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Yv zieht nach ihrem Studium von Deutschland in die Metropole Prag, um sich als freie Künstlerin zu verwirklichen. Aus Geldnot beginnt sie jedoch zu strippen und zeichnet Porträts auf einer Brücke über der Moldau. Ein Kunstagent führt sie zum Erfolg. Aber er neigt zur Eifersucht, und ihre Bilder wirken provokant.
Als sie mit einer Freundin in die Provence reist, lernt Yv deren attraktiven Partner kennen. Die Künstlerin wird verleumdet und nach einer Ausstellung in Berlin zu einem Opfer von Gewalt. Doch die Sonne in ihrem Herzen glüht stärker als die Dunkelheit.
Dieser kosmopolitische Roman erschien auch unter dem Titel DIE KÜNSTLERIN.
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Thomas Neukum
YV
Ein Leben für die Kunst
Roman © 2022
1.
Die Welt konnte ihr nicht weglaufen. Aufrecht schlenderte Yv einen Asphaltweg am malerischen Ufer des Bodensees entlang. Ein Sommerkleid wallte leicht um ihre Schenkel. Ihr kastanienfarbenes Haar fiel auf die Schultern, und ihre stahlblauen Augen schauten nach vorn.
Von hinten näherte sich das Geräusch schneller Schritte. Yv drehte sich nicht um, bevor jemand ihre Hand berührte.
„Wo bleibst du denn?“, fragte Tom. Er trug ein kurzärmliges Polohemd. Sein freundliches, sanft gebräuntes Gesicht blickte Yv forschend an.
Sie schmunzelte.
Mit einer hochgezogenen Augenbraue sagte er: „Deine Eltern haben sich bereits für die Abschlussfeier in der Kunstakademie eingefunden. Ich versuchte dich auf deinem Handy anzurufen und bin zu deiner Wohnung gelaufen, sah aber durchs Fenster, dass sie leergeräumt ist.“
Sie standen irgendwo am Rand des grün bewachsenen Städtchens Überlingen und hörten das Wasser plätschern. Tom wusste, dass Yv nichts an die große Glocke hing. Wenn sie aber eine Aktion dermaßen still in sich gären ließ, dann beunruhigte ihn das.
„Wozu sollte ich diese Wohnung jetzt noch brauchen?“, erwiderte sie achselzuckend. „Ich hab allerdings nicht vergessen, dass du einen Zeitungsartikel über die Kunstakademie schreiben und mit den erfolgsgekrönten Studentinnen einleiten möchtest. Wir müssen wohl rennen, was?“
„Und ob!“
Sie rannten munter zu dem romanischen Gebäude.
In der kühlen Halle warteten lediglich ein paar besetzte Stuhlreihen, ein Holztisch mit einem Sektempfang und eine niedrige Bühne. Eine Dozentin schwang eine Rede. Neben ihr stand geduldig eine Gruppe von Absolventinnen und Absolventen.
Während Yv zu ihnen huschte, erblickte sie unter den Zuhörern ihre Eltern. Ihr Vater trug ein luftiges, wenn auch betongraues Jackett und machte eine beschwichtigende Geste gegenüber der Mutter. Sie hielt ihren blonden Kopf mit den hohen Wangenknochen noch immer wie eine stolze, verzweifelte Turnerin.
Tom nahm neben ihnen Platz und wurde den Eindruck nicht los, dass Yv sogar innerhalb der Gruppe ein herausgelöstes Individuum blieb. Dann schrieb er in sein Notizbuch.
Niemand hätte bei der allerersten Begegnung mit dieser jungen Frau erraten, dass sie gesellschaftskritische Bilder von expressiver Farbenkraft schuf. Die Eltern kannten nur die harmloseren Experimente ihrer Tochter. Wer jedoch die teils deformierten Werke von Max Beckmann betrachtete und mit den freizügigen Vertretern der Pop Art gedanklich kombinierte, erhielt eine Vorstellung von Yvs Malweise.
Sie entnahm den Darstellungen von Allen Jones, dass die vitale Erotik in unserer Gesellschaft geschwunden und durch konsumorientierten Sex ersetzt worden sei. Wie ebenjener Maler war auch sein amerikanischer Kollege Wesselmann zudem Objektkünstler. Beide reduzierten den weiblichen Körper auf Reizpartien. Doch Allen Jones modellierte aus seinen Frauenplastiken sogar Möbelstücke auf allen Vieren.
Die Dozentin überreichte endlich die Diplome, die samt und sonders einen Kunstabschluss im Jahr 2010 bescheinigten. Zu einem wirtschaftlichen Erfolg prädestinierten sie allerdings nicht.
Als Yv an der Reihe war, sagte die Dozentin leise: „Sie haben das große Talent des zwanzigsten Jahrhunderts zu provozieren. Unter den älteren Dozenten wären Sie daher durchgefallen, aber wir wissen Ihren entgrenzenden Stil zu würdigen. Viel Glück!“
„Oh danke, bin ich wirklich so viel zu spät?“, scherzte Yv. Vielleicht war ihr noch nicht bewusst, wie sehr das Wort ›entgrenzend‹ in seiner psychologischen bis geopolitischen Bedeutungsspanne zum Leid- und Leitmotiv ihres Lebens werden sollte.
Mit großen Plänen verließ Yv die Kunstakademie.
Als sie mit Tom und ihren Eltern zum Parkplatz ging, fragte die Mutter auf Tschechisch: „Co budete dĕlat ted´?“
Prompt erkundigte sich der Vater sowohl auf Französisch als auch Deutsch: „Qu’a dit maman? Was hat Mama gesagt?“
Das war ein vertrauter Wink mit dem Zaunpfahl. Denn der Vater hielt es für höflicher, sich so zu artikulieren, dass es andere auch verstanden.
„Mama hat gesagt, dass ihr mich ursprünglich zur Dolmetscherin erziehen wolltet.“
„Das ist gar nicht wahr“, widersprach die Tschechin.
Doch der Vater fand Yvs Antwort offenbar vergnüglich. Er öffnete den BMW und lud Tom ein, noch zu ihrem Haus nach Konstanz mitzukommen.
