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Die Aufzeichnungen eines Verseuchten - geschrieben in einem selbstgeführten und langwierigen Medikamentenentzug aufgrund von Fehlbehandlungen - vereinigen verschiedene künstlerische Gattungen. Ob Aphorismen, Satirestücke, Gedichte, Zeichnungen oder facettenreiche Erzählungen: Alle verfolgen sie den Versuch, die materialistische Verwissenschaftlichung unserer Gesellschaft schamlos in Frage zu stellen.
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Seitenzahl: 306
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Einleitung
Vorspiel
Ein Mensch in der Revolte
BUCH I
Aufzeichnungen eines Verseuchten
Eine antimoderne Aphorismensammlung
Zu Philosophie und Wissenschaft
Zu Wissenschaft und Medizin
Zu Medizin und Politik
Zu Politik und Sexualität
Zu Sexualität und Kunst
Zu Kunst und Philosophie
Parabeln, Satiren und Fabelstücke
Gedichtbukett
Zwischenspiel
Zeichnerische Versuche aus der Reinigung im Feuer
BUCH II
Die geschnitt'ne Wirklichkeit
Die Eisprinzessin: Ein Schreiben an den Tod
Im romantischen Spiegelkabinett
Ein Rosenblatt im kalten Winde
Der Tautropfen im kürzesten Schatten
Wie warmer Zimt auf einem Novemberabend
Milch und Zucker ohne Café
Schwelend auf der kalten Stimmgabel
Das unerhörte Rotkelchen
Tulpen auf dem Grab
Das Opfer eines Künstlers
Das tote Herrchen
Im tragikomischen Spiegelkabinett
Ein musischer Holzhacker
Ein volkstreuer Bursche
Ein beflissener Geschäftsmann
Eine hilfsbereite Mutter
Eine unzeitgemäße Witwe
Im dramatischen Spiegelkabinett
Über ein Geburtstagskind
Über eine Nackttänzerin
Über einen Sportler
Über einen Freund
Über einen Schwiegersohn
Über einen Redner
Eine kleine Frauenorgie
Die Widerkehr der Katalina
Und eine Seitenmasche in Handarbeit
Zurück im dramatischen Spiegelkabinett
7.
Über einen Verschollenen
Nachspiel
Danksagung
Anhang
Einige Randbemerkungen
„Wenn wir dann und wann auf Seiten stoßen, die explodieren, Seiten, die verwunden und schmerzen, die einem Seufzer, Tränen und Flüche abringen, dann sollt ihr wissen, dass sie von einem aufrechten Menschen stammen, einem Menschen, dem keine andere Verteidigung übrigbleibt als seine Worte, und seine Worte sind immer stärker als das verlogene, erdrückende Gewicht der Welt, stärker als all die Foltern und Räder, die die Feigen erfinden, um das Wunder der Persönlichkeit zu vernichten.“
Henry Miller
In das unverebbte Lob über den Fortschritt kann ich leider nicht mit einstimmen. „Wir sind zum Gesundsein geboren“, schickt Rousseau seinem Erziehungsroman ein Wort von Seneca voraus; und gerade von der Wissenschaft der Medizin − genauer der Psychiatrie − wurde ich unter den verworrensten Diagnosen und angeblich, damit mir geholfen sei, mit über 20.000 Tabletten vergiftet. Als es begann, war ich gerade mal 14 Jahre alt, und ich habe ausdrücklich erklärt, dass ich es nicht wolle. Ich bestreite nicht, dass die moderne Wissenschaft und die Technik zahllose Leben „qualitativer“ gemacht haben, und vor Fächern wie der Archäologie habe ich ungebrochen hohe Achtung. In einer Apologie wie dieser kann das aber nicht besonders interessieren. Überhaupt schreibe ich nicht als Sachverständiger, sondern als Betroffener.
Da ich nicht für das Uneigentliche des Gesellschaftlichen eintreten kann, steht außer in den wörtlichen Reden von Figuren fast nirgendwo „man“. Dagegen findet sich an vielleicht befremdlichen Stellen das Du. Dasselbe ist aber nicht zu verwechseln mit dem „du“, das die Deutschen nach amerikanischem Vorbild missverständlich als „man“ gebrauchen. Das großgeschriebene „Du“ meint ein Wesen, das sich-öffnend und gleichend dem Ich begegnet, sowie umgekehrt. Übrigens muss das nicht immer ein konventionelles Gegenüber sein, da sogar der einzelne gesunde Mensch − wie beispielsweise im Selbstgespräch − zu seinem Du überfließen kann. Insofern ist dieses Werk trotz etlichen Unterschieden unverkennbar durch die Existenzphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts inspiriert. Von noch größerer Bedeutung ist allerdings der Buddhismus, ohne den ich nicht überlebt hätte. Als rein erkenntnistheoretisches Element tritt hinzu, was ich ironischerweise (und selbstverständlich nicht als einziges) von der Wissenschaft entlehnt habe: die Unschärferelation, − was ich eindeutig besser aphoristische oder kreative Unschärferelation nennen sollte. Denn von der Quantenphysik habe ich keine Ahnung. Gleichwohl beruht meine Methodik auf der Einsicht, dass die Wahrheit, gerade weil sie daist, unendlich vielgestaltig schillert.
Es erscheint mir demgemäß nur als logisch, dass sich meine Ansichten zu verschiedenen Themen mit der Zeit abgewandelt und sogar erst herausgebildet haben. Außerdem ist sich das in zwei Haupt- und mehrere Unterschichten geteilte Werk hinsichtlich der Schärfe sowie der Tiefe selber nicht immer gleich. Von etlichen ärmlichen oder ungereimten Passagen abgesehen, die den ohnehin schwer zumutbaren Inhalt unnötig verzerrt hätten, habe ich deshalb bewusst meinem Drang widerstanden, es im Wesentlichen zu verändern. Ich will nicht mich selber nachträglich im Stich lassen, hinzu kommt eben: Ein Perfektionismus in diesem Zusammenhang gliche für mich noch mehr einer Falschheit, als so, da ich echtes Nicht-Richtiges stehenlasse.1 In vielen Fällen weicht dieses Werk als ein künstlerisches und sprachphilosophisches von der amtlichen grammatikalischen Regelung genauso wie von gewissem anerkanntem Erfahrungswissen ab. Zwar schließe ich nicht aus, dass ich in Einzelfragen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen bin wie die akademische Forschung, auch wenn solchermaßen, dass diese darüber nur noch gähnen kann. Ein Leser, der weder mein Du ist noch die Bereitschaft hat, sich irgend provozieren zu lassen, wird die folgenden Seiten aber aller Wahrscheinlichkeit nach ungenießbar finden. Schließlich entstanden sie bedingt durch meinen Jahre andauernden (!) selbstgeführten Entzug nicht selten in einem qualvollen Zustand, den ich auch ein Delirium nennen könnte. „Heute“, so möchte ich Franz Kafka mit seinen FORSCHUNGEN EINES HUNDES noch für mich sprechen lassen, „leugne ich natürlich alle derartigen Erkenntnisse und schreibe sie meiner damaligen Überreiztheit zu“, und weiter: „aber wenn es auch ein Irrtum war, so hat er doch eine gewisse Großartigkeit, ist die einzige wenn auch nur scheinbare Wirklichkeit, die ich […] herübergerettet habe und zeigt zumindestens, wie weit bei völligem Außer-sich-sein wir gelangen können.“
Thomas Neukum, 2015
1 Lediglich habe ich fast gleich nach der ersten Veröffentlichung mir aufgefallene peinliche Tippfehler − also mehrere falsche Übertragungen vom Original-Manuskript in die digitale Druckdatei − korrigiert.
1983.2 − „O je“, grübelt vom Sofa zur Decke schauend mein Vater, „o je.“ Meine Mutter, die mir als 3-Jährigem gerade die Brust eingeschmiert hat, droht: „Ich werfe dir noch alle Bücher weg, wenn das so weitergeht.“ „Wieso denn?“ „Stundenlang über irgendwelche Herzrhythmusstörungen und Leberzirrhose und Eingebildetes nachzuhirnen!“ „Du willst doch wohl nicht bestreiten, dass mein Blutdruck bei 180 zu 150 war, und das im Liegen.“ „Dann würde ich halt mal aufstehen“, greift meine Mutter zum Schrubber und wischt. Mein Vater wiederholt nur: „O je. Motivation ist eben alles.“ Zwischen ihm und mir sitzt mein älterer Bruder, der PUMUCKEL schaut. In einem verschlossenen Schränkchen liegen dutzendfach Pornozeitschriften. Unvermittelt schmettert meine Mutter das triebende Ding auf den Boden und stürmt auf meinen Vater los, der sie mit ziemlicher Gewalt von unten abwehren muss, während sie ihre Zähne fletscht: „Ich gebe dir Motivation −−− man könnte sich nach dem Büro ja auch mal mit diesen beiden Kindern beschäftigarrrghh!“ Mein Bruder, nachdem er das Gemenge mit einem besorgten Blick wahrgenommen hat, sieht nun weiter fern, wird dieses Drama doch Tag für Tag etwas anders neuaufgezogen. Mittlerweile stehen meine Eltern einander gegenüber im Raum und streiten über das, was dem einen im Vergleich zum anderen fehle oder nicht. „Und dann, dass wir selber nur ein Eternitdach besitzen, während ich 8 Stunden täglich hochwertigsten Rohstoff einkaufe“, holt mein Vater aus, „das wird mir noch den Rest geben!“ „Schon wieder dieses gottverdammte Eternitdach“, redet meine Mutter dagegen, „als wäre das der Weltuntergang …“ Der Wellensittich kreiselt und plappert: „Arschloch. Bist lieb. Arschloch. Bist lieb“, unterdessen sie fortfährt: „Wir haben zu essen, wir haben Wasser und Strom, wir haben en masse. Ha, nachdem ich mich von meinem versoffenen Vater in einer Baracke nicht niedermachen ließ, da ist mir doch ein Eternitdach scheißegal!“ Ich muss wiederholt husten und mein beengtes Gesicht verzieht sich noch mehr. Sowie die Fernsehsendung zu Ende ist, nimmt mein Bruder sich Obst, jedoch so, dass ich es nicht sehen kann, und verschwindet. Er verschwindet, weil er weiß, dass ich ebenfalls gerne Obst oder Gemüse essen würde; da ich aber nicht nur unter argem Husten, sondern auch unkuriert unter Magen-Darm-Beschwerden leide, hat der Arzt meiner Mutter erklärt, dass ich ausschließlich Weizengebäck und Cola zu mir nehmen dürfe. „Was hilft mir das denn weiter“, schreit mein Vater, „dir ist doch sogar egal, wenn der Nachbar schon wieder ein neues Auto hat!“ Meine Mutter blickt ihn einen Moment fassungslos an. Dann lacht sie wie in verzweifeltem Übermut: „Ja soll mich das denn interessieren? Selbst wenn die Drecksau dort drüben fünf, zehn, zwanzig neue Autos hat!“ „Für dich sind doch sowieso alles nur Drecksäue und Idioten“, brüllt mein Vater mit rotem Kopf und meine Mutter johlt mit sich überschlagender Stimme: „Und ist's etwa nicht so − links und rechts ein größeres Oberarschloch als das andere!“ In ohnmächtiger Wut stehe ich auf und renne nach draußen. Hinter mir ruft meine Mutter meinen Bruder, der erscheint, und ich höre noch: „Schnell, lauf ihm nach!“
Die dörfliche Straße entlang fliehen die Büsche und Mauern an mir vorbei, als ich mit hitziger Kraft meine Beine und dazu die Arme bewege. Ich spüre, wie mein Bruder naht, und versuche keuchend meine Flucht ins Nirgendwo zu beschleunigen. Wundersam gelingt es mir unter Tränen zig hundert Meter abwärts bis zur quer verlaufenden Hauptstraße zu stoßen. Wie Bolzen tauchen die Autos vor mir auf und nur ein oder zwei Schritte fehlen, als sich von hinten wie eine Zange Arme um mich schließen: Ich schreie und fluche und trete und hiebe; doch mein Bruder lässt mich nicht los. Warum lässt mein Bruder mich nicht los! Warum …? Vielleicht brauche ich mich an dieser Stelle nicht länger wehren.
2002. − „Darum schlage ich vor, dass wir die Dosis des Neuroleptikums noch einmal verdoppeln, während wir das Antidepressivum so beibehalten“, meint der Arzt der Tagesklinik, „und je nach Bedarf, sprich im Notfall, nehmen Sie einen Tranquilizer.“ „Schon wieder erhöhen? Ich habe doch schon beim ersten Mal vorausgesagt, dass die Missempfindungen und mein Gesamtzustand nur schlimmer würden, und zwar ganz einfach deshalb, weil es mir unter dieser Medikation schon einmal so furchtbar elendig ging.“ „Ja, aber seitdem sind einige Jahre vergangen, und man bleibt doch nicht derselbe“, will er aufs neue mich überreden und fügt hinzu: „Ich übernehme die Verantwortung.“ „Was soll dieses Wort denn bedeuten?“, werde ich ungehalten, weil ich fast nur noch 50 Kilogramm wiege und roten Alarm in meinem Körper heulen höre; „ich habe doch diese Beschwerden, ich muss doch diese Leiden am Abgrund ertragen!“ Der Doktor sieht einen Moment sprachlos aus. Dann beginnt er erneut von „Dopamin“ und „Serotonin“ zu reden, doch weil er wahrscheinlich merkt, dass ich nicht mehr zuhöre oder zuhören kann, erklärt er fast feierlich: „Aber wir lassen Sie mit diesen Beschwerden nicht allein!“ Schlussendlich verlassen wir das Zimmer und ich nehme mit sehr ungutem Gefühl die ganze Batterie an Tabletten.
Alleine irre ich daraufhin in einen stillen Raum, um mit untergeschlagenen Beinen mich auf den Boden zu setzen. Ich hole aus dem Rucksack, den ich tagtäglich dabei habe, eine Flasche mit alkoholfreier Flüssigkeit und trinke und trinke. Mein Herz rast schmerzzerfressen in meiner Brust. Wildes inneres Gehetztsein und taube Dumpfheit vermengen sich in meinem Geist. Da der Hunger ein immer grauenvolleres Unmaß erlangt, entschließe ich allem zum Trotz, einkaufen zu gehen. Denn das billige Klinikessen will ich nicht zu mir nehmen. Mit Übelkeit, stechenden Magen-Darm-, auch Leber- oder Nierenschmerzen und mit bohrendem Kopfweh stehe ich auf. Kaum kann ich noch sehen; wie in einem Wirbelsturm schwindelt vor mir die Welt. Gegen die bedrohliche Schwäche in meinen Gliedern ankämpfend, sammle ich alle meine Kraft, gehe durch den Korridor, steige die Treppe hinab und verlasse das Gebäude.
Wo ist links, wo ist rechts? Ich erinnere mich und gehe die Straße an Häusern, Menschen, Bäumen, Autos vorbei gen Stadtinneres. Mein Gefühl für die Zeit ist abhanden gekommen. Vom bunten lauten Supermarkt, den ich betrete, werde ich geradezu erschlagen; alle meine Sinnesnerven sind hoffnungslos überreizt. Ich beginne zu frösteln und flammend zu schwitzen in einem. Dennoch suche ich mir die Lebensmittel zusammen und stelle mich in die Schlange an der Kasse. Ich fürchte jeden Moment zusammenzubrechen, zittere, aber versuche mir nichts anmerken zu lassen. Irgendwie gelingt es mir tatsächlich mit einem Lächeln zu zahlen. Sowie ich wieder aus dem Supermarkt draußen bin, bricht alle Jämmerlichkeit und alle gefühlte Demütigung umso unmenschlicher nur über mich herein. Meine Bronchien sind nahezu luftundurchlässig zugeschnürt. In dem Wissen, dass nur ich selber mich zurückretten kann, nehme ich es in Angriff, den weißgrellen Schmerz zu meistern, und gehe wieder die Straße an Autos, Menschen, Bäumen, Häusern vorbei. Unabwendbar steigert sich das Zittern in peinvolle Krämpfe, die sich in Anfällen zu entladen drohen. Mit schier unerträglicher Anstrengung versuche ich auch diese niederzuringen, während in mir die Frage wie durch Risse nach oben quillt: Kann so was ein Mensch überhaupt überleben? Wie lange kann ein Mensch so was überhaupt überleben? Todesängste greifen nach mir. Verdammt …!
Ich schaffe es fürs erste zurück. Mir entgegen kommt die Psychologin, die schon besorgt nach mir gesucht hat, und sagt, sie möchte mit mir sprechen. Ich folge ihr in das Zimmer. [Mein Gedächtnisverlust ist leider zu groß, als dass ich beim Schreiben noch wüsste, worüber geredet worden ist. Falls ich mich nicht täusche, so hatte ich zu jenem Zeitpunkt meine Sprechfähigkeit sogar eingebüßt und konnte mich nicht länger mitteilen. Jedenfalls sehe ich hauptsächlich Leere hier klaffen.] Bitterlichst frustriert verlasse ich das Zimmer wieder. Um mich irgendwie von der Masse an Affekten zu befreien, aber kein Lebewesen zu verletzen, schlage ich im Korridor in ein gerahmtes Bild: klirrend haftet an dem Glas mein Blut. Die mit mir und vielen noch nicht bekannte zweite Ärztin kommt erschrocken aus ihrem Büro, während ich mit halbem Bedauern um die Ecke biege. Zudem läuft eine kleine Gruppe von Mitpatienten zusammen, und ich werde von einer Stimme zurückgerufen. Mit zu Boden gerichtetem Blick folge ich einer Krankenschwester in das Behandlungszimmer, wo sie behutsam mir Unterarm und Handgelenk verbindet. Kaum ist dies geschehen, teilt sehr betroffen die Psychologin mir mit, dass ich weggebracht würde, weil ich nach dem Urteil der neuen Ärztin eine Gefahr für mich selber und/oder meine Mitmenschen darstelle. Ob ich wolle, dass meine Mutter noch angerufen werde? Ich nicke. Unter Beobachtung begebe ich mich in der Zwischenzeit in den Speisesaal, wo ich mir eine schlichte Mahlzeit zusammenzustellen versuche. Noch einmal kommt die Psychologin zu mir und erläutert, dass meine Mutter bis soundsoviel Uhr hierher käme. Und kurz darauf würde man mich holen. Bis dahin müsse sie, die Psychologin, noch geschwind einen Bericht schreiben. Ich nicke abermals und beginne, umgeben von einigen Mitpatienten, ganz langsam zu essen. Immerhin gewahre ich dabei einen lauen Energieanstieg und meine verlorengegangene Sprechfähigkeit kehrt zurück. Ein Mädchen, das hier lange zur Therapie war, aber heute nur noch mal auf Besuch gekommen ist, setzt sich zu mir und ich erkläre ihr nach Möglichkeit das Geschehene. Offenbar hat sie Mitgefühl. Dann wird unter Lauten meine Mutter zu mir geführt, und mit ihr erscheint mein Bruder, der seinen Arbeitsplatz in der Bank für den restlichen Tag verlassen hat. Ungefähr zeitgleich betreten zwei Sanitäter die Tagesklinik und das weitere Prozedere startet. Mit mehreren Leuten stehe ich jetzt in dem Ein- beziehungsweise Ausgangsbereich. Wie versteinert wohnt auch der Sozialarbeiter der Szene bei. Meine Mutter fragt die Sanitäter, ob sie im Krankenwagen hinten mich begleiten dürfe, und sie bejahen. Obwohl ich in ihren Augen so einigen Zweifel an dem ganzen Fall erkennen kann, gehorchen sie der Maschinerie und „führen“ mich ab. Beim Verabschieden sagt die Psychologin noch zu mir: „Herr Neukum, Sie dürfen wiederkommen!“ (Aber weder ich noch die mich später Behandelnden würden hierauf zurückgreifen.) Meinen Wunsch, mein Leben dem Schreiben zu widmen, muss ich nun wohl endgültig zu Grabe tragen, martert sich mir durch den Kopf, als ich im Krankenwagen festgezurrt werde. Schweigend sitzt neben mir meine Mutter und hinter uns fährt mein Bruder her. Ziel ist die über 100 km entfernte Akutpsychiatrie mit verriegelter Tür und gesicherten Fenstern.
2 Tatsächlich handelt es sich um eine Erlebniscollage, das heißt um Ereignisse, die in dem folgenden Sinne zwar geschehen sind, aber nicht exakt zur selben Zeit. Ähnliches gilt für B. (Beides ist zu Teilen auch in meinem Erstlingswerk LEIDEN SCHAFFT LEBEN zu finden.)
„Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.“ Friedrich Nietzsche
(1) Erst in der Wüste graben wir aus dem Brunnen des Geistes die tiefen Schätze hervor.
(2) Wer alles und jede(n) klar und deutlich möchte, der weiß, warum er nicht weiter als bis zur Oberfläche denkt.
(3) Hüte Dich, die Wahrheiten anderer Leute anzunehmen, falls Du mit Deinen Falschheiten bisher gut gefahren bist.
(4) Der größte Narr, wenn Du ihm von Deinen Schwierigkeiten erzählst, wird seinen Rat zum besten geben.
(5) Am kritischsten sind die Leute erfahrungsgemäß gegen das, was sie nicht kennen und nicht kennen wollen.
(6) Besonders dann schmerzt die Wahrheit, wenn Du Dich alleine mit ihr siehst.
(7) Einen Eremit überzeugen wir nicht.
(8) In einem Punkt sind sich fast alle Menschen einig: dass ein anderer unrecht hat.
(9) Früher war ich ungewiss. Seitdem ich weiß, dass es keine Gewissheiten gibt, brauche ich das nicht mehr zu sein.
(10) Ein funktionierender Plan ist ein Plan, der Fehlfunktionen mit einberechnet.
(11) Ein schrecklicher Überredungskünstler
Der Affekt ist ein einäugiger Riese, der die menschliche Vernunft zu fressen liebt.
(12) Wer begrifflich schwach ist, der gedenkt selbstverständlich handgreiflich stark zu sein.
(13) Das in der Physik gelehrte Trägheitsgesetz, dass es bei nicht außerordentlichem Energieaufwand daure, bis eine große Masse in eine bestimmte Richtung in Bewegung oder andererseits zum Stoppen kommt, scheint ohne Weiteres auf die öffentliche Meinung übertragbar zu sein.
(14) Dialektik
Wenn ein einzelner Mensch von Entsagung in Maßlosigkeit und immer so weiter verfällt, dann wird die Hegel'sche Vernunft, nach der alle Entwicklung in Gegensätzen verläuft, vom Geist der Allgemeinheit sehr abrupt in „Schwachsinn“ umgetauft.
(15) Zu oft halten wir einen vielbesehenen Ausschnitt des Lebens für das Leben selbst.
(16) Der nüchterne Utopist Hobbes
Lesen, sehen und hören wir nicht Tag für Tag, dass im Gesellschaftszustand der Mensch dem Menschen ein Wolf ist? In der ursprünglichen Natur gibt es nur Zähne, Klauen und Steine; bei uns dank politischen Verträgen chemische Bomben und perverse Egoisten.
(17) In einer Welt, in der es idealistische Materialisten und materialistische Idealisten, egozentrische Moralistiker und sozialistische Liberale gibt, kann nichts Menschliches uns nicht fremd sein.
(18) Zeitalter, die an die „Sünde“ und das „Böse“ glauben, können nicht mehr als eine oberflächliche Kenntnis der menschlichen Seele besitzen. Solche Worte sind geradezu antipsychologisch.
(19) Sozialwissenschaftliches Weltbild
„Dominanz“ ist eine nette Bezeichnung für das, was gelegentlich Christen das „Böse“ hießen.
(20) Schon vor der Schule lernen wir das Vorurteil, dass jeder Begriff auch eine Einsicht in die Wirklichkeit bildet.
(21) Das sokratische Wissen
Zwar beißt sich mit einer Feststellung wie „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ die reine Erkenntnis in den eigenen Schwanz; doch lässt die Ironie kraft sich querender Begriffssphären eindeutig Gründe durchblicken, die ihre Ursachen im Gefühlsleben haben.4 Und was ein Mensch fühlt, das tut er, ob wir es nun widersprüchlich nennen wollen oder nicht.
(22) Zu wenig oder zu viel Gymnastik schadet auch Begriffen.
(23) Die axiomatische Methode
… indiziert, dass ein Philosoph von Tabula rasa an Erfahrungen sammelt, um unter dem Schirm derselben zu ersten Grundsätzen aufzusteigen, aus denen er schließlich alles für ihn Besondere beweisend herleitet und rückverdünnt.
(24) Bereits ein einziger falscher Begriff kann die Sicht auf einen ganzen Wirklichkeitsbereich versperren.
(25) Zahllos sind nach wie vor die Positivisten, die eine „einfache und klare“ formalisierte Sprache fordern − mit der sich faktisch der Nuancenreichtum der äußeren und inneren Welt niemals ausdrücken lässt.
(26) Zu denken, wir könnten restlos alle Widersprüche lösen, ist ebenso unvernünftig wie verbreitet. Trotz allen Lavierens lecken diese auch durch den Filter meiner Sprache hindurch.
(27) Realismus ist die Vorstellung, dass die Vorstellung realistisch sei.
(28) Pessimismus plus positives Handeln
Der- der demjenigen, der das unermessliche Leid der Welt anerkennt, erschließt sich auch die Möglichkeit, sinnreich und gesund zu handeln. Wer sich aber blind stellt und nur den Genuss sehen will, wird es noch kennenlernen.
(29) Hinwiederum: Warum schimpfen wir jemanden, der aufgrund seinen schlechten Lebenserfahrungen grundsätzlich vom Schlechten ausgeht, einen „Pessimisten“? Sofern ich richtig verstanden habe, trifft gerade auf ihn das Prädikat „Realist“ zu.
(30) Jedem Neugeborenen ist die überfordernde Aufgabe der Wirklichkeitsforschung gestellt bis in den Tod. Wer sich „Realist“ nennt, scheint's in der Zwischenzeit immerhin bis zur Anmaßung gebracht zu haben.
(31) Wer nur lange genug späht und schielt, der wird auch an der besten Sache noch eine schlechte Seite finden, oder an der schlechtesten eine gute.
(32) So subjektivistisch kann kein Philosoph sein, dass er nicht auf das Allgemeine zielt.
(33) Mystisch, das heißt nicht bloß, „die Augen zu schließen“, sondern vor allem: in volkstümlichen Worten nur schwer, in Fachbegriffen gar nicht mitzuteilen.
(34) Bis zu einem gewissen oder vielmehr ungewissen Grad ist jeder Mensch eine Welt in der Welt, aber auch jedes Tier.
(35) Gefährlicher als der Nihilismus ist für die allgemein erregbare Menschennatur das Pathos. Ja, gemessen an diesem ist jener als Gegenstand des Vorwurfs ziemlich sinnlos.
(36) Dass der Mensch jene Phänomene, die er selber nicht erklären kann, schlichtweg unerklärlich nennt, das gründet doch in einer naiven Selbstherrlichkeit?
(37) Mehr denn je wollen wir Eindeutig-, ja Einmaligkeit. Scheinbar sind wir mittlerweile zu gebildet, um zu sehen, dass uns jeglicher Tag Vieldeutigkeit und Wiederholung lehrt.
(38) Wie könnte − außer als Denkfehler − etwas Absurdes existieren? Die Dinge sind das, was sie geworden sind.
(39) Die unendliche Komplexität jenseits sicherer Meinungen
Alle Situationen, in die Du oder ich geraten, haben jeweils längst begonnen und enden keineswegs, sowie jemand von uns sie augenscheinlich verlassen hat. Ihre verzwackte Bedingtheit haben wir dann begriffen, wenn wir begreifen, dass sie nicht vollkommen zu begreifen sind.
Jede (echte) Situation ist kodifiziert.
(40) Ein weiteres Wort zur angeblichen Absurdität des Daseins Selbstverständlich, Du kannst den Sinn, den Du in Deinem Leben postulierst, verfehlen; doch bleibt die faktisch eingetretene Notwendigkeit das blanke Gegenteil vom Absurden.5
(41) Gefühle sind die Farben der bewussten Welt.
(42) Der Gedanke, dass das Leben sinnlos sei, birgt in sich unausgesprochen schweren Sinn.
(43) Das Gespür der Lemuren
Alles Übersinnliche, das uns die Sprache benimmt, denke ich mir als feinsinnlich oder Nichts: Unsere höchsten Fähigkeiten sind wahrscheinlich die aus primitiver Zeit vererbten.
(44) Je reiner uns eine Theorie gelehrt wird, desto mehr gleicht sie praktisch einem Mysterium.
(45) Alle wirkliche Erkenntnis ist approximativ.
(46) Mit den Verkleinerungs- und -größerungsgläsern, an die wir glauben, haben wir das auf uns ruhende Auge Gottes ausgestochen.
(47) Es gibt nichts Absolutes außer: Die Summe des Relativen.
(48) Alles Vergangene, sobald wir daran denken, ist Gegenwart.
(49) Vergessen wir gleichzeitig nicht und merken uns vor: Alles Erinnern zielt auf die (Meisterung der) Zukunft.
(50) Angenommen, die Physiker entschlüsseln mathematisch das Rätsel der Zeit noch weiter, so wird es dennoch für jeden gefühlsbegabten Menschen ewig ein Mysterium bleiben − ein Mysterium, das nur dies etlichen Dogmen voraushat, dass es wahr ist.
(51) Vornehmlich aus dem Grund überbewerten wir diesen oder jenen Augenblick, weil nichts direkt an den Dingen ist, was uns die Myriaden von Augenblicken danach sehen lässt.
(52) Stets ist die Behauptung: „Ich habe keine Zeit“ der schlechteste Grund, nichts von der eigenen Energie zu schenken, da Zeit gerade das ist, was niemand besitzen kann, höchstens umgekehrt: Die Zeit besitzt Dich.
(53) Erst sorgt sich der Philosoph, dann philosophiert er, dass die menschliche Existenz sich mit kategorischer Logik durch die Sorge definiert, und glaubt schlussfolglich durch diese Philosophie sorgenfreier zu werden.
(54) Erklärungsnot
Wenn Du Dich fragst, wie Du einen gewissen Vorfall jemandem erklären sollst, bist Du dann nicht schon im Begriff zu lügen? Die Wahrheit ist immer der beste Grund.
(55) Einen abstrakten Menschen zu verurteilen, das heißt einen reellen, von dem Du Dir eine Idee bildest, ist wahrhaftig keine Leistung.1
(56) Gründe für Gleichmut
Die Qualen unserer Sehnsucht heben sich durch die Erkenntnis auf, dass (bereits) der Einbildung Substanz anhaftet: Selbst ein EEG bestätigt dies. Weil aber nichts substantieller als Substanz sein kann, gibt es keinen Grund, an „wirklichen“ Leiden zu verzweifeln.
(57) Die Achse des Lebens
Nehmen wir einmal mit Aristoteles an, es gibt zwei Grundempfindungen, Schmerz und Lust, so liegt erstere im negativen, letztere im positiven Bereich. Die empfindungslose Mitte aber gliche dem Tod: Schmerz −−−−−−−−−−−−−−−−−−−−−−− null −−−−−−−−−−−−−−−−−−−−−−− Lust Wenn wir hiernach unser Leben bilanzieren und feststellen, dass wir zwar gelegentlich im positiven, hauptsächlich jedoch im negativen Bereich weilen, so wäre die logische Folgerung, das Konto unseres Daseins am besten aufzulösen. Alleine, dieses zweidimensionale Schaubild lässt die schwer zu tötende Hoffnung des Menschen außer Betracht.
(58) Selbstmord
Selten, eigentlich nie bringt sich ein Mensch wegen der Gegenwart um; dafür ist sie einfach zu dünn. Sondern die zu schmerzvolle Vergangenheit, die abzutrennen nicht glückt, ist der Mörder des Selbst.
(59) Auch ein sogenannter Tatsachenmensch kann nicht bestreiten, dass es die Hoffnung ist, die uns (in schwierigen Zeiten) weiterleben lässt. Unabhängig davon, ob sie begründet scheint oder nicht, ist die Hoffnung aber eine Fiktion. Wir borgen vom morgigen Tag das Heute, welcher faktisch nicht existiert.
(60) Wie einem Jeden und einer Jeden bekannt, wurzelt unser Leben darin, dass der nahe oder noch nicht so nahe Tod auf uns zuläuft. Und falls Du diesem finalen Augenblick, statt in Schauder zu zerfließen, mit gefasster Ruhe begegnen kannst, so ist Dein gesamtes Leben − gleichgültig, in wie viel Lust oder Leid es verflossen sei − von Erfolg gekrönt.
(61) Anhaften am Schleier des Daseins
Ein mit Gedanken angefülltes Ich, die sich auf Nichtexistentes beziehen, kurz Lebenserinnerung macht nicht zuletzt Angst vor dem Tod. Deswegen erscheinen uns sterbende Kinder zuweilen so furchtlos.
(62) Dieses Dasein als Ephemeriden
Lang aber ist das Leben nur in einer geistigen Vorwegnahme. Ich glaube nicht, dass ein 6-jähriges Kind von seinem Gefühl her kürzer lebt als jemand 60-Jähriges. Rückblickend zeigt sich alle Dauer als Illusion: Stets hört das Herz in Einem Moment zu schlagen auf.
(63) Schlussfolglich schaut der Sterbende nach vorn ins Licht oder Dunkel und müsste ahnen, dass vom absoluten Standpunkt des Toten aus (für den die Ausdehnung der Zeit wegfällt) alle noch Lebenden ebenfalls gestorben sein werden.
(64) Da Du den sogenannten Kampf gegen die Zeit nicht gewinnen kannst, solltest Du ihn also gar nicht erst führen.
(65) Schuld und Vergebung
Der XIV. Dalai Lama lehrt uns ein Gedankenexperiment: „Dazu stellen wir uns einen Fall vor, bei dem uns jemand mit Worten beleidigt. Wenn wir aufgrund des Schmerzes, den wir deshalb empfinden, Verärgerung in uns aufsteigen spüren, dann sollten wir diese doch eigentlich auf die geäußerten Worte ausrichten […] Stattdessen werden wir aber auf denjenigen wütend, der uns diese Worte an den Kopf geworfen hat. Natürlich lässt sich jetzt einwenden, dass es ja diese Person war, die uns beleidigte, und wir daher völlig zu Recht auf sie sauer sind, weil wir die moralische Verantwortung ja ihr zuschreiben müssen und nicht ihren Worten. Das mag wohl zutreffen. Doch wenn wir davon ausgehen, dass wir uns eigentlich über das ärgern sollten, was uns tatsächlich den Schmerz zugefügt hat, dann sind die Worte die direkteren Verursacher. Aber sollten wir nicht vielmehr unseren Zorn auf das richten, was die Person, die uns beleidigte, dazu antrieb − nämlich auf ihre blockierenden Gefühle? […] Von den drei in Frage kommenden Faktoren − den schmerzhaften Worten, der Person, die sie äußerte, sowie den negativen Impulsen, die sie antrieb − ist es jedoch die Person, auf die wir unsere Verärgerung richten. Irgendwie ist das nicht konsequent“, und anschließend: „Wenn man jetzt einwendet, die eigentliche Ursache unseres Schmerzes sei das Wesen desjenigen, der uns beleidigte, dann haben wir noch immer keinen plausiblen Grund, über diesen Menschen verärgert zu sein. Denn wenn es tatsächlich in seiner wahren Natur liegen sollte, aggressiv gegen uns zu sein, dann könnte er gar nicht anders handeln. Und in dem Fall wäre die Wut auf ihn vollkommen sinnlos. […] Doch wenn wir uns in Erinnerung rufen wollen, dass das Konzept einer angeborenen Aggressivität oder Bosheit falsch ist, dann müssen wir nur daran denken, dass derselbe Mensch, der uns Schmerz zufügt, unter anderen Bedingungen ein guter Freund werden könnte.“ (DAS BUCH DER MENSCHLICHKEIT)
Ist aber keine definitive Schuld aufzufinden − wozu sollte uns mithin Vergebung nützen? Wer „vergibt“, beweist nur, dass er noch immer in „Schuld“-Kategorien denkt.
(66) Verbüßungen
Der Glaube an die Schuldhaftigkeit zieht bekanntlich die Reue nach sich, und dieses auch von der modernen Rechtswissenschaft erwünschte Gefühl, das im Unterschied zu besinnendem Bedauern einer rückwärts gewandten Selbstzerfleischung gleicht, ist beinah der Widerpart der Besserung.
Bei schweren Triebtätern kann der Sinn vom Gefängnis unter allen Umständen nur der einer lebenslangen Sicherheitsverwahrung sein. Rache und Strafe sind nutzlos, es sei denn, Gerechtigkeit soll eine Anhäufung von Leid auf Leiden besagen.
(67) Äußere und innere Tatbestände
Ebenso wie Vergewaltigte und Ermordete bedaure ich die jeweiligen Täter. Wer nun schreiend zur Antwort geben möchte: „Wie kannst du so was sagen!“, den bitte ich vorher sich zu beantworten: Möchtest Du denn mit seiner Seelenlage tauschen?
(68) Kreuze der Kultur
Mitgefühl, mehr noch Mitleid wächst sich für den Mensch des Westens, sofern er es empfindet, gleich zu einem niederdrückenden Affekt aus. Darum begreifen wir es so schwer, wenn ein gleichmütiger buddhistischer Mönch es als Grundvoraussetzung für das „Glück“ nennt.
(69) Die Maschinerie bräche augenblicklich zusammen, würden sich die Juristen − statt dass sie tausendundein Konstrukte beispielsweise zum freien Willen hegen − ausschließlich an die „Beweise“ halten. Doch die Maschinerie treibt sie an.
(70) Die „Als ob“-Maximen
Wo der Mensch sich mit den Fakten alleine nicht zufriedengibt, sondern an mehr denkt, dort fängt Ethik an.
(71) Das Ich ist die Umwandlung der Welt, in die es sich verlängert fühlt.
(72) Täglich wandelt sich unsere Wahrnehmung, und falls Dir das zweifelhaft erscheint, so doch zumindest über die Jahre. Also hat es irgendeine bestimmte Person, so wie Du sie gerade kennst, nie gegeben.
Warum sie jemals beneiden oder hassen? Die Liebe wäre doch ein viel besserer Irrtum.
(73) Wer ein gewisses Merkmal seiner Person zu erkennen gibt, läuft Gefahr, dass seine Mitmenschen seine Person nur noch als jenes Merkmal kennen.
(74) Die große Selbst-Täuschung
Einzig und allein deswegen, um ein kompliziertes Überleben zu organisieren, braucht der Organismus eines hochentwickelten Säugetiers eine Ich-Funktion: ein Funktion des Gehirns, die Du oder Ich auch als dereinst geborene Wesen mitbekommen hätten. Doch diese Fiktion will natürlich von wahrer Existenz, das heißt vom Jetzt-und-für-immer-sein eines Nicht-Du mächtig überzeugen.
(75) Alles in Einem und Eines in Allem
Was auch immer existiert, existiert bedingt durch anderes: Alles Dasein ist nur ein Sosein. Jedes Lebensmittel, das wir essen, wird zum Körper, ohne dass es Körper wäre. Selbst die im Raum erscheinende Person erweist sich mit dem Ich genau genommen nicht als identisch. Denn grundsätzlich ist jene unzweideutig bestimmbar, dieses keineswegs. Ohne Du ließe sich nicht einmal ein Ich denken. Doch löst sich ein Jegliches im umfassenden All-Einen, dessen die Sinnlichkeit wandelt, auf. Hinter allediesem Wandel der Erscheinungen, die sich im Ich als (Ausschnitte der) Welt wiederfinden, ruht bei Analyse meines Verstandes nichts als ein Urgrund der Leere; wahre, das heißt unabhängige Existenz bleibt das, was einer Illusion gleicht. Und alle unsere Taten fallen direkt oder indirekt auf unser flüchtiges Selbst zurück, das von Natur aus eher nicht leiden möchte.6
(76) Einem Ich, das in nichts Größeres entströmen mag, droht Erstickungsgefahr an sich selber.
(77) Bezüge und Wesenheiten
Haben wir erst einmal begriffen, dass jedes Ursache-Wirkungs-Verhältnis eine Umwandlung darstellt, dann halten wir nicht länger an verengten Kategorien fest. Wir glauben dann nicht mehr, dass die Hitze des erhitzten Eisens die Hitze des Feuers sei, sondern wissen, dass die Hitze im Eisen die Hitze aus dem Feuer ist, und werden großmütig.
(78) Die menschliche Erfindung der Zahl
Wenn ich maschinell 5 größere Äpfel zerteile und augenscheinlich perfekt zu 7 kleineren neu zusammenfüge, woraufhin jemand sagt: „Sieben Äpfel“, hat er dann unrecht? Oder wenn 2 dreiviertelgroße am Baum zu 1-nem verwachsen sind −? In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass auch alle Stellen hinter dem Komma einer gebrochenen Zahl nicht-infinite, ganze Zahlen bleiben.7
(79) Genau betrachtet, hätte die Wissenschaft es beinahe errungen, meinesgleichen Zahlen wie die 21 entmystifizierend begreifbar zu machen.
(80) Der falsche Glaube an die ganze Zahl und der falsche Glaube an die geschlossene, einheitliche Personhaftigkeit sind − eins.
(81) Im Endergebnis habe ich gegen die Mathematik nur dies, dass ich selber sehr oft rechne.
