übergab sich, er weinte und wollte wieder heraus, aber der Vater schloss den Trog mit einem Deckel und verriegelte ihn. Er sollte abgehärtet werden, vorbereitet auf sein zukünftiges Leben als Geschäftsführer der Firma seines Vaters.

Für eine kurze Zeit stemmte der kleine Junge sich gegen den Deckel, bis zu der Hüfte versunken in Eingeweiden und seinem Erbrochenem. Er weinte, die Luft wurde immer weniger, bis er das Bewusstsein verlor und zusammensackte.

Es dauerte die halbe Nacht, in der seine Mutter den Vater bekniete, ihr zu sagen wo der geliebte Sohn sei, aber er schwieg.

Die Mutter ahnte schlimmes und wartete bis ihr Ehemann eingeschlafen war. Mitten in der Nacht rannte sie über den Hof, um im Dunkeln den stinkenden Trog zu öffnen. Sie glaubte ihren Sohn leblos darin vorzufinden, sie schrie während sie den kleinen Körper aus den Innereien zog. Immer wieder küsste sie ihren kleinen Sohn und schüttelte ihn, bis er sich regte. Ihr Ehemann war schon von Anfang an grausam gewesen. Aber sie konnte nicht entkommen, konnte ihn nicht verlassen. Er würde sie finden und töten, das hat er ihr oft gesagt. Doch seitdem ihr Sohn geboren wurde, wurde alles schlimmer. Sie beschützte ihn so gut es ging. Er sollte all die Schläge und Demütigungen nicht mitbekommen. Die beiden hatten eine tiefe liebevolle Beziehung. Wann immer ihre Situation aussichtslos war und sie ihren kleinen Sohn im Arm hielt, erschien die Welt wieder in Ordnung. Es gab nichts und niemanden auf dieser Welt, was sie so sehr liebte wie ihren kleinen Sohn. Sie hat immer versucht ihren kleinen Jungen zu beschützen, was einfach nicht mehr möglich war. Am heutigen Tag hat ihr Mann es maßlos übertreiben und den Jungen fast zu Tode gequält. Ihre Mutter Gefühle besiegten die große Angst die sie mit sich trug. Angst davor zu fliehen und hatte Angst davor erwischt zu werden. Was wäre, wenn er sie dann aufspüren würde. In dieser Nacht dachte sie nicht weiter oder fragte sich was er tun würde. Sie nahm ihren kleinen Jungen auf dem Arm und rannte in den nächtlichen Wald. Sie rannte Stunden, bis hin zur Erschöpfung. Es war ihr nicht möglich auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu machen. Und so setzte sie sich an einen Baumstamm, den kleinen mit ihrer Strickjacke umhüllt auf ihren Arm. Er schlief und zitterte gleichzeitig. Die junge Mutter weinte fürchterlich, sie fragte sich ob ihr kleiner Junge jemals vergessen konnte, was er in seinem jungen Leben schon ertragen musste. Sie lauschte ängstlich in die dunkele Nacht hinein, sie hatte Angst davor, verfolgt geworden zu sein. Irgendwann hat ihr Körper nachgegeben und sie ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Es war morgens in der Dämmerung, als sie durch das Bellen der Jagdhunde geweckt wurde. Ihr ganzer Körper schmerzte vor Anstrengung in der letzten Nacht. Die Kälte hat sich wie Säure durch ihre Knochen gefressen und lässt sie erstarren. Sie weckt Ihren Sohn, schüttelt ihn ein wenig, immer wieder sagt sie seinen Namen. Beschwerlich, öffnet er seine von Blut verschmierten Augen, er stinkt bestialisch am ganzen Körper. Das bellen der Jagdhunde wird zunehmend lauter und die junge Mutter weiß, dass sie nicht weglaufen kann. Der Geruch nach Aas wird die Hunde direkt zu Ihnen führen. Mit zittrigen Knien versucht sie aufzustehen, sie weiß, dass sie bestraft werden wird. Er lässt keine Gnade walten und die Strafe wird hart ausfallen. Die Kleidung des Jungen klebt durch das getrocknete Blut an einigen Stellen an ihrem Rock. Niemals, wird er das Geräusch ihrer reißenden Kleidung vergessen.

Niemals, wird er den verzweifelten Blick in den Augen seiner Mutter vergessen.

Niemals, wird er ihre Schreie vergessen.

Als sie sich verzweifelt um seinen kleinen Körper klammerte, ihn vor den tödlichen Bissen zu schützen, die ihren Rücken zerfleischten.

Es ist für Tjark de Vries nichts Neues, morgens um sechs aus dem Bett geschellt und zu einem Leichenfund gerufen zu werden. Am Ufer des Houkesleat, am Stadtrand von Sneek wurde ein nackter Körper von einem Jogger gesichtet, der mit seiner Dogge unterwegs war. Diese Landschaft ist im November öde, eine trostlose Gegend aus Laub und Nebel, dessen karge Bäume sich entlang des Flusses erstrecken.

Obwohl es ziemlich kalt ist, hat es aber noch nicht gefroren. Tjarks Lederschuhe versinken im faul stinkenden Ufermatsch als er nähertritt.

Die Spurensicherung hat den Leichnam noch nicht bewegt, jeder weiß, dass Tjark den Fundort so sehen möchte, wie er vorgefunden wurde.

Der Bereich ist großräumig abgesperrt, das Flattern des rot weißen Bandes ist das einzige Geräusch, welches zu hören ist. Es scheint, als würde der Fluss stillstehen und der Nebel darauf jedes Geräusch verschlucken würde.

Tjark geht in die Hocke, um etwas besser sehen zu können, prägt sich jedes Detail ein.

Die Leiche schwimmt auf dem Bauch, hat sich im Schilf verfangen und ist nackt.

Es ist wahrscheinlich ein Mann, schwarze lockige Haare, sein Körper ist gebräunt. Er ist sehr behaart und nicht tätowiert, der Körper ist schon ziemlich aufgedunsen und schätzungsweise seit zwei Tagen im Wasser.

„Holt ihn da heraus.“

Tjark erhebt sich und geht einige Schritte zurück.

Wortlos steigen zwei Polizisten mit Taucheranzügen die Böschung herunter und bewegen den schlafen Körper. Sie packen ihn rechts und links an den Armen und ziehen ihn durch das hohe Schilf auf die Wiese wo sie ihn auf den Rücken drehen.

„Oh, mein Gott.“

Einer der Taucher wendet sich ab, um den Fundort durch sein Erbrechen nicht zu verschmutzen.

Alle anderen bleiben Wortlos stehen und schauen sich das Grauen an.

Tjark geht wieder in die Knie, um den geschändeten Mann zu betrachten.

Ihm wurden das Gesicht und die Finger abgeschnitten, die Zähne wurden auch entfernt. Es ist ein grausiger Fund, doch Tjark berührt das nicht, sein Puls beschleunigt sich nicht, es regt ihn nicht mehr auf.

Einzig und allein das offene Gesicht erlangt sein Augenmerk.

Der saubere Schnitt, mit dem das Gesicht wie eine Maske abgenommen wurde. Der dadurch entstandene direktere Blick, auf ein komplett zerstörtes Gebiss, gibt freie Sicht bis in den blutverstopften Rachen.

Alle Finger sind ebenfalls sorgfältig abgetrennt, so dass die verstümmelten Handballen wie Missbildungen aussehen.

Das war keine tat aus dem Affekt oder aus Wut heraus, der Mörder wusste genau was er Tat und er hat es genossen.

„Faszinierend.“

Tjark erhebt sich und schaut niemanden direkt an.

„Bringt ihn ins Institut.“

Ohne irgendeine Antwort oder Reaktion zu erwarten dreht er sich um und geht zu seinem Wagen. Während er sich eine Zigarette anzündet, holt er sein Handy heraus und gibt Sneek ein. Er zoomt den Ort heran an dem er gerade steht, verkleinert das Bild wieder und schiebt die Karte nach rechts und links.

Er ist zwar in Sneek geboren und aufgewachsen, doch hier in dieser Gegend ist er noch nicht häufig gewesen. Er war noch nie der Typ, der gerne spazieren ging oder sich im Freien aufhielt.

Bis auf eine Zeit in seinem Leben, in der er sehr glücklich war. Seine Gedanken schweifen ab, er sieht eine junge bildhübsche Frau auf einer Picknickdecke mit einem kleinen Baby im Arm. Der schwere Duft der Blumenwiese drängt sich in sein Gedächtnis.

„Herr de Vries?“

Abrupt aus seinen Gedanken gerissen, verdrängt er, an was er sich sowieso nicht erinnern wollte.

„Philipp von Heinitz, was verschafft mir die Ehre?“

Ein junger Kommissar aus Düsseldorf, aalglatt, im blauen Maßanzug, auf Karriere Trip steht vor Tjark.

„Das ist der dritte Mord in dieser Gegend der nicht aufgeklärt wurde.

Ich bin hierher beordert worden, um sie zu unterstützen.“

Tjark zieht noch einmal von seiner Zigarette und wirft sie zu Boden, bevor er wortlos zu seinen alten Wagen geht und losfährt.

Es wurde ihm bereits von höchster Stelle mitgeteilt, dass er Unterstützung aus Düsseldorf zu erwarten hat.

Dieser junge Mann war ihm von der ersten Sekunde an zu wieder, er hat genug von diesen jungen Besserwisser Typen kennen gelernt. Sie sind alle gekommen und gegangen.

Wie jeden Morgen, steuert er auch heute sein Stamm Café am Stadtrand an. Bewusst verdrängt er die Gedanken die in ihm immer wieder aufkeimen. Er will einfach sich einfach nicht an seine Vergangenheit erinnern. Auch die gerade erst entdeckte Leiche möchte er für einen Augenblick vergessen. Er stellt das Radio auf volle Lautstärke um alles in seinem Kopf zu übertönen. Nach zehn Minuten hält er auf einen der drei Parkplätze vor dem kleinen Café. Es muss wohl in vergangener Zeit ein Tante Emma laden gewesen sein. Das kleine weiße Häuschen ist zwar sehr alt, wirkt aber durch die liebevolle Pflege und den unzähligen Rosenbüschen im Vorgarten sehr gemütlich.

Süßer Duft von frischem Gebäck durchströmt das kleine privat geführte Café. Weiße Tischdecken und lila Märzveilchen zieren die kleinen Tische.

Hinten links an der alten Mahagoni Theke, wo nie jemand sitzen möchte, steht schon Tjarks Lachs-Bagel neben der großen Keksdose und seine Tageszeitung.

So wie er sich setzt kommt auch schon Britta und bringt ihm einen großen, schwarzen Kaffee.

Niemand der Bedienung spricht ihn hier an, keiner grüßt ihn und niemand sieht in seine Richtung. Im Laufe der Zeit hat die kleine Belegschaft gelernt, dass er seine Ruhe haben möchte.

Er sieht einfach zu düster aus und hat immer schlechte Laune. Sein brauner ausgeblichener Mantel, die zerzausten braunen Haare und der Bart lassen ihn wie einen Obdachlosen aussehen. Britta, so wie die ganze Bedienung weiß, das Tjark einfach ein Einzelgänger ist. Der einzige Grund, weshalb Britta ständig in seine Nähe kommt. Ist die große Keksdose, in der das Gebäck liegt. Die fertigen Tassen mit Kaffee, Milchkaffee und allen anderen heiß Getränken werden von der Küche aus, dort auf den Tresen gestellt. Damit Britta auf jeder Untertasse einen frisch gebackenen Keks legen kann, bevor sie das Getränk serviert. Dabei achtet sie immer darauf, Tjark nicht zu beachten, obwohl sie unmittelbar neben ihm steht.

Immerhin gibt er jedes Mal ein gutes Trinkgeld, womit ihm von der kompletten Belegschaft, seine stätig schlechte Laune verziehen ist.

Britta ist fünfundvierzig Jahre alt und sieht noch sehr gut und junggeblieben aus. Sie hat langes blondes Haar, meistens trägt sie einen Pferdezopf und hat große hellblaue Augen. Tjark glaubt das Britta ihn mag, aber er ignoriert sie demonstrativ. Er will einfach keine Frau mehr in sein Leben lassen.

Zu groß war der Verlust als Adda starb.