Also rutschte der junge Mann auf den Rücksitz neben Yv. Sie war so blühend schön, so beherzt. Um sie aber zu verstehen, musste man wissen, wie ihre Eltern zueinander gefunden hatten.
2.
Ihr Vater, Ralph Rocher (gesprochen ›Roschee‹), wurde in Elsass-Lothringen geboren. Bekanntlich hatte Deutschland dieses Gebiet nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an Frankreich abtreten müssen. Das änderte zwar nichts daran, dass Yvs Großmutter und Urgroßmutter deutschstämmig waren. Doch ihr Großvater zeigte sich als waschechter Franzose mit Schnurrbärtchen. Sobald ihm das Geplapper im Haushalt zu bunt wurde, klopfte er mit den gesammelten Werken von Voltaire gerade fest genug auf den Tisch, dass der Café au lait nicht überschwappte.
Sein Sohn, der seinerzeit noch kleine Ralph Rocher, bastelte und schraubte gern Kram zusammen. Aber er fabrizierte auch anständige Schulnoten.
Somit verwunderte es niemanden, dass er Bau-Ingenieur wurde. Die Firma, für die er arbeitete, wuchs auf dem Immobilienmarkt bis in das mittlerweile befreundete Deutschland hinüber. Sein Chef bot Ralph Rocher an, die neue Filiale in Konstanz zu leiten, da er nahezu akzentfrei deutsch sprach. Hier besorgte sich der ungebundene Monsieur vorerst eine Mietwohnung.
Als in Deutschland die Europameisterschaften im Turnen stattfanden, reservierte er sich eine Platzkarte und fuhr hin. Er wollte auf der Zuschauertribüne schon sein Baguette mit Tomate und Putenbrust auswickeln, da schritt laut Durchsage die Tschechin „Nastasia Wasnezowa“ zum Stufenbarren.
Ihre straffen Schenkel waren elfenbeinblass, ihre roten Lippen zusammengekniffen, und auf ihren Schultern schien der ganze Ostblock zu lasten. Sie atmete durch, packte die Stange und wirbelte sich formvollendet herum.
Beim Absprung stolperte sie jedoch einen Schritt vorwärts. Ihre Trainerin, die mit einem pfauenblauen Haarreif einer Zuhälterin ähnelte, drehte ihr und den Kameras den Rücken zu.
Am Ende gewann Nastasia Wasnezowa noch die Silbermedaille, und als eine Träne ihre Wange hinabrann, konnte der gerührte Monsieur Rocher nur rätseln: Weinte sie aus Freude oder Kummer?
Zusammen mit anderen Athletinnen aus der ČSSR durfte sie vor der Abreise immerhin eine Cafébar besuchen. Und genau dorthin ging auch ihr geheimer Verehrer.
Nastasia saß nicht in der Mitte der Gruppe, sondern am Tischende. Ungeachtet dessen übernahm sie es, die Cocktails zu bestellen. Tatsächlich konnte sie schon damals Deutsch. Es klang noch holprig und auffällig, so wie es eben an manchen (keineswegs allen) Schulen in Osteuropa gelehrt wurde. Trotzdem entfachte es in Ralph Rocher genug Mut, um sich ihr zu nähern.
„Ich sah dich turnen. Einfach toll“, sagte er betont. „Darf ich mit meinem Stuhl zu dir hüpfen?“
Sie lachte gelöst. „Natürlich.“
Ruckzuck flirteten die beiden miteinander. Die anderen Mädels wirkten verblüfft, zumal sie kein Deutsch verstanden.
Monsieur Rocher war charmant, offen und ehrlich. Nastasia erzählte ihm, dass sie aus einer tschechischen Kleinstadt stamme, aber in Prag trainieren müsse. Ihre Vorfahren kämen teilweise aus Russland. Doch schon allein in dem Gebilde der Tschechoslowakei würden sich mindestens fünf Sprach- beziehungsweise Volksgruppen überschneiden.
„Wir Menschen kennen unsere Grenzen nicht“, meinte sie. Dabei schwenkte sie nachdenklich den Mischmasch in ihrem Glas, als wäre dort die Antwort zu finden, warum sie das eigentlich diesem Deutschfranzosen anvertraute. „Normalerweise ich trinke keinen Alkohol. Das ist nicht erlaubt in unserer Kaserne.“
Ralph Rocher schaute sie sinnierend an.
„Was ist? Habe ich etwas falsch gesagt?“
„Nein, nein, es ist sehr interessant. Soviel ich weiß, benutzt man aber das Wort ›Kaserne‹ eher für Soldaten und nicht für Sportlerinnen.“
„Sportlerinnen, Soldatinnen – ich merke keinen Unterschied. Wir werden abgerichtet und gequält. Meine Trainerin gehört zu den Sowjets. Am liebsten ich würde hier im Westen bleiben. Ich hasse die Kommunistische Partei.“
Eine Teamkollegin stupste sie an, so dass Nastasia zusammenschreckte. Worüber sie sich denn mit dem jungen Mann unterhalte? Nastasia log hübsch.
„Und warum bleibst du nicht im Westen?“, fragte Ralph.
„Man braucht eine Erlaubnis, also politische Beziehungen oder viel Geld, um die Beamten zu … Wie heißt das Wort?“
„Bestechen.“
„Ja, sonst ich darf nicht wieder einreisen und meine Familie sehen.“
„Wie oft siehst du deine Familie in der Prager Kaserne?“
„Nie. Aber hier ich kenne gar keinen Menschen.“
„Du kennst mich“, sagte Monsieur Rocher.
„Machst du Witze, oder hältst du mich für verrückt?“
„Gegenüber einer so intelligenten Frau würde ich in dieser Situation keine Witze machen. Wenn du mir aber nicht vertraust, so hilft dir vielleicht die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland allen politischen Flüchtlingen großzügige Sicherheiten bietet. Du müsstest nur zu den Toiletten beim Hinterausgang …“
War die Freiheit das nicht wert?