(82) Angesichts wissenschaftlichen Berichten, die vor Fremdwörtern und Zahlen nur so strotzen, denkt der bildungsgläubige Bürger: „Das muss die Wahrheit sein, denn ich verstehe es nicht.“
(83) Was aus Unwissenheit geschieht, geschieht ohne System, glauben wir. Doch ist vielfach die Unwissenheit System.
(84) Der Glaube gründet sich per Definition auf das, was wir nicht wissen: Er ist eine Zuflucht aus der Ungewissheit heraus. Nun hat die Wissenschaft aber vielen Menschen nicht die erhoffte Gewissheit und Geborgenheit gebracht …
(85) Eine Kritik der experimentellen Vernunft
Selbstverständlich sind nicht von vorne und hinten meine Folgerungen vollkomme richtig (alles besitzt nur Gültigkeit in bestimmten Relationen), aber das ist auch nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass wir aus unserer Unmündigkeit anbetrachts Statistiken und Co. zurück zu den Möglichkeiten mutigen Selberdenkens finden.
(86) Der Mensch ein Makroskop
In einer Welt der amtlich beglaubigten Verwissenschaftlichung kann uns am besten der Aphorismus helfen, Erkenntnisse wieder kraft unseres Verstandes an der eigenen Lebenserfahrung zu prüfen und (selbst wenn falsifizierend) zu erwerben.
(87) Ich werde keiner Statistik glauben, die mir beweisen will, dass täglich 12 Stunden die Sonne scheint, wenn das an den meisten Tagen im Jahr dort auf der Erde, wo ich lebe, nicht der Fall ist.
(88) In der Folge dessen, das Studie A resümiert: „Das Rechtsbewusstsein der Menschen insgesamt steigt“, und Studie B: „Im Jahr 2013 hat es so viele gewaltsame Konflikte auf der Erde gegeben wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr“, dürfen wir − insbesondere, da beides den Tatsachen entspreche − welchen Gedanken fassen?
(89) Erst wenn die Logik kreativ wird (das heißt, wenn sie nach unerschlossenen Faktoren sucht), wird sie menschenfreundlich.
(90) Die Vermehrung des modernen Wissens im Kleinsten
Für mich, der ich wie die absolute Mehrheit weder Mikrobiologe noch Experimentalphysiker bin, besteht das Wissen über Atome oder Gene in nichts als einer fixen Idee. Diese meine Idee wurzelt in modellartigen Beschreibungen mit appetitlich bunten Formen, die ich − weil wir aus dem Urwald kommen − zu verstehen glaube. Von einhundert Leuten, die über Hormone als Grund für was auch immer reden, kennen mehr als neunundneunzig den empirischen Gegenstand ihrer Begriffe zu nicht einmal einem Prozent. Gleichermaßen handelt es sich bei der Bakterien-Angst, die bereits Kinder lernen, um eine (un)reine Denkkonstruktion.
(91) „Maschinen zu Verbreitung ihrer Gene als Produkte der Evolution“
Eine Wissenschaft vom Leben, die uns als eine Zusammenballung von Stoffen betrachtet − und sonst nichts −, haftet der nicht etwas Lebensfeindliches an?
(92) Abstrahieren wir von unserem Wissen und versetzen uns zurück in die natürliche Anschauung: „Dieses Glas Wasser da, das du siehst“, wird uns gelehrt, „das ist H2O.“ Und ab hier wird für das Kind das, was es fassen kann, unfassbar; das kann es nicht begreifen, sondern nur auswendig lernen.
In der Schule wird in Karos gedacht.
(93) Vorbereitungen für die deutsche Elite
Das erste und letzte, was ein Gymnasiast oder eine Gymnasiastin zwecks eigenständigem Arbeiten beim umformulierenden Abschreiben eines Textes lernt, ist, dies möglichst logisch aufzuziehen, auch wenn das Ganze wenig Sinn gibt.
(94) Folgende Schlussfolgerung hat die PISA-Studie nicht ausdrücklich gezogen: Ebenso wie der schlechten Laune schadet die Sonne der Bildung.
(95) So oft ich höre, wie das „Warum?“ eines Kindes von Erwachsenen abgespeist wird, die gelernt haben, ohne Gründe zu leben, zweifle ich, wer da vernünftiger ist.
(96) Alle, die nicht lernen durften, sich zu irren, können auch nichts berichtigen: Fehlermachenkönnen verbürgt den Erfolg.
(97) Unter anderem hat das Kleinkind dies dem Erwachsenen voraus: Es dreht und wendet jeden Gegenstand von allen möglichen Seiten her, um ihn zu begreifen.
(98) Weil die Erwachsenen ihnen das Lügen noch nicht beigebracht haben, sprechen Kinder die Wahrheit.
(99) Wissen ist Besitz, der sich nicht vermindert, wenn wir davon geben. Diese Freude am Teilen macht den guten Professor aus.
(100) Faustisches Wissen
Mutmaßlich gibt es nicht einen einzigen Menschen, der bei dem Versuch, eine sehr allgemeine Bildung in die Tat umzusetzen, nicht gescheitert wäre.
(101) Der Glaube an das Wort
Früher nannten wir's die (göttliche) Kraft der Seele. Dann meinten wir in etwa dasselbe mit der Macht des Unterbewusstseins. Und heute nennen wir's − oha! − Autosuggestion oder gar − hoho! − neurolinguistische Programmierung.
(102) Augenscheinlich ist es uns ein für alle Mal gelungen, den Geist auf die biologische Materie zurückzuführen. Gleichwohl kenne ich das Cerebrum, aus dem mein Denken kommt, nur als das Fleischliche meiner denkenden Anschauung.
(103) Prästabilierte (Dis-)Harmonie oder Die neuen Schicksalsgöttinnen
Betrachten wir's mal nüchtern: Mittlerweile wird von Genen doch so gesprochen, als wären es Monaden, die energetisch mit dem Fatum geladen seien.
(104) In einem Raum ohne Boden zu existieren, einem digitalen Raum, macht natürlich ängstlich und unsicher.
(105) Von irgendetwas Festem und Gleichbleibendem müssen wir Erdenwesen einfach ausgehen, selbst wenn wir es „Werden“ oder „Leere“ heißen (oder „Gott“ oder „Familie“ oder „Elementarteilchen“).