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Nach 80 Jahren des Friedens sind die Architekten, eine feindliche Alien-Zivilisation, wieder zurück. Sie vernichten ganze Planeten, und sie haben einen Weg gefunden, die Verteidigung der Menschheit auszuschalten. Idris, der Held aus dem ersten Krieg gegen die Architekten, sucht nach einem Weg, sie aufzuhalten – doch dazu muss er sich tief in den feindlichen Raum begeben. Was er dort entdeckt, wird das Schicksal der gesamten Galaxis für immer verändern ...
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Seitenzahl: 807
DASBUCH
Nach 80 Jahren des Friedens sind die Architekten, eine feindliche Alien-Zivilisation, wieder zurück. Sie vernichten ganze Planeten, und sie haben einen Weg gefunden, die Verteidigung der Menschheit auszuschalten. Idris, der Held aus dem ersten Krieg gegen die Architekten, sucht nach einem Weg, sie aufzuhalten – doch dazu muss er sich tief in den feindlichen Raum begeben. Was er dort entdeckt, wird das Schicksal der gesamten Galaxis für immer verändern …
Adrian Tchaikovsky im Heyne Verlag:
Die Kinder der Zeit
Die Erben der Zeit
Im Krieg
Portal der Welten
Die Splitter der Erde
Die Augen der Galaxis
DERAUTOR
Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire, geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Für seinen Roman Die Kinder Zeit wurde er mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.
Mehr über Adrian Tchaikovsky und seine Werke erfahren Sie auf:
ADRIAN TCHAIKOVSKY
DIE
AUGEN
DER
GALAXIS
ROMAN
Aus dem Englischen von Irene Holicki
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Das Original ist unter dem Titel EYES OF THE VOID erschienen.
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Deutsche Erstausgabe 02/2023
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2022 by Adrian Czajkowski
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung des Originalmotivs von Steve Stone
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28430-5V001
www.diezukunft.de
Unraum: Das Nichts unter dem Universum. Dank gravitischer Triebwerke können Schiffe in den Unraum eindringen und darin in wenigen Augenblicken Strecken zurücklegen, die im Realraum Lichtjahren entsprechen. Die meisten Reisen werden entlang sogenannter Passagen zwischen verschiedenen Sternen unternommen.
Die Architekten: Mondgroße Gebilde, die aus dem Unraum kommen und bewohnte Planeten zu bizarren Skulpturen umgestalten. Einer davon besuchte die Erde und markierte damit den Beginn eines siebzig Jahre währenden, von Kämpfen und Fluchtbewegungen bestimmten Krieges, der Milliarden von Opfern forderte. Erst der Kontakt zwischen den künstlich veränderten Intermediären und den Architekten konnte den Konflikt beenden. Nun, fünfzig Jahre später, sind die Architekten zurück.
Originatoren: Auf einigen Planeten sind die Ruinen einer älteren Zivilisation, der sogenannten Originatoren, zu finden. Sie sind immer noch ein großes Rätsel, klar ist lediglich, dass die Architekten offenbar alle Spuren dieser uralten Zivilisation fürchten und jeden Planeten verschonen, der ihr Siegel trägt.
Die Hegemonie: Ein Alien-Imperium unter der Herrschaft der undurchschaubaren Essiel. Sie allein verfügen über eine Technologie, die es ermöglicht, Originator-Artefakte zu transportieren. Die Essiel versprechen ihren Untertanen, sie für immer vor den Architekten zu schützen. Die neu aufgetauchten Architekten scheinen jedoch nicht mehr die gleiche Scheu vor den Artefakten zu haben wie ehedem.
Nach der Flucht vor den Architekten und einer rasanten Expansion über die Polyaspora hat sich die Menschheit nun auf zahlreiche Kolonien verteilt und lebt unter zum Teil angenehmen Bedingungen auf besiedelten Welten, während sich zahlreiche Raumfahrer nach wie vor unter schwierigen Umständen zwischen den Planeten durchschlagen müssen. Für den Handel und die Reisen innerhalb der Kolonialen Zone sind die Intermediäre eine große Hilfe. Sie gehören zu den wenigen, die den Unraum durchqueren können, ohne sich an die Passagen halten zu müssen. Die Kolonien werden von der Kommission für Humaninteressen – im Volksmund HuKo genannt – mit Sitz auf der Welt Berlenhof regiert.
Im ersten Krieg gegen die Architekten wurde die Menschheit von vielen anderen Spezies unterstützt, die engsten Verbündeten kamen jedoch aus den eigenen Reihen. Dazu gehörten die Schwarmer, ein Verbund von intelligenten Kyborg-Wesen, einst als Werkzeug entwickelt, aber mittlerweile unabhängig. Auch Dr. Parsefers Parthenon, eine Gesellschaft künstlich erzeugter Frauen, stand im Krieg an vorderster Front.
Nach der Abspaltung der Schwarmer wie des Parthenons kam es zur Bildung feindseliger kolonialer Parteien. Dazu zählen etwa die Nativisten mit ihrer »Menschheit zuerst«-Ideologie und die Verratenen, die an eine Verschwörung glauben, welche verhindere, dass die Menschheit als überlegene Spezies das Universum beherrscht. Verschiedene Gruppen innerhalb HuKos ermutigen und nutzen diese wachsenden Gruppierungen für ihre Zwecke, darunter die diktatorischen Adelshäuser der einflussreichen Kolonialwelt Magda.
DieGeiergott: Ein Bergungsschiff. Zur Crew gehören die Drohnenspezialistin Olli, die Anwältin und Duellantin Kris, der Fakturist Kittering und Idris Telemmier. Idris ist einer der letzten ursprünglichen Intermediäre. Sein einziger Wunsch war, bis zum Ende seiner Tage in Frieden zu leben, doch dann tauchte die Parthenierin Trost, eine alte Freundin aus dem ersten Krieg, bei ihm auf, um ihn für ihre Regierung anzuwerben.
Havaer Mundy: Ein Agent von HuKo, der die Crew der Geiergott in den Wirren um die Rückkehr der Architekten abwechselnd verfolgt und unterstützt.
Delegat Trine: Ein Schwarmer-Archäologe und alter Freund von Idris und Trost aus dem Krieg; die Autorität für das wenige, was über die Originatoren bekannt ist.
Der Boyarin Piter Tchever Uskaro: Ein magdanischer Adliger, der in enger Beziehung zu HuKos xenophobischen Elementen steht. Versuchte vergeblich, Idris in seine Gewalt zu bringen, und hegt seither einen Groll gegen die Crew der Geiergott.
Der Schreckliche Aklu, das Messer und die Eiserne Hand: Ein Essiel-Gangster aus der Hegemonie, der ebenfalls Gründe hat, der Crew der Geiergott zu zürnen, nachdem er von ihr um seinen Schatz, sein Schiff und einen seiner Offiziere gebracht wurde.
Wer hätte gedacht, dass man mit der Beförderung von Verrückten so ausgezeichnete Geschäfte machen konnte?
Uline Tarrant war eine hemmungslose Opportunistin. In Raumfahrerkreisen war das eine Tugend. Während die Hälfte ihrer Bekannten sich die Haare rauften und das Ende der Welt gekommen sahen, als die Muscheln die Herrschaft übernahmen, orientierte sie sich neu und verdiente gutes Geld. Die frühere Kolonialwelt Huei-Cavor hatte also dafür gestimmt, sich von HuKo zu trennen und der Hegemonie anzuschließen. Nominell wurde sie nun von diesen sonderbaren Essiel regiert, die wie Muschelwesen aussahen. Hieß das etwa, dass sie keine Largesse kassieren oder nicht wenigstens in das komplexe Kreditsystem der Hegemonie einsteigen konnte? Nein, das hieß es nicht. Denn eines hatte die Oberschicht der neuen Kultisten-Verwaltung von Huei-Cavor, und das war Reichtum in jeder beliebigen Form. Und offenbar wollten diese Leute nichts lieber, als mit diesem Reichtum unübersehbar ihre Frömmigkeit zu demonstrieren.
Die Demonstration von Frömmigkeit, mit der sie ihren Treibstoff und die laufenden Kosten ihres Unternehmens finanzierte, bestand aus Pilgerfahrten. Darauf hatte sie sich spezialisiert. Als inbrünstiger Verehrer der Essiel suchte man die Orte auf, die für diese vermeintlich von besonderer Bedeutung waren. Dort meditierte man, kaufte kitschige Souvenirs, lernte nebenbei vielleicht nützliche Leute kennen und konnte gute Geschäftsverbindungen knüpfen. Uline bezweifelte aufrichtig, dass die ganze Sache mehr war als ein bizarrer Schwindel, der sich zu einer Seilschaft ausgewachsen hatte. Für Religion hatte sie nicht viel übrig. Mit Gebeten reparierte man keine Raumschiffe.
In ihren Frachtraum hatte sie zweihundert Kryostase-Betten einbauen lassen, und die waren alle belegt. Wer auf Huei-Cavor seine gesellschaftliche Stellung verbessern wollte, stieg in das Kult-Spiel ein, und das war nicht damit getan, dass man die roten Roben anlegte. Bereitwillig schaufelten reiche Familien legale Gelder auf ihr Konto, nur um sich in einen Robotersarg einschließen und über die Passagen in die Tiefen der Hegemonie karren zu lassen. Und wie sich zeigte, stellte keiner der sonderbaren Torhüter-Aliens allzu viele Fragen, wenn man akkreditierte Pilger beförderte. Sie fragte sich, ob die Spitzel von Mordant House das wussten, denn dadurch entstand eine verdammt große Lücke im Sicherheitssystem der Hegemonie.