Mit zitternden Fingern trank Nastasia ihren Cocktail leer. „Das wäre der mutigste Sprung meines Lebens. Ich glaube, ich könnte noch einen Wodka oder so etwas gebrauchen.“
Ihr Verehrer gab ihr einen Bourbon aus. Ohne auf die Blicke der anderen Mädels zu achten, kippte sie den westlichen Branntwein mit zurückgebeugtem Hals in sich, als würde sie eine Kür vollenden. Daraufhin verabschiedete sich Monsieur Rocher von der ganzen Gruppe mit einem höflichen Adieu und verließ die Cafébar.
Nastasia blieb leicht benommen bei den anderen Sportlerinnen sitzen. Doch sobald alle aufbrachen, ging sie noch zur Toilette … und kehrte nie zurück.
Verhüllt von der blauen Nacht weinte sie in Ralphs Armen zum zweiten Mal, und wieder wusste er nicht, ob aus Freude oder aus Kummer. Sie besaß nichts außer der Kleidung auf ihrer Haut und ihn.
Er heiratete sie in Konstanz. Hier begann Nastasia zudem Germanistik und Slawistik zu studieren, weil sie als literarische Übersetzerin arbeiten wollte. Ihr Lieblingsroman war ›Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins‹. Zwischenzeitlich wurde sie allerdings schwanger.
3.
Yvonna Rocher, wie Yv amtlich hieß, wurde 1985 in Deutschland geboren. Ihr Vater verwendete jedoch lieber den französischen Kosenamen Yvette.
Als sie drei Jahre alt war, errichtete der Bau-Ingenieur für seine Familie ein Haus. Für die Kleine fühlte sich das so aufwühlend an wie das kreativste Chaos.
Dagegen erlitt die Mutter einen kleinen Schock, als sie nach dem Umzug ihre Bücher in die neuen Regale einsortierte: Ihr Lieblingsroman im tschechischen Original war außen und innen mit Buntstiften vollgekritzelt!
Sie knallte ihrer Tochter eine Ohrfeige runter, ohne die Reaktion vorauszusehen. Bebend vor Schmerz und Trotz sudelte Yv umso wilder in das Buch. Die Mutter wollte zu einem noch härteren Schlag ausholen, doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich wie ihre ehemalige Trainerin verhielt. Reuevoll sank Nastasia auf die Knie und bat ihre Tochter sanft, das Werk nicht weiter zu verschandeln. Da hörte sie auf.
In den folgenden Jahren tippte Nastasia zu Hause halbtags die Übersetzungen für einen Verlag. Yv spielte kurz vor der Einschulung am harzduftenden Waldrand in der Nähe und begegnete dort einem gleichaltrigen Jungen.
„Wie heißt du?“, fragte sie.
„Tom. Und wie ist dein Name?“
„Yvonna, aber du kannst mich Yv nennen.“ Sie hangelte am unteren Ast einer Fichte. „Wetten, dass ich bis nach oben klettern kann?“
Er schaute kritisch in die Höhe. „Wozu? Das ist doch nicht nötig.“
„Was ist denn schon nötig? Etwa Kinderschokolade aus Afrika zu futtern?“
„Ich meinte, es ist zu gefährlich.“
„Aha, du traust es einem Mädchen nicht zu? Entdeckerinnen kennen keine Angst!“ Voller Schwung begann sie hochzukraxeln.
„Okay, das reicht, Yv! Du musst mich nicht beeindrucken“, rief Tom. Am liebsten wäre er hinter ihr hochgeklettert. Doch ihm war klar, dass ein Gerangel im Baum alles nur verschlimmert hätte.
Die Äste wurden desto dünner, je höher Yv klomm. Er hoffte, dass ihre Hände nicht so schweißnass waren wie seine.
„Ich hab’s gleich, ich hab’s gleich“, triumphierte sie.
Kaum war sie jedoch im Wipfel, hörte Tom ihr nervenzerfetzendes Kreischen. Sie fiel.
Er sah die Wellenrichtung der knackenden Zweige, die ihren Sturz drosselten, und stand zum Auffangen bereit. Dennoch wurde er durch die Wucht selber auf den Laubboden geschmettert.
„Oh, Mann“, stöhnte Yv. Sie rollte sich von Tom runter und rappelte sich auf. „Hast du dir wehgetan?“
Er rieb sich den Hinterkopf. „Nicht mehr als nötig.“
„Du hast mir das Leben gerettet, oder?“
„Zumindest ein paar Knochen.“
„Danke, Tom. Das bleibt unser Geheimnis, abgemacht?“
„Abgemacht“, griff er ihre Hand und erhob sich.
Als Yv nach Hause kam, war ihre Mutter besorgt, wie aufgeschürft und dreckig sie aussehe. Die Tochter antwortete, dass sie etwas ungeschickt gestürzt sei, aber ein netter Junge ihr geholfen habe.
Natürlich setzten sich Tom und Yv in der Schule nebeneinander.
4.
Nachdem die Berliner Mauer gefallen war, verfolgten Nastasia und ihr Mann vorm Fernseher gebannt, wie der gesamte Ostblock auseinanderbröckelte. Die kommunistische Diktatur beugte sich der Revolution? Der Grenzübergang war offen? Wie unverhofft! Da sich infolge der demokratischen Wende zwischen 1990 und 1993 Tschechien von der Slowakei ablöste, entschied Nastasia, mit ihrer neuen Familie die alte zu besuchen.
Die Freude über diese Vereinigung währte nicht lange.