Nach seinem Frühstück legt er das Geld auf den Tresen und verschwindet wortlos. Für einen kurzen Moment denkt er an Brittas wunderschönen Augen, schüttelt den Gedanken aber sofort wieder ab.

Tjark fährt direkt zu dem Institut, in der Hoffnung, dass sie schon erste Ergebnisse haben, irgendetwas, irgendeinen Hinweis. Die Fahrt dauert nur ein paar Minuten, in denen er über die letzten zwei Fälle in dieser Gegend nachdenkt. Die anderen beiden Leichen lagen auch im Wasser. Es waren allerdings junge Frauen, denen die Gesichter und Finger genauso abgetrennt wurden, wie bei der heutigen Leiche. Tjark kann sich keinen Reim daraus machen, es gibt keine Spuren und DNA Tests haben auch nichts ergeben. Diese Frauen scheinen allein gewesen zu sein, keine Freunde oder Familienangehörigen, denn niemand vermisst sie. Der Täter muss sie sorgfältig ausgesucht haben.

Es gibt keine Kampfspuren an den Körpern der Frauen, er muss ihnen vertraut gewesen sein. Da sie keine Gesichter mehr haben kann man nicht sagen ob sie attraktiv waren.

Vielleicht waren sie Außenseiter, Einzelgänger, viel mit sich selbst beschäftigt. Aber wo hat er diese Frauen dann angesprochen? Es gibt bei beiden Frauen Spuren von Äther in der Lunge, er hat sie betäubt und dann bei lebendigem Leibe verstümmelt.

Das muss in einer privaten, abgelegenen Sphäre geschehen sein. Wo er ohne gesehen zu werden, eine nackte Leiche in seinen Wagen packen konnte, um sie zu dem Fluss zu bringen. So wie er auf den Parkplatz fährt, reißen seine Gedanken ab, konzentriert sich auf den Blödmann, der da gerade unmöglich langsam ausparkt.

Das Institut sieht von außen genauso öde aus wie von innen, man möchte meinen es wurde in der ehemaligen DDR gebaut worden. Ein grauer Betonklotz an die orange Farbe abbröckelt.

Ärgerlich parkt er in der gerade frei gewordenen Parklücke und steigt aus. Er flucht in sich hinein, denn er hat es sehr Eilig. Er sprintet die paar Stufen des Haupteinganges hinauf und grüßt den Pförtner mit einem Kopfnicken. Benutzt seine Zugangskarte und öffnet die verriegelte Tür, die laut vor sich her Summt. Der Flur den er betritt, hat graue Wände die von den Postwagen voller schwarzer Kratzer sind.

Der Boden besteht aus uralten Vinyl Fliesen, auf denen orange Plastik Stühle an den Wänden stehen. Die Neonröhren unter der Decke tauchen den Flur in ein gruseliges Licht, in dem man gleich einen Zombie erwarten würde. Tjark sieht, dass alles nicht mehr, in Gedanken verloren läuft er durch die graue Schwingtür mit Sicherheitsglasfenstern und landet im Obduktionsaal. Jemand reicht ihm Pinimenth die er sich unter die Nase reiben soll. Ohne diesen Menschen auch nur zu beachten, geht er an ihm vorbei direkt zum Tisch wo der Leichnam liegt. Der Körper wurde bereits geöffnet, mehrere Organe entnommen, Proben waren bereits im Labor und wurden auf Fremdstoffe untersucht. Leichen riechen nicht sonderlich, solange man sie nicht öffnet. Diese Leiche riecht sehr stark, da sie im Wasser gelegen hat und der Verwesungsprozess durch die großen Wunden beschleunigt wurde. Tjark war schon bei genug Obduktionen, um zu wissen, dass man sich kein Pinimenth oder sonstiges unter die Nase schmiert, um irgendwelche Gerüche zu übertönen. Denn gerade diese Gerüche können sehr aufschlussreich sein. Gewisse Krankheiten oder Vergiftungen riechen anders, als bei einem normal gestorbenem gesunden Mensch.

