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Die schöne Portugiesin Marina leidet an Epilepsie und lebt als Tochter eines alkoholkranken Fischers ohne Zukunftsaussichten dahin. Alle geangelten Urlauber springen ihr wieder vom Haken, bevor ein verheirateter Konzertveranstalter ihr verspricht, sie nach Berlin mitzunehmen. Doch die deutsche Millionenstadt droht sie zu überfordern. Sie tröstet sich mit Liebe und Sex, bis sie in einem Anfall eine wahnsinnige Tat schmiedet.
Der anschauliche, komplexe Satzbau widerspiegelt die Psyche der Romanheldin.
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Seitenzahl: 256
Thomas Neukum
MARINA
Der lauernde Ozean in ihrem Herzen
Neuveröffentlichung © 2022
Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert,
von Hoffnung entleert, öffnete ich mich
angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne
zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt.
Albert Camus, „Der Fremde“
Schon so lange hörte Marina das launische Meer mal gegen die schroffen Steilküsten schlagen, mal über den weichen Sand streicheln, dass sie nicht mehr wusste, ob sie es liebte oder hasste. Die Sonne reiste unermüdlich in den Westen, und alle Tage verzitterten still.
Heute Nacht mischte sich die Portugiesin allerdings in ihrem ersparten Ausgehkleid unter englische, spanische und besonders deutsche Urlauber vor dem nervigen Hintergrund süß gluckernder Musik. Der Hotelangestellte, der am marmornen Säulenbogen wachte, ließ sie gewohnheitsmäßig in das dachfreie Klub-Areal schlüpfen. Alleine stand Marina in der Ecke nahe der dunkel polierten Bar und den Toilettentüren.
Sie war eins siebzig groß und sehr schlank, fast mager, während ihre Schenkel ein Maß an kräftigen Bewegungen verrieten. Vielleicht beneideten oberflächliche Frauen sie dafür, dass sich fast alles Körperfett in ihren Brüsten verdichtete, aber Marina fühlte sich deswegen beim Zubettgehen oder Aufstehen nicht sehr viel glücklicher. Ihr Haar wellte sich in glänzendem Maronenschwarz bis unter die Schulterblätter. Doch ihre Haut war für eine Südländerin hell und ähnelte der so vieler angebräunter Mitteleuropäerinnen. Zugleich schimmerten ihre Augen atlantikblau. Ihre gesamte Erscheinung strahlte sogar noch den Reiz jugendlicher Frische aus, und wer ihrem Blick begegnete, sah ein gesundes Geschöpf, was sie aber nicht war.
Ein nicht unattraktiver Mittdreißiger, den Marina ohne ein einziges Wort als Deutschen erkannt hatte, erwiderte verstohlen ihren Flirt. Dabei besaß er genügend Aufmerksamkeit, um für seine modisch bebrillte Frau nach zwei Gläsern Vinho Verde noch einmal ganz leger vom Tisch aufzustehen und in den Barbereich zu schlendern. Sie hatte die Figur von vielen Urlauberinnen, die gerne mal ein Stündchen Tennis spielten und gerne aßen. Vergnügt scherzte sie mit einem dabeisitzenden schwulen Pärchen, das zufällig wie sie beide morgen abreisen würde.
Während eine schwarz-weiß betuchte Bardame gemäß Bestellung säuberlich die Cocktailfrüchte zersäbelte, flüsterte der Feriengast unauffällig Marina zu: „You're very beautiful. Spanish?“
Sie nippte an ihrem Wasserglas und antwortete in einem klargefärbten Deutsch, dem höchstens eine Art brandenburgischer Akzent beigemischt war: „Portugiesisch. Ich komme von hier aus der Algarve.“
Etwas verwirrt fragte er: „Dann gehörst du zum Fachpersonal?“
„Nein“, lehnte sie sich mit keinem anderen Schmuck als einem Halskettchen gegen die Wand, „ich mag einfach nur kosmopolitische Stellungen.“ Das alles war für sie selber Gehabe, und als sie kurz den Blick der mixenden Hotelangestellten spürte, wuchs ihre insgeheime Unruhe noch mehr. Doch von dem Mann erhielt sie ein williges Lächeln.
