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Vor beinahe einem Jahrhundert hat die feindliche Alien-Zivilisation der Architekten beinahe die Menschheit zerstört. Dann haben Intermediäre wie Idris Telemmier den Krieg beendet, und die Aliens verschwanden. Bis jetzt. Ein neuer Krieg droht, doch Idris hat das Geheimnis der Architekten entdeckt, ihre größte Schwäche – und nun droht der Menschheit Gefahr von ihren Verbündeten. Niemand weiß, wie die Galaxis der Zukunft aussehen wird …
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Seitenzahl: 839
Vor beinahe einem Jahrhundert hat die feindliche Alien-Zivilisation der Architekten beinahe die Menschheit zerstört. Dann haben Intermediäre wie Idris Telemmier den Krieg beendet, und die Aliens verschwanden. Bis jetzt. Ein neuer Krieg droht, doch Idris hat das Geheimnis der Architekten entdeckt, ihre größte Schwäche – und nun droht der Menschheit Gefahr von ihren Verbündeten. Niemand weiß, wie die Galaxis der Zukunft aussehen wird …
Adrian Tchaikovsky im Heyne Verlag:
Die Kinder der Zeit
Die Erben der Zeit
Die Feinde der Zeit
Im Krieg
Portal der Welten
Die Scherben der Erde
Die Augen der Galaxis
Die Herren des Abgrunds
Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire, geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Für seinen Roman Die Kinder Zeit wurde er mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.
Mehr über Adrian Tchaikovsky und seine Werke erfahren Sie auf:
Adrian Tchaikovsky
Roman
Aus dem Englischen von Irene Holicki
Wilhelm Heyne Verlag München
Das Original ist unter dem Titel LORDSOFUNCREATION erschienen.
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Deutsche Erstausgabe 07/2024
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2023 by Adrian Czajkowski
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: DASILLUSTRAT, München,
unter Verwendung des Originalmotivs von Steve Stone
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28431-2V001
www.diezukunft.de
Für John Catling
Unraum: Das Nichts unter dem Universum. Dank gravitischer Triebwerke können Schiffe in den Unraum eindringen und in wenigen Augenblicken Strecken zurücklegen, für die sie im Realraum Lichtjahre benötigen würden. Die meisten Reisen werden entlang sogenannter Passagen zwischen verschiedenen Sternen unternommen.
Die Architekten: Mondgroße Gebilde, die aus dem Unraum kommen und bewohnte Planeten zu bizarren Skulpturen umgestalten. Einer davon besuchte die Erde und markierte damit den Beginn eines siebzig Jahre währenden, von Kämpfen und Fluchtbewegungen bestimmten Krieges, der Milliarden von Opfern forderte. Erst durch den Kontakt zwischen den künstlich veränderten Intermediären und den Architekten konnte der Konflikt beendet werden. Nun, fünfzig Jahre später, sind die Architekten zurück.
Originatoren: Auf einigen Planeten sind die Ruinen einer älteren Zivilisation, der sogenannten Originatoren, zu finden. Sie stellen immer noch ein großes Rätsel dar. Früher schienen sich die Architekten von allen Überresten dieser uralten Rasse fernzuhalten. In jüngerer Zeit sind sie dazu übergegangen, solche Relikte sorgfältig von allen Schiffen und Planeten zu entfernen, die sie umgestalten wollen.
Die Hegemonie: Ein Alien-Imperium unter der Herrschaft der undurchschaubaren Essiel. Sie allein verfügen über eine Technologie, die es ermöglicht, Originator-Artefakte zu transportieren. Die Essiel versprechen ihren Untertanen, sie für immer vor den Architekten zu schützen. Die neu aufgetauchten Architekten scheinen jedoch nicht mehr die gleiche Scheu vor den Artefakten zu haben wie ehedem.
Nach ihrer rasanten Expansion in die sogenannte Polyaspora ist die Menschheit nun über zahlreiche Kolonien verstreut. Ein Teil hat es sich auf besiedelten Welten bequem gemacht, während etliche Raumfahrer nach wie vor als Nomaden zwischen den Planeten ihr Leben fristen. Für den Handel und die Reisen innerhalb der Kolonialen Zone sind die Intermediäre eine große Hilfe. Sie gehören zu den wenigen, die sich durch den Unraum bewegen können, ohne sich an die Passagen zu halten. Die Kolonien werden von der Kommission für Humaninteressen, im Volksmund HuKo genannt, mit Sitz auf der Welt Berlenhof regiert.
Im ersten Krieg gegen die Architekten kämpfte die Menschheit Seite an Seite mit vielen anderen Spezies, die engsten Verbündeten kamen jedoch aus den eigenen Reihen. Dazu gehörten die Schwarmer, ein Verbund von intelligenten Kyborg-Wesen, einst als Werkzeug entwickelt, aber mittlerweile unabhängig. Auch Dr. Parsefers Parthenon, eine Gesellschaft von künstlich erzeugten Frauen, stand im Krieg an vorderster Front.
Nach der Abspaltung der Schwarmer und des Parthenon bildeten sich feindselige koloniale Parteien, darunter die Nativisten mit ihrer »Menschheit zuerst«-Ideologie und die Verratenen, die glauben, durch eine Verschwörung würde verhindert, dass die Menschheit das Universum beherrscht. Verschiedene Gruppen innerhalb HuKos ermutigen und nutzen diese wachsenden Gruppierungen für ihre Zwecke, darunter die diktatorisch geführten Adelsfamilien auf der einflussreichen Kolonialwelt Magda.
DieGeiergott: Bergungsschiff. Zur Crew gehören die Drohnenspezialistin Olli, die Anwältin und Duellantin Kris, der Fakturist Kittering und Idris Telemmier. Idris ist einer der letzten Intermediäre der ersten Klasse. Sein einziger Wunsch war, bis ans Ende seiner Tage in Frieden zu leben, doch dann tauchte die Parthenierin Trost, eine alte Freundin aus dem ersten Krieg, bei ihm auf, um ihn für ihre Regierung anzuwerben.
Havaer Mundy: Agent von HuKo, der die Crew der Geiergott in den Wirren um die Rückkehr der Architekten abwechselnd verfolgt und unterstützt.
Delegat Trine: Schwarmer-Archäologe und alter Freund von Idris und Trost aus dem Krieg, die Autorität für das wenige, was über die Originatoren bekannt ist.
Ravin und Piter Uskaro: Magdanische Adlige, die enge Beziehungen zu HuKos xenophobischeren Gruppierungen unterhalten. Teil einer mächtigen Clique von Verschwörern, die das Ziel verfolgen, einer handverlesenen Auswahl von Menschen auf Archenschiffen das Überleben zu sichern.
Der Schreckliche Aklu, das Messer und die Eiserne Hand: Essiel-Gangster aus der Hegemonie, der abwechselnd als Feind und als zwielichtiger Verbündeter der Crew der Geiergott auftritt. Scheint sich Olli, die sich ebenfalls von ihren körperlichen Einschränkungen nicht unterkriegen lässt, seelenverwandt zu fühlen.
Das Forschungsteam auf dem Auge, eine Gruppe von wissenschaftlichen Außenseitern unter Führung des zwanghaften Naeromath Ahab. Außerdem beteiligt sind Doktor Shinandri, ein Mensch, und die Kyborg-Technikerin Tokamak Jaine. Sie arbeiten mit dem Propheten Ash zusammen, der die Erde bereits mehr als ein Jahrhundert zuvor vor den Architekten gewarnt hat.
Die Architekten sind zurückgekehrt und haben eine Schneise von umgestalteten Planeten durch den von Menschen besiedelten Weltraum geschlagen. Und nicht nur dort. Nicht einmal die Hegemonie ist vor ihren Übergriffen sicher.
Idris Telemmiers Wechsel zum Parthenon hat die Feindseligkeiten zwischen den auf Schiffen lebenden Kriegerinnen und HuKo, der Kommission für Humaninteressen, der Regierung der Menschheitskolonien, weiter angefacht. Dank Idris’ Unterstützung ist das Parthenon nun imstande, als Waffe gegen die Architekten und zugleich als potenzielle Bedrohung für HuKo eine eigene erste Klasse von Intermediären zu entwickeln.
Eine Partei innerhalb HuKos hatte unter Führung der Familie Uskaro einen Angriff gegen das Parthenon mit dem Ziel initiiert, dieses in einem kostspieligen Krieg zu vernichten und gleichzeitig die Flotte von im Bau befindlichen Archenschiffen zu schützen, mit denen man ausgewählte Vertreter der Menschheit vor der Auslöschung bewahren wollte. Diese Verschwörung wurde jedoch von Havaer Mundy, einem Untergebenen der in Ungnade gefallenen Meisterspionin Chief Laery, aufgedeckt.
Laery steht nun an der Spitze des Kartells und arbeitet mit dem Universalen Schwarmer-Kollektiv, dem Hegemonie-Verbrecher Aklu und dem rätselhaften Alien namens Prophet Ash in einer artenübergreifenden Koalition zusammen. Vor Kurzem hat dieses Kartell die Kontrolle über die Archenflotte an sich gerissen und HuKo und das Parthenon gezwungen, Frieden zu schließen und zu kooperieren. So sollen die Kräfte für die Verteidigung gegen den gemeinsamen Feind, die Architekten, gebündelt und – wenn möglich – ein Gegenangriff gestartet werden.
Durch Idris’ Experimente mit einer noch funktionierenden, als das Auge bezeichneten Originator-Anlage ist die Hoffnung erwacht, den Kampf zu den Architekten tragen zu können. Ein Forschungsteam von Außenseitern unter Führung des Naeromath Ahab benutzte die Anlage, um im Unraum den Entstehungsort der Architekten ausfindig zu machen. Mithilfe von Idris konnte die Brutstätte der Architekten tatsächlich entdeckt werden, und nun glaubt man, mit einem gezielten Angriff im Unraum die Bedrohung beseitigen zu können. Idris ist jedoch überzeugt, dass die Architekten nicht mehr als die Handlanger einer weiteren unbekannten Macht innerhalb des Unraums sind, Sklaven, die gegen ihren Willen zu den Angriffen gegen die Planeten gezwungen werden. Seit das Auge unter der Obhut Laerys und der anderen steht, befindet er sich in einem Dilemma. Er versucht, genau die Instanzen zu schützen, die von der Menschheit als ihr größter Feind im Universum betrachtet werden, während er gleichzeitig alles tut, um den wahren Feind in den Tiefen des Unraums zu lokalisieren.
Andecka Tal Mar: Intermediäre auf einem Drei-Mann-Schiff mit Namen Skipjack, das sich derzeit mit einer nur zweiköpfigen Besatzung begnügen musste, weil es gerade überall an entsprechendem Personal fehlte, besonders an Menschen. Hinter ihr die Welt Assur: ein einzigartiges Ökosystem, hervorragende Perspektiven für Agrikultur, Wissenschaft und Bergbau. Eine Bevölkerung von siebzig Millionen, überwiegend Menschen, aber auch größere Gruppierungen von Castigar und Hanni. Und davon brachte jedes Schiff, das den Orbit erreichen konnte, im Moment so viele von dort weg wie irgend möglich. