Ten days in Nigeria, before wedding! - Ramona Onwuka - E-Book

Ten days in Nigeria, before wedding! E-Book

Ramona Onwuka

0,0

Beschreibung

Die Reise, die mein Leben veränderte, beginnt in einem für mich Namenlosen Stadtteil, irgendwo in Lagos. Noch nie habe ich solche Menschenmassen gesehen, nie so eine Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit ertragen. Noch nie wurde mir ein Maschinengewehr direkt ins Gesicht gehalten. Die neunstündige Autofahrt, über eine mir skurrile Autobahn, wird zum Albtraum. Der Geburtsort meines Mannes, in dem wir unser Haus gebaut haben, entpuppt sich zu einem Ort, den ich mir bis dato nicht vorstellen konnte. Ich erlebe Afrika von einer Seite, wie sie mir nie im Fernsehen oder in Zeitschriften gezeigt wurde. Ganz weit weg von Tourismus, Infrastruktur, Sicherheit oder Reichtum. Aber die Hochzeit ändert alles.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 533

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

TAG 1

TAG 2

TAG 3

TAG 4

TAG 5

TAG 6

TAG 7

TAG 8

TAG 9

TAG 10

Es ist ein warmer Sommerabend, mein Mann und ich liegen bei offener Balkontür auf der Couch. Mein Sohn ist nicht zu Hause und unsere gemeinsame Tochter schläft schon. Lou-Lou ist 3 Jahre alt, mein Sohn war 15 Jahre alt als sie geboren ist. Wir schauen einen nigerianischen Film, in dem ein Mann in einem Dorf zwei Frauen hat. Der Film ist lustig, denn es geht in dieser Familie drunter und drüber, der Ehemann hat ziemlichen Stress mit seinen beiden Frauen.

Mitten im Film fragt Toni mich:

„Sag mal, wie würdest du das eigentlich finden, wenn ich in Nigeria eine zweite Frau hätte.“

Ich muss lachen, der Film ist wirklich komisch.

„Na, dann hättest du ganz schönen Stress.“ Ich lache wieder, Toni lacht auch.

„Ja das ist ja nur ein Film, aber ich meine das ernst, also mich würde einfach nur mal interessieren, wie du das Finden würdest.“

„Keine Ahnung, nein! Auf keinen Fall würde ich sowas akzeptieren.“

„Weißt du eigentlich, wie sowas in Wirklichkeit in Nigeria läuft?“

„Keine Ahnung, erzähl doch mal, wenn du eine zweite Frau in Nigeria hättest, wie sollte das funktionieren?“

„Ja, sie würde dort leben und du hier, ich würde sie auf gar keinen Fall nach Deutschland holen.“

„Und dann? Würdest du einmal im Jahr für vier Wochen nach Nigeria zu deiner zweiten Frau fahren?“ Ich muss lachen.

„Ja genau, oder wir würden zusammen fliegen.“

Ich lach mich kaputt.

„Ja und dann? Würden wir dann alle drei zusammen in einem Haus mit unseren gemeinsamen Kindern wohnen und du würdest dann eine Nacht bei mir und die nächste bei ihr schlafen?“ Ich lache, zeige ihm den Vogel.

„Ja, sie hätte natürlich ihr eigenes Zimmer, aber ein kleineres als du, weil du wärst, ja die erst frau.“

„Ohh hoo ein größeres Zimmer, welch eine Ehre!“ Ich finde es echt so absurd, dass ich weiter Frage.

„Ja aber Toni, sag doch mal, wie soll so etwas funktionieren.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die erste Frau glücklich ist, wenn der Ehemann sich auf einmal eine neue Frau nimmt, die zehn oder fünfzehn Jahre jünger ist als sie. Da muss die erste Frau totunglücklich sein und zutiefst verletzt.“

„Nein, so ist das nicht in Nigeria, für unsere Frauen ist das normal.“

„Frau ist Frau, schwarz oder weiß, wenn ein Nigerianer sich eine zweite Frau nimmt, bedeutet das doch, das er mit der ersten unzufrieden ist. Dass er sie nicht mehr liebt, dass er sie nicht mehr attraktiv findet, oder dass sie ihm sexuell nicht mehr reicht.“

„Ja kann sein, wenn die Frau vier oder mehr Kinder bekommen hat, sieht sie meistens nicht mehr so gut aus, dann kann man ja eine neue frische Frau nehmen.“

„Boahhh du Arsch, das ist doch jetzt nicht dein Ernst? Erst schwängert er sie, weil er so viele Kinder wie möglich haben will, um seine Rente zu sichern und dann nimmt er sich eine neue, weil die alte verbraucht ist. Das ist doch nicht dein Ernst.“

Toni lacht.

„Nein, so ist das ja auch nicht gemeint, aber ein Mann kann ja mehrere Frauen lieben, eine ist vielleicht dick, die andere dünn, die eine tiefschwarz, die andere hellhäutig.“

„Ja, und wenn eine Ehefrau fremdgeht, wird sie verbrannt!“

„Frauen dürfen bei uns keinen zweiten Ehemann haben oder einen Freund, aber sie werden nicht gerade verbrannt.“

„Du spinnst doch echt, das ist ja wie im vierzehnten Jahrhundert. Die armen Frauen, die können ja noch nicht einmal was machen. Wenn der Mann sich auf einmal eine zweite Frau nimmt, können sie ihren Mann ja noch nicht einmal verlassen. Es sei denn, sie lassen Haus und Kinder bei ihm. Dann müssen sie auf der Straße leben, denn Jobs gibt es für Frauen ja nicht und ihre Familien unterstützen sie ja auch nicht. Sie haben keine andere Wahl, als alles, was der Mann macht und sagt, zu akzeptieren. Sie können sich auch gar nicht wehren und ihr Männer macht einfach, was ihr wollt, da hinten, das ist doch nicht in Ordnung. Du bist doch auch schon fast zwanzig Jahre hier in Deutschland und siehst, dass es auch anders laufen kann. Kannst du dir denn nicht ein bisschen vorstellen, dass diese Frauen vielleicht unglücklich sind.“

„Schatz, das siehst du so, aber unsere Frauen sehen das nicht so, es ist für sie normal, sie sehen es bei ihren Müttern und Großmüttern. Unsere Frauen lieben nicht so wie weiße Frauen. Angenommen, ich würde eine zweite Frau in Nigeria haben und wir beide würden dort für vier Wochen hinfahren. Dann würden wir beide in dem Haupthaus wohnen und sie in dem Nebenhaus.“

„Und dann?“ Ich muss lachen.

„Ja, ich würde mich nur mit dir in der Öffentlichkeit sehen lassen, ich würde nur mit dir auf Partys, Hochzeiten und sonst was gehen. Sie müsste zu Hause bleiben, sie ist ja nur die zweite Frau und müsste somit den Haushalt schmeißen. Sie wäre eigentlich so wie deine persönliche Angestellte, die für dich kocht, putzt und die Wäsche wäscht.“

„Das kann ich alles allein, dafür brauche ich doch keine zweite Frau an deiner Seite!“

Ich komme gar nicht aus dem Lachen raus.

„Und was wäre dann mit den Nächten? Würdest du dann eine Nacht bei mir und die andere im Nebenhaus bei ihr verbringen?“

„Ja.“

„Und du meinst, ich würde seelenruhig in meinem Bett liegen und schlafen, wenn ich wüsste, dass du nebenan eine andere Frau vögelst?“ Der Gedanke macht mich etwas sauer, es ist ja nicht so, aber der Gedanke allein daran und dass er so darüber redet, als wäre es das Normalste der Welt, lässt meine Belustigung gerade in Entsetzen umschlagen. Ich werde sauer und das sieht er auch.

„Du spinnst doch, das würde ich niemals dulden, ich würde toben. Und wenn wir irgendwann mal da sind und du mich dann vor vollendete Tatsachen stellen würdest, würde ich eskalieren, ich würde dir die Augen auskratzen und diese Frau verhauen und vom Hof jagen. Das würde ich nie, nie, niemals dulden.“

„Reg dich ab, wir reden doch nur!“

„Ja, aber ich kenne dich, du hast immer einen Grund, um irgendetwas zu sagen und wenn du dir einbildest, dass ich das schon irgendwann akzeptieren würde, nur, weil ich dir deine Affäre verziehen habe, hast du dich in den Finger geschnitten, junger Mann.“

„Ja, ich wollte doch nur erklären, wie vorteilhaft das Ganze für dich wäre!“

„Es reicht, Toni!“

„Es wäre auch das ganze Jahr über jemand in unserem Haus und könnte darauf aufpassen und sich um die Pflanzen kümmern!“

„Such dir einen Hausmeister! Bist du bescheuert!?“

Toni bekommt einen Lachkrampf, so bemüht er gerade schien, mir diese Sache schmackhaft zu machen, so sehr scheint er jetzt amüsiert, mich geärgert zu haben.

Er nimmt mich in den Arm und küsst mich so oft, bis ich auch lachen muss.

„Für mich würde so etwas doch auch gar nicht in Frage kommen, du bist meine Frau und ich liebe nur dich. Ich könnte keine zweite Frau heiraten, das wäre mir viel zu stressig, außerdem ist das in Deutschland ja auch verboten.“

Wir haben nie wieder über dieses lächerliche Thema gesprochen!

TAG 1

Es ist November, vier Uhr morgens und ich fahre mit Tom, meinem Schwager, und meinem Mann mit dem Taxi zum Flughafen. Es ist draußen dunkel und frisch, es ist Ende November. Ich trage aber nur eine dünne Jeans, ein Shirt und eine dünne Strickjacke. Damit mir nicht so warm ist, wenn ich am Flughafen in Lagos aussteige. Unsere Maschine startet um sieben Uhr morgens und fliegt zum Frankfurter Flughafen, wo wir drei Stunden Aufenthalt haben. Alles ist wie das so ist, wir laufen im Flughafen herum und sehen uns die Geschäfte der teuren Labels an.

Staunen über die Preise, sind aber weiter nicht beeindruckt.

Irgendwann setzten wir uns einfach in irgendein Café und bestellen zwei Bier und einen Cappuccino für 14 € zusammen. Toni und Tom sind Nigerianer und reden die ganze Zeit unaufhörlich auf Igbo, ihrer Muttersprache. Ich werde ignoriert, macht aber nichts. Ich rufe meine Mutter an und frage, ob meine Kinder gut drauf sind. Meine Mutter wird für zehn Tage bei uns wohnen, damit Lou-Lou nicht zu starkes Heimweh bekommt. Nachdem ich auch noch meine beste Freundin Vivien angerufen habe, bekomme ich Hunger, ich gehe einfach zum Bäcker da drüben und hole mir ein völlig überteuertes belegtes Brötchen für sechs Euro.

Ist aber egal, das gönn ich mir, bin schließlich im Urlaub und da gibt man eben mal mehr aus. Da wir drei nicht zusammen gebucht haben, fliegt Tom mit einer anderen Maschine, die in Lagos auch nur zwischen stoppt und dann weiter nach Portharcourt fliegt. Toni und ich fliegen nach Lagos und steigen dort auch aus, denn wir wollen dort zwei seiner Freunde besuchen und dann mit dem Auto übers Land nach Aba fahren. Schließlich soll ich auch etwas von dem Land sehen, meint Toni. Wir verabschieden uns von Tom am Frankfurter Flughafen und gehen zu unserem Gate 52. Ich vermute mal, dass hier nur Nigerianer im Wartebereich sind. Es ist für mich nichts Neues, zwischen Nigerianern die einzige Deutsche oder Weiße zu sein. Das war schon auf mehreren großen Privatveranstaltungen so.

Aber hier sind die meisten anders gekleidet, als ich das von meinen Freunden kenne. Fast alle Frauen tragen traditionelle Wickeltücher oder Gewänder, die ich bis jetzt selten gesehen habe. Obwohl es draußen schon etwas kälter ist, tragen die meisten Sandalen. Ich sehe auf meine Jeans und meine Sneakers und frage mich, ob ich doch zu warm angezogen bin. Eine Frau stillt ihr Kind, eine andere ältere Frau hat ihre nackten Füße auf ihr Handgepäck gelegt. Jede Frau, die ein Kleinkind dabeihat, trägt ihr Kind auf dem Rücken in bunten Tüchern. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen hier glücklich sind, die Heimat so nah vor Augen.

Einige sehen mich kurz an, aber keiner lächelt. Ich fühle mich ein bisschen unwohl, so als würde ich stören. Ich erwische mich dabei, dass ich die Schultern hängen lasse, ich versuche, mich klein zu machen. Kleine Kinder laufen hier herum, alle unterhalten sich lautstark, so bin ich es gewohnt von meinen nigerianischen Freunden. Dann wird das Gate geöffnet und alle stürmen auf den Eingang zu und bilden zwei Reihen. Man soll sein Ticket auf ein Display legen, welches den Barcode dann liest. Das funktioniert aber nicht so, wie es soll, und eine Frau hält ihr Ticket immer wieder auf den Scanner, die Stewardess versucht dazwischen zu greifen, zu spät. Das ganze Ding leuchtet rot, der totale Ausfall. Die Menschen, die in das Flugzeug wollen, werden laut, sind ungeduldig, was ich gar nicht verstehe, das Gedrängel macht die Sache ja auch nicht schneller. Irgendwann sind wir dran und eine Frau mit Baby auf dem Rücken drängelt sich einfach vor, guckt mich böse an.

Im Flugzeug ist voll das Chaos, es unterhalten sich auch alle so laut. Mein Mann lacht, und sagt: „Das, dass die normale Lautstärke für Nigerianer ist.“ Er meint, dass sich wahrscheinlich hier so einige treffen, die sich vielleicht lange nicht gesehen haben und zufällig in der gleichen Maschine sitzen, auf dem Weg nach Hause. Es herrscht allgemeine Vorfreude auf die Heimat.

Aber dann wird es ruhiger, als alle sitzen und sich anschnallen müssen. Ich habe echt Angst vor dem Flug, denn der geht sechs Stunden lang und mir wird immer schlecht. Dann entdecke ich das Tablet vor mir, ich tippe auf Movies und sehe eine Mediathek voller Filme. Die Geisha, ich freue mich und starte den Film, als wir oben in der Luft sind. Dann wird uns ein sehr gutes Mittagessen serviert, die Stewardessen sind alle hübsch und sehr freundlich. Ich bin zum letzten Mal vor zehn Jahren in einem kleinen Flugzeug in die Türkei geflogen und dieses gigantische Flugzeug beeindruckt mich sehr. Immer wieder bekommen wir essen und so viel zu trinken, wie wir wollen. Ich sehe mir noch einen zweiten Film an und die Zeit vergeht wie im Flug. Ich kann es gar nicht fassen, dass wir schon im Landeanflug sind. Da ich in der Mitte sitze, kann ich leider nicht aus dem Fenster sehen. Nun geht alles recht zügig und wir verlassen das Flugzeug.

So wie ich nach draußen trete, habe ich das Gefühl, im Zoo in einem Tropenhaus zu stehen. Die Luft ist heiß, feucht und erdrückend. Mein Mann lacht mich aus und geht voran. Der Flur in dem Flughafen sieht schön schäbig aus, irgendwie komisch, vielleicht wird er ja gerade umgebaut.

Dann kommen wir in eine sehr große Halle und ich bin etwas sprachlos. Rechts müssen Nigerianer sich einordnen, links andere Nationalitäten. Da sind diese Absperrbänder, die einen Weg wie durch ein Labyrinth zu dem Einreiseschalter markieren. Dieser Weg ist wahrscheinlich insgesamt hundert Meter lang und voller Menschen.

Die linke Hälfte dieser Halle ist genauso mit Absperrbändern markiert und für andere Nationalitäten, nur da ist kein Mensch. Ich bin die einzige, andere Nationalität und gehe nach links. Ich muss mich von Toni trennen, was mir gar nicht gefällt.

„Wenn du durch die Kontrolle bist, warte dort direkt vor der Tür auf mich. Gehe nirgendwo hin,“ sagt er ernst.

Er muss weitergehen, er verschwindet in der Menschenmenge. Nervös nehme ich mein Handgepäck und ziehe es hinter mir her. Ich laufe von links nach rechts und von rechts nach links, immer wieder. Aber ich komme aus Deutschland und da hält man sich an Vorschriften und Absperrbänder. Außerdem weiß ich auch nicht, wie streng die hier sind und will nicht, dass ich nachher noch verhaftet werde. Alle Menschen auf der rechten Seite der Halle warten, sie stehen still, die meisten sehen mich an. Ich fühle mich wie auf so einem Präsentierteller, bin ich ja auch. Dann komme ich in die Nähe des Schalters, wo ich einreisen soll, aber ich muss noch drei Mal nach links, rechts und nach links gehen.

Der Schalter sieht wie so eine selbstgezimmerte Kirmesbude aus, die weiß gestrichen wurde. Ein Soldat, oder ein Beamter ich weiß es nicht, steht in einer weißen Uniform dahinter und lächelt mich freundlich an. Ich glaube, er amüsiert sich über mein hin und her laufen in der Halle.

Hinter ihm stehen zwei junge Soldaten mit Gewehren an der Brust, die mich ausdruckslos ansehen.

Da ich die einzige andere Nationalität bin, bin ich auch direkt an der Reihe, während Toni, ein paar hundert Menschen vor sich hat. Mir wird gerade bewusst, was Toni gerade eigentlich meinte, mit: „Bleib dastehen und geh nirgendwo hin, wenn du durch bist.“ Der Mann in weißer Uniform fragt mich nach meinem Namen und dem Grund, weshalb ich hier einreisen möchte.

Ich sage ihm, dass ich mit meinem Mann hier bin und die Familie besuchen möchte. Ich drehe mich um und versuche Toni zu sehen, um auf ihn zeigen zu können. In Deutschland ist es immer einfach, Toni aus einer Menge heraus auszumachen, hier sehe ich ihn nicht. Ich bekomme einen Stempel in meinen Pass und darf mit meinem Handgepäck durch die Riesentür gehen, in der keine Türflügel mehr sind. Ich stehe in einer riesigen Halle mit drei Gepäckbändern, von dem zwei kaputt sind. Da fehlen teilweise sogar diese Lamellen auf dem Fließband, die die Koffer transportieren. Es sieht so aus als wären diese Bänder schon sehr lange kaputt.

Ein paar tausend Menschen und ich als einzige Weiße im Saal. Viele sehen mich an, strecken ihre Hälse, um mich besser sehen zu können. Fünf junge Männer umkreisen mich und wollen mein Handgepäck tragen. Einer sagt: „Let me get this 10 Dollar, Abi”.

Aber ich lasse meine Koffer nicht los, ich weiß für einen kurzen Augenblick gar nicht, was ich machen soll. Ich fühle mich hier allein und fremd. Ein anderer fragt mich auf Englisch, was ich hier machen will und in welchem Hotel ich schlafe. Ein anderer versucht mir wieder den Koffer zu nehmen. Aber ich lass nicht los und sage dann mit fester Stimme, dass ich meinen Koffer allein tragen kann und dass sie bitte Platz machen sollen. Ich sehe mich noch einmal um, in der Hoffnung Toni zu sehen, um ihm ein Zeichen zu geben, dass ich hier bin, aber ich sehe ihn einfach nicht mehr. So hilflos wie in diesem Moment war ich noch nie in meinem Leben. Ich fühle mich allein und verloren gegangen in Afrika. Dass ich einfach hier stehen bleiben soll, habe ich in meiner Aufregung vergessen. Ich versuche selbstbewusst zu wirken, keiner soll merken, dass ich eingeschüchtert bin.

So als wäre ich hier schon oft gewesen, dränge ich mich durch die Menschenmassen. Einfach auf das einzige Kofferband zu, das sich bewegt und stelle mich zu den anderen Wartenden. Ein Kofferträger kommt mit einem Wagen zu mir und will mir meine Koffer vom Band holen, um sie auf seinen Wagen zu stellen. Ich sage ihm, dass ich seine Hilfe nicht brauche und das schon allein schaffe. Aber er ist ziemlich aufdringlich, scheucht einen Konkurrenten weg und stellt sich ganz nah neben mich. So als wäre ich sein Kunde, obwohl ich das gar nicht will. Der Schweiß läuft mir im Gesicht herunter, es ist hier so warm in der Halle, dass ich es gar nicht abwarten kann, hier heraus an die frische Luft zu kommen. Irgendwann kommt einer unserer Koffer, so wie ich ihn nehmen will, nimmt der Junge ihn auch schon an sich und stellt ihn auf seinen Kofferwagen.

Einen nach dem anderen, ich bin wahrscheinlich schon eine halbe Stunde hier an dem Kofferband allein. Immer wieder drehe ich mich um und warte auf Toni. Die Situation ist ganz schön heftig, ich habe noch nie so viele Menschen auf einem Haufen, so eng aneinander gepfercht gesehen. Hier herrscht das absolute Chaos. Meine Nerven liegen blank und ich versuche, mich zusammen zu reißen, sehe alle Menschen ernst an. Ich hoffe, dass mich hier keiner als Opfer sieht und denkt, dass er mich hier irgendwie belabern kann. Ich weiß auch nicht genau, wovor ich Angst habe, vielleicht ist einfach nur, dass es mal andersherum ist. Es ist nicht mein Mann, der in der Menge von Weißen steht und ich ein sein Dolmetscher und Beschützer bin. Jetzt stehe ich hier in einem fremden Land, falle durch meine weiße Haut auf. Mir wird gerade bewusst, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem anderen Kontinent stehe. Noch nie habe ich mich so hilflos und allein gefühlt. Diese Erfahrung hier ist neu und erschreckend für mich.

Außerdem muss ich dringendst zur Toilette, ich kann aber nicht, mit diesem Mann und den ganzen Koffern quer durch die Halle. Zumal ich auch gar nicht weiß, wo die Toiletten sich befinden und ich mich auch nicht traue, jemanden zu fragen. Toni hat mir immer wieder gesagt: “Egal was in Nigeria passiert, vertraue niemandem. Glaube niemanden, gehe mit niemanden mit. Sag niemanden, wie du heißt, wohin du gehst und wann du wieder weggehst. Es sind immer böse Menschen unterwegs, die denken, dass du reich bist, weil du weiß bist. Kidnapping ist hier gerade ganz groß in Mode“.

So einige Bilder schießen mir in den Kopf, die Toni mir auf einer Seite in seinem Handy gezeigt hat. Bilder von Menschen, die in Nigeria leben, posten völlig unverblümt Mord, Totschlag, Verbrennungen und Vergewaltigungen. Ich bekomme kurz Panik, schließe meine Augen und atme tief durch. Ich ermahne mich selbst, mich zusammen zu reißen.

Immer mehr Menschen werden auf mich aufmerksam und sehen mich an, zwei zeigen mit dem Finger auf mich. Ohne mit der Wimper zu zucken, bleibe ich neben meinen Koffern stehen und versuche, all die Menschen zu ignorieren. Auf einmal sehe ich Toni am anderen Ende der Halle, wie er mit gestrecktem Hals nervös nach mir Ausschau hält. Er ist so riesig, ich glaube, er steht auf seinem Handgepäck. Er sieht mich sofort und bahnt sich seinen Weg, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Er nimmt mich in den Arm und sieht mir in die Augen. Küssen dürfen wir uns nicht, sowas macht man hier in der Öffentlichkeit nicht, das hat er mir schon vorhergesagt.

„Ich muss zur Toilette.“ Toni nickt nur und spricht mit dem Kofferjungen auf Igbo. Wir drängeln uns durch die überfüllte Halle, meine Jeans klebt an meinen Beinen, sie ist wirklich klatschnass. Die beiden bleiben vor der Tür stehen, während ich die Damentoilette betrete. Zu meiner Linken befindet sich eine alte beige Marmorplatte mit 10 Handwaschbecken mit verrosteten goldenen Wasserhähnen. Die Spiegel darüber sind alle dunkel und verrottet. Zu meiner Rechten stehen die Toilettenkabinen, ohne Türen oder Toilettenbrillen. Der Boden, die Wände, alles, ist hier sehr schmutzig. Dieser Raum sieht von Menschen verlassen aus einem anderen Jahrhundert aus.

Hier herrscht eine Luftfeuchtigkeit wie in einem Tropenhaus, meine Kleidung ist komplett nass. Hände waschen geht auch nicht, es fließt an keinem Waschbecken Wasser. Ich gehe wieder raus und hoffe, dass Toni noch vor der Tür steht. Wir gehen zusammen durch die laute, Menschenvolle Halle, in der die Luft so schwül ist, dass ich bange gleich in Ohnmacht zu fallen. Immer wieder dreht Toni sich zu mir um und sagt: „Bleib bei mir, komm, bleib dicht bei mir, verlier mich nicht aus den Augen.“ Ich kann ihn nicht festhalten, ich schiebe einen Kofferwagen durch die Menge.

Wir kommen uns alle immer näher, drängen uns vor den Hauptausgang, vor dem sechs schwer bewaffneten Soldaten mit dem Finger am Abzug stehen. Sie taxieren Toni und mich mit ihren Blicken, zwei Soldaten versperren uns den Weg und fragen, ob wir eine Quittung für den mitgebrachten Fernseher haben. Der alte gebrauchte Flachbildschirm ist in einem zusammengebastelten Karton verpackt, der mit Panzerband verschnürt ist. Der Soldat befiehlt uns den Karton aufzumachen und mein Mann fängt sofort an zu schreien und will sich mit Gewalt an ihm vorbei schieben. Alle Soldaten sehen uns an und ich habe das Gefühl, das ist das Ende. Ein Soldat richtet sein Maschinengewähr auf uns, und Toni schreit auch ihn an, er soll gefälligst das Gewehr herunternehmen und fragt, was der Scheiß hier soll. Immer wieder drückt Toni gegen den Kofferwagen und brüllt so lange, bis der Soldat ein verzweifeltes Gesicht macht und seine Hand aufhält. Er bittet ihn um fünfhundert Naira, er hätte eine Familie zu Hause und müsse hier auch etwas verdienen. Ich habe einen zehn Euro Schein in meiner Jeanshose, traue mich aber nicht, ihn herauszuholen. Ich schwitze wie noch nie in meinem Leben, fühle mich wie gelähmt vor Angst. Um uns herum stehen so viele Menschen, wie auf einem Konzert.