Aktuell war sie unterwegs zu einer Welt namens Arc Pallator. Sie hatte noch nie davon gehört. Den spärlichen Informationen zufolge bestand sie hauptsächlich aus Wüsten und Schluchten – ein Ort, auf den sie niemals freiwillig einen Fuß gesetzt hätte. Das brauchte sie allerdings auch nicht, es gab ja Orbitale. Arc Pallator war eine große Nummer unter den heiligen Stätten. Ihretwegen konnten sich die Pilger ruhig mit Hitze und Staub herumschlagen, solange sie verrückt genug waren, im Voraus zu bezahlen.
Sie waren in respektvollem Abstand von dem Planeten aus dem Unraum gekommen. Die üblichen höflichen Aufforderungen der Hegemonie, sich zu identifizieren, waren auf ihrer Konsole, als sie in den Kommandostand der Sankt Orca schlurfte – eigentlich nicht mehr als ein Schrank mit zwei Sitzen. Das Sankt hatte sie vor den Namen gestellt, als sie ins Pilgergeschäft eingestiegen war. Uline hatte nur eine sehr vage Vorstellung von Religionsmarketing, aber sie wusste, dass man vor alles, was heilig war, ein Sankt setzte. Das einzige Crewmitglied außer ihr war bereits da. Es hatte den Kommandostand nie verlassen, sondern sich für den Flug durch den Unraum nur heruntergefahren. Tokay 99, wie der Schwarmer sich nannte, winkte ihr mit einem Zweig von einem Metallarm zu, und sie klopfte ihm kameradschaftlich auf den zylindrischen Körper.
Um den örtlichen Behörden mitzuteilen, wer sie waren, sendete sie wie üblich jene unverständlichen Daten, die es ihr erlaubten, sich innerhalb der Hegemonie herumzutreiben. Jedermann konnte Horrorgeschichten darüber erzählen, wie irre hier alles war. Vor der Sezession hätte sie niemals gewagt, auch bloß mit der Nase der Orca die Grenze zu überschreiten. Dadurch hatte sie jede Menge gute Geschäfte verpasst.
Die hiesigen Orbitale wollten immer ein Schwätzchen mit den Pilgern halten, deshalb weckte sie ein paar von den Spitzenleuten der Gruppe, als die Sankt Orca ins System einflog. Schon bald drängten sie sich in ihrem Kommandostand, tranken ihren billigen Kaffee und tauschten mit der Andockkontrolle mysteriöse Weisheiten aus. Kontakte zwischen Angehörigen des Hegemonie-Kults bestanden offenbar aus höflicher Konversation und einem Quiz in Bibelkunde. Nur ging es nicht um die Bibel, sondern um die irrwitzigen Rechtfertigungen, die sich diese Verrückten dafür ausgedacht hatten, dass sie sich einem Haufen technisch hochgerüsteter Muscheln ausgeliefert hatten.
»Hier ist ja ganz schön was los«, stellte sie fest. »Hochsaison für die Gläubigen, wie?« Viele andere Schiffe dümpelten herum und warteten auf die Berechtigung zum Andocken und Landen. Einige stammten aus der Hegemonie – ob es Frachter, Luxusjachten oder Mond sprengende Kriegsschiffe waren, blieb ihr ein Rätsel –, aber andere entsprachen vom Aussehen her menschlichen Standards. Sie entdeckte sogar zwei flüchtige Bekannte aus ihrer Branche. Alle Welt strebte zu den Heiligtümern von Arc Pallator.
»Viel Betrieb da unten«, stimmte Tokay 99 zu. Das Aktivum hatte ein Display der einzigen von Menschen bewohnbaren Siedlung aufgerufen, eine vieltausendköpfige Bevölkerung und kein einziger normaler Mensch darunter. Uline wechselte einen Blick mit dem Schwarmer. Mit dieser Kolonie aus intelligenten Kyborg-Insekten hatte sie mehr gemein als mit ihrer menschlichen Fracht.
»Wir werden aufgefordert, uns für eine Visitation bereitzuhalten«, sagte der oberste Kultist. Einer von den anderen legte ihm gerade einen noch pompöseren Kragen um, der so hoch war, dass er an der Decke der Kabine streifte, und behängte ihn mit billigem, protzigem Schmuck.
»Und das bedeutet … was? Eine Zollkontrolle? Haben wir ein Problem?«, fragte Uline.
Leiser Zweifel spiegelte sich in den Zügen des Mannes. »Ich … weiß nicht so recht. Mehr als das. Etwas Besonderes. Eine Visitation. Ich war schon an einem Dutzend Pilgerstätten, aber so etwas habe ich noch nie gehört.«
»Das heißt, eine von den …« Wenn sie Muscheln sagte, kam das wohl nicht gut an. »Einer von Ihren Essiel taucht hier auf?«
»O nein«, rief der Mann voller Inbrunst. »Einen der göttlichen Herren hätte man uns mit der vollen Kennung und sämtlichen Titeln angekündigt.« Sein Blick verriet zu fünfzig Prozent naiven Ernst, der Rest war Schrott. Sie hätte ihm am liebsten gesagt: Hör zu, es sind bloß Muscheln. Ihr kniet vor einem Altar, der nicht mehr ist als ein Meeresfrüchte-Büfett zur beliebigen Verehrung. Als seriöse Geschäftsfrau behielt sie ihre Gedanken natürlich für sich.
Tokay ließ ein griesgrämiges Zirpen hören. »Hast du dich um die Fehlermeldungen der Sensor-Suite gekümmert?«
»Habe ich.«
»Ich hatte um einen qualifizierten Stationsmechaniker gebeten«, drängte er.
»Ich habe sie selbst repariert. Das ist besser. Dann brauchen wir uns nicht von einem Knaben ausnehmen zu lassen, der noch an der Mutterbrust gelegen hat, als ich schon gelernt habe, wie man solche Sachen repariert.«
»Die anomalen gravitischen Werte auf dem extremen Fernscan«, erklärte der Schwarmer, »lassen vermuten, dass du deine Zeit besser dazu genutzt hättest, um den Preis zu feilschen.«
»Nun hör mal zu, das ist immer noch mein Schiff, und wir werden …« Ihr Blick wanderte zu den Werten, die Tokay auf ihre Konsole gelegt hatte. »Wir werden …«, wiederholte sie.
Der Architekt schoss zwischen Arc Pallator und der Sonne des Systems aus dem Unraum, das Licht des Sterns brach sich an seiner Kristallgestalt und wurde in einem Strudel von Regenbögen nach allen Seiten zurückgeworfen. Sie hatte noch nie gehört, dass die Kolosse einer Welt so nahe kamen. Tauchten sie sonst nicht weit außerhalb der Systeme auf? Um den Leuten eine Chance zur Flucht zu lassen?
»Schön, schön, schön.« Sie stand wie erstarrt da, während ihr Mund sinnlose Worte formte. Unter den Kultisten war es totenstill geworden, keiner regte sich, vielleicht waren sie doch nicht vollkommen verrückt. »Schön. Wir müssen … wir können … Verdammt, die haben Glück, dass schon so viele Schiffe hier sind. Wir können …« Sie stellte Berechnungen an, obwohl ihr das Geschehen schier den Verstand raubte. Ein Architekt, wie im Krieg. Hier in der Hegemonie, wo sie angeblich nichts zu suchen hatten. »Wir können noch hundert weitere Leute aufnehmen, nur Stehplätze zwischen den Kryo-Kapseln.« Sie bekam mit, dass der oberste Kultist mit der Bodenkontrolle oder sonst jemandem sprach. »Sagen Sie ihnen … äh … wenn sie Leute in den Orbit bringen können, laden wir das Schiff voll, bis es platzt. Wir haben …« Der Architekt entfernte sich von der Sonne und schwebte würdevoll direkt auf Arc Pallator zu. »Wir haben …« Nicht genug Zeit. Überhaupt keine Zeit. O Gott. O Gott. »Wir müssen hier weg.«
»Es gibt eine Proklamation«, hauchte der oberste Kultist ehrfürchtig.
»Natürlich, was sonst.«
»Von dem Erleuchteten Sorteel, dem Vorausschauenden und Weitblickenden«, erklärte er, was bedeutete, dass einer der richtigen Essiel sich eingeschaltet hatte.
»Hat er einen erleuchteten Evakuierungsplan?« Sie konnte den Blick nicht von dem herannahenden Architekten wenden. Ihre Hände zitterten über den Displays auf der Konsole.
»Ihnen und allen anderen Piloten ist es verboten, von hier abzufliegen, bevor Sie Ihr heiliges Werk vollendet haben«, erklärte der Kultist. »An uns ergeht der Befehl, uns nach Arc Pallator hinabzubegeben und uns in die heiligen Ruinen zu stellen. Wir wurden für eine Prüfung unseres Glaubens auserwählt, meine Brüder und Schwestern.«
»Kommt nicht infrage«, fauchte Uline. »Wir ziehen ab, und zwar sofort. Schaut euch das an! Schaut euch dieses gottverdammte Ding doch an!« Noch nie hatte sie einen Architekten mit eigenen Augen gesehen. Sie kannte nur die Medios und die Geschichten aus dem Krieg. Gelegentlich ein kurzer Blick auf zerstörte Schiffe und Welten. Der Tod, der über die Erde gekommen war und hundert Kriegsjahre lang nicht von ihr abgelassen hatte. Nun war er zurückgekehrt, und sie hatte doch nichts anderes gewollt als zu leben, alt zu werden und zu sterben, ohne diese Monstrosität jemals zu Gesicht zu bekommen. »Seht es euch an«, wimmerte sie völlig verängstigt.
»Das Gericht«, hauchte der Kultist. »Unsere Treue zu den Worten des Göttlichen steht auf dem Prüfstand. Wir müssen auf die Welt hinab. Man hat uns gerufen.« Seine Stimme bekam eine neue Härte. »Ich habe Anweisung, Ihnen mitzuteilen, dass es als Vertragsbruch und als frevelhafter Verstoß gegen die Wünsche des Göttlichen Essiel gewertet wird, wenn Sie vom vorgegebenen Flugplan abweichen. Ihre Triebwerke werden deaktiviert, Sie erhalten keine Entschädigung und können das System nicht verlassen.«
Von Tokay kam ein schwaches Winseln, wie sie es noch nie von einem Schwarmer gehört hatte. Es drückte sehr deutlich »Angst« aus. Sie spürte genau den gleichen Laut in ihrem Bauch. Sie wollte schluchzen. Sie wollte schreien. Wollte diesen Leuten entgegenschleudern, dass ihre Muscheln verrückt und sie selbst lebensmüde wären. Für die Beförderung von Märtyrern im Wartestand sei sie nicht bezahlt worden. Aber die Essiel waren imstande, all das zu tun, was der Mann gesagt hatte. Sie hatten Waffen, die sie nicht einmal verstehen konnte. Jeder wusste das.
Sie brachte die Sankt Orca auf den alten Kurs zurück und steuerte das Orbital an, das sich direkt über der einzigen Stadt befand. Einer Stadt voller Menschen, die bald zu einem neuen Kristallmond aufschauen würden. Aber wahrscheinlich nur kurz. Dann würde ihr Glaube auf eine sehr harte Probe gestellt, und hinterher wären nur noch einzelne Stränge organischen Materials von ihnen übrig. Uline rief sich in Erinnerung, dass man erst tot sein musste, um ein Heiliger zu werden. Dennoch glitten nach wie vor von allen Seiten Pilgerschiffe auf die Andockstationen zu, umkreisten in einer langen Reihe das einzige Orbital oder traten bereits den langen, gemächlichen Sinkflug in die Atmosphäre an. Und der Architekt war schneller geworden und schickte sich an, seinerseits in einen tödlichen Orbit zu gehen und sie alle restlos auszulöschen.
Hismins Mond
Havaer
»Das«, sagte Havaer Mundy zu sich selbst, »ist die Geiergott.«
Gut siebzig Schiffe oder mehr hatten auf Bohrung 17 auf Hismins Mond angedockt; sie zu scannen, während sich sein Schiff, die Greifer, im Anflug befand, war Standard. Die Bordcomputer hatten das Hochfahren aller Funktionen nach dem Austritt aus dem Unraum noch nicht ganz verdaut, deshalb hatte Havaer das Scannen selbst übernommen, während sich sein Team die Beine vertrat und allmählich wieder klar im Kopf wurde. Alle waren wie Raumfahrer von der robusteren Sorte gekleidet: Tunika mit halblangen Ärmeln, Hosen, die einem, verglichen mit den Anzügen von der Kernwelt, immer zu kurz vorkamen, und natürlich der allgegenwärtige heilige Werkzeuggürtel und die Plastiksandalen. Alles aus minderwertigem, kratzigem Stoff an Bord gedruckt. Eine von vielen heruntergekommenen Crews, die auf diesem öden Satelliten einen draufmachen wollten.
Sie waren über das Dockfeld gerollt und hatten sich mit dem Kybernet der Bohranlage über die geltenden Anflug- und Landegebühren verständigt. Hier draußen war alles billig, auch das Leben, aber es gab nichts umsonst. Havaer ließ vom Schiff jeden einzelnen Besucher abchecken und stellte fest, dass nicht weniger als neun Schiffe auf der Beobachtungsliste von Mordant House standen. Wäre er lediglich hierhergekommen, um seine Karriere zu fördern, hätte er eine große Auswahl an Leuten gefunden, die er unter die Lupe nehmen konnte. Allerdings hätte er sich mit zu hartem Durchgreifen bei der herrschenden Solidarität unter den Raumfahrern womöglich die ganze Bevölkerung der Anlage zum Feind gemacht. Die war etwa zehnmal so groß, wie man sie für die eigentlichen Bohrarbeiten brauchte, denn diese kleine Lasterhöhle war seit der Zerstörung von Nillitik eine ziemlich angesagte Adresse.
Die Architekten waren zurück. Wie um die Geschichte ihrer früheren Misserfolge auszulöschen, waren sie eifrig tätig gewesen. Zuerst waren sie über Far Lux hergefallen, wo ihnen vor einem halben Jahrhundert drei Intermediäre entgegengetreten waren und den ersten Krieg beendet hatten. Diesmal hatte kaum jemand den Planeten vor dem Ende verlassen können.
Im Lauf der folgenden Monate waren sie – ohne System und ohne Vorwarnung – vor etlichen anderen Planeten am Himmel erschienen: als zackige Kristallmonde, die aus dem Unraum auftauchten. Von Berlenhof, der kolonialen Zentralwelt, hatte man sie abgewehrt, doch nirgendwo sonst war das gelungen. Der Krieg war in vollem Gange, und niemand hatte sich die Gewohnheiten bewahrt, die im ersten Krieg Leben gerettet hatten. Jedenfalls so viele Leben, wie neben der kolossalen Zahl an Opfern tatsächlich gerettet worden waren. Die Menschheit musste erst wieder lernen, einen gepackten Koffer neben dem Bett stehen zu haben und immer zu wissen, wie man schnellstmöglich den nächsten Hafen erreichte. Und diesmal war nicht allein die Menschheit betroffen.
Unter den jüngsten Opfern der Architekten hatte Nillitik am wenigsten Beachtung gefunden. Der Planet befand sich in einer Kette miteinander verbundener Systeme, die nach der ersten Begegnung zwischen den Hanni und der Erde von Forschern beider Seiten entdeckt worden waren. Eine Weile hatte man diese Systeme als eine Art Grenzzone zwischen den zwei Spezies betrachtet. Allerdings wurden nach jeder Entdeckung einer neuen Passage die Landkarten radikal umgeschrieben, und klare Grenzen zwischen verschiedenen Weltraumimperien zu ziehen, war nur selten sinnvoll. In diplomatischen Abkommen zwischen den Regierungen wurde eine Handvoll unfruchtbarer und rohstoffarmer Planeten zum Niemandsland bestimmt, das beiden Parteien und keiner gehören sollte. Nillitik war einer davon gewesen. War gewesen, Vergangenheitsform.
Nillitik hatte keine Biosphäre, ja nicht einmal eine Atmosphäre besessen. Die Mineralvorkommen waren gerade so reichhaltig gewesen, dass die Welt für unabhängige Unternehmen von Interesse war, aber in erster Linie war es der kleinen Bevölkerung des Planeten darum gegangen, bei Handelstreffen unbeobachtet zu bleiben. Kartelle, Schmuggler und Spione hatten Nillitik auf ihren Karten positiv markiert. Dann war ein Architekt aufgetaucht und hatte den Planeten zu einer Spirale verdreht. Von den zehntausend Menschen, die vor Ort waren, als das riesige Gebilde das System erreichte, waren nur etwas weniger als hundert ums Leben gekommen. Fast jeder auf Nillitik hatte, eine große Ausnahme unter den Zielen der Architekten, ein startbereites Transportmittel zur Verfügung gehabt, mit dem er den Planeten schleunigst verlassen konnte, obwohl man sich hauptsächlich HuKos oder irgendwelcher Konkurrenten wegen Sorgen gemacht hatte. Das Ereignis war so unblutig verlaufen, dass Nillitik in den Geschichtsbüchern wahrscheinlich nicht einmal auf der Liste der verlorenen Welten auftauchen würde.
Die geringe Opferzahl bedeutete nicht, dass die Zerstörung des Planeten keine Wellen geschlagen hätte. Viele Geschäfte zerschlugen sich, viele Gesellschaften lösten sich auf, viele Waren fanden keine Käufer und viele Käufer keine Waren. Nillitiks Untergang wirkte so, als hätte jemand mit einem Stock in einem schlammigen Teich gestochert. Alles Mögliche gelangte unerwartet an die Oberfläche. Als viele zwielichtige Elemente gezwungen waren, sich ein neues Leben aufzubauen, wurde manches rasch zum Verkauf angeboten, was unter anderen Umständen sicher im Verborgenen geblieben wäre. Auch Informationen.
Vom zerstörten Nillitik aus zwei Welten weiter auf der symbolischen Grenzkette befand sich Hismins Mond, der einzige bewohnbare Himmelskörper eines besonders unattraktiven Sonnensystems, und dorthin hatte sich die Mehrheit der Handelstätigkeit verlagert. Im Moment erfreute sich der Mond eines üppigen Besucherandrangs, allem Anschein nach strömten Verbrecher und Spekulanten von zwanzig Welten zusammen, um zu sehen, was hier zu holen wäre. Und wo etwas zu holen war, fand man auch Geier. Genauer gesagt, das Schiff Geiergott mit einer gewissen Olian Timo, allgemein Olli genannt, als Kapitän. Natürlich gab es viele legitime Gründe dafür, dass die Geiergott ihre Geschäfte von Hismins Mond aus abwickelte. Havaer wusste jedoch, dass sie derzeit auf der Gehaltsliste des Aspirats stand – des Geheimdiensts des Parthenon, seiner Gegenspieler im Spionagegeschäft. Was bedeutete, dass sie beide hinter derselben Sache her waren.
Havaer hatte seinen Stellvertreter Kenyon um einen Landeplatz feilschen lassen, der nicht allzu weit von der Geiergott entfernt war, und als sie von Bord gingen, schlenderte er hinüber, um einen Blick auf die alte Schrottkiste zu werfen. Die Geiergott war ein Paradebeispiel für Hässlichkeit, aber außer bei Schiffen, die von den großen Unternehmen der Kernwelt ausgerüstet wurden, war das in den Kolonien mehr oder weniger der ästhetische Standard. Auch HuKos eigene Kriegsschiffe kamen aus den Werften von Borutheda, als hätten sie bereits eine Schlacht verloren. Denn das war damals im ersten Krieg das Los der Menschheit gewesen: immer auf der Flucht, immer am Flickschustern, nie eine Möglichkeit, etwas Neues zu bauen. Blitzblank, sauber und elegant auszusehen, hätte sich angefühlt, als kehre man allem den Rücken, was die Vorfahren durchlitten hatten, um einen bis hierher zu bringen.
Die Geiergott war ein Bergungsschiff, was bedeutete, dass ihre Form größtenteils von dem überdimensionierten gravitischen Triebwerk bestimmt wurde, das sich von der Mitte bis zum Heck wölbte und das es ihr ermöglichte, ein viel größeres Schiff ins Schlepptau zu nehmen und, wenn nötig, damit auch in den Unraum zu gehen. Dank ihres ungewöhnlichen Navigators war sie gut im Geschäft gewesen, denn Idris Telemmier, der Int, hatte auch jene Wracks erreichen können, die von den Passagen abgekommen waren und sich in den Tiefen des Unraums verirrt hatten. Allerdings, und das wusste Havaer nur zu gut, ging Telemmier derzeit einer Beschäftigung nach, die Mordant House sehr viel mehr Kopfzerbrechen bereitete.
Es sei denn, er wäre hier. Havaer spürte eine leise Erregung, als er den Gedanken weiterverfolgte. HuKo hatte keinen offiziellen Auftrag in Bezug auf den Überläufer-Int, denn es herrschte Krieg, und mit derartigen Aktionen war niemandem gedient. Auf einer inoffizielleren Ebene würde seine nächste Beurteilung deutlich rosiger aussehen, wenn er sich Telemmier schnappen könnte, ohne überall seine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Damit hätte er wiedergutgemacht, dass er den Mann beim letzten Mal hatte entkommen lassen.
Er bezahlte dem Kybernet von Hismins Mond die Gebühr für den Zugriff auf die öffentlichen Kameras von Bohrung 17 und analysierte die Aufzeichnungen mit Gesichtserkennungsroutinen, bis er sie gefunden hatte. Da war Olian Timo. Nicht schwer zu erkennen mit ihrem deformierten Körper und den verkürzten Gliedmaßen in dem riesigen Exoskelett, dem von den Castigar gebauten »Skorpion«, auf den sie so stolz war und dem niemand zu nahe kommen wollte. Da war Kittering, der Hannilambra-Fakturist, der hier zweifellos jede Menge Heimvorteile nutzen konnte. Da war auch Trost, die parthenische Führungsoffizierin der Crew, ohne ihre motorisierte Rüstung, aber mit einem gottverdammten Beschleuniger über der Schulter, als würde der nicht von hier bis zum Horizont Löcher in die dünnen Wände von Bohrung 17 reißen. Aber keine Spur von Idris Telemmier, dem Hauptgewinn. Oder von der Anwältin Kris Almier, in Havaers Augen dem intelligentesten Mitglied der gesamten Crew.
»Mundy? Sir?« Kenyon riss ihn aus seinen Gedanken. Er und die beiden anderen aus dem Team waren auf dem Weg zur Luftschleuse von Bohrung 17 und warteten auf ihn. Havaer nickte. Er spürte, wie seine Anspannung stieg. Wahrscheinlich würde es schon bald zur Konfrontation mit irgendeinem Mitglied der Geiergott-Crew kommen. Entweder mit Kittering bei einem Bieterwettbewerb oder mit Olli und Trost bei einer eher konventionellen Auseinandersetzung.
Und dabei durfte er nicht verlieren. Nicht, wenn er für die gefürchtete Beurteilung eine blütenweiße Akte behalten wollte. Mordant House – offizielle Bezeichnung: Interventionsbehörde –, HuKos Abteilung für Sicherheit und Spionageabwehr, war an dieser Angelegenheit ausnehmend und langfristig interessiert. Denn jemand bot Behördengeheimnisse zum Kauf an.
Havaer kannte Chief Laery schon sein halbes Leben lang, und wie das blühende Leben hatte sie noch nie ausgesehen, doch bei seiner letzten Einsatzbesprechung in ihrem Büro war sie mehr tot als lebendig gewesen. Zum Gerippe abgemagert, hatte sie in einem automatischen Sessel gelegen, umgeben von einem Dutzend Bildschirmen, die jetzt fast alle leer waren. Vermutlich hatte sie soeben eine Sitzung mit mehreren Parteien beendet und hätte allen Grund gehabt, erschöpft und mürrisch zu wirken. Für Laery war das jedoch der Normalzustand. In ihrer Jugend hatte sie zu viel Zeit oft ohne zuverlässige A-Grav auf verschiedenen Horchposten im Tiefenraum verbracht. Davon hatten sich ihre Knochen und ihr Körper nie mehr so richtig erholt, zum Gehen brauchte sie ein Stützskelett. Sie hatte jedoch einen messerscharfen Verstand und leitete die Abteilung, der Havaer angehörte, seit Beginn seines Berufslebens. Eine angenehme Vorgesetzte war sie nicht, nicht einmal der Typ, den man durchgehend als »hart, aber fair« bezeichnen konnte, und an schlechten Tagen konnte sie ziemlich schnell bösartig werden. Aber sie brachte die Arbeit voran, und sie warf kein Werkzeug weg, das sie noch gebrauchen konnte. Deshalb war Havaer aus der Geschichte mit Telemmiers Befreiung mit heiler Haut herausgekommen. Dass HuKos kostbarste Welt mit seiner Hilfe vor den Architekten gerettet worden war, hätte nicht unbedingt ausgereicht, um sie vor ihrem Zorn zu schützen.
Sie kam sofort zur Sache. »Wir hatten eine undichte Stelle«, erklärte sie. »Irgendein beschissener Sachbearbeiter auf der politischen Seite. Nicht von Mordant House selbst, aber jemand, der durch den Stellvertretenden Attaché von einer verdammten Behörde, die Sie nicht zu kennen brauchen, Akteneinsicht hatte. Und dessen eigener Chef entschieden zu wenig darauf achtete, wer die Mitschriften geheimer strategischer Planungssitzungen zu sehen bekam.«
»Und wohin wurde geleakt?« Der Name Parthenon hing in der Luft, denn das klang genau nach der Art von Spionage, auf die man sich dort besonders gut verstand. Keine richtige Drecksarbeit, sondern ideologische Unterwanderung. Es gab immer wieder stille Wasser unter den Intellektuellen, die insgeheim von einer Parthenier-Uniform träumten und mit der Korruption und Schwäche der Kolonialen aufräumen wollten.
Laery veränderte den Winkel ihres Stuhls und zischte vor Schmerz, bis sie eine bessere Lage gefunden hatte. Zwei Schläuche führten in ihren Arm und versorgten sie mit Medikamenten. Wenn die schmerzlindernd wirken sollten, musste sie sich ein neues Rezept besorgen.
»An einen Gläubiger, es ist nicht zu fassen. Die alte Geschichte. Missglückte Spekulationen, Schulden, auf der Suche nach Geld von soliden Kreditgebern zu zweifelhaften Raumfahrer-Banken und weiter zu noch viel anrüchigeren Institutionen. Als dann die Eintreiber kamen, wurden einige Protokolle als Sicherheit vorgelegt. Jetzt ist die Sache aufgeflogen, und jemand anderes kümmert sich darum. Aber die Mitschriften landeten auf einem Kurierschiff, das an die Schattengrenze flog. Nach Nillitik.«
Havaer stutzte. »Nillitik gibt es nicht mehr.«
»Richtig. Und vieles, was sonst anständig begraben geblieben wäre, wird jetzt billig verramscht, um die Verluste wettzumachen. Unsere schmutzige Wäsche ist also auf dem Markt, sagen unsere Quellen. Sammeln Sie sie ein. Und wenn Sie weitere Käufer identifizieren, die sie einkassieren oder neutralisieren können, ist das ein Pluspunkt für Sie.«
Havaer nickte. In Gedanken war er bereits weiter. Er hatte schon viele Einsätze an der Schattengrenze zu den Hanni durchgeführt und war sogar ein oder zwei Mal auf Nillitik gewesen. Alles im Rahmen seiner Zuständigkeit.
Dennoch … »Jetzt müssten Sie fragen, warum ich«, ermunterte ihn Laery.
»Weil es jemand tun muss«, bemerkte Havaer sanft.
»Unsere Informationen lassen vermuten, dass das Parthenon davon erfahren hat und sehr interessiert ist. Nun können wir die Pathos immer überbieten, aber sollten sie losschlagen wollen, sind wir nicht unbedingt die Stärkeren. Und auch wenn alle Welt auf Zehenspitzen um den Krieg herumschleicht, auf den wir angeblich nicht mehr zusteuern, könnten sie glauben, sich einen größeren Zwischenfall an der Schattengrenze erlauben zu können. Und Sie, Menheer Mundy, hatten laut Ihrer Akte in letzter Zeit ein paarmal mit dem Parthenon zu tun. Nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Deshalb würden sie sich vielleicht über eine Gelegenheit freuen, die Scharte auszuwetzen.«
Havaers interner Spender gab Herzmedikamente ab, er spürte es, als legte ihm jemand die Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. Womöglich marschiere ich geradewegs in einen offenen Krieg hinein.