Er spähte über die Schulter, bevor er aus der Hosentasche für das gelbsilberne Fruchtgesöff zahlte, das seine Hand wie einen schnapsgeäderten Pokal anhob. „Der hier ist für meine Frau. Ich werde sie selig ausgeknockt ins Bett schleppen“, drehte er sich an Marina vorbei, „und alleine zurückkommen. Dir gebe ich nachher etwas wirklich Nettes aus.“
„Das darfst du dann überspringen. Jede Viertelstunde ist kostbar“, wartete sie.
Als er das bombige Getränk durch die nicht sehr eng gesäte Menge zu seiner plaudernden Frau brachte, honorierte das schwule Pärchen dies schmunzelnd mit Applaus. „Wie charmant er sich doch zeigt!“, spöttelten die beiden.
„Ja, nicht?“, nahm die bereits Beschwipste den halben Liter mit geschmackvoll beringten Händen entgegen. „Wo findet man das noch, dass der Ehemann sein Schätzchen abfüllen will?“
Er sah sie die Lippen um den hineingesteckten dicken Trinkhalm schließen, stellte sich erst mal seinen Stuhl schräger zurecht und erwiderte beim Hinsetzen: „Das macht noch den härtesten Büronacken weich. Ich will nur, dass du dich mal restlos entspannst.“
Zwischenzeitlich hatte es den Anschein, als müsste sie aufgeben. Doch ein, zwei kleine rüchige Rülpser brachten ihr Erleichterung, sie verzichtete auf den Trinkhalm und ließ es sämig über den Glasrand in sich quellen.
Der Ehepartner blinzelte Marina zu. Das gezierte Rumstehen quälte sie mit Spannungsgefühlen, die sie umso inniger abreagieren wollte. Himmelwärts sah sie die teilweise erleuchteten Zimmerfenster des Hotels, an das diese Mauern für Feiern rangebaut waren. Der kurzärmlige Türsteher am allerdings offenen Säulenbogen, ein jüngerer muskulöser und bestenfalls mittelgroßer Portugiese mit der Hautbräune von Zimtkaffee, wandte schon seit den Abendschatten seinen kurzhaarig getrimmten Kopf immer wieder mal zu Marina.
Nachdem die deutsche Urlauberin ausgetrunken hatte, linste aber auch sie in deren Richtung und stemmte sich auf der Tischplatte nach oben: „Mannomann, mir staut sich 'ne ganz schöne Ladung hinter der Bauchbinde. We-welches ist noch die Damentoilette?“
„Komm, Schätzchen, du schwankst alleine im Stehen. Ich geh besser mit dir zusammen gleich aufs Zimmer“, erhob er sich und bot ihr seinen Arm an. Zögernd schaute er jedoch auf die Schwulen mit ihren dreiviertel leeren Gläsern: „Wollt ihr denn noch hier sitzen bleiben?“
„Warum nicht? Weißt du, wir werden mit dieser Kurzweil deiner Herzerkorenen sicher keinen Kummer bereiten“, schienen sie ihn zu ermahnen und gleichzeitig gewähren zu lassen. Trotzdem geriet er irgendwie in Verlegenheit.
„Nee, natürlich nicht“, dusselte die Sturzbetrunkene, „wir seh'n uns morgen.“
Ihr falscher Kavalier stützte sie und peilte mit ihr eine Innentür an, die direkt ins Hotel führte. Bevor sie darin verschwanden, sah Marina noch die Gelegenheit, zeichengebend mit dem Finger auf sich und nach draußen zu weisen. Er schickte ihr ein Nicken zurück.
Dann scharwenzelte sie zum Säulenbogen.
„Hier“, hielt ihr der wachestehende Südländer hin, „nimm wenigstens wieder den Schlüssel fürs Gerätehäuschen. Ich will nicht sehen, wie du's gegen 'ne Wand oder Pinie gelehnt treiben musst.“
„Na, gib her. Ich lege ihn danach wieder auf das Gesims. Und danke, Rolando“, steckte sie das Schlüsselchen in ihr Kleid. Dann trat sie in ihren Schnürsandaletten auf den asphaltierten dunklen Vorplatz hinaus.
Erfrischend spürte sie den salz- und gräserduftenden Wind der abkühlenden Erde zu ihr lispeln. Gleichwohl durchkribbelte sie ein Unwohlsein so stark, dass sie abwechselnd ihre Hände ballte und spreizte. Endlich kam aus dem glimmenden Haupteingang die leicht hemdflatternde Silhouette des Deutschen zu ihr gelaufen.
„Wo hast du deine Handtasche?“
„Wo du hingeschielt?“, entgegnete sie. „Ich hab keine.“
„Eine Frau ohne Handtasche? Du musst wirklich was Besonderes sein.“
„Dann lass es mich auch fühlen. Komm“, gabelte sie seine Finger in ihre, „hier rüber.“
Sie schlenzten mehrere Meter weiter hinten um eine Ecke herum. Vor einer glattgezimmerten Brettertür stocherte Marina nach dem Schlüsselloch.
„Und du gehörst sicher nicht zu den Leuten hier?“
„Ich bin mir sicher, dass ich nicht zum Hotel gehöre. Der hier ist geborgt“, drehte sie den Schlüssel um.
In dem fensterlosen Häuschen griff sie an der Wand entlang nach dem Kippschalter für das Licht, das weiß in ihre Pupillen blitzte, und verschloss die schnurrende Tür wieder hinter ihnen. Zwischen Gerätschaften wie Spitzhacke, Eimer und zusammengerollten Maschenzäunen unter angeschraubten Regalen stand vor ihnen ein pistaziengrüner Rasentraktor.
„Noch hat der Arbeitsalltag nicht wieder begonnen“, lächelte der Urlauber verwegen.
„Los, küss mich!“
Er umschlang Marina. Sie liebte kreiselnde Zungenküsse, doch auf diesen Tanz verstand er sich nur mittelmäßig. Von oben nach unten öffnete sie seine Hemd- und auch einen der zwei leichten Hosenknöpfe, bevor sie selber ihr anthrazitfarbenes Kleid hisste, um es samt ihrem aufgehakten BH über das kleine Lenkrad fallen zu lassen. Hingerissen knutschte er ihre straffen, wenngleich schweren Brüste. Dabei knetete er ihren Po und streifte öfter mit seinen Fingern an ihren Innenschenkeln hindurch, als fasse er eine kostbare Rille ein. Honigweich wurde ihr Höschen feucht. Marina labte sich an den sinnlichen Berührungen mit dem harten Durst einer Salzwassertrinkenden.
Seufzend richtete sie sein Gesicht von ihren feuergeröteten Brustnippeln auf, so dass seine anschwellenden Lenden gegen ihre drückten. Als entlade sich eine dunkle Wolke in ihrem Geist, wollte sie wissen: „Wann hast du das letzte Mal mit deiner Frau gefickt?“
„Vor dreizehn Stunden, würde ich sagen? Irgendwann heute Morgen vorm Duschen.“
Durch diese unerwartete Antwort gereizt, wrang Marina seine Hose herunter. Dabei kniete sie sich nieder und schleckte schräg an seinem handlichen Schaft entlang. Im Grunde hat er einen so genussreichen Gebrauch davon überhaupt nicht verdient, dachte sie und umschloss nichtsdestoweniger seine Eichel fast liebevoll mit ihren Lippen. Er legte sein Hemd ab und ersteifte vollends, würde aber dank dem Morgensex nicht mehr so schnell abspritzen können. Mit dem Mund zog ihm Marina ein hautfarbenes Kondom über, das sie im Spitzensaum ihres Höschens eingeklemmt hatte und wie alle Gummis eigentlich nicht leiden konnte.
Aufstehend behielt sie lediglich ihre Schnürsandaletten an. Allerdings rutschte sie gleich auf die metallkühle Schnauze des Rasentraktors, wo sie sich unter Zuhilfenahme ihrer Ellbogen zum kleidbehangenen Lenkrad zurücklehnte. Ihr Liebhaber glitt auf Anhieb tief in sie hinein.
„O ja“, schäumte ihr Innerstes auf. Während er sie an den gespreizten Kniekehlen fasste, beugte er sich zu ihrer Gurgel vor, um vertraulich daran zu saugen. Derselbe Gefühlsnachdruck, mit dem er vorhin seine Betrogene gestützt hatte, ließ ihn Marina so langsam durchschleifen, dass sie vor Lustqualen schier umkam. Sie zitterte am ganzen Leib.
Dafür liegt seine Schnöselin jetzt vollgetankt und alleine im Bett, ergötzte sich die heimlich Kranke an einem Machtgefühl der Ohnmacht. Wie gerufen schlugen die Wellenberge über ihr zusammen, und sie stöhnte noch, als es auch dem kleinen germanischen Abenteurer endlich gekommen war.