Yv schilderte das Tom später so: „Die Landschaft wirkte zwar malerisch und die Leute waren herzlich, aber du hättest mal die Kleinstadt sehen sollen, aus der Mama stammt. Wie aus grauem Mondstein betoniert! Papa nannte es mit seinem geschulten Auge ›den unverwechselbaren Ost-Stil‹. Was wollte er damit wohl ausdrücken? Als wir in einem Wohnzimmer mit tschechischen Tapeten abgeküsst wurden, konnte er jedenfalls nicht mehr mitreden. Mama sagte zu mir: ›Das ist deine Oma. Das ist dein Onkel. Das ist deine Cousine.‹ Und man steht völlig fremden Menschen gegenüber! Wir blätterten in vergilbten Foto-Alben. Am ulkigsten ist Omas Bemerkung gewesen, dass früher alles härter und armseliger war, aber besser. Mamas Laune sank in den Keller. Vielleicht lag’s auch an den schweren, weichen Knödeln.“
Eher schwärmend fügte Yv hinzu: „Wir sind außerdem nach Prag gefahren. Eine tolle Stadt, so vielseitig, und an jeder Ecke gibt’s was zu entdecken! Allerdings schimpfte Mama, dass man ihr dort im Trainingszentrum die Kindheit und Jugend gestohlen hat. Sie fand im Endergebnis die ganze Stadt abscheulich. Also haben wir uns leider, leider wieder auf die Heimreise gemacht“
Ihre Oma starb schon bald. Doch Yv blieb von dem Eindruck geprägt, dass nichts über das Recht auf freie Selbstentfaltung ging.
5.
Obwohl Yv an Mathematik ebenso wie an Kunst interessiert war, ordnete sie sich dem Zwang des Stundenplans nur widerwillig unter. Mit 13 oder 14 Jahren glaubte sie zudem ihre Freiheit gegen ihren erwachten Sexualtrieb verteidigen zu müssen.
Trotzdem schwamm sie gerne im Bikini mit Tom durch den Bodensee. Das Wasser spritzte und glitzerte in der Sonne. Einerseits hoffte Yv, dass Tom sie berühren würde und ihre aufblühenden Brüstchen nicht zu klein aussahen, andererseits fürchtete sie sich davor. Sie war verwirrt.
Zu Hause behauptete ihre Mutter grundsätzlich, der See erscheine nur klar, sei aber durch industrielles Abwasser schmutzig. Yv sollte sich bitte nochmals waschen.
Na schön, sie presste unter ihren schäumenden Empfindungen den Duschkopf gegen ihre Klitoris. Von Woche zu Woche versuchte sie das übererregte Zusammenklappen der Beine weiter hinauszuzögern. Indem sie sich auf dem Duschboden krümmte und kringelte, trug sie einen Lustkampf aus. Doch hinterher fühlte sie sich körperlich und geistig gereinigt.
Wenn sie aus dem dampfenden Badezimmer kam, lag ihrer Mutter die Frage auf der Zunge, warum Yv so viel Wasser verschwendete. Irgendetwas an der Haltung der pubertären Tochter ließ aber darauf schließen, dass die Antwort zu peinlich wäre.
Als sie 16 Jahre alt war und ihre Eltern abends zu einem Theaterstück von Shakespeare gingen, machte Yv es sich mit Tom in ihrem Zimmer gemütlich. Hier gab sie ihrer neugierigen Leidenschaft nach und schlief mit ihm. Ach, unendlich oft hatte er von der Erfüllung dieses Wunsches geträumt! Weil aber beide noch so unreif waren, geriet der Sex buchstäblich zu einer kurzen Bauchlandung.
Yv litt unter dem Nachgeschmack, dass es sich irgendwie nicht gelohnt habe. Daher sagte sie am nächsten Tag zu Tom bei der Haustür, dass sie ihre Freundschaft nicht verheizen möchte.
„Was meinst du denn mit ›verheizen‹?“, fragte er.
„Ich halte es für unwahrscheinlich, dass heutzutage die erste Liebesbeziehung ein Leben lang warm bleibt. Aber ein guter Freund ist ein guter Freund, auch wenn mal ’ne Trennung dazwischenkommt.“
„Du planst doch nicht irgendwelche Abenteuer?“
„Bitte denk nicht, dass ich andere Typen toller finde. Ich meine nur, dass wir noch zu jung sind und nicht genug ausprobiert haben.“
Nicht genug ausprobiert, echote es in seinem Kopf. Hart enttäuscht stieg er auf sein Fahrrad. Wie lange müsste er denn warten?
6.
Yv wollte nach dem Abitur ein soziales Jahr einlegen und beim Pflegedienst arbeiten. Sogar ihr Vater zweifelte, ob sie es durchziehen würde, da sie nie ein auffallendes Interesse am Allgemeinwohl gezeigt hatte. Doch am Ende waren alle (außer Tom) von ihrer Entschlossenheit überrascht.
Nachdem sie sich einmal bewiesen hatte, dass sie ihr eigenes Geld verdienen konnte, ging Yv ihr Kunststudium mit wahrer Muße an. Sie machte keinen Nebenjob. Obwohl es von ihrem Elternhaus nicht weit bis nach Überlingen war, wollte sie hier eine kleine Wohnung für ihre Intimsphäre haben. Sie beschwerte sich keineswegs, als ihr Vater die Miete zahlte.
Tom hatte sich bereits zuvor an der Konstanzer Universität für die Fächer Journalismus und Kunstgeschichte eingeschrieben. Als die beiden Jugendfreunde 22 Jahre alt waren, nahm er Yv in einen Klub mit, wo Studentinnen und Studenten rhythmisch ihre Köpfe ausschüttelten.
Ein hübsches Mädchen mit schokobraunem Scheitel und Kontaktlinsen zwinkerte ihm irgendwie vergrübelt zu. Trotz ihres zierlichen Körperbaus spannte ihr Naturbusen bombig unter ihrem weißen Shirt. Es war in schwarzer Schrift mit dem Zitat bedruckt: Wenn man mich beschimpft, kann ich mich wehren. Aber wenn man mich lobt, bin ich machtlos. – Sigmund Freud.
Sie studierte Psychologie und hieß Alina. Tom stellte sie Yv vor, die ihrerseits erwähnte: „Wir kennen uns seit der Kindheit.“
„Ach so!“ Jetzt lächelte Alina. „Aus der Kindheit kommt alles Gute und Schlechte.“
Yv gab Tom zu verstehen, dass er mit dem Mädchen tanzen sollte. Er mochte Alina. Dennoch zögerte er. Weil sie nicht blöd war und sogar eine Dissertation anpeilte, wusste sie manche Nuancen zu deuten.