»Man hat Ihnen ein Team unterstellt. Gehen Sie diplomatisch vor. Aber mit Entschiedenheit. Ich würde es vorziehen, wenn Sie niemanden umbringen müssten, aber manchmal kann man ohne Sprengstoff keinen Bergbau betreiben. Holen Sie vor allem die Unterlagen zurück, möglichst noch versiegelt.« Laery sah ihn durchdringend an. »Noch Fragen?«
»Dürfte ich erfahren, was für Infos geleakt wurden? Wie dringend wird der Besitzer sie zurückhaben wollen?«
Sie starrte ihn lange unverwandt an. »Über Ihrer Gehaltsklasse«, bekam er dann zu hören. »Das hoffe ich jedenfalls, denn offenbar gilt das auch für mich.«
Auf den öffentlichen Plätzen von Bohrung 17, den Bereichen oberhalb des eigentlichen Bergbaus, der das Aushängeschild des Mondes war, ging es hoch her. In jeder Ecke, jeder Nische wurden irgendwelche Geschäfte abgewickelt. Die allgegenwärtigen Hannilambra gaben eindeutig den Ton an. Havaer beobachtete Menschen, die mit charakteristisch angestrengtem Gesichtsausdruck zu verstehen suchten, was aus ihren Kopfhörern kam, oder sich bemühten, die Stimme ihres Übersetzers aus allen anderen herauszuhören. Ein großer Castigar der Kriegerkaste schlängelte sich durch die Menge und schubste kleinere Spezies mit einer Wellenbewegung beiseite. Die ringförmig angeordneten Tentakel mit den Augen an der Spitze gingen unermüdlich hin und her.
Kenyon legte den Grundriss der Anlage auf den gemeinsamen virtuellen Arbeitsplatz und markierte neben verschiedenen interessanten Punkten jene Stelle, wo sich ihr Fakturist aufhielt. Lombard, der Technikspezialist, war ein Hypochonder ersten Ranges, und seine Aufmerksamkeit hatte ein mobiler Med-al-hambra-Stand erregt. Diese koloniale Hilfsorganisation sollte von HuKo geprüfte Medikamente zu den Raumfahrern an den Rand der menschlichen Zone bringen, aber Havaer hielt nichts, was hier verkauft wurde, für vertrauenswürdig.
Reams, das letzte Teammitglied, blieb unvermittelt stehen. Havaer hatte sie beauftragt, sich mit dem Kybernet zu verbinden und sie über lokale Entwicklungen auf den neuesten Stand zu bringen. Es wäre zum Beispiel peinlich gewesen, nach dem Fakturisten zu fragen und zu erfahren, dass er tags zuvor erstochen worden war.
»Architekten«, meldete sie über den verschlüsselten Kanal. Und als sie merkte, dass das übermäßig bedrohlich klang, fügte sie hinzu: »Nicht hier. Sie haben Cirixia zerstört.«
Seit die Architekten die Welt Far Lux umgestaltet hatten und vor Berlenhof abgewehrt worden waren – ein Ereignis, das alle vier in erschütternder persönlicher Erinnerung hatten –, waren sie nicht müßig gewesen. Sie hatten Ossa und Nillitik ausgelöscht und waren über einer Welt aufgetaucht, die nach wie vor nur mit einer Zahlenfolge bezeichnet wurde, weil sich Koloniale und Castigar bei ihrem gemeinsamen Kolonisierungsprojekt noch nicht auf einen Namen hatten einigen können. Verluste in der Größenordnung der Erde hatte es nicht gegeben, andererseits hatte das Tempo der Aktivitäten gegenüber dem ersten Krieg deutlich angezogen. Jetzt also Cirixia.
»Wo zur Hölle«, fragte Lombard, »ist Cirixia? Noch nie davon gehört.«
Reams leitete das Nachrichtenmedio weiter, und alle gingen etwas langsamer, um verarbeiten zu können, was das genau bedeutete. Die Nachricht war offenbar mehrere Monate alt und erreichte die Koloniale Zone erst jetzt, weil der Planet innerhalb der Hegemonie lag und zuverlässige Informationen von dort immer nur sehr langsam nach außen drangen.
»Hm«, machte Havaer. »Das ist ja ein Ding.« Auf Berlenhof hatten Hegemonie-Artefakte gelagert, abgeschirmt durch eine unbegreifliche Magie, die es ermöglichte, sie von einem Planeten zum anderen zu transportieren. Als der Architekt zum zweiten Mal über dieser Welt aufgetaucht war, hatten die Parthenier diese Artefakte an sich genommen, um ihr wichtigstes Kriegsschiff, auf dem sich Telemmier und die anderen Ints befanden, zu schützen. Doch diesmal hatte die Magie nicht gewirkt. Es hatte sich gezeigt, dass pauschale Aussagen darüber, wie sich Architekten verhalten würden oder nicht, das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben waren. Tatsächlich hatte Havaer gehört, dass der Architekt … Wesen auf das Parthenier-Schiff geschickt hatte, die die verdammten Artefakte radikal beschlagnahmt und anschließend das Schiff zerstört hatten. Die Architekten waren nicht nur im Universum zurück, sie waren ungeduldiger als vorher und wollten die verlorene Zeit wieder aufholen.
Und nun war innerhalb der Hegemonie eine ganze Welt mit einer unbekannten Zahl Menschen und anderen Bewohnern verschwunden. Im ersten Krieg hatte noch die Menschheit im Scheinwerferlicht gestanden. Andere Spezies waren zu Hilfe gekommen, aber die Architekten hatten sich definitiv auf Menschenwelten konzentriert. Diesmal schienen sie keinen Unterschied mehr zu machen.
Man fragt sich, wessen Garten sie wohl in den fünfzig Jahren, in denen wir nichts von ihnen gehört haben, verwüstet haben. Niemand zweifelte daran, dass es da draußen Spezies gab, denen die Menschen nie begegnet waren und von denen viele, nachdem die Architekten sie sich vorgenommen hatten, inzwischen wahrscheinlich vollkommen ausgestorben waren. Der mysteriöse Prophet Ash behauptete, der Letzte einer solchen verschwundenen Spezies zu sein. Die Naeromathi und ihre Heuschrecken-Archen waren die raumfahrenden Überreste einer Gemeinschaft, deren sämtliche Welten umgestaltet worden waren.
»Damit haben wir ein Problem weniger«, bemerkte Kenyon mit Grabesstimme, als sie einen größeren Raum betraten, in dem sich eine Bar befand. Hier im Skaggerak, der vermutlich übelsten Kaschemme auf Bohrung 17, drängten sich Menschen, Hanni und auch einige Castigar. Über den Köpfen wackelten rotierende Kellner-Drohnen hin und her und verschütteten die Hälfte der Getränke, die sie servierten. Um im Skaggerak betrunken zu werden, brauchte man nur den Kopf in den Nacken zu legen und den Mund aufzusperren.
Havaer wies Reams an, Getränke für alle zu bestellen, Lombard bekam den Auftrag, an das Kybernet so viele banale Anfragen zu hiesigen Unternehmen zu stellen, dass ihre Tarnidentität als Raumfahrtnomaden glaubwürdig wurde. Dann warf er einen Blick durch den Raum und sah Kenyon mit hochgezogener Augenbraue an.
»Nachdem die Kultisten keinen Schutz mehr versprechen können, wird es niemand mehr so eilig haben, sich ihnen anzuschließen.« So lautete Kenyons Nachruf auf all die Tausenden oder Millionen Toten auf diesem Cirixia, wo auch immer das liegen mochte. Aus Sicht der Behörde war die Feststellung durchaus berechtigt. Während des Krieges und danach hatte eine ganze Reihe von Menschenwelten das Schutzangebot der Hegemonie angenommen, um den Preis völliger Unterwerfung unter die Essiel und ihre unverständlichen Rituale. Ein Muschelverehrer zu werden verlor aber wahrscheinlich an Reiz, wenn man sich nicht mehr hinter einer Muschelschale verstecken konnte. Die Originator-Technik, die die Hegemonie früher als magischen Talisman gegen Architekten-Angriffe genutzt hatte, war nur noch eine Bodenschwelle, seit die Ungeheuer zurückgekehrt waren.
Das große alte Exo, das Olian Timo benutzte, war schwer zu übersehen. Als sie hereinkam und den Raum durchquerte, wichen alle zur Seite. Havaer ließ sich von der Menge mitschieben, denn sie kam so dicht an ihm vorbei, dass er sie hätte berühren können. In der Kanzel des unförmigen Skorpions wirkte sie winzig klein, beide Arme und ein Bein waren verkürzt, das zweite fehlte ganz, aber ihre ausgeprägte Streitlust machte alle Defizite mehr als wett. Ohne ihn zu bemerken, stapfte sie zu Kit und Trost hinüber, ihren beiden Crewkameraden. Alle drei wirkten sehr nervös, und Olli schien besonders krawallbereit.
Die Gegenseite. Der professionelle Bereich seines Gehirns schmiedete Pläne und Gegenpläne: was war zu tun, wenn es zu einer Konfrontation kam? Wie gefährlich war dieses Ungeheuer von Exo? Stand eine Horde von parthenischen Kämpferinnen bereit, um auf Trosts Zuruf hereinzustürmen? Er wandte sich an sein Team. Kenyon hatte Kontakt zu dem Makler aufgenommen und verhandelte über ein Treffen mit dem Verkäufer. Reams unterstützte ihn dabei. Lombard fischte im Funkverkehr nach Nachrichten von Timo und den anderen, fand aber nichts Brauchbares. Havaer spürte plötzlich den dringenden Wunsch, einfach hinüberzugehen, sich zu den dreien zu setzen und über alte Zeiten zu quatschen. Bei diesem Haufen könnte das sogar funktionieren, aber für seine Behörde wäre es wahrscheinlich ein schwarzer Fleck in seiner Akte.