Halb betäubt stieg sie von der Motorhaube wieder herunter und kleidete sich an. „Deine Frau und du, ihr habt vermutlich ein schönes Leben in Deutschland? Du liebst sie, oder?“
„Hey, das mit dir war unvergesslich. Wer weiß, ich komme gern nächstes Jahr wieder hierher“, schnappte auch er seine Kleidung.
Sein Gerede und irgendwie alles verzerrte sich für sie nun bis zum Widerwillen. Als sie aus dem Gerätehäuschen herausgetreten waren, warf Marina ihm keinen einzigen Blick nach. Verriegelnd blieb sie stattdessen stehen, legte das Schlüsselchen dann auf einen verputzten Mauervorsprung hoch und raffte sich für den Heimweg zusammen.
Sie ging die Böschung hinab und am sandigen Gestade entlang. Das narbige, zu- oder abnehmende Gesicht über ihr bleichte die Nacht. Dennoch stolperte die fluchende Portugiesin über eine Strandliege, wobei irgendwas gegen ihre Haut flatterte. Sie erkannte es als die Papierseiten eines Buches, das sie kurzerhand mitnahm. Kalter Schweiß siedete aus ihren Poren.
Ringend mit sich und der Welt schleppte sie sich weiter. Doch ein Krampfanfall riss sie endgültig nieder. Das rechtlose Meer leckte ihr Haar und Gesicht, während die klebrigen Körnchen an ihrem Ohr einseitig das Rauschen verschluckten.
Marina fragte sich, ob sie kurz das Bewusstsein verloren hatte. Aber wen scherte das schon? Sie ließ eine Faust in den Sand spritzen und stand wieder auf.
1. KAPITEL
Marina schützte sich vor der grüßenden Sonne unbewusst dadurch, dass sie leicht gekrümmt die Bettdecke zu hoch gezogen hatte und deshalb kräftig hindurchatmen musste. Die labberige Jalousie an ihrem Zimmerfenster war nicht viel neuer als alles andere in dem einstöckigen Haus. Nahe einem Holzschrank und Stuhl, über dem ihr beschmutztes Kleid hing, trocknete auf einem Tischchen das mitgenommene Buch. Darunter, teils auch daneben stapelten sich jedoch weitere Romane und Erzählbände, die fast allesamt deutsche Titel trugen.
Als hätten Traumbilder sie ermahnt, drehte sich Marina plötzlich um, blinzelte und war auf den Beinen. Sie warf sich aus dem Schrank ein bläuliches Kleid von einfachem Schnitt über, setzte noch beim Hochzischen der Jalousie eine Sonnenbrille auf und kämmte sich vor einem quadratischen Spiegel, ehe sie den Raum verließ.
Im Wohnzimmer weilte kohlschneidend vor dem ausgeschalteten Fernseher eine dunkelgesichtige Frau, deren noch immer ansehnliches Haar von Silberfäden durchzogen gleißte. Ohne sie eines Wortes zu würdigen, lief Marina zum Küchenfenster und nachher zur Haustür.
Mit dem zusammengewerkelten Dorf im Rücken ging sie barfuß zum Strand hinab. Unendlich grenzte an den azurnen Himmel vor ihr der Ozean.
Sie sah ein Fischerboot näher und näher kommen. Darin winkte ihr eine untersetzte Gestalt mit wettergegerbter Haut und dürren Haarfransen zu, ihr Vater, Pablo Puripolu.
So bedauerlich er auch wirkte, stellte er den plürrenden Heckmotor ab und plumpste doch lachend aus dem Boot, weil in seinen Netzen so viele Fische strotzten wie seit Jahren nicht mehr. Dessen ungeachtet packte Marina den Bug, stemmte sich in den nassen Sand und half, es weiter herauszuziehen. Im Rumpf hörte sie leere Flaschen rollen. Seit gestern, Donnerstagmorgen, war ihr Vater auf See gewesen.
„Ha, was denkst du, Mara? So viele Sardinen werden unserem sabichão sicher nicht schmecken!“ Herzlich, fast kumpelhaft klopfte er seiner Tochter auf die Schulter und torkelte einfach zum grauweißen Haus am Dorfrand davon. Sabichão bedeutete „Klugscheißer“ und war auf einen benachbarten Fischer gemünzt, der infolge seiner Arbeitsmoral grundsätzlich Pablo an Markterfolgen übertrumpfte.
Die Sardinen hätten längst aus den Netzen gelöst und eisgekühlt werden müssen. Marina machte sich an die Arbeit.
Zu Mittag gab es Bacalhau mit gekochtem Gemüse, ein traditionelles Kabeljaugericht. Als die ältere Frau es zusammen mit Portwein an den Tisch brachte, beäugte Marina diese neben ihrem dahockenden Vater in hungriger und geradezu verächtlicher Haltung, zumal sie deren rotgepunktetes Kleid nicht ausstehen konnte.
„Öffne die Flasche gleich, Alcaste“, grummelte Pablo.
Die Graumelierte schenkte ihm ein, setzte sich und heischte mit unrauer Stimme: „Trink bitte nicht so viel.“
„Dass ich Befehle entgegengenommen habe, ist schon lange her. Auf ein freies Leben!“, kippte er ein ganzes Glas voll herunter.
„Mir geht es um deine Gesundheit.“
„Dann bin ich mit Wein zu Fisch doch bestens beraten. Liest man das nicht immer, Mara?“
Sie kaute zusammen mit dem zarthellen Fleisch gerade einen Mundvoll ölig getunktes Brot. Liebend gerne hätte auch sie ihren Vater losgefesselt vom Alkohol gesehen, aber alles war erträglicher, als Alcaste zuzustimmen. „Doch, liest man gelegentlich.“
„Siehst du, in dem Fall auf ein gesundes und freies Leben“, goss er sich gleich selber ein zweites Mal blutfarben ein.
„Das wünsche ich uns allen“, schluckte Alcaste an einem Bissen. „Sicher steht in irgendwelchen Büchern oder Zeitschriften aber nicht, dass man schon mittags eine Flasche Portwein trinken soll.“
Pablos ledriges Gesicht verzog sich wütend. „Wie willst denn du wissen, was irgendwo geschrieben steht?“
„Dafür habe ich gekocht und mache hier den ganzen Haushalt.“
„Wo würdest du denn sonst mit deinen fünfzig Jahren rumludern? Wenn du zu meckern anfängst, dann kommen Mara und ich auch ohne dich zurecht!“, zerstach er das Gemüse.
Das gesenkte feine Lächeln seiner Tochter verbarg nicht, wie sehr sie diesen beleidigenden Angriff genoss.
Pablo Puripolu, den 61 Jahre beugten, lernte Alcaste kennen, nachdem sich Marinas leichtsinnige Mutter davongestohlen hatte.
Schon sein früh verstorbener Vater, der ihm auf verstaubten Fotos sehr ähnlich sah, war hier im äußersten Südwesten Europas ein armer Fischer gewesen. Pablos Mutter dagegen, Marinas Großmutter, entstammte einer Börsenmaklerfamilie aus Brandenburg.
Sie hatte in Berlin sowohl Germanistik als auch Romanistik studiert. Allerdings liebte sie die weiten Herzen der einfachen Landbevölkerung. Nach einen Studienaufenthalt in Lissabon, aber auch der provinziellen Algarve zog sie hierher und heiratete.
Pablo benahm sich seiner kultivierten Mutter gegenüber mit einer nachlässigen, ja still trotzigen Ehrfurcht. Als Jugendlicher, der mit schwarzweiß flimmernden Bildröhren aufgewachsen war, hatte er nichtsdestoweniger von einer Schauspielkarriere geträumt, worüber er heute angesichts der romantisch gefärbten Lächerlichkeit des Wunsches nicht mehr redete. Stolz blickte er nur auf sein zwischenzeitliches Soldatenleben zurück.
Als aus einem benachbarten Dorf eine hübsche 17-Jährige anlässlich eines Familienstreits halb irrsinnig weglief, verliebte er sich und nahm sie zur Frau. Dadurch bewahrte er sie vor einer erzwungenen Rückkehr zu ihren Eltern. Sie fand eine Anstellung in einem Souvenirladen, ehe sie schwanger wurde und Marina gebar.
Auch wenn Pablo schon damals in der Kneipe trank, erfreute er sich noch eines pflichttreuen Rufs. Irgendwann erfuhr er allerdings aus nicht unzuverlässigen Quellen, dass ihn seine schnell angeödete Frau mit einem Kumpel betrog. Am meisten empörte ihn das Triviale daran. In den verdammten Filmen bildeten wenigstens reisende Gentlemen die Affären. Deshalb demütigte er seinen hundsgewöhnlichen Landsmann so gehörig mit einer Tracht Prügel, dass sich dieser noch vor dem Morgengrauen aufhing.