Dementsprechend fragte sie Yv: „Wäre es nicht unhöflich, wenn wir dich alleine hier stehen lassen?“
„Keine Sorge, falls ich ein Trauma erleide, weiß ich, bei wem ich Hilfe finde.“ Humorvoll ahmte sie Alinas Zwinkern nach.
Die Psychologiestudentin ließ sich willig von Tom um die Taille fassen. Sogleich gesellten sich auch spendable Charmbolzen zu Yv, damit sie nicht verdurstete. Da sie aber nicht scharf auf etwaige KO-Tropfen war, nahm sie die poppigen Gesöffe nur aus der Hand der Bardame entgegen.
Bis Tom und Alina von der Tanzfläche zurückkehrten, wirkte Yv besäuselt. Sie besaß zwar noch ihre Körperspannung, aber auf ihrer Sprechweise lag ein Gleitfilm. Gegen die dunklen Fensterscheiben des Klubs klopften ein paar Regentropfen.
Tom fuhr Yv wieder zu ihrer Wohnung nach Überlingen.
„Kommst du noch mit rein?“, fragte sie.
Er blickte ihr tief in die Augen.
„Komm mit rein!“
Ohne das Licht anzuknipsen, trat sie voran in ihre Wohnung und auf eine zu Boden gefallene Farbtube, die wie ein Startschuss knallte. Yv knutschte Tom gegen die Wand. Anschließend begab sie sich vor ihm auf die Knie und zog seine Hose runter.
Es fühlte sich nach mehr als nackter Lüsternheit an. War Yv wütend, und wenn ja, auf wen? Jedenfalls hatte sie in den vergangenen Jahren ihre sexuellen Künste eindeutig mit anderen Liebhabern geübt. Aber auch Tom war nicht mehr so unerfahren.
Sie stöhnte im Bett französische Worte und kam dreimal hintereinander. Haut an Haut schliefen die beiden schließlich befriedigt ein.
Doch als sich Yv im nüchternen Morgenlicht mit leichten Kopfschmerzen reckte, saß Tom bereits angekleidet auf ihrer Bettkante. „Ich konnte die Farbspritzer auf dem Boden halbwegs wegschrubben“, sagte er.
Yv richtete sich auf, wobei sie die Bettdecke unter ihre Achseln klemmte. Dann erschien ihr das jedoch absurd und sie gab sich die Blöße.
Beiläufig meinte er: „Ich fand die Nacht wunderschön.“
„Tom, ich war gestern …“
„Schon klar.“ Er stand auf. „Wir sehen uns, Yv.“
Als er gegangen war, wälzte sie sich durchs Bett. Sie sog seinen Duft ein, der in ihrem Kopfkissen haftete. Doch plötzlich zerknüllte sie es und ermahnte sich selber auf Tschechisch – übersetzt: „Warst du gestern nicht schon schwach genug? Denk an deine Pläne!“
Sie erhob sich und malte.
7.
Nach der Diplomvergabe parkte ihr Vater den BMW vor dem Haus in Konstanz. Drinnen stellte die Mutter geschnittenes Obst, Mandelgebäck, Kaffee und Tee auf den Couchtisch. Gastfreundlich bot sie Tom von allem an.
Yv stützte ihre Ellbogen auf die Knie und erklärte mit einem Mal: „Ich werde nach Prag ziehen.“
Ihr Vater hielt mitten im Kauen inne, und ihre Mutter setzte die Tasse scheppernd auf das Porzellantellerchen. Obwohl ein Gefühl des Verlustes auf Tom zurollte, traf es ihn nicht so unvorbereitet.
„Warum Prag?“, fragte Monsieur Rocher. „Warum nicht beispielsweise München oder Straßburg?“
Er nannte Straßburg deshalb, weil es im Elsass lag, seiner Heimat. Dort hatte die Familie mehrmals ihre Ferien verbracht.
Prag kam Yv aus irgendeinem Grund weiblicher vor, aber sie gab eine andere Antwort. „Straßburg wäre auch nicht ohne Reiz. Dagegen würde ich in einer x-beliebigen Großstadt wie München sicher nicht den persönlichen Torweg finden, um mich als Künstlerin zu verwirklichen.“
Ihre Mutter entgegnete: „Seit wann interessierst du dich für die Eindrücke von tschechischen Gassen und Dachkuppeln?“
„Offenbar willst du nicht begreifen, wie sich der Schaffensprozess im menschlichen Geist gestaltet. Ich weiß, dass du Prag nicht leiden kannst. Es ist allerdings ein Grundfehler der älteren Generationen zu denken, dass die jüngeren ihre Motive übernehmen müssten.“
„Über ein paar Sachen bin ich vielleicht noch besser im Bilde“, erwiderte Nastasia scharf. „Prag ist schon lange nicht mehr die Welthauptstadt der Bohemiens, die Inspiration und Glück suchten, jedoch arm wie die Kirchenmäuse blieben. So nannten die Franzosen sie doch, oder? Bohèmes?“
„Deine Mutter hat nicht unrecht. Wovon willst du leben?“, fragte der Vater.
„Erst mal von meinen Ersparnissen aus dem Jahr beim Pflegedienst und von einigen Dingen, die ich verkauft habe. Später wird mir schon irgendetwas einfallen. Es ist ja nicht unmöglich, dass ich mir als Malerin die nötigen Brötchen verdienen könnte. Meine besseren Bilder, die ich nicht wegschmeißen wollte, habe ich zu meiner neuen und schlicht möblierten Wohnung in Prag vorausgeschickt.“
„Bitte was?“, entfuhr es ihrer Mutter.
„Ich habe im Internet gesucht, telefoniert und schriftlich einen Mietvertrag geschlossen. Der Besitzer hörte sich nett an – ein bisschen wie der Weihnachtsmann in den tschechischen Märchen.“
Ihre Mutter fand das nicht lustig.
„Und deine alte Wohnung?“, fragte der Vater.
„Leer.“
Nastasias Gesicht verkrampfte sich in verschiedenen Richtungen. Nachdem sie für die Freiheit im Westen ihre ursprüngliche Familie geopfert hatte, fiel es ihr furchtbar schwer, ihre einzige Tochter in den Osten ziehen zu lassen. Die Mutter wandte sich an Tom: „Was denkst du über das alles?“
Er dachte an Franz Kafka, der lange in Prag gewohnt hatte. Gab es denn einen Zusammenhang zwischen einer jungen, selbstbewussten Künstlerin aus dem 21. Jahrhundert und dem jüdisch-österreichischen Schriftsteller voller Ängste? Franz Kafka schilderte die gesellschaftlichen Existenzzwänge des Individuums bis zu einer Ebene der grotesken Verfremdung. In seinem einzigartigen Roman ›Das Schloss‹ versucht ein Landvermesser zu dem repräsentativen Gebäude vorzudringen. Doch er bekommt von den Dorfbewohnern widersprüchliche Wegbeschreibungen, wird in ihre Angelegenheiten verstrickt und dreht sich bis zu einer vernichtenden Erschöpfung im Kreis.
Letztlich symbolisiert das Schloss nicht nur den unerfüllbaren Wunsch des Suchenden nach Wahrheit und Sinnhaftigkeit, sondern auch ein manipulatives Machtgefüge. Im Roman verführen eingeschworene Beamte die Töchter der Dorfbewohner, missbrauchen sie und lassen sie – fallen.
Tom räusperte sich. „Wenn Yv sagt, dass sie als Künstlerin nach Prag gehen muss, dann können wir ihr das nicht ausreden. Wir können sie nur bekämpfen oder unterstützen.“
„Danke, Tom!“, strahlte Yv.
Ihr Vater fragte: „Wann reist du ab?“
„Morgen. Mein Koffer ist im Schließfach beim Bahnhof.“
Ralph Rocher kippte seinen Kaffee wie eine bittere Medizin hinunter und streichelte seine erschütterte Ehefrau. Dann erwiderte er zärtlich: „Yvette, du besitzt die Stärke, alle Probleme zu lösen, die du dir eventuell selber aufhalst. Falls du trotzdem Hilfe benötigst, melde dich. Wir wünschen dir viel Erfolg!“
Sie erhoben sich.
Es hatte sich abgezeichnet, dass Nastasia in Tränen ausbrechen würde, sobald sie ihre Tochter umarmte und die Worte hervorpresste: „Wir lieben dich.“ Allerdings schluchzte sie dermaßen, als verwandelte sich die Mutter zum Mädchen und die Tochter zur Frau.
Danach schnappte Yv mit Tom im Garten hinterm Haus frische Luft. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und überlegte mit gesenktem Haupt, ob er eine Blume rauspflücken sollte.
„Du hast eine gute Arbeitsstelle bei der Zeitung, Tom.“
„Schon möglich“, murmelte er.
„Was macht Alina?“
„Sie arbeitet im Zentrum für Psychiatrie.“
„Ist sie noch Single?“
„Sie hatte zwischendurch einen Typen.“
„Ruf sie an.“
Er hob und senkte wiederholt den Kopf, so dass es wie ein Nicken anmutete. Schließlich drehte er seufzend die Handflächen nach außen. „Ich werde dich vermissen, Yv.“
„Wir …“ Sie schritt näher zu ihm. „Wir bleiben doch Freunde. Es steht zwar in den Sternen, wie lange ich in Prag wohnen werde, aber vielleicht möchtest du mich mal besuchen. Hm?“
Verflixt, so hatte sie sich den Abschied nicht vorgestellt. Sie gab Tom kurz und schmerzlos einen Kuss.
8.
Yv stieg mit ihrem schweren Koffer aus dem Zug. Im bunten Gewusel der Bahnhofshalle schaute sie sich froh und zugleich angespannt um. Sie pirschte hinaus, spürte die Sommerhitze und sagte einem muffligen Taxifahrer die gewünschte Adresse.
Schon rauschten die Straßenkreuzungen, Kirchtürme und Tanzpaläste an ihrem Auge vorbei.
Das Taxi hielt vor einem doppelstöckigen Holzhaus mit einem Hinkelstein, zwei schlichten Autos und mehreren Pflaumenbäumchen auf dem Grundstück. Ohne zu wissen, ob der Fahrer sie betrog oder wie hoch der Umrechnungskurs von Euro in tschechische Kronen war, blätterte Yv das Geld hin und stieg aus.
Ein beleibter Herr mit Weste, Bart und Grinsebacke watschelte aus der Haustür. „Willkommen! Ich bin Bratislav.“
„Yvonna“, schüttelte sie ihm herzlich die Pranke.
Er nahm ihr den Koffer ab, und sie gingen ins Haus. Im sauberen, kleinen Foyer schnupperte Yv den Duft von Gewürzen.
„Sie können gut kochen, was?“
„Hast du das gerochen oder mir angesehen? Ha-ha-ha!“ Bratislav lachte schallend und ansteckend, bevor er ruhiger erklärte: „Ich wohne unten. Dir gehören oben zwei Zimmer und ein Bad.“
Folglich stapfte er mit ihr die Treppe hoch. Der obere Stock war wiederum in Hälften mit je einer Wohnungstür geteilt.
„Rechts wohnt eine zurückhaltende und ebenfalls junge Frau“, erklärte Bratislav. Dann schloss er die linke Tür auf.
Drinnen fand Yv alles so bescheiden und doch gemütlich vor, wie sie es auf den Fotos gesehen hatte. Ihre vorausgeschickten, eingepackten Werke und die Staffelei lehnten an der Wand. Wozu bräuchte sie da noch den kleinen Fernseher auf der Kommode? Das Sonnenlicht schwebte durchs Fenster.
„Perfekt.“
Bratislav stellte schnaufend ihren Koffer ab und fragte besonnen: „Mehr hast du nicht dabei?“
„Sie meinen Kartons voller Schuhe oder so? Nein, ich bin zufrieden“, antwortete sie.
„Ich könnte mit dem Mietpreis noch runtergehen.“
„Sie verlangen doch schon so wenig.“
Bratislav fasste mit ausgebreiteten Armen ans Fensterbrett. „Wie ich bereits am Telefon erwähnt habe, bin ich Witwer im frühen Rentenalter. Ich benötige auch nicht viel. Meine Frau war Krankenschwester und wurde von einem Drogensüchtigen im Wahn erstochen.“
„Wie schrecklich. Das tut mir leid.“
„Als ich mich vor langer Zeit mit ihr verlobte, sagte sie zu mir: ›Bratislav, dein wertvollster Besitz ist dein gutes Herz. Verliere es nie.‹ Der Suchtkranke war nicht schuldfähig. Darum habe ich ihm verziehen.“
„Woher nahmen Sie die Kraft?“
„Von Gott“, drehte sich Bratislav zur Künstlerin um.
Ach je. Yv war Atheistin.
Offenbar merkte er, dass sie sich aufgrund der Wendung des Gesprächs unbehaglich fühlte. Denn er beschwichtigte sie mit einem Lächeln: „Damit wollte ich nur sagen, dass du mich problemlos duzen kannst. Ich glaube an meinen Gott, und du glaubst an deine Kunst. Wenn du mich in irgendeiner Angelegenheit brauchst, ruf mich einfach.“
Er gab ihr die Schlüssel und stapfte wieder nach unten.
Kaum hing Yv ihre Kleidung in den Schrank, fiepte ihr Handy. Sie nahm leicht verärgert ab. „Mama, du sollst mich doch nicht gleich anrufen … Ja, ich bin gut angekommen … Ja … Ja … Ja …“
Die Emanzipation hatte noch viel paradoxere Gegner.
9.
Wochenlang erkundete Yv die Metropole und malte lediglich so viel, dass es Lockerungsübungen gleichsah.
Sie war entweder zu Fuß oder mit der Socka unterwegs, wie nicht wenige Tschechen die Straßenbahn als angebliches Transportmittel für sozial Schwache verspotteten. Im Stadtzentrum stöckelten die Damen mit mehr Make-up als in Deutschland herum.
Prag hat bekanntlich so manche Kriege überstanden und eine lebendige Vergangenheit. Da die Epochen der Architektur und der Bildenden Kunst meist mit denselben Begriffen zusammengefasst werden, konnte Yv diesen oder jenen Baustil nach ihrem Studium natürlich besser würdigen als in ihrer Kindheit. Gotik, Barock und Funktionalismus hausen hier nebeneinander.
Die Karlsbrücke, die sich monumental über die Moldau spannt, gefiel Yv besonders. Gleichwohl buhlten dort allerlei Straßenkünstler wie beispielsweise Akkordeon- und Puppenspieler um die Aufmerksamkeit der Touristen. Es stimmte Yv nachdenklich, dass sich an der steinbraunen Brüstung sogar ein fähiger Karikaturist auf einem Klappstuhl verdingte.
Sie kaufte sich in einem Discounter gesunde Snacks. Danach besichtigte sie das weltberühmte Burgareal, das auf einem städtischen Hügel thront.
Seit 1918 befindet sich der Amtssitz des Staatspräsidenten unter den teils renovierten Gebäuden. Die zugänglicheren Säle und die ringsum gepflegten Grünanlagen beeindruckten Yv. Doch falls sie gehofft hatte, sie könnte dadurch ihr tschechisches Blut tiefer ausloten, so unterlag sie einem Irrtum. Egal, wie oft sie um die Mauern herumging, sie fühlte sich fremd.
Abgesehen davon besuchte sie nur ein einziges Museum, und zwar die Sammlung der modernen Kunst im Stadtteil Holešovice. Yv betrachtete ein kontrastsprühendes Meisterwerk von Marc Chagall so hypnotisiert, dass die anderen Leute sie für eine Statue halten mussten.
Schließlich setzte sie sich unter die Markise eines Boulevardcafés. Sie faltete eine Zeitung auseinander und ein Bein über das andere. Dabei streifte sie mit ihrem Blick die Stellenangebote, nippte an ihrem Getränk und blätterte auf der Höhe ihres Dekolletés weiter zum Kulturteil. Gerade als Yv überlegte, wie sie zur Tat schreiten sollte, machte sich ein Kerl mit zitronengelber Baseballmütze an sie ran.
„Du bist echt süß. Darf ich für dich zahlen?“
Na, wenn so Monsieur Rocher seinerzeit Nastasia Wasnezowa angesprochen hätte, dann würde Yv nicht mal existieren. Sie lächelte säuerlich: „Danke, aber so teuer sind die Preise nicht, dass ich selber billig sein müsste.“
Das reichte. Später kaufte sie in einem Malereigeschäft neue Pinsel, Farben und Leinwände.
10.
Als sie zum Holzhaus zurückkam, war Bratislav nicht in Sichtweite. Yv schleppte die Materialien die Treppe hoch. In diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür ihrer Nachbarin, Zynthia.
Ihre rotblonden Haare glichen stillen Flammenzungen. Sie trug eine schwarze Lederhandtasche und Bluejeans, die sowohl ihre langen Beine als auch ihre schlanke Taille hervorhob. Natürlich war Yv der Nachbarin schon ein paar Mal begegnet.
„Hast du noch mehr zu tragen? Kann ich dir helfen?“, fragte Zynthia.
„Nein, alles bestens.“
„Du bist Künstlerin?“
„Ich fürchte ja“, antwortete Yv ironisch.
Bevor sie aber etwas hinzufügen konnte, drückte Zynthia mit ihrer Mimik erfreuten Respekt aus und ließ ihre Schlüssel klimpern. „Ich wünsche dir noch einen schönen Tag voller Ideen!“
„Vielen Dank“, erwiderte Yv.
Sie malte in ihrer Wohnung und niemals Landschaften, sondern fast ausschließlich menschliche Formen. Die blendend weißen Leinwände dürsteten nach Farbe. Gewissermaßen blieb ihr gar nichts anderes übrig, als von innen nach außen zu schaffen. Yv verarbeitete alle komplexen Sinneserfahrungen dadurch, dass sie die Impressionen in Expressionen umwandelte. Dieser Kampf belohnte sie allerdings mit einer Befriedigung, die sich unendlich feiner anfühlte als jede körperliche Triebabfuhr. Es war ein Akt der Selbstvergessenheit, der Selbstauflehnung und zugleich der Selbstbestimmung.