Aber auch diese Leiche weißt keine Spuren von Gift auf. Es gibt auch keine Kampfspuren an seinem Körper, was merkwürdig ist. Denn ein Mann von 1,92 cm, 120 Kilo und sehr sportlicher Statur, sollte sich zu wehren wissen. Die Frage war ganz einfach, wieso hat er sich nicht gewehrt? Wie hat der Mörder so einen Riesenkerl „ad actum“ überwältigt, ohne Gewalt anzuwenden?

„Gibt es irgendwelche Besonderheiten bei der Leiche?“ fragt Tjark.

Der Pathologe antwortet ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Das Gesicht wurde abgetrennt, Zähne sowie Finger wurden entfernt“, antwortet van Dijk.

Er sagt es mit einem gewissen Unterton den Tjark nicht überhören kann.

„Nun werden sie mal nicht zickig, so habe ich das nicht gemeint.“

Tjark geht um den Leichnam herum, um irgendetwas anderes fest zu stellen.

„Nichts, rein gar nichts, weder kratz, schürf oder sonstige wunden. Es ist der gleiche Täter, wir haben jetzt drei, zwei Frauen und ihn hier und nichts, keine Spuren!“

„Außer dem Herzinfarkt, den auch alle anderen Leichen vor ihrem Tod hatten.“

„Es ist ja kein Zufall, wie hat der Mörder es geschafft. Wie konnte er einen Herzinfarkt herbeiführen, ohne Spuren zu hinterlassen?“

So wie der Pathologe antworten möchte, schwingen die beiden Türen auf und der junge Polizist aus Düsseldorf tritt ein. Er nimmt sich direkt Pinimenth, welches er großzügig unter die Nase schmiert. Dies ist sein erster echter Fall und obwohl er im Studium ein paar Leichen obduzieren musste, glaubt er sich niemals an den Geruch zu gewöhnen. Die Leiche auf dem Tisch ist aber nicht der einzige Grund weshalb er hier ist und auch nicht der Grund für seine immense Aufregung.

„Es wurde gestern Nacht eine Leiche in Amsterdam gefunden“, platzt Phillip mit der Sprache heraus.

Tjark scheint einen Moment verwundert zu sein.

„Ja und? Was haben wir damit zu tun? Das fällt doch gar nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.“

Phillip zeigt wirkliches Mitgefühl, seine Augen weiten sich und werden glasig, seine Stimme klinkt dünn.

„Sie müssen hin und die Frau identifizieren.“

„Wieso ich?“

Der Polizist der Phillip begleitet hat schaut ängstlich auf den Boden.

Phillip sieht Tjark so hilflos an, als hätte er etwas Schlimmes angestellt.

Die Luft in dem Raum wird auf einmal sehr stickig und schwer, der Leichengeruch wird plötzlich so penetrant, dass Tjark würgen muss.

„Luca?“ hört Tjark sich, aus seinem Mund fragen.

Der Schall seiner Stimme rauscht an ihm vorbei. Phillip und der junge Polizist schauen Tjark so entsetzt an, dass er begreift, dass es so ist.

Das grelle Licht in der Pathologie scheint viel heller als zuvor, es knackt und piept energisch in seinen Ohren. Tjark wankt einen Schritt auf die Leiche zu, alle hier im Raum reden durcheinander. Tjark hört aber nichts mehr, sein Herz rast, seine Hauptschlagader schwillt an.

Unerträglicher Schmerz durchfährt seinen Körper, bis er das Bewusstsein verliert und zusammenbricht.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf einer Liege im Nebenzimmer.

So wie er sich aufrafft, stürzt er auf seine Knie und übergibt sich. Der grelle Ton in seinem Ohr zieht durch seinen ganzen Körper, scheint an jeder Faser seiner Nerven zu reißen. Er streckt den Kopf nach oben um atmen zu können, doch nichts passiert. Seine Lungen haben vergessen was sie tun sollen. Sein Gesicht verzieht sich zu einer gequälten hässlichen Fratze, die schmerzt. Taumelnd sieht er eine junge Frau auf sich zukommen, sie trägt einen weißen Kittel und Kugelschreiber stecken in Ihrer Westentasche. Sie bindet seinen Arm so schnell ab und sticht zu, dass es schmerzt. Sie jagt etwas in seine Blutbahn von dem er keine Ahnung hat was es ist.

Tjark will schreien, droht aber zu ersticken, sein ganzer Körper bäumt sich auf, bis er es spürt. Diese beruhigende Hitze in seiner Blutbahn, irgendetwas das seine Muskeln entspannt und seinen Körper lahmlegt.

Er schnappt nach Luft, seine Lungen bewegen sich wieder und füllen sich mit dem schmerzhaft ersehnten Sauerstoff. Das piepen in seinen Ohren verschwindet langsam und er wird ganz ruhig. Es fühlt sich an als würde er schweben, liegt seelenruhig in den Armen der Krankenschwester, die ihm liebevoll das nass geschwitzte Harr aus der Stirn streicht.

Tjark denkt an Luca.

„Ich muss nach Amsterdam, ich soll sie identifizieren, aber das ist unmöglich, es ist nicht mein kleines Mädchen.“ Benommen redet er vor sich her.

Er weiß nicht wie viele Jahre er sie schon nicht mehr gesehen hat.

Nach dem Tod seiner Frau hat er eine Nanny eingestellt, sich in die Arbeit gestürzt. Luca vernachlässigt und bevor er es erkannte, war es bereits zu spät. Er hat sie verloren, sie war mit sechzehn weg. Tjark hat sie zwar schnell aufgespürt, die komplette Polizei von Sneek war daran beteiligt. Aber sie wollte nicht zurück, hat ein Kinderheim bevorzugt.

Tjark machte es sich leicht und nahm ihre Entscheidung einfach an.

Tränen laufen ihm jetzt über das Gesicht, er kann nicht aufhören zu weinen.

Selbst als Adda starb, konnte er nicht weinen.

Nun fließen die Tränen unaufhörlich, die Schwester bleibt mit ihm am Boden sitzen und hält ihn einfach nur fest im Arm. Benommen und in Gedanken verloren, lässt er sein Leben Revue passieren. Lässt Gedanken zu, die er seit dem Tod seiner geliebten Frau nicht zugelassen hat.

Gegen Abend lässt die Wirkung des Medikamentes nach. Die Schwester sitzt immer noch mit ihm am Boden und hält ihn wie eine Mutter im Arm. Es ist Tjark plötzlich sehr peinlich, stundenlang und weinend in ihren Armen gelegen zu haben. Die Krankenschwester hat genügend Erfahrungen gesammelt um sein Unwohlsein zu bemerken.

„Geht es wieder? Können sie aufstehen?“

Mit steifen Gelenken hilft sie Tjark sich aufzurichten, begleitet ihn zur liege, wo er Platz nimmt.

„Ich geh eben und hole etwas zu trinken, ich komme gleich wieder.“

Sagt sie so leise das Tjark es kaum hören kann. Dann verlässt sie still den Raum und lässt ihn wieder allein.

Die ganze Zeit über hat er sich eingeredet, dass es nicht seine Tochter ist. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass es nicht Luca ist und dieser Gedanke gibt ihm Kraft.

Wie Ferngesteuert steht er auf, wartet nicht auf die Rückkehr der Krankenschwester deren Namen er nicht kennt und läuft durch das Institut nach draußen.

Es ist bereits dunkel, Phillip und ein paar andere Polizisten haben die ganze Zeit vor dem Institut gestanden und auf ihn gewartet. Mitfühlend starren sie ihn alle an, nicht wissend was sie tun oder sagen sollen.

Die abendliche frische Luft bläst den grauen Trauernebel der Tjark umgibt weg. Er ignoriert seine Kollegen, macht sich eine Zigarette an und spürt immer noch das Beruhigungsmittel in seinem Körper. Er ist zwar nicht müde oder schlapp, aber absolut tiefenentspannt. Er fühlt sich so leer, es ist merkwürdig keine Gefühle zu haben, obwohl es möglich ist, dass seine Tochter tot ist.

„Tjark? Ich fahre sie!“

„Nein ich fahre alleine.“

Phillip hält ihm einen Zettel unter die Nase, wo drauf steht das er auf keinen Fall in seinem Zustand fahren darf.

Niemals in seinem Leben, hat er so kampflos aufgegeben und etwas getan was er eigentlich nicht wollte.

„Dann fahr doch.“

Tjark setzt sich einfach auf den Beifahrersitz in seinem alten Wagen, auf dem er noch nie gesessen hat, obwohl er diesen Wagen schon seit einundzwanzig Jahren fährt.

Sie fahren in die Nacht hinein, über die A7 nach Amsterdam, Tjark raucht eine Zigarette nach der anderen. Stumm schaut er in die Nacht hinein, sieht in den wolkenlosen Himmel. Fragt sich ob Adda dort oben ist, ob sie ihn beobachtet, ob sie seine Gedanken hören kann.

Inständig hofft er, dass Luca nicht bei ihr ist, er betet still vor sich hin.

Gegen eine Uhr in der Nacht stehen sie vor verschlossenen Türen des Institutes. Das ganze Gebäude steht im Dunkeln, niemand scheint mehr in der Pathologie zu sein. Tjark geht um das Gebäude herum, um irgendwo vielleicht einen beleuchteten Raum zu finden, in dem noch irgendein Mitarbeiter ist. Aber nichts, niemand scheint da zu sein.

„Komm, gehen wir ins Hotel und schlafen ein paar Stunden.“

Tjark antwortet nicht, er steht bewegungslos vor dem Haupteingang und schaut durch die Glastür in die dunkle Eingangshalle.

Der Gedanke, dass seine kleine Luca dort wohlmöglich aufgeschnitten, nackt, unter einem weißen lacken mit einem Schild am Fuß liegen soll, will sich einfach nicht in seinem Kopf verankern. Immer wieder verliert er gedanklich den Faden, kann das einfach nicht glauben. Er steht neben sich, sein Körper ist so leer und einsam wie noch nie in seinem Leben zuvor. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass es ihm irgendwann einmal noch schlechter gehen könnte als sonst. Hat sich niemals Gedanken darübergemacht, dass Luca sterben konnte. Es war ja auch unnatürlich, Kinder starben nun mal nicht vor ihren Eltern und da er bereits seine Frau verloren hat. Ist es ihm nicht im Traum eingefallen, dass es noch schlimmer kommen könnte.

„Tjark, gehen wir, du musst ein bisschen schlafen, morgen kommen wir zurück.“

„Nein, ich bleibe hier.“

Tjark dreht sich um, setzt sich auf die Eingangsstufen und zündet sich eine weitere Zigarette an. Starrend in die Dunkelheit, wartet er darauf, dass die Nacht vorbeigeht. Seine Körperhaltung ist unmissverständlich und nur ein Idiot würde versuchen ihn zum Gehen zu überreden.

Phillip kann und will ihn einfach nicht allein lassen. Geht zurück in den Wagen, wo er die Lehne komplett nach hinten kippt, um ein wenig zu schlafen.

Gedanken verloren sitzt Tjark die ganze Nacht auf dieser Treppe und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er lässt in dieser Nacht Gedanken zu, die er in den letzten Jahren immer wieder verdrängt hat.

Die Erinnerungen an seine geliebte Frau wollte er einfach nicht zulassen, zu schlimm war der Schmerz des Verlustes. Tjark hat seine Frau aufrichtig und von ganzen Herzen geliebt. Sie und Luca waren ihm das wichtigste auf dieser Erde und als Adda starb, starb er mit ihr.

Er erinnert sich an gemeinsame Zeiten, am Strand, den Adda so sehr liebte. Er sah Luca als kleines Mädchen im Sand buddeln und fröhlich herum hüpfen. Er spürt die Sonne auf seiner Haut, erinnert sich an die frische Brise und an Addas Duft. Tränen laufen ihm über das Gesicht.

Er fragte sich wie er es zu lassen konnte, sich all die Jahre so gehen lassen konnte. Wie er es zulassen konnte, dass Luca sich so von ihm entfernt hat.

Er ist ein schlechter Vater und ganz besonders ein schlechter Mensch geworden. Der zu jedem ekelig und unfreundlich ist.

In dieser Nacht denkt Tjark über sein ganzes Leben nach und weint bis in den Sonnenaufgang.

Als der erste Mitarbeiter des Institutes die Treppe hinaufkommt, findet er Tjark im Sitzen eingeschlafen vor.

„Hallo?“

Der Mitarbeiter stößt Tjark an der Schulter an, sodass er sofort wach wird und aufsteht. Tjark glaubt, dass er fürchterlich aussieht, denn der kleine dünne man vor ihm, sieht ihm erschrocken ins Gesicht.

„Ich bin Tjark de Fries, Oberkommissar aus Sneek und Vater von…“ Tjark kann es einfach nicht aussprechen, er will einfach nicht wahrhaben, dass Luca hier liegt.

Der kleine Mann gibt ihm sofort die Hand und stellt sich vor.

„Guten Morgen, Jongman mein Name, kommen sie mit.“

Ohne darüber nachzudenken wo Phillip ist, folgt Tjark diesem Holländer, ohne etwas zu sagen.

Jongman läuft schnellen Schrittes durch die Halle, öffnet eine Sicherheitstür nach der anderen. Er schaltet im Dunkeln sämtliche Lichtschalter im Vorbeigehen ein.

Tjark fragt sich wie lange dieser Jongman hier schon arbeitet, dass er blind durch das Gebäude laufen kann. Die Pathologie an sich ist nicht abgeschlossen und so wie Jongmann den Saal betritt, steuert er auch die Kühlzellen des Leichenschrankes an.

Tjark geht langsam auf die sich vor ihm öffnende Schublade zu. Sein Herz rast, es schnürt ihm die Kehle zu, näher zu kommen. Seine Beine wirken wie mit Bleibändern beschwert, jeder Schritt ist eine Tortur. In seinen Gedanken sieht er dort ein kleines Mädchen liegen, mit langen blonden Haaren.

Aber sein verwirrter Geist spielt ihm einen Streich.

Die Schublade ist leer!

Jongman schaut verwundert auf und Tjark mitten ins Gesicht.

„Gestern war sie noch hier.“

Tjark steht vor der leeren Schublade und starrt auf das klinisch saubere Aluminiumblech.

Er hat nicht mitbekommen, das Jongman direkt zu seinem Schreibtisch gegangen ist, um einen Nachweis zu finden.

Seine Stimme klingt von ganz weiter Ferne in Tjarks Ohr. Jongman muss Tjark zweimal persönlich ansprechen, bevor er überhaupt reagiert und sich zu ihm dreht.

„Hören sie denn schlecht? Die Leiche wurde gestern bereits abgeholt, jemand dessen Unterschrift ich nicht erkennen kann, hat sie frei gegeben. Das ist ja ein Skandal, das ist ja noch nie passiert.“

So wie Jongman den Telefonhörer in die Hand nimmt, um den Wachmann anzurufen, geht Tjark auf den Schreibtisch zu und sieht sich die Unterschrift an.

„Fassen sie hier bitte nichts an, ich möchte, dass die Spurensicherung Fingerabdrücke nimmt. Rufen sie bitte die Polizei.“

Jongman nickt nur während er mit dem Wachpersonal diskutiert.

Tjark schreibt sich die Adresse des Krematoriums auf, in die die Leiche angeblich gebracht wurde und verlässt das Institut mit schnellen Schritten. Es ist ihm egal was Jongman noch zu sagen hat, sein Instinkt sagt ihm jetzt schnell zu handeln. Der Polizist der er immer war, ist soeben wieder in ihm erwacht.

Phillip liegt immer noch auf dem Beifahrersitz und schläft als Tjark den Wagen bereits vom Parkplatz fährt.

„Was ist los? Wo fahren wir hin?“

Phillip richtet sich mühevoll auf, seine Knochen schmerzen und er friert.

„Wir fahren zum Krematorium De Nieuwe Ooster, die Leiche wurde gestern abgeholt. Der Pathologe hat sie aber nicht frei gegeben und kennt auch die Unterschrift nicht.“

„Wie meinst du das?“

„So wie ich es eben gesagt habe.“

„Sie ist weg?“

„Ja.“

Phillip sieht, dass Tjark keine Lust hat zu reden, irgendwelche Vermutungen anzustellen oder sonst was. Verbissen und zügig fährt er über die Autobahn, grübelt bis zum Krematorium still vor sich hin.

Das helle Gebäude vor dem Tjark parkt sieht freundlich aus, ganz anders als die Krematorien die Tjark bis jetzt gesehen hat. Im ersten