Marinas Mutter, die mit dem nervösen fünfjährigen Kind ohnehin überfordert war, ergriff die Flucht. Zwar wurde die Ehe nie geschieden, aber alle taten so als ob.
Von diesem Tag an riss zu den anderen Dorfbewohnern eine Kluft ein, und Pablo hatte sich als billigen Ersatz Dirnen gesucht. Die letzte war Alcaste.
Zuvor hatte sie im nahen Hotel als Putzfrau gearbeitet, weil sie - ohne dumm zu sein - Analphabetin war. Den Alkoholismus hatte sie schon durch ihren Vater kennengelernt. Selber hatte sie hintereinander drei Söhne von einem unausgegorenen Querkopf bekommen, der nicht wusste, wohin er im Leben steuern wollte. Eines Tages ließ er unvermittelt die schäbige Tür hinter sich zukrachen, weil es ihm einfache reiche, und genau wie Pablos Frau war er nie zurückgekehrt.
Um ihre kleinen Kinder ernähren zu können, stockte die verlassene Putzfrau ihren Verdienst durch nächtliche Prostitution auf. Dazu wandte sie sich trotz personeller Verwarnung auch an hinterherpfeifende Hotelgäste, welches Detail heute Marina nur ahnte.
Als Alcaste an einem windigen Morgen die Zimmer reinigte, ereilte sie die Hiobsbotschaft, dass alle ihre drei Kinder beim Spielen an einer abgelegenen Küstenstelle ertrunken waren. Sie krümmte sich in einem Zusammenbruch und wollte fast verhungern. Stattdessen warf sie sich rundherum in eine noch unwürdigere Prostitution weg, bis sie Pablo fand und ihm Treue schwor.
Wie eine Büßerin ertrug sie seitdem seinen knurrigen Frust und die übelwollenden Blicke seiner hilfebedürftigen Tochter. Doch in ihren altmodischen Gebeten an die Heilige Jungfrau verstand Alcaste dies als Schicksal.
Marina wiederum fand den Trost ihrer frühen Jugend einzig in ihrer deutschen Großmutter, die damals mit ihnen zusammen noch das einstöckige Haus bewohnte. Ihr faltiges und gleichwohl klares Gesicht, von dem in ihrem Fischersohn so wenig wiederzufinden war, strahlte eine geduldige helle Würde aus.
Erst als Marina täglich in den Schulbus steigen musste, drängte ein Lehrer den Vater zu einer medizinischen Untersuchung. Ein kleinstädtischer älterer Arzt diagnostizierte bei ihr endlich die Nervenkrankheit Epilepsie, und zwar in schwerwiegender Form. Entsprechend der provinziellen Skepsis sah er jedoch keine natürlichen Behandlungschancen.
Viele Landleute und Kinder, insbesondere Mädchen, hielten aufgrund der Symptome zu ihr furchtsamen Abstand, so dass Marina im Bann einer Außenseiterin blieb. Lediglich ein paar taffe Jungs spielten mit ihr.
Dagegen verehrte Pablo seine Tochter stur und hielt sie nicht nur für klüger als alle anderen, sondern durch ihre besondere Krankheit auch für etwas unendlich Höheres. Selbst im Suff behandelte er sie niemals grob.
Schon mit zwölf Jahren half sie bei der Fischerei, um ihn und sich, zwangsläufig aber auch Alcaste vor immer größerer Geldnot zu bewahren. Infolgedessen zügelte er sich beim Trinken. Denn wie befürchtet stürzte Marina letztendlich unter Krampfanfällen ins Meer, und er rettete sie. Seitdem musste sie jedes Mal ihrerseits besorgt auf die Rückkehr des vielgeflickten Bootes warten, um wenigstens die Arbeiten an Land zu verrichten.