Jeder will raus und nichts geht, weil jeder dem anderen den Platz versperrt. Der Kofferjunge, der die ganze Zeit dicht neben mir herläuft, versucht meine Koffer vor dem Herunterfallen zu bewahren. Ein heilloses Durcheinander, bis der Soldat uns endlich vorbeilässt und Toni beschimpft.

Dann gelangen wir endlich ins Freie, doch anstatt der erwarteten frischen Abendluft. Stehe ich in einem dumpfen Loch aus erdrückender Hitze, Feuchtigkeit und unangenehmen Gerüchen. Mir ist schwindelig und übel, mein Kreislauf macht nicht mehr lange mit.

Es ist dunkel, sehr dunkel keine Straßenlaterne brennt oder irgendeine Lichtreklame. Die dunklen Menschen hier werden von vorbeifahrenden Autos angeschienen. Ich komme mir wie in so einem „Welcome in the Jungle“ Film vor. Die Straßen sind hier völlig überfüllt, die Menschen tragen riesige Bündel auf dem Kopf. Ziehen Koffer oder karren hinter sich her. Die Straße vor dem Flughafen ist mit Autos verstopft, die sich wie ein geflochtener Zopf in beiden Richtungen aneinander vorbei quetschen. Es scheint hier keinen Bürgersteig zu geben. Der Sandweg neben der Straße ist so voll Menschen, dass wir automatisch mit der Masse mitgedrängt werden. Der Kofferjunge sieht mich traurig an, ich ziehe meinen durchnässten Zehn Euro Schein aus meiner Jeans und drücke ihn ihm versteckt in die Hand. Ich will nicht, dass das jemand sieht, er will das anscheinend auch nicht. Er ballt seine Hand zu einer Faust und läuft mit strahlendem Gesicht davon. Toni sagt, dass wir die Straße entlanggehen müssen, dass John und Jim uns hier irgendwo abholen wollen. Ich frage mich, wie wir hier im Dunkeln unter den ganzen Menschen zwei bekannte Gesichter ausfindig machen wollen. Plötzlich schreit mein Mann auch schon herum und die drei besten Freunde fallen sich in die Arme. Dann sehen mich seine beiden Freunde an, als ob ich ein Wunder wäre. John lächelt mich zuerst an und nimmt mich einfach in den Arm. Er sagt mir, dass er das nicht in Worte fassen kann, wie glücklich er ist, mich endlich persönlich kennen zu lernen. John ist groß, kräftig, hübsch und hat eine sehr dunkle Hautfarbe. Seine großen Augen leuchten in einem freundlichen Gesicht, mit modernem Haarschnitt und Bart. Er trägt eine zerfetzte Jeans, Sneakers und ein Shirt von Tommy Hilfiger. In Deutschland habe ich ihn ein paarmal kurz gesprochen, wenn Toni mit ihm telefoniert hat. Aber das ist jetzt irgendwie ein komisches Gefühl, wirklich hier zu sein, in Afrika und John persönlich zu sehen. Dann gibt Jim mir die Hand und lächelt mich freundlich an. Mit ihm habe ich auch ein paarmal am Telefon gesprochen, ihn aber noch nie live gesehen. Er ist klein und dünn, seine Riesenzahnlücke ist witzig, er wirkt aber ernster als John oder besser gesagt, so seriös. Er trägt eine weiße Stoffhose, ein teures Poloshirt, Timberland Mokassins und eine riesige goldene Armbanduhr. Die drei Freunde unterhalten sich sofort, sie reden so laut und lachen, ich habe das Gefühl, sie hören sich gar nicht gegenseitig zu. Sie schreien und lachen, John nimmt mich in den Arm und zerrt mich weiter. Er befiehlt Jim, meinen Kofferwagen zu schieben, der böse vor sich hin schnauzt.

John und Toni lachen sich kaputt und Jim schiebt den Wagen. Wir laufen einfach die Straße entlang, so als ob ich hierhergehöre, als würden wir nach Hause gehen. Ich laufe zwischen hunderten von Menschen, die alle irgendwie laut sind und kreuz und quer laufen. Es ist dunkel und so unglaublich laut hier, die Luft ist heiß wie aus einem Fön und der Staub der Straße klebt an mir wie eine dicke Schicht Makeup.

Wir laufen auf ein Parkhaus zu, das noch im Rohbau zu sein scheint, aber voll in Betrieb genommen wurde. Auf der Seite, von der wir kommen, gibt es aber gar keinen Eingang, geschweige denn eine Einfahrt für unseren Kofferwagen.

Wir haben den Wagen sowieso unerlaubterweise viel zu weit vom Flughafen entfernt, glaube ich. Da ist sowas wie ein Bürgersteig, der kniehoch ist und John und Jim entscheiden sich kurzerhand, dass Toni und ich hier warten sollen. Sie wollen Jims PKW hierherfahren, da es doch noch zu weit ist, um diesen Kofferwagen dorthin zu schieben.

Toni und ich stehen vor dem nicht beleuchteten Parkhaus mit unseren insgesamt sechs Koffern und einem Riesenflachbildschirm. Einzig und allein die Autos im Parkhaus erhellen die Dunkelheit. Vor uns steht eine junge Frau in Uniform, die auf den ersten Blick wie eine Polizeiuniform aus dem 18ten Jahrhundert aussieht. Diese Frau gehört wohl zu dem Security Team. Die Uniform ist sehr eng, ihre dralle Figur kommt stark zur Geltung. Sie trägt dazu Springerstiefel, einen Hut und ein gelbes Halstuch. Ich frage mich, warum sie nicht schwitzt bei der hohen Luftfeuchtigkeit. Ihr Gesicht ist trocken, sie macht einen völlig entspannten Eindruck. Während mir das Wasser vom Körper läuft und ich sehr gestresst bin. Im Scheinwerferlicht sind unzählige Mücken und irgendwelche Insekten zu sehen, die mich daran erinnern, dass ich mich nicht mit Antimückenlotion eingecremt habe. Mein kurzärmeliges T-Shirt klebt an meinem Körper. So wie ich über meinen Arm streiche, vermische ich meinen Schweiß mit dem Staub der Straße, der an mir klebt, zu kleinen Krümeln. Ich versuche sie weg zu putzen, aber sie bleiben überall kleben. Ich fühle mich schmutzig und als ich zu meinem Mann gehe, um ihm das zu zeigen beobachte ich, wie er mit der Security Frau flirtet. Dann gibt sie ihm ihr Handy und er tippt etwas ein. Ich vermute, dass er ihr seine Nummer gibt, was mich ein bisschen eifersüchtig macht.

Aber dann nimmt er das Handy an sein Ohr und wartet auf ein Zeichen. Sofort schreit er auf Igbo herum, lacht und legt dann auf. Er bedankt sich bei der Frau und gibt ihr das Handy zurück, inklusive 1000 Naira. Ich glaube Toni hat John angerufen, um zu fragen wo die beiden stecken. Die Security freut sich anscheinend über die 1000 Naira und geht in die Richtung, die Toni ihr zeigt. Ich setz mich völlig erschöpft auf einen Koffer, es ist mittlerweile halb zehn Uhr abends und wir sind um vier Uhr morgens in Münster aufgestanden. Da vorne am Zaun stehen ein paar Männer herum und sehen mich an, wahrscheinlich fragen sie sich, was ich hier eigentlich mache. Und ich frage mich das mittlerweile auch. Habe ich einen Fehler gemacht? Wird das hier ein Albtraum? Fast alle sind hier mit langer Hose und langärmligen Hemden bekleidet. Einige tragen sogar dünne Jacken. Die Frauen tragen bunte Blusen, bunte Wickelröcke oder Tücher und bunte riesige Kopftücher, die kunstvoll in alle Richtungen gesteckt wurden. Eine Frau mit Baby auf dem Rücken trägt sogar eine dicke lange Strickjacke dazu.

Ein Stückchen weiter steht ein Mann mit zerfetzter Kleidung und barfuß auf der anderen Seite des Zaunes. Seine Finger umschließen die rostigen Stäbe und er spricht mit sich selbst. Ich glaube, er ist obdachlos und verwirrt. Niemand nimmt Notiz von ihm und ich frage mich, wo er gleich hingeht und was er hier so allein macht. Dann schreit Toni schon wieder herum und lacht. Da kommt eine riesengroße amerikanische Limousine vorgefahren. Sie parkt mitten im Weg und hindert alle anderen Autos am Weiterfahren. John steigt aus und freut sich genauso uns zu sehen, wie zehn Minuten zuvor. Jim macht den Kofferraum auf und John packt alle Koffer hinein. Wir stellen fest, dass der mitgebrachte Flachbildschirm nicht mehr in den Kofferraum passt. Ziemlich viele Autos hupen hinter uns, irgendein Wagen versucht, sich an unserem mitten auf der Straße geparktem Auto vorbeizuschieben. Menschen mit Taschen und Bündeln auf dem Kopf laufen zwischen den ganzen Wagen hindurch. Telefonieren laut schreiend, weil sie sonst gar nicht gehört werden können. John und Toni stellen den Fernseher auf die Rückbank des Wagens und bevor ich fragen kann, wo wir sitzen sollen, werde ich auch schon gedrängt einzusteigen. Ich sitze auf der vorderen Kante der Rückbank, den Fernseher im Rücken, ich kann mich nicht anschnallen. Jim setzt den Blinker und hupt, was das Zeug hält, er drängt sich einfach zwischen zwei Autos, um in den Verkehr zu kommen. John stellt die Musikanlage auf volle Lautstärke, die drei Freunde schreien sich direkt gegen die sehr laute Musik an und lachen. Alle sind glücklich, keiner ist angeschnallt. Jim hupt und hupt. Andere Verkehrsteilnehmer lassen ihn vorbei, denn er hat den größeren Wagen. So wie wir das Flughafengelände verlassen, gelangen wir auf eine Schnellstraße, die nicht ganz so voll ist. Überall sehe ich diese kleinen gelben Dreiradwagen, dessen Dächer aus Folie bestehen. Sie sind alle mehrfach geflickt, mit Stickern, Werbebannern und allem Möglichen. Ich frage, was das ist und alle lachen, es sind die Taxen des Landes. Das Ganze sieht wie ein umgebauter Roller aus, der Fahrer hat auch so ein Lenkrad und hinten sollten wahrscheinlich maximal zwei Personen sitzen. Aber jedes dieser Kekes (so heißen sie in Nigeria) ist maßlos überfüllt. In jedem sitzen vier bis fünf Personen gequetscht, die bunte Gewänder tragen und Plastiktüten mit sich führen. Kleine Kinder sitzen auch irgendwo dazwischen. Die Menschen hängen halb aus dem Wagen heraus, Türen und Anschnallgurte gibt es nicht. Die Auspuffe der Kekes qualmen unter der enormen Belastung und weil sie wahrscheinlich alle keinen Katalysator haben.

Sprachlos sehe ich mir das bunte Treiben durch mein Fenster an. LKWs fahren an uns vorbei, die in Deutschland alle als Oldtimer gelten würden und nicht mehr für den Verkehr zugelassen wären. Die Wagen sind alle rostig, wurden mit verschiedenfarbigen Ersatzteilen zusammengeflickt. Es ist unglaublich, was hier auf den Straßen fährt, die Wagen sind gemeingefährlich. Kurz nachdem John mir erklärt hat, dass das Qualmen der Kekes normal sei, überholen wir einen LKW, der so stark qualmt, dass ich schreie.

„Der brennt!“ Ich bin so entsetzt, dass ich mich nach vorne beuge und auf den Wagen zeige. Alle lachen sich über mich kaputt, denn es ist egal. Es ist ihnen egal und wir fahren an dem brennenden Auto vorbei.

Hundert Meter weiter steht ein riesengroßer grauer alter LKW am Straßenrand, auf dem bestimmt fünfzig Menschen auf der offenen Ladefläche stehen. Der LKW hat wohl eine Panne und der Fahrer hat die Fahrerkabine nach vorne gekippt. Er steht mit Taschenlampe, kurzer Hose und barfuß zwischen Motor und der Ache. Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen und habe Angst, dass die Fahrerkabine zurückklappt und den Fahrer komplett zerquetscht. John und Jim lachen sich kaputt, sie finden mich voll witzig und finden es noch witziger, dass ich frage, warum die Leute nicht erst alle abgestiegen sind, bevor der Fahrer versucht den Wagen zu reparieren. Dass ich die Menschen auf dem LKW in Gefahr sehe, dass der Wagen ja auch Feuer fangen könnte und dass das ein hohes Sicherheitsrisiko sei.

Toni sagt mir, dass wir noch eben zu einem Meeting fahren, bevor wir zu Jims Haus fahren können, wo wir übernachten wollen.

„Was für ein Meeting?“, frage ich.

„Jim ist in so einem Fußballclub und die treffen sich freitags abends immer, um ihre Wetten zu platzieren. Das dauert nur 20 min, dann fahren wir nach Hause“, antwortet Toni.

Es ist elf Uhr nachts, ich schwitze mich kaputt und Adrenalingeladen. So wach wie heute Abend war ich noch nie. Wir fahren in irgendeinen Stadtteil von Lagos. Umso weiter wir fahren, desto schlimmer wird mir bewusst, dass das hier keine Touristengegend ist. Hier stehen nur wenige kleine halb zerfallene Steinhäuser, der Rest sind Wellblechhütten. Der ganze Stadtteil ist dunkel, überall brennen kleine Feuer. Die am Straßenrand stehenden kleinen Hütten haben kleine Kisten oder Tische vor dem Haus stehen, wo irgendetwas verkauft wird. Einige Frauen kochen oder frittieren am Straßenrand, auf selbstgebauten Grills oder Fritteusen. Erwachsene und kleine Kinder laufen zwischen diesen Gefahrenquellen und dem Straßenverkehr entlang, als wäre nichts. Keine Mutter dreht sich nach ihrem Kind um und sieht, ob es auch sicher da durchkommt, auch wenn die Kinder augenscheinlich erst zwei oder drei Jahre alt sind. Sowas habe ich noch nicht gesehen und denke an meine kleine Tochter, die jetzt tief und fest in ihrem Bettchen liegt und schläft. Ich würde weinen, wenn meine Kleine so leben müsste. Wir halten vor einem großen Tor an, davor stehen zwei mit Maschinengewehren bewaffnete Männer.

Sie leuchten mit ihren Taschenlampen in unseren Wagen, grüßen Jim und machen das Tor auf. Sie kennen ihn wohl, denke ich. Wir fahren auf ein Gelände, auf dem es einen riesengroßen Biergarten gibt. Unzählige Tische und Stühle, eine Lasershow, laute moderne Musik und Leuchtreklame.

Dort hängt eine riesengroße Leinwand, auf dem gerade ein Fußballspiel live übertragen wird. Überall sitzen junge gut gekleidete Männer und sehr aufgetakelte hübsche junge Frauen. Hier tragen alle Frauen Cocktailkleider und Highheels. Perücken, Kunstnägel, Kunstwimpern und sind bis zum Anschlag geschminkt. Alle sehen mich genauso an, wie ich zuvor die kaputten Autos auf der Schnellstraße. Ich muss schrecklich aussehen.

An einem großen Tisch sitzen ungefähr zwanzig junge Männer mit Zetteln in der Hand und schreien sich an. Es sieht so aus, als würden sie sich gleich schlagen. Als Jim an den Tisch tritt, schreien alle noch lauter herum und gestikulieren wild mit ihren Händen. Ich glaube, er ist zu spät, für was auch immer die hier machen. Als er ihnen sagt, dass er eine weiße Frau vom Flughafen abgeholt hat und mit dem Finger auf mich zeigt, sind alle sofort still, grinsen mich an und begrüßen mich. Einer traut sich zuerst, mir die Hand zu geben, danach will mir jeder die Hand schütteln und ein Foto mit mir machen. Ich lache die ganze Zeit darüber, denn mir ist das hier voll peinlich. Ich stehe im Mittelpunkt und werde angesehen, als wäre ich ein Superstar. Toni nimmt mich irgendwann an die Hand und zieht mich zu sich an den Tisch.

„Na, wie gefällt dir Nigeria?“ Er lacht, denn er weiß, dass ich nicht gerne im Mittelpunkt stehen.

Ich muss lachen, denn ich weiß nicht, was ich zu all dem sagen soll.

„Du bist wahrscheinlich die erste weiße Frau, die diese Sportbar betreten hat und mit Sicherheit die erste weiße Frau, denen die Jungs hier die Hand gegeben haben, oder mit der Sie ein Foto gemacht haben. Die meisten Menschen aus diesem Viertel kennen weiße nur aus der Ferne. Wir fahren gleich nach Hause, Jim will nur eben seine Wetten abschließen. Wir gehen aber heute Abend noch raus, die Jungs wollen unbedingt mit dir in einen Club und feiern“, sagte Toni.

„Oh, nee, ich will ins Bett, ich bin todmüde“, erwidere ich.

„Das kannst du vergessen, geschlafen wird, wenn wir wieder zu Hause sind. Jetzt machen wir 10 Tage lang Party, bis der Arzt kommt. Willst du einen Whisky?“, protestiert Toni.

„Nein, seit wann trinke ich Alkohol?“, fragte ich ihn. ich versuche über Tonis letzten Worte nachzudenken, diese Sachen, weil ich weiß bin. Das ist doch Irrsinn.

John fällt Toni ins Wort, er nimmt meine Hand und erzählt mir, wie sehr er sich freut, dass ich endlich hier bin. Dass es immer komisch war, mit mir über Videocall zu sprechen, weil wir uns persönlich nie kennen gelernt haben. Er erzählt mir, dass diese Bar zu einem Hotel gehört. Dass es fast nur Hotelbars gibt, in denen man sich trifft und feiern kann. Ich frage ihn, warum die Security so schwer bewaffnet ist. Er erzählt mir, dass es schwere Zeiten sind hier in Nigeria, dass es viele Überfälle gibt und man sich schützen muss.