Beim Malen dachte Yv überhaupt nicht mehr daran, ob sie ihre Bilder verkaufen wollte. Doch nach der Arbeit holten die Schatten der Einsamkeit sie ein.
Sie schnappte sich ihr Handy und schrieb an Tom. Ihre Mitteilungen wurden zum reinsten Ping-Pong-Spiel. Es endete ein bisschen abrupt mit den Worten, dass er und Alina zusammengezogen waren.
Tja, warum empfand Yv einen schmerzhaften Stich?
Sie malte weiter.
Irgendwann spazierte sie zur Bank und holte einen altmodischen Kontoauszug. Sie erwartete, dass sich ihr Guthaben im Sinkflug befände. Aber es war genauso hoch wie im letzten Monat. Weshalb denn das? Ihr Vater hatte Yv einfach Geld überwiesen!
Statt darüber glücklich zu sein, war sie irgendwie gekränkt. Ihr Vater traute es ihr also nicht zu, dass sie schon auf eigenen Beinen stehen konnte. Im Grunde ärgerte sich Yv mit diesen Gedanken jedoch über ihr eigenes Tun und Lassen.
Sie lief den Bürgersteig entlang und erspähte an der Glastür einer großen Bäckerei das Schild AUSHILFE GESUCHT.
11.
Täglich arbeitete Yv vier bis fünf Stunden mit der gleichen roten Schürze wie die anderen Angestellten hinter der Theke. Auf Verlangen der Kunden drehte sie sich bald roboterhaft zu den Weizen- oder Roggenbroten, Käsebrezeln und Erdbeertorten. All das fraß selbstverständlich kreative Energie.
Der kühle Herbst wehte Jung und Alt in die goldbraune Backstube. Jeden Morgen kam ein flotter Bursche von ungefähr 28 Jahren mit einer Designer-Strickjacke herein. Sein dunkles Haar bildete einen Gegensatz zu seinem etwas blassen Antlitz. Mit nervöser Lässigkeit bestellte er grundsätzlich nur einen Kaffee im Pappbecher. Yv hätte darauf wetten können, dass er auch heute einen hektischen Schluck nahm und die Luft zischend durch seine verbrannten Lippen sog.
„Wir haben auch Eiskaffee“, schäkerte sie.
„Ich mag’s heiß.“
„Das merke ich allerdings.“
Er schmunzelte, blickte auf seine Armbanduhr und sputete sich: „Höchste Zeit, um mit dem Auto an den roten Ampeln zu stehen!“
In ihrer Wohnung schmiss sich Yv auf das kleine Sofa. Schließlich rief sie ihren Vater an und erklärte ihm, warum er trotz allen Wohlwollens kein Geld mehr überweisen brauche. Ihr Lohn sei zwar keineswegs üppig, aber sie werde bestimmt nicht verhungern.
12.
Überraschend klopfte es an der Wohnungstür. Yv öffnete und erblickte ihre ranke Nachbarin.
„Zynthia, was gibt’s?“
„Darf ich mal deine Bilder sehen?“
„Klar, aber sei gewarnt. Manche sind freizügig.“
„Jetzt bin ich erst recht neugierig“, erwiderte Zynthia.
Sie trat ein und beschaute die aufgereihten Gemälde mit gemächlicher Augenakrobatik. Im Allgemeinen war das ein Zeichen dafür, dass sich jemand auskannte. Doch dann gab sich Zynthia überzeugend als Laiin zu erkennen: „Krass, aber geil.“
„Das wäre mal ’ne aussagekräftige Überschrift für eine Kunstkritik!“, bedankte sich Yv amüsiert. Als aber vorgestern ihre Gedanken buntscheckig kreisten und sie nicht einschlafen konnte, hatte sie gehört, wie Zynthia in der Nacht heimgekommen war. Darum fragte die Künstlerin einfach: „Was machst du so?“
„Können wir uns setzen?“
„Ja, natürlich.“
Sie nahmen Platz.
Daraufhin verriet Zynthia: „Ich bin Tänzerin.“
„Echt?“
„Na ja, Stripperin.“
Yv kleidete ihre Erwiderung betont locker in Zynthias eigene Worte: „Jetzt bin ich erst recht neugierig.“
An den gehobenen Mundwinkeln der rotblonden Tschechin erschienen Grübchen. „Ich dachte immer, Malerinnen seien ganz ernst, aber das war wohl ein Vorurteil. Also, ich mache nicht Pole Dancing oder räkle mich auf dem Steg irgendeines Rotlichtschuppens. Stattdessen bin ich bei einem Striptease-Service angestellt. Das heißt, ich werde beispielsweise zu Geburtstagsfeiern und Abendpartys geschickt.“
„Ist das nicht gefährlich?“
„Es handelt sich meist um öffentliche Lokale, und mich beschützt ein Security-Mann. Ansonsten würden mich vermutlich ein paar Kerle begrapschen. Ich muss mich fit halten, aber in einer halben Stunde kann ich viertausend Kronen verdienen.“
„So viel! Das kriege ich als Aushilfe in der Bäckerei wöchentlich“, sagte Yv. „Wie bist du denn zum Strippen gekommen?“
Offenbar hatte Zynthia das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, denn sie skizzierte in Worten ihr Elternhaus. Sie kam aus der Stadt Proßnitz. Ihr Vater brummte als Lkw-Fahrer mit seiner wechselnden Fracht bis nach Barcelona. So war er im Quadrat seiner Fahrerkabine regelmäßig mit dem Radio, einem Gaskocher und unzähligen Bierflaschen alleine. Am liebsten mochte er tschechisches Bier, aber jedes verflixte Land braute eine oder zwei Marken, die nach Trost im Schicksal schmeckten. Waschen konnte er sich nur an den Autobahnraststätten. Daheim in Proßnitz arbeitete Zynthias Mutter als Kindergärtnerin, schrubbte sich durch den Haushalt und putzte bei der Rückkehr des Vaters sogar den Lkw.