In ihrer Pubertät entwickelte sie ein verzehrendes Interesse an den Büchern, die Urlauber zwischen verunzierendem Plastikmüll am Strand zurückließen. Neben romantischen und explizit erotischen Romanen fanden sich schändlich mittelmäßige Psychothriller, aber auch vereinzelte Klassiker. Manches war auf Deutsch geschrieben. Marina ärgerte sich damals, dass sie es diesbezüglich kaum über die Kindersprache hinausgebracht hatte. Darum bedrängte sie ihre Großmutter anhand von harmloseren Exemplaren, ihr Wortbedeutungen und Grammatik möglichst perfekt beizubringen. Als wäre es selber deren letzter Wille, kam die altersschwache Frau dem Verlangen nach. Orakelhaft hauchte sie schließlich auf Deutsch: „Ich wünsche dir viel Glück, Mina“, und starb.
Der Enkelin überwallte das Herz. Wie viel heimlichen Kummer hatte die Gegangene mutmaßlich in ihr Grab mitgenommen! Jahrelang bedauerte Marina, sich nicht selbstloser für sie interessiert zu haben, und ihr begreifbarer Gedanke sprang in immer nervösere Entstellungen über.
Die Epilepsie riss schwarze Löcher in ihr Leben. Konnte ihr Vater irrtumsfrei angeben, ob ihr dieses Übel schon seit der Geburt anhaftete? Marina erinnerte sich nicht, ob er Alkoholiker wurde und dann Alcaste kennenlernte, oder ob er Alcaste kennenlernte und dann Alkoholiker wurde. Sie wusste nur, dass eine dahergelaufene und wohl scheinheilige Hure ihre Rabenmutter ersetzt hatte. Trotz ihrer modernen Aufgeklärtheit scheute sich Marina vor Abneigung und wirrem Schmerz, nach den genauen Hintergründen zu fragen, ansonsten hätte sie anders urteilen müssen. Ja, unter einem verstiegenen Rest von Volksaberglauben zog sich das alles für sie zu einem schwer unterscheidbaren Knäuel zusammen. Wenn der milden Erinnerung an ihre Großmutter etwas Engelhaftes entströmte, dann war Alcaste möglicherweise eine Hexe und hatte sie mit dieser Krankheit verflucht. Auch ihren geliebten Vater betrachtete sie als Opfer.
Während die Schullehrer nicht zuletzt wegen ihrer guten Noten noch die unberechenbaren Beschwerden hinnehmen mussten, konnte Marina doch eine Berufsausbildung so wenig wie den Führerschein machen. Im Gegenzug verließen alle Jugendbekanntschaften nach und nach das nicht sehr aussichtsreiche Dorf.
Aufgrund ihrer brennenden Sehnsucht begann sie mit den Hotelgästen zu flirten. Je mehr die Erotikromane ihr aber den Kopf verdrehten, desto unbefriedigter und ungeduldiger ließen sie alle Affären auf einen echten Ausweg in die Geborgenheit warten. Das Herz Europas mit seiner Hauptstadt Berlin stellte sie sich wie ein neues Land fast unbegrenzter Möglichkeiten vor. Immerhin war Marina schon 31 Jahre alt. Doch sie hatte bei aller Verzweiflung nie gelernt, aufzugeben.
Halbnackt steckte sie mit einem niedergebeugten Knie ihren Föhn ein, um ihre duschnassen Haare vorm Zimmerspiegel zu frisieren. Als sie ihn wieder ausgeknipst hatte und ihrem Gesicht dezente Schminke gönnte, hörte Marina durch den Türspalt eine Telenovela brabbeln. Sie zog ihr zweites Abendkleid an, dessen eingenähtes Täschchen ein ganz flachbäuchiges Portemonnaie füllte, schnürte ihre Sandaletten und zögerte einen Augenblick lang, als könnte sie irgendetwas vergessen haben. Dann schlich sie regelrecht zur Haustür.
Mit ihrer Hand auf der schnöden Klinke rief sie täuschend locker: „Ich geh mal noch ein bisschen weg. Gute Nacht …“
„Mara“, schleppte sich jedoch die väterliche Stimme an ihr Ohr, „komm für einen Moment bitte ins Wohnzimmer.“
Obwohl es ihr lästig war, machte sie einen gehorsamen Schritt hinein. Der Vater hob von einem khakifarbenen Sessel aus die trübgetrunkenen Augen zu ihr, während Alcaste auf dem Sofa saß. Neben dem Fernseher, dem Marina die kalte Schulter zeigte, hing ewig aufladend eine Telefonstation.
„Stimmt es, dass du dich auf bunten Hotelpartys an Männer ranmachst?“
Die Frage war ihr vor Alcaste peinlich. „Ich bin einsam“, stand sie wie eine Gefreite vor ihnen.
„Mir bereitet daran nur Sorgen, ob sich das für deine Nerven lohnt. Was, wenn du dort einen Anfall kriegst? Du kannst ja kaum den Fernseher ertragen.“
„Wenn ich einen Anfall bekomme, stehe ich danach wieder auf. Alles ist möglich. Wer nicht mehr gehen kann, kriecht.“
„Vertrau ihr, Pablo“, schaltete sich Alcaste ein, „sie ist robust. Was wäre das Leben schon ohne die fleischlichen, verzeihlichen Sünden? Wenn sie die Chance hat, soll sie sich amüsieren.“
Wie großmütig von der widerlichen Heuchlerin!, dachte Marina. Deren Worte verletzten sie wie eine spottbesudelte Klinge.
„Was soll's, du bist alt genug, Mara. Bis dann“, fand sich ihr Vater damit ab.
Sie ging hinaus in die untergehenden Sonnenstrahlen und am Strand entlang. Für die meisten Touristen glühten sie heiß genug, obwohl es erst April war. Nur 65 Kilometer von hier entfernt thronte zwischen klappernden Küstenstörchen die Villa der verstorbenen Amália Rodrigues, der Königin des dunkelmelodischen Fados. Unter wechselndem, oft poppigem Motto dagegen erschallte von Donnerstag bis Samstag die Hotelmusik.
Als Marina näherkam, sah ihr der geschniegelt standfeste Portugiese mit der aufflirrenden Stimmung im Rücken entgegen. „Hallo, Rolando“, blickte sie über seine Schulter, „wie läuft's?“
„Meinst du bei mir oder bei denen da drinnen? Ehrlich, du siehst zu gut aus.“
„Danke. Willst du mich deswegen nicht reinlassen?“
„Ich ziehe es in Erwägung, ja“, wirkte er halb unwillig.
„Komm, das ist witzlos. Du bist schon lange mit 'nem netten Mädchen aus der Gegend verlobt.“
„Ja, weil du mich schon so lange stehen lässt. Wann willst du endlich aufhören, an mir vorbei diesen Hallodris in die Arme zu spazieren?“
Rolando zählte 25 Jahre und stammte aus dem hügeligen Hinterland nahe der nordöstlichen Grenze zu Spanien, von wo er wegen Arbeitslosigkeit weggezogen war. Er bekleidete nicht nur den hoteleigenen Posten eines Türstehers, sondern half auch tagsüber bei der Grundstückspflege und Betreuung kleinerer Wandergruppen. Doch Marina hoffte nun mal hartnäckig auf einen gebildeten Deutschen und hatte es sich angewöhnt, Rolando gegenüber die Starke zu geben.
„Dann, wenn ich gefunden habe, was mir fehlt, spaziere ich auch nicht mehr hierein. Du bist ein feiner Kerl und wirst mir jetzt bei aller Freundschaft bitte nicht länger den Weg versperren.“
Herbeirollend hielt auf dem planierten Vorplatz ein Taxi, aus dem mit einem kahlköpfigen Mann eine zierliche und aufdringlich parfümierte Frau stieg, um geradewegs zum Säulenbogen zu stöckeln. Rolando grüßte höflich, schaute noch einmal zu seiner aparten Landsmännin und trat beiseite. Als sie auch hindurchwollte, fasste er sie jedoch behutsam unter der Achsel und flüsterte: „Unter uns, das Personal redet schon. Benimm dich unauffällig.“
Wie wenn ich nicht sowieso ein Dasein als Eckensteherin führe, ärgerte sie sich. Drinnen tanzte heute ein brasilianisches Ensemble auf einer kleinen Bühne im Hintergrund. Marina bestellte bei der schweigsamen Bardame wieder ein Glas Wasser, um zumindest nicht mit verlegener Hand selber Blicke auf sich zu spüren.
Als ein aufgepflanztes Grüppchen konservativer Leute auseinanderging, die sie bereits kannte und sich an verschiedene Tische setzten, stach ihr ein neuer Urlauber ins Auge. Groß, sportlich und dunkelblond stand er mit seinem nachdenklich toleranten Gesicht von Mitte dreißig zwar bei Frau und Kind, einem Mädchen, doch mangelte es dem Familienbild an trauter Geschlossenheit. Bis 21 Uhr durften Minderjährige übrigens an den Feiern teilnehmen.