Dass sie nicht jeden hier hereinlassen dürfen und schon gar keine bewaffneten Gäste.

Dann brüllt Toni plötzlich am Telefon herum und gibt mir den Hörer.

„Hier rede.“

Ich nehme das Handy und frage mich, wer dran ist.

„Anna?“ fragt mich eine Frauenstimme.

„Ja?“

„Hier ist Grace, Tonis Schwester!“ Sofort fängt sie an zu schreien und zu lachen.

„Du bist in Nigeria! Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst.“

Ich lache auch und freue mich ihre Stimme zu hören. Wir haben schon oft miteinander telefoniert und ich finde sie sehr nett und lustig.

„Ja, Toni hat gesagt, dass ich nichts verraten darf, weil er euch alle überraschen wollte. Wir kommen auch übermorgen zu der Geburtstagsparty deiner Mutter. Aber du darfst ihr davon nichts erzählen, wir wollen sie auch überraschen.“

Grace schreit in den Hörer: „Ich kann es nicht fassen, dass du da bist!“ Dann nimmt Toni mir auch schon wieder den Hörer aus der Hand.

John bringt mir eine Fanta und fragt, ob ich etwas essen möchte. Ich weiß aber nicht, was ich hier essen darf.

Abgesehen davon, dass ich die nigerianische Küche nicht mag, hat der Typ mir im Tropeninstitut Münster auch gesagt, dass ich nicht alles essen darf.

„Koch es, schäle es oder vergiss es!“ War sein guter Rat.

Ich weiß nicht, ob sie das Essen hier richtig durchgekocht, es in einer sauberen Küche zubereitet oder sie Leitungswasser statt Flaschenwasser zum Kochen benutzt haben. Ich entscheide mich lieber erstmal nichts zu essen, da ich nicht morgen schon Durchfall haben möchte. Ehrlich gesagt habe ich Angst, meine Arme jucken und als ich sie etwas genauer betrachte, sehe ich ein paar rote Stippen. Ich habe bereits ein paar Mückenstiche, ich erinnere mich kurz an das Parkhaus. Und daran, dass ich mich nicht mit dieser Anti-Mücken-Lotion eingecremt habe. Sie ist gerade im Koffer und der ist im Kofferraum, das kann ich jetzt auch vergessen. Ich bin gestern mit dieser Malariatablette angefangen und vertraue einfach darauf, dass sie mich so weit schützt, dass ich hier nicht gleich sterbe.

Jim tritt an unseren kleinen Tisch und verkündet, dass er fertig ist und wir jetzt gehen können. Ich nehme meine Fanta mit und wir steigen in den Wagen. Jim fährt echt schnell, eine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt es hier anscheinend nicht. Mir fällt auf, dass es hier auch keine Ampeln gibt und die Autofahrer den Verkehr durch Hupen und Drängeln regeln. Wir fahren nun durch einen wohlhabenderen Teil von Lagos. Hier stehen viele schöne Häuser, die alle mit dicken Mauern und Stacheldraht eingezäunt sind. Der Wagen wird langsamer, wir stehen im Stau.

Da liegt etwas am Straßenrand, vielleicht Hunde? Wir fahren ein Stück weiter, ich sehe genau hin. Während die Musik in unserem Auto laut und lustig ist, bleibt mein Herz kurz stehen, Tränen schleichen sich in meine Augen.

Es sind keine Hunde, dort liegen drei kleine Kinder, höchstens vier Jahre alt, aneinander gekuschelt, am Straßenrand, im Staub und schlafen. Alle drei Kinder tragen schmutzige kurze Hosen, sonst nichts. Sie liegen auch nicht auf einem Schlafsack oder einer Pappe. Einfach mit der nackten Haut im Staub und schlafen. Bevor meine natürliche Reaktion mich dazu treibt auszusteigen, um ihnen zu helfen, fahren wir auch schon weiter und ich sehe weitere kleinere Kinder. Und noch mehr und noch mehr.

Jugendliche, alte Menschen und Menschen mit Behinderungen. Sie liegen oder sitzen alle am Straßenrand oder auf Stufen von irgendwelchen geschlossenen maroden Geschäften. Ein alter Mann hat so schlimme körperliche Fehlbildungen, wie ich sie noch nie gesehen habe.

Fassungslos sehe ich aus dem Fenster, während die drei Freunde gegen die viel zu laute Musikanlage anschreien und sich kaputtlachen. Mein Mann, und auch nicht John oder Jim, keiner nimmt Notiz von den armen Menschen da draußen. Tränen laufen mir übers Gesicht, ich kann sie gar nicht aufhalten, was ich spüre, ist schlimmer als jeder Schmerz, den ich bis jetzt gefühlt habe. Mir wird klar, dass all meine lächerlichen Probleme, die ich bis gerade geglaubt gehabt zu haben, eine Sünde sind. Nichts, aber auch nichts ist mir Schlimmes widerfahren, nichts habe ich erlitten. Ein Leben in Saus und Braus, voller Geld, Essen und einem wunderschönen Zuhause habe ich.

Ich habe alles und sie haben nichts.

Toni bekommt das mit, zieht mich zu sich heran, ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und er küsst mich auf die Stirn.

„Du kannst nichts machen, es sind zu viele“, sagt er.

Toni kennt mich gut und kann sich vorstellen, was ich fühle.

Es ist etwas anderes, tiefe Armut am Straßenrand zu sehen, als im Fernsehen. Ich bin so schockiert, ich kann nicht glauben, was ich da sehe. Es bricht mir das Herz. Wie kann das sein, so kleine Kinder, alte, kranke und junge Menschen mit weniger als nichts. Wie kann das sein, das das so ist und die Welt sieht weg. Wie kann das sein, das es so etwas im zwanzigsten Jahrhundert überhaupt noch gibt?

Jim hält den Wagen am Straßenrand an und hupt kontinuierlich, wir stehen vor einem riesengroßen Eisentor.

„Ab zehn Uhr lassen die hier niemanden mehr rein. Ich weiß genau, dass sie dasitzen, verflucht. Dann muss ich eben hinten herumfahren“, motzt er.

Jim ist echt sauer und ich frage mich wieso?

Toni erklärt mir, dass Jims Haus in einem von einer Mauer geschützten Bereich liegt, wo nur reiche Menschen ihre Häuser haben. Und dass die Tore von Security bewacht werden, die nur Anwohner oder vorher angekündigte Gäste auf das Gelände lassen. Und dass diese Security wahrscheinlich auf der anderen Seite des Tores sitzen und Karten spielen, anstatt uns noch hereinzulassen.

Wir fahren zirka drei Minuten an der Mauer entlang, um dann in eine Seitenstraße einzubiegen. Der rote Sandweg, der vor uns liegt, ist unvorstellbar. Es sieht aus wie das Meer bei hohem Wellengang. Da sind keine zwei Meter ebenerdig, die Hügel haben einen Höhenunterschied von bis zu einem halben Meter. Jim fährt mit seiner Limousine langsam drauf los, der Boden des Wagens ratscht bereits beim ersten Hügel laut über den Boden. Er lenkt den Wagen im Zickzack, so gut es geht die Straße entlang. Der Wagen setzt ständig so hart auf, dass ich befürchte, den kompletten Motor plus Auspuffanlage zu verlieren. Die drei fluchen, machen Witze und schimpfen über den Staat, der es einfach nicht für nötig hält, alle Straßen in Stand zu setzen und sich stattdessen die ganze Kohle in die Tasche steckt.

Wir rutschen auf dem glatten Leder der uns nur zur Hälfte zur Verfügung stehenden Rückbank hin und her. Der schwere Fernseher drückt uns gegen den Rücken. Hier stehen dicht nebeneinander Mittelstandhäuser, die alle mit Mauern eingezäunt sind, auf denen Nato-Stacheldraht befestigt ist. Überall dieser Stacheldraht, der im Mondlicht zu sehen ist. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sich hier alle Menschen wirklich um ihre Sicherheit fürchten. Jim fährt auf so etwas wie eine Minibrücke, denn vor seinem Grundstück ist ein kleiner Graben ausgehoben, der voll mit Wasser ist. Also für einen Wasserwall finde ich den echt mickrig und lächerlich.

„Schatz, was ist das für ein Wassergraben?“, fragte ich Toni.

Toni antwortet mir nur kurz, “ das ist die Kanalisation“ und quatscht mit John weiter. Das schwere Eisentor geht laut knarrend auf und ich sehe die Kanalisation, während wir sie passieren. Sie ist zwar fast voll Wasser, aber auch voll mit Müll und mit vielen kleinen Plastikflaschen gefüllt. Ich frage mich, wie das Wasser denn abfließen kann, wenn der Kanal so zugemüllt ist und was passiert, wenn es hier richtig regnet?

Wir fahren auf das Grundstück, anscheinend liegt Tonis Grundstück direkt an der außen Mauer oder so. Ich verstehe den Sinn nicht mit den Securitys vorne an der Hauptstraße.

Wir parken neben einem weinroten großen Jeep, auf dem Grundstück gibt es eine Laterne, sodass ich gut sehen kann. Ich steige aus der Limousine aus und strecke mich, über mir hängen unzählige Orangen in einem Baum.

Fasziniert starre ich weiter nach oben und finde es echt unglaublich. Nur weil die drei Herren der Schöpfung mich so laut auslachen, senke ich meinen Kopf wieder und sehe sie fragend an.

„Was? Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Orangen am Baum hängen sehe. Bei uns gibt es sie nur im Netz im Supermarkt“, erzähle ich ihnen.

Jetzt sehen Jim und John mich sprachlos an und fragen mich, ob es denn keinen Orangenbaum in Deutschland geben würde.

„Nein“, antwortete ich ihnen, alle lachen und ich frage mich, warum Toni seinen Freunden davon nicht berichtet hat.

Immerhin lebt er seit sechzehn Jahren in Deutschland und so wie ich das mitbekommen habe, telefoniert er seit sechs Jahren mehrmals wöchentlich mit seinen Freunden. Wie es in Deutschland ist, muss doch mal zur Sprache gekommen sein. Aber anscheinend reden die immer nur über Geschäfte, andere Menschen, lästern und erzählen sich irgendeinen unwichtigen Schwachsinn.

John öffnet den Kofferraum und alle packen mit an, als ich zwei kleine Handgepäckstücke hinter mir herziehen möchte, nimmt John sie mir aus der Hand, lächelt und küsst meine Hand.

„Du wirst hier nichts tragen meine Königin“, sagt John und funkelt mich mit seinen schwarzen Augen an. Im gleichen Augenblick bekommt er auch schon von meinem Mann einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Fass meine Frau nicht an“, zischt Toni ihn an.

John tut so, als würde er ihn schlagen und fängt an zu brüllen, Toni brüllt auch. Jim lacht und nimmt mich an die Hand.

„Komm, wir gehen schon mal ins Haus ich stell dir meine Frau vor“.

Das von außen mit etwas Moos bedeckte Haus, wirkt auf mich schmuddelig, ist von innen aber ein Palast. Von der Haustür aus kommen wir direkt ins Wohnzimmer seines Zweietagenhauses. Das Wohnzimmer ist ungefähr achtzig Quadratmeter groß, also größer als meine drei Zimmer Wohnung zu Hause. Der schwarze Marmorboden glänzt und spiegelt die weiße reich verzierte Stuckdecke. Ich habe noch nie einen so großen Flachbildschirm Fernseher gesehen. Auf dem weißen hochglanzlack Sideboard steht eine teure Musikanlage mit Dolby Surround System. Hier stehen acht Viersitzer Leder Couchgarnituren. Auf jeder Seite des Wohnzimmers vier. Ein Riesenkronleuchter aus Kristall lässt diesen Raum majestätisch wirken. Am anderen Ende des Wohnzimmers führt eine sehr breite Treppe in die erste Etage hinauf.

„Cynthia! Cynthia!“ Jim brüllt so laut, dass die Wände wackeln. Aber von oben kommt keine Reaktion. Der offene Flur hat sieben Türen aus Mahagoni, die alle verschlossen sind, auch hier gibt es ein Kronleuchter, der im Treppenhaus bis ins Erdgeschoss hinunter hängt. Jim öffnet eine der Türen und ruft seine Frau ein drittes Mal.

Cynthia, wird aus ihrem Schlaf gerissen, steht wie eine Soldatin auf und zieht ihr Hüfttuch stramm.

„Grüß Anna, sie ist Tonis Frau und kommt aus Deutschland“, erklärt Jim.

Cynthia kommt verlegen auf mich zu, gibt mir die Hand und macht einen Knicks. Sie sagt nichts, lächelt nur schüchtern und sieht dann wieder auf den Boden. Jim tritt in das Zimmer, schaltet das große Licht an und zeigt auf eine zwei Mal zwei Meter große Matratze, die auf dem Boden liegt.

Sie ist bestimmt 60 Zentimeter hoch und bunt. Darauf liegen drei kleine Mädchen, vielleicht drei, zwei und ein Jahr alt.

Das grelle Licht stört mich und ich frage mich, warum die kleinen Kinder nicht wach werden. Die Mädchen sind so süß, sie tragen nur Unterhöschen und haben viele bunte Perlen in den geflochtenen Zöpfen. Sie schlafen tief und fest, lassen sich überhaupt nicht von dem Licht, Jims lauter Stimme oder dem sehr laut brummenden Ventilator, der im Raum steht, stören. Jim schickt seine Frau wieder schlafen und schließt die Tür.

„Das ist ihr Zimmer, hier schläft sie mit den Kindern. Mein Zimmer ist am Ende des Ganges“, erzählt mir Jim.

„Ihr habt getrennte Schlafzimmer?“ frage ich ihn.

Jim und ich gucken uns fragend gegenseitig an.

„Ja, hast du und Toni keine getrennten Schlafzimmer?“ fragt er mich schließlich.

„Nein!“, antwortete ich Ihm.

„Ihr schlaft in einem Zimmer?“ bohrt er nochmal nach.

„Ja, normal“.

„Ich brauch meine Privatsphäre, ich würde niemals mit ihr und den Kindern in einem Zimmer schlafen. Da kommt man nicht in den Schlaf, wenn die Kleinen die ganze Nacht heulen.“ „Wie du hilfst ihr nicht, wenn die Kinder krank sind und nachts wach werden?“ frage ich ihn empört.

Jim guckt mich sprachlos an, in seinen Augen spiegelt sich echte Verwirrung. Er schließt die Tür und geht den Gang entlang, öffnet eine andere Tür und zeigt mir das Gästezimmer. In dem Moment kommen auch schon John und Toni mit den Koffern nach oben. Auch hier liegt eine sehr dicke neuwertige bunte Matratze auf dem schwarzen Marmorboden. Es gibt einen Schrank und eine Klimaanlage, die Jim anstellt. Die drei unterhalten sich noch kurz auf Igbo, dann verlassen John und Jim lachend das Zimmer.

„Zieh dich um, wir gehen gleich in die Disco.“

„Wie?“

„Beeil dich, die haben keine Lust eine Stunde auf dich zu warten.“

„Ich will aber nicht in die Disco, ich bin voll kaputt. Können wir nicht zu Hause bleiben und schlafen?“

Toni lacht, öffnet seinen Koffer und sucht sich ein Outfit heraus.

„Du kannst schlafen, wenn wir wieder in Deutschland sind.

Hier feiern wir jede Nacht und ich werde dich nirgendwo allein lassen.“

„Wieso? Ich bin doch hier im Haus, was soll denn passieren?“

„Wir waren doch gerade in der Bar und Jims Freunde haben dich alle gesehen. Wenn sich irgendjemand überlegt, dass du eventuell hier schlafen könntest, könnten sie versuchen, hier heute Nacht mit zehn Mann einzubrechen, um dich zu entführen.“

Ungläubig und sprachlos sehe ich ihn an.

„Schatz, das ist mein Ernst, du darfst niemals länger als eine Stunde am selben Platz bleiben. Hilf mir dich zu beschützen. Du bist in Lagos, dies ist eine sehr gefährliche Stadt, hier werden Menschen für einen Dollar umgebracht.“ Mit mulmigem Gefühl im Bauch hocke ich mich vor meinen Koffer und öffne ihn. Da sind so viele Geschenke für seine Familie, dass ich meine eigenen Sachen gar nicht sehe.

Das Licht ist sehr spärlich in diesem Raum und ich brauche einen Augenblick, bis ich etwas erkennen kann. Dann suche ich eine hellblaue verwaschene zerfetzte Jeans und ein geblümtes schulterfreies Oberteil heraus. Ich habe keine Zeit zu duschen, nehme einfach ein paar Feuchttücher aus der Packung. Mir fällt der kleine Spiegel, aus dem ein Euro Shop in die Hand und ich sehe, mich um, wo ich ihn hinhängen könnte. Vor dem Fenster ist ein dickes Gitter angebracht, an dem ich den Spiegel klemme. Die Laterne auf dem Hof steht direkt vor meinem Fenster, wodurch ich mich sehr gut im Spiegel sehen kann. Schnell schminke ich meine Müdigkeit weg und steck mir eine wilde Hochsteckfrisur. Ich trage dazu Federohrringe und passende apricot leuchtende Highheels. Ich fühle mich verkleidet, aber ich weiß, dass Toni es liebt, wenn Frauen so aufgemotzt sind. Weil er das gar nicht anders kennt von nigerianischen Frauen. Sie sind immer alle aufgebrezelt, mir ist das zu viel, aber ich will ihn hier nicht blamieren und muss mich anpassen. Als ich die große breite Treppe hinunterlaufe, halte ich mich am Geländer fest, um nicht zu stürzen. Die drei von der Tankstelle stehen unten und sehen mich überrascht an. John pfeift laut und kommt mir ein paar Stufen entgegen. Jim strahlt über das ganze Gesicht und klatscht in Tonis Hände. Ich werde in das Wohnzimmer gezogen und auf die Couch gedrängt. John und Jim setzten sich stolz neben mich und geben Toni die Anweisung, ein paar Fotos zu schießen. Die drei tun so, als wäre ich die schönste Frau der Welt, sogar Toni!