Ein paar Herzschläge lang gab er sich der Hoffnung hin, sie seien nur zufällig hier gelandet, aber er hatte sich von Timos finsterer Miene täuschen lassen. Er hätte wissen müssen, dass sie immer so dreinschaute. Mit einem Mal waren alle drei auf den Beinen und entfernten sich zielstrebig, und er begriff, dass sie ihren Vorsprung gut genutzt hatten. Sie waren ihm bereits voraus.
Idris
Er war der Mann, der die Architekten von Berlenhof vertrieben hatte.
Er war der Mann, der die Kolonien verraten hatte.
Beide Geschichten wurden inzwischen in der ganzen menschlichen Zone verbreitet, sie rasten von Welt zu Welt, weiteten sich aus, wichen voneinander ab und umgaben sich mit einer immer dicker werdenden Schicht aus Spekulationen und Lügen. Weder die Kommission für Humaninteressen noch das Parthenon hatte zu einem der Punkte eine offizielle Verlautbarung abgegeben. Und so wusste jeder Bescheid. Zugleich unterschied sich mit der Entfernung und der Zeit das, was jeder wusste, von dem, was alle anderen wussten. Niemand wusste Bescheid.
Nicht einmal Idris selbst war sich noch sicher, was er war.
Idris Telemmier hatte die Architekten genau von nirgendwo vertrieben, denn »vertreiben« war mit Gewalt und Druck verbunden, und beides konnten weder er noch sonst ein Mensch einsetzen. In Wirklichkeit hatte er höflich gefragt. Er hatte mit seinem ganzen unter hohen Kosten umgestalteten Intermediär-Bewusstsein um den Kontakt gerungen und dabei sein Herz überlastet und seine Gesundheit ruiniert. Schließlich hatte ihm die ungeheure Intelligenz, die wie eine Kerzenflamme im Kern des mondgroßen Architekten brannte, Audienz gewährt. Der Architekt war auf Berlenhof, die koloniale Hauptstadt, zugeschwebt und hatte sich einen heftigen Kampf mit parthenischen und kolonialen Kriegsschiffen geliefert. Währenddessen hatte jedes vorhandene Zivilschiff Leute vom Planeten und den Orbitalen geholt, um wenigstens einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung zu retten.
Idris hatte Warum gefragt, und der Architekt hatte ihm mit Bildern und Vergleichen geantwortet. Warum? Weil er ein Sklave war und seine Herren verlangten, dass er das Universum umgestaltete, einen bevölkerten Planeten nach dem anderen. Wie es seine Brüder mehr als ein Jahrhundert zuvor mit der Erde und in dem darauffolgenden Krieg mit so vielen anderen von Menschen bewohnten Planeten getan hatten. Einer davon hatte aus Idris, einem unreifen Freiwilligen, einen Intermediär gemacht, der mit Göttern sprach und die weglosen Weiten zwischen den Sternen durchmaß. So etwa formulierten es die Medio-Typen in ihrer purpurblumigen Prosa.
Er hatte gebettelt, gefleht und dann wirklich höflich gefragt. Und irgendeine Gemeinsamkeit zwischen dem erneuerten Menschen und dem gottähnlichen Zerstörer hatte Letzteren veranlasst, sich den Zorn seiner Herren zuzuziehen, anstatt aus Berlenhof eine geschundene Skulptur und ein Denkmal für hundert Millionen Seelen zu machen.
Für Idris war es hart gewesen. Hart auch für den Architekten. Die waren schon einmal abgezogen, als das, was sie zerstören wollten, angefangen hatte, zu ihnen zu sprechen. Jetzt waren sie zurück, weil ihre Herren mit doppelter Kraft die Peitsche schwangen. Sicher waren sie erbost über die Zurückhaltung ihrer Sklaven. Nicht einmal die Originator-Reliquien, die die Architekten einst abgehalten hatten, konnten noch eine Welt schützen. Der Feldzug der Architekten-Herren gegen die Menschheit und den Rest des Universums war nach fünfzig Jahren Abwesenheit noch erbitterter geworden. Jetzt akzeptierten sie keine Ausreden mehr.
Daher war Idris nicht der Mann, der die Architekten von irgendwo vertrieben hatte, aber er hatte getan, was möglich war. Und deshalb stand die Menschheit eigentlich tief in seiner Schuld.
Einen Monat später – die widersprüchlichen Legenden über ihn hatten sich auf dem Weg über die Passagen des Unraums von einer Welt zur nächsten immer weiter angereichert – war ein Architekt zu der Bergbauwelt Ossa gekommen. Siebenhundertneunzehntausend Einwohner. Er hing über der dünnen Planetenatmosphäre und den überkuppelten Städten, schälte den Planeten ab und formte ihn zu einer grotesken Blume. Siebenundneunzig Prozent der Bevölkerung gingen zugrunde. Als Idris die Nachricht erhielt, fragte er sich, ob das auf sein Konto ging. Ob Ossa noch leben könnte, wäre er nicht vor Berlenhof gewesen. Denn eine Nebenwirkung der Intermediär-Prozesse in seinem Gehirn bestand darin, dass er seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr geschlafen und daher Zeit hatte, über solchen Fragen zu brüten.
Was seinen Verrat anging, waren die Details ähnlich vage. HuKo hatte sich zu seiner Stellung nicht konkret geäußert. Auf seinen Kopf war keine Prämie ausgesetzt. Und es gab auch keinen diplomatischen Taschenspielertrick, um zu erklären, warum er, einer der drei Überlebenden des ursprünglichen Intermediär-Programms, sein Heimatsystem verlassen und sich dessen nächstem Rivalen angeschlossen hatte, den Kriegerengeln des Parthenon.
Gewisse aufkommende Gruppierungen innerhalb der Kolonialen Zone hielten ihn für einen Verräter. Die Nativisten mit der Parole »Menschen für Menschen« verfluchten seinen Namen. Die Verratenen, das Messer in der nativistischen Scheide, das in dunklen Gassen und schummrigen Raumhafenbars gezückt wurde, hielten ihre Klinge für ihn scharf.
Manche sagten, er hätte sich kaufen lassen. Die Verratenen behaupteten, die Ints hätten ihr Menschsein preisgegeben, um zu werden, was sie waren. Sie seien Verräter durch und durch, man müsse sie entweder unter Pfandkontrakt stellen oder dürfe ihnen überhaupt nicht vertrauen. Idris’ Wechsel zum Feind bestärkte diese Gruppe in ihrem Hass.
Andere meinten, er hätte es aus Liebe getan. In der Flotte des Parthenon warte eine schöne Parthenierin auf ihn. Wie er sie allerdings von den anderen unterscheiden wollte, sei ein Rätsel, hieß es, denn schließlich wären sie doch alle in Bottichen gezüchtet worden, nicht wahr? So der allgemeine Tenor.
Wie immer war die Wahrheit weitaus vielschichtiger. Doch eine kleine, aber wachsende Bewegung innerhalb der Kolonien prangerte die Bedingungen an, unter denen neue Intermediäre erzeugt wurden, und sie kam dieser Wahrheit tatsächlich näher, als irgendjemand ahnte.
Ganz zu Anfang hatte man Intermediäre für den ersten Krieg entwickelt. Sie sollten versuchen, Kontakt zu den Architekten herzustellen, die man mit konventionellen Mitteln kaum hatte abbremsen können. Und das hatte besser funktioniert, als man zu hoffen gewagt hatte. Idris und seine Gefährten hatten mitgeholfen, vor Berlenhof einen Architekten zu zerstören, das erste – und einzige – Mal überhaupt, dass das gelungen war. Danach, vor Far Lux, hatten er und zwei andere erstmals wirklich Verbindung aufgenommen und den Architektenkrieg mit der einfachen Feststellung Wir sind hier beendet.
Natürlich waren seither Jahrzehnte vergangen, und obwohl die Architekten von der Anwesenheit der Menschen wussten, gingen sie ihrem apokalyptischen Tun auch weiter nach. Far Lux war die erste Welt gewesen, die sie umgestaltet hatten, bevor sie Berlenhof einen zweiten Besuch abstatteten.
Wenig später hatte das Intermediär-Programm die ersten Früchte getragen, und die Menschen hatten herausgefunden, dass Ints nicht allein zur Verteidigung in Kriegszeiten zu gebrauchen waren. Ein Schiff mit einem Int-Piloten konnte überallhin fliegen, auch in die Tiefen des Unraums, oder es konnte ohne Vorwarnung über jedem Planeten auftauchen. Angenehm waren solche Reisen nicht. Der Grund, warum aus jener ersten Klasse außer Idris nur noch zwei andere am Leben waren, war nicht allein die Zeit, die seither vergangen war. Doch ihre Seltenheit machte sie wertvoll.
Beim ursprünglichen Intermediär-Programm hatte die Erfolgsquote bei etwa zehn Prozent gelegen. Man hatte Freiwillige wie den jungen Idris aufgenommen und eine große Zahl von Leichen mit spektakulären Embolien, tödlichen Schlaganfällen und anderen Todesursachen produziert, für die die Medizin nicht einmal einen Namen hatte. Und daneben eine Handvoll Ints, die das Universum sozusagen in den Händen hielten.
Nach dem Krieg war das Projekt an die Kontaktbehörde übergegangen, und nachdem die Zukunft der Spezies nicht mehr wirklich auf dem Spiel stand, waren Freiwillige knapp. Man hatte die Fehlmenge mit Verbrechern aufgefüllt. Nun betrug die Erfolgsquote nur noch ein Zehntel dessen, was man im alten Programm erreicht hatte, und man zwang den neuen Ints einen Pfandkontrakt auf und machte sie damit praktisch zu Leibeigenen. Gerüchteweise hörte man, dass es auch noch andere Kontrollen gab. So bekam man zuverlässige Werkzeuge für die Beförderung von hochwertigen Gütern, für Kriegsschiffe, diplomatische Vergnügungsreisen und für die langen Expeditionen des Kartografie-Corps. Aber weil man diese Leute nur unter Zwang zu Intermediären gemacht hatte, wollten die Architekten nicht auf sie hören. Da sie selber Sklaven waren, schenkten sie den Appellen anderer Unfreier, deren Besitzer zu verschonen, keine Beachtung. Das hatte Idris herausgefunden, als die Architekten zum zweiten Mal nach Berlenhof gekommen waren.