Sie überhäufen mich mit Komplimenten und schießen unzählige Fotos mit mir im Sitzen, von links, von rechts, im Stehen von hier und da, in der Kombination oder in der anderen mit Toni. Ich kann das gar nicht verstehen und finde es etwas affig, weswegen ich auf jedem Bild lache.

Dann geht es los, John nimmt sofort meine Hand und führt mich durch das Wohnzimmer hinaus in die heiße Nacht. Es ist so warm und schwül, dass mir der Schweiß vom Gesicht läuft. Noch nie habe ich in Deutschland im Gesicht geschwitzt. Wir steigen in den Jeep ein, und Jim hupt wie ein Bekloppter in die Nacht. Ich finde es unangebracht, er stört doch alle Nachbarn und seine Kinder schlafen schließlich auch, aber das scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren. Der Gate Mann erscheint nicht, Jim Flucht über ihn und meint, er müsse ihm morgen früh feuern. John hüpft aus den Wagen und macht das schwere Eisentor selbst auf. Er lässt uns durchfahren, schließt es wieder und steigt ein. Sofort schließt er sein Handy an die Anlage an und „Wild Thoughts“, von Rihanna erklingt in voller Lautstärke. Jim fährt von der Musik angestochen wie ein Verrückter. Da der Fernseher nicht mehr in meinem Rücken steht, schnalle ich mich lieber an. Wir fahren quer durch Lagos, ich sehe imposante Gebäude, teure Wagen und bittere Armut aus dem Fenster. Die laute Musik und das Gequatschte der drei geht an mir vorbei. Fassungslos starre ich aus dem Fenster und erschrecke mich im fünf Minuten Takt. Es ist unglaublich, was für rostige, kaputte Autos hier fahren und wie diese überladen sind. Es gibt anscheinend keine Vorschriften für gar nichts hier im Straßenverkehr.

Die Ladungen ragen rechts und links und hinten über den Rand der LKWs hinaus. Wir werden langsamer, überall stehen Frauen am Straßenrand. Alle lachen im Auto und Toni sagt, dass wir im Prostituierten Viertel sind. Wir fahren noch langsamer, die Musik wird noch lauter gestellt und John ruft manchen Mädchen zu. Sie springen auf seine unverschämte Art und Weise sofort an. Sie lächeln, bewegen ihre schönen Körper zur Musik. Als einige sich unserem Wagen nähern, gibt Jim Gas und fährt weiter. John zeigt ihnen den Mittelfinger und streckt ihnen obszön die Zunge aus. Die drei jungen Männer in meinem Auto kommen sich unantastbar vor, reich, in einem großartigen Wagen mit lauter Musik. Sie feiern sich selbst und lachen sich kaputt. Jim fährt plötzlich gefährlich nah an den Straßenrand ran. Mit einem Rumps fliege ich gegen die Tür und sehe im letzten Augenblick die beiden Prostituierten die zur Seite springen. Jim hat echt versucht sie umzufahren.

Ich schrei so laut ich kann, gegen die Musikanlage an.

„Jim bist du bekloppt? Was soll das?“

Alle lachen und bewegen sich zum Takt der Musik.

Ich bin einfach sprachlos, ein Menschenleben und besonders das einer Prostituierten scheint hier halt nichts wert zu sein. Auf der restlichen Fahrt frage ich mich, was geschehen wäre, wenn er sie verletzt hätte. Ob er den Wagen angehalten hätte und ob es ihm leidgetan hätte? Ob er nur im Eifer des Gefechtes und vor seinen Jungs cool sein wollte, diese schreckliche Tat getan hat? Ober, ob er das wohl überlegt und extra gemacht hat. Ob er wirklich versucht hat, diese Mädchen anzufahren? Wir werden langsamer, Jim hält vor einem Tor, vor dem vier mit Maschinengewehren bewaffnete Securitys stehen. Jim öffnet alle Fenster seines Wagens gleichzeitig und zeigt einfach nur nach hinten auf mich. Die Securitys halten ihre Waffen und Taschenlampen in den Wagen und sehen mich verblüfft an. Ich versuche so selbstsicher wie möglich auszusehen und vermute, dass ich arrogant wirke, was ich gar nicht will. Aber ich glaube, dass das in Lagos besser ist, als kleine Brötchen zu backen.

Wir fahren auf ein großes Grundstück, auf dem mehrere teure Wagen stehen und steigen aus. Dort führt ein grüner Kunstrasenteppich zu dem Eingang der Diskothek. Er ist seitlich mit irgendwelchen Leuchtmitteln am Boden festgemacht. Stolperfallen oder Haftung scheint den Clubbesitzer gar nicht zu interessieren.

Ja klingt komisch, aber ich arbeite in der Hausverwaltung. In unserem Unternehmen wird Arbeitsschutz, Baustellensicherheit und überhaupt Sicherheit sehr großgeschrieben.

Uns wird die Tür des Clubs aufgehalten und ich bekomme fast einen Kälteschock. Die Klimaanlage führt fast sibirische Zustände herbei. Die Diskothek ist überraschenderweise extrem schön. Vor uns liegt eine Runde aus Plexiglas sich selbst drehende Tanzfläche. Rechts und links führen aus Glas und Gold gebaute Treppen geschwungen nach oben.

Die Decke ist offen, mehrere junge Leute stehen oben an der kristallenen Brüstung und schauen auf uns hinunter. Es läuft amerikanische Hip-Hop Musik und alle bewegen sich im Takt. Uns kommen zwei gleich angezogene junge Mädchen auf der Treppe entgegen. Oben angekommen sehe ich noch mehr Mädchen in schwarzen Hotpants und glitzernden Micky Mouse T-Shirts. Sie haben alle die gleiche perfekte Figur und Sneakers an. Eine der bezaubernden Mädchen kommt auf uns zu und begleitet uns zu einem Tisch. Reden ist hier nicht möglich, es ist einfach zu laut.

Die komplette Lichtanlage ist unglaublich. Die Wand zu meiner Rechten besteht aus tausenden kleinen Lämpchen, die ein ständig anderes Lichtbild abgeben. In Deutschland kenn ich keine Disco, die so edel und teuer ist wie diese hier in Lagos. Die Leute, die hier herum laufen haben viel Geld, das sieht man einfach. Fast alle trinken Moet, ich habe noch nie Moet getrunken und ganz sicherlich würde ich mir auch niemals eine ganze Flasche davon bestellen. Dann sehe ich hinüber zum DJ, nur so, ich guck mir einfach alles an. Aber der DJ fixiert mich mit seinem Blick als würde er mich kennen und als ob er überrascht wäre, mich hier zu sehen.

Irgendwie kommt er mir auch bekannt vor und ich frage mich, woher ich ihn kenne. Dann lächelt er breit, nimmt seinen Kopfhörer ab und kommt auf uns zu. Verwirrt und ängstlich frage ich mich, ob ich ihn vielleicht aus Deutschland kenne, und mein Mann hier gleich ausrastet.

„Hallo, wie geht es dir?“ Der smarte Mann lächelt mich freundlich an.

“Gut, danke.”

“Woher kommst du?”

„Deutschland.“

Er lächelt mich an, als wisse er, dass ich ihn nicht einordnen kann.

„Kennst du mich?“

„Ich weiß nicht? Du kommst mir sehr bekannt vor, warst du schon mal in Deutschland?“

Er lacht, seine weißen Zähne strahlen mit seinem weißen Hemd um die Wette.

„Ich weiß nicht, vielleicht? Liegt das in Europa?“

„Ja.“ Unglaublich starre ich ihn an, wer kennt denn Deutschland nicht?

„Deutschland? Habe ich noch nie gehört, Entschuldigung.

Ich bin 2 Face.“

Nach vier Sekunden des Anstarrens fällt es mir ein. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, halte meine Hand vor den Mund und hole tief Luft.

„Ja, ich kenne dich, ich mag deine Musik.“ Jeder hier hat bemerkt, wie großartig ich diesen Typ finde, das kann ich einfach nicht verbergen.

2Face lacht, gibt mir erneut die Hand und bedankt sich, dass ich Gast in seinem Club bin.

Jim erklärt mir, dass das hier 2 Face sein Club ist und der beste in der Stadt. Das hier nur Prominenz absteigt und nur die Reichsten der Reichen herkommen.

Die Leute hier scheinen wohlhabend zu sein und schön sind sie auch alle. Die Frauen haben außergewöhnlich gute Körper und sind unglaublich gut gestylt.