HuKo war bereits dabei, die Kontaktbehörde zu reformieren, um diese Schwäche auszumerzen, und wahrscheinlich hatte sich auch der Zustrom an Freiwilligen verstärkt. Man hatte Idris an der Aktion beteiligen wollen und hätte ihm jeden Wunsch erfüllt, um sich seine Kooperation zu sichern. Eine auf Vertrauen basierende Zusammenarbeit ohne den Hauch eines Pfandkontrakts. Aber inzwischen war er alt geworden, auch wenn er in den Jahren, seit er das Programm verlassen hatte, nicht weiter gealtert war. Er erinnerte sich an die neunzigprozentige Sterblichkeitsrate und wusste, dass er nicht der Mann war, um eine ständig schwindende Zahl von aussichtsreichen Kandidaten in die Zukunft zu führen. Er hatte nicht die Kraft, die Verluste zu ertragen.
Damit blieb nur das Parthenon.
Das Parthenon hatte keine Intermediäre. Idris und seinesgleichen waren HuKos großer strategischer Vorteil, sollte zwischen den beiden Nachfolgestaaten der zerstörten Erde ein Krieg ausbrechen. Als Idris Telemmier mit seinem vielgepriesenen Gehirn zu den Partheniern übergelaufen war, hatten sehr viele Menschen geschworen, ihm das niemals zu vergeben.
An diesem Morgen bereute er es.
Die Leute in den Kolonien stellten sich vor, dass das Parthenon seine ganze Zivilisation wie die Besatzung eines Kriegsschiffs führte, dass alle im Gleichschritt marschierten, alles nach einem straffen Terminplan ablief und niemand Zeit für leeres Gerede oder aufrührerische Gedanken hatte.
Der Terminplan war tatsächlich straff. Ein schwerer Schock für einen Raumfahrer, der an ein wechselvolles, nicht planbares Dasein gewohnt war. Geradezu grausam für jemanden, der buchstäblich nicht schlafen konnte. Die Schwesternschaft, der Idris nominell zugeteilt war, hatte feste Arbeitszeiten, Freiphasen und Ruhezeiten. Nachdem er eine Woche lang in seiner Koje gelegen oder sich das kunterbunte Sortiment von Medios angesehen hatte, auf die er zugreifen konnte – halb Eigenproduktion und befremdlich stilisiert, halb koloniale Importe mit verwirrender Parsef-Synchronisierung –, war er losgezogen und hatte sich eine Schwesternschaft mit einem anderen Rhythmus gesucht. Er hatte sich zu den Schwestern gesetzt und unbeholfen seine Sprachkenntnisse erprobt, einfach um in Gesellschaft zu sein, anstatt allein in seiner Kabine zu hocken. Die Parthenierinnen waren darüber nicht erfreut gewesen. Er hatte nicht begriffen, wie sehr sich seine eigene Schwesternschaft hatte beherrschen müssen, um in seiner Gegenwart nicht auszurasten. Er war der erste Mann, den sie jemals gesehen hatten. Die Behauptung der Nativisten, im Parthenon würden Männer aktiv dämonisiert, traf zwar nicht zu, aber die Frauen waren nicht an ihn gewöhnt. Er wurde angestarrt und brachte jedes Gespräch zum Erliegen.
Das war noch nicht das Schlimmste, nur machte es das Schlimme nicht gerade erträglicher. Und schlimm war die Arbeit. Nun lag er wieder einmal wach, nachdem um Mitternacht nach subjektiver Zeit ein weiterer Versuch gescheitert war, in Kontakt zu treten, und fürchtete sich vor der nächsten Arbeitsschicht.
Es war seine eigene Schuld. Er hatte die Kooperation gemeinsam mit Trost entwickelt. Sie war sein Rekrutierungsoffizier. Zwar bedeutete sie ihm mehr als das, doch zu jenem Zeitpunkt war diese Funktion das Wichtigste gewesen. Doch die Arbeit war schwierig. Traumatisch. Und das Leben unter den Parthenierinnen mit ihren tausend seltsamen Eigenarten machte alles noch schwerer.
Hätte er Berlenhofs Angebot angenommen und wäre in den Kolonien geblieben, er hätte es sicherlich leichter gehabt. Er hätte alles bekommen, was sich mit menschlichem Geld kaufen ließ, und man hätte ihm sämtliche unangenehmen und belastenden Kleinigkeiten aus dem Weg geräumt. Es hätte nur einen Nachteil gehabt: die Arbeit wäre noch schlimmer gewesen. Sehr viel schlimmer. Sie wäre über seine Kräfte gegangen. Derzeit, nach sechs Monaten bei den Parthenierinnen, hatte er noch keinen einzigen Intermediär produziert. Das hatte er nicht anders erwartet, und vermutlich wäre es genauso gewesen, wenn er seiner Tätigkeit von einer vornehmen Suite auf einem Berlenhof-Orbital aus nachgegangen wäre. Aber er hatte auch keinen einzigen Todesfall unter seinen künftigen Versuchspersonen verschuldet, und das wog in seinen Augen alle Unannehmlichkeiten auf.
Als Erstes stand an diesem Tag eine Untersuchung bei seinem Arzt – oder vielmehr einer Kognoszent Superior – auf dem Plan. Man misstraute den Schwarmer-Einheiten, einer Spende eines alten Freundes, die sein Herz in Gang hielten. Die Parthenier bevorzugten eigens gezüchtete biologische Ersatzorgane und befürchteten unerwünschte Langzeitwirkungen, wenn drei Kyborg-Insekten in sein Kreislaufsystem eingriffen. Danach ging es zu Fuß zur Arbeit.
Die Ceres umkreiste zusammen mit einer Flotte von kleineren parthenischen Beibooten einen toten Felsen. Die Produktion von Nahrungsmitteln war das Herzstück des riesigen Gartenschiffes, aber es war auch Heimat für Tausende von Schwestern. Es gab Schulen, Sportanlagen, bewaldete Parks, eine verwirrende Illusion von freier Landschaft unter den sonnenwärts ausgerichteten Kuppeln. Und überall sah er Parthenierinnen: Frauen seiner Wache marschierten in einem so forschen Tempo zur Arbeit, dass er nicht mithalten konnte; Frauen in der Freischicht schlenderten gemächlich in aller Öffentlichkeit Arm in Arm vorbei, mit einer Vertrautheit, die dem empfindsamen Kolonialen Idris widerstrebte, plauderten miteinander oder machten Spiele. Inzwischen wurde er nicht mehr so offen angestarrt und bemühte sich, seinerseits niemanden anzustarren. So viele Körper, so viele Gesichter, alle so gleichförmig, alle so zielstrebig. Selbst wenn sie bloß auf den Grünflächen saßen und in einem Tablet lasen, strahlten sie so viel gezügelte Entschlossenheit aus, dass es ihm schwerfiel, sie jemals als »außer Dienst« anzusehen. Ganz gleich, womit sie sich beschäftigten, sie führten garantiert irgendwelche Befehle aus. Das war ein koloniales Vorurteil, aber er war immer noch nicht ganz überzeugt, dass es unberechtigt war.
Auch nach sechs Monaten hatte er sich noch nicht an zivile Parthenierinnen gewöhnt. Sie waren ja nicht wirklich Zivilisten, immerhin war jede einzelne eine Dienerin des Staates, und der Staat war eine Flotte. Bisher war ihm noch nie aufgefallen, in welchem Maße er andere nach ihren Vermögensverhältnissen beurteilte. In den Kolonien gab es Reiche und Arme. Erstere waren ihm in den Granden von Berlenhof und Magda begegnet, den seit Langem besiedelten, florierenden Welten, wo sich die Reichen und Mächtigen sammelten. Als Letzterer hatte er selbst gelebt, denn die Bewohner der dünner besiedelten Kolonien – und erst recht die Angehörigen der weit verstreuten Gruppe der Raumfahrer – waren niemals reich, sondern mussten sich mit Reparaturen, Leihgaben und Ausbesserungen durchschlagen. Er wusste, dass das Pro-Kopf-Vermögen im Parthenon geringer war als in den Kolonien. Hier prahlte niemand mit seinem Besitz, zugleich war auch niemand unterernährt oder offensichtlich notleidend. Er hatte den Verdacht, das läge hauptsächlich daran, dass ihm seine Gastgeber die schlechteren Gegenden nicht zeigten, und ansonsten sähe er zwar die Probleme, erkenne sie aber nicht, weil alle vor ihm auf der Hut waren und er nicht wusste, wonach er suchen sollte. Und im Hinterkopf nagte die Frage: Wie viel von alledem ist Eigendynamik? Leben sie so, als herrsche all die Jahre über Krieg, und deshalb hätte man nicht zu jammern oder aus der Reihe zu tanzen? Wie lang kann das so weitergehen, bevor es zur Explosion kommt? Aber er, der Außenseiter, würde es nie erfahren.
Sein Weg zur Arbeit führte ihn vorbei an den Grünflächen, hinunter zu den Schiffsrampen an der Unterseite der Ceres. Der Anteil an Rangabzeichen und farbigen Uniformen stieg, als er in Regionen kam, die erkennbar vom Militär geprägt waren. Hier fand man die Myrmidonen, die Kriegerengel, die für jeden Kolonialen das Gesicht des Parthenon waren. Hier fand man auch die Crews der Schiffe, die in ständigem Wechsel andockten, die Soldatinnen auf Heimaturlaub sowie die nicht unbeträchtliche Streitmacht, die die Ceres zu ihrer eigenen Verteidigung in Bereitschaft hielt. Das Universum war voller Gefahren, und ein Gartenschiff war ein weiches Ziel.
Inzwischen wusste er, wie es ablief. Im Hangar würde eine neue Gruppe von frischen und doch ähnlichen Gesichtern auf ihn warten. Parthenierinnen aus allen Schichten, junge und alte, die meisten nervös, und sie würden ihn anstarren wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Einige würden damit hadern, dass sie Anweisung hatten zu tun, was er sagte, obwohl er doch weder Teil ihrer Befehlshierarchie noch ihrer Gesellschaft war. Er war nur ein schmächtiger kleiner Raumfahrer aus den Kolonien, hohlwangig, mit Segelohren, dem die Parthenier-Kleidung zu weit war, der immer noch über seine Stiefel stolperte und bei jedem lauten Geräusch zusammenzuckte.
Sie würden mit einem der leichten Frachter hinausfliegen, er mit den Händen an der Steuerung, alle anderen mit einer Schar von neurografischen Aufzeichnungsgeräten verkabelt, die gegen die Schiffscomputer mit einer Firewall abgeschirmt waren, weil sie den Unraum ebenso wenig vertrugen wie das menschliche Bewusstsein.
Die Frauen würden wach bleiben, wenn er sie in den Unraum brachte. Das war ganz und gar nicht üblich. Zuvor hätte er sie schon darauf vorbereitet, eine Ansprache mit Zitterstimme, die ihm nicht leichter fiel, wenn er sah, wie der Schrecken von einem dieser gleichförmigen Gesichter zum nächsten übersprang. Jedermann wusste, was geschah, wenn man ungeschützt in den Unraum geriet, aber er versuchte dennoch, es zu erklären. Ihr werdet allein sein, sagte er seinen Schützlingen, um nach weiteren weitschweifigen Sätzen hinzuzufügen: aber ihr werdet nicht allein sein.
Denn der Unraum war nicht real. Und wenn man in den Unraum eintrat, war man auch selbst nicht mehr real. Man existierte lediglich in der Blase des eigenen Bewusstseins, und auch wenn man die Hand seines Nebenmannes so fest umklammert hielt, dass es schmerzte, wie es viele taten, wären diese Finger leer, sobald das Schiff aus dem Realraum fiel.
Auf einer Reise über die Passagen klinkten sich normale Navigatoren etwa zu diesem Zeitpunkt aus, legten sich in ihre Kryostase-Kapseln und ließen sich erst wecken, wenn das Schiff sein Ziel erreichte. Aber Idris wollte in den Tiefenraum zwischen den Sternen springen, wohin keine Passage führte. Er musste für den Flug wach bleiben, und das galt auch für alle anderen, weil die Aufzeichnungsgeräte messen sollten, was in den Köpfen vorging.
Sie würden, subjektiv nur wenige Minuten später, irgendwo herauskommen, wo keine Sonne schien, ein Stäubchen vor dem Hintergrund von Lichtjahre entfernten Sternen, und er würde die erstickten Laute von Parthenierinnen hören, die um nichts in der Welt vor einem Kolonialen weinen wollten.
Das würde er einmal, zweimal wiederholen, weil die Geräte während der Unraum-Sprünge häufig ausfielen und sie alle Daten brauchten, die sie bekommen konnten.
Die Parthenier suchten nach angehenden Intermediären. Aber niemand wurde als Int geboren. Mit einer einzigen Ausnahme, um genau zu sein: eine Frau, die man Sankt Xavienne genannt hatte, hatte vor Forthbridge Port einen Architekten zum Abdrehen gebracht und damit das Programm in Gang gesetzt, aus dem Idris hervorgegangen war. Aber in jenem Programm war eine ganze Menge invasiver Verfahren enthalten, man bearbeitete die Gehirne mit chirurgischen Eingriffen und Chemotherapie so lange, bis die Versuchsperson entweder zu einer zweiten Xavienne geworden war oder starb. Die wenigsten menschlichen Gehirne ließen sich auf diese Weise verändern, ohne ihre Funktion zu verlieren, und die Kontaktbehörde konnte bis auf den heutigen Tag nicht vorhersagen, wer es schaffen würde und wer nicht. Nur hin und wieder brachte man einen einsatzfähigen Int zustande.
Er war zum Parthenon gegangen, weil eine geringe Chance bestand, dass hier die Aussichten besser waren, denn für Idris dienten Intermediäre ausschließlich zur Verteidigung gegen die Architekten. An einen potenziellen militärischen Einsatz in einem möglichen Krieg zwischen dem Parthenon und den Kolonien verschwendete er keinen Gedanken. Manchmal verbrachte er ganze schlaflose Nächte damit, nicht darüber nachzudenken.
Das Parthenon hatte ein Problem mit den Ints. Ein Aspekt des Lebens auf der Ceres, den Idris besonders bedrückend fand, waren die Bilder von Doktor Sang Sian Parsefer, die in Büros, Schulzimmern und auf öffentliche Plätzen, auf Anhängern und Medaillons und sogar als Wasserzeichen unter dem Text amtlicher Verlautbarungen prangten. Bilder jener Frau, die vor langer Zeit, noch vor dem ersten Krieg, das Parthenon geplant und aufgebaut hatte. Der Frau, die nach ihren eigenen Vorstellungen eine neue und genau definierte Sorte von Menschen erschaffen hatte. In hohem Alter hatte diese Frau ihre Geschöpfe den Flüchtlingen der Erde zu Hilfe geschickt, gewiss, aber es hätte auch anders ausgehen können. Unter den kolonialen Nativisten munkelte man, sie wäre eine überzeugte Eugenikerin gewesen, aber Trost sagte, sie hätte mit einem Genom begonnen, das so vielfältig und gesund wie möglich war, eine echte pan-rassische Mischung aus Immunität und Widerstandskraft. Allerdings war es Parsefer vor allem darum gegangen, das auszumerzen, was sie als die Schwächen einer chaotischen Entwicklung der Menschheit gesehen hatte. Deshalb hatte sie Gott gespielt und an dem Genom herumgeschnippelt.
Idris bewegte sich unter Parsefers strengem Blick nur auf Zehenspitzen, er wechselte höfliche Grüße mit all den ruhigen, gesitteten Frauen und war sich doch bewusst, dass er potenziell auf dem Weg war, Leuten, deren Erben zu Monstern werden könnten, eine schreckliche Waffe in die Hand zu geben. Diese Gesellschaft hatte in ihrer ganzen Geschichte auf Messers Schneide gelebt, am Rande jenes Abgrunds, wo die Entscheidung fallen konnte, sie wären besser und hätten daher das Recht, alles auszulöschen, was schlechter war.
In den Reihen des Parthenon war keine Sankt Xavienne entstanden, um die Gründung eines eigenen Intermediär-Programms einzuleiten, und das würde auch nicht geschehen. Parsefers gottgleiche Spielereien bedeuteten, dass die genetische Vielfalt einfach nicht groß genug war, um solche Mutationen hervorzubringen. Die Parthenier waren Opfer des Erfolgs ihrer Schöpferin. Vielleicht – manchmal hoffte Idris sogar darauf – war so etwas sogar unmöglich. Vielleicht waren die Samenkörner, die die Züchtung eines Intermediärs ermöglicht hätten, auf dem Boden von Dr. Parsefers Schneideraum liegen geblieben, als sie ihr Werk vollendet hatte. In diesem Fall hätte er vollkommen sinnlos Hochverrat an den Kolonien begangen, und womöglich wäre es sogar besser so.
Wenn sie allerdings ein Exemplar einer Parthenierin fänden, deren Gehirn so reagierte, wie es für die Entstehung eines Ints erforderlich war, dann hätten sie auch viele. Jede Versuchsperson, die er auf einen Flug mitnahm, war die Vertreterin einer bestimmten Keimlinie, einer einmaligen Kombination von Parthenier-Eigenschaften. Wenn sie eine fanden, die geeignet war, und diese eine zu einem einsatzfähigen Intermediär machen konnten, dann war das, so hoffte er, mit beliebig vielen möglich, ohne den mörderischen Verschleiß wie bei der kolonialen Methode. Das war der Plan, und deshalb bescherte er den Frauen seit sechs Monaten Albträume und setzte sich selbst immer wieder dem Abgrund aus.
Wie immer wartete Monitor Glück bereits auf ihn. Er hatte sie im Verdacht, ihre Uhr oder das entsprechende Instrument um zwei Minuten vorzustellen, weil sie es für schlechtes Benehmen hielt, den Kolonialen warten zu lassen. Da Idris ohnehin nicht schlief, hätte er dagegenhalten können, bis schließlich keiner von beiden jemals mehr das Labor verlassen hätte, aber Machtspielchen dieser Art waren seine Sache nicht. Stattdessen begrüßte er sie höflich und sah sich an, wen man ihm heute gebracht hatte.
Das Übliche, war sein erster Gedanke. Zwanzig Frauen, dem Aussehen nach zwischen achtzehn und zwanzig, nur pflegte man im Parthenon nützliche Kräfte auf Eis zu legen, bis sie gebraucht wurden. Die jüngste dieser Frauen könnte zehn Jahre vor ihm geboren sein. Er wusste, dass sie eine ziemlich rudimentäre Einweisung erhielten, keine wirkliche Erklärung, aber alle waren willens, für Mutter ihre Pflicht zu tun. Zumindest waren sie nicht willens, unwillig zu erscheinen. Er hatte den Eindruck, ein großer Teil der Parthenier-Kultur bestehe darin, den Schein zu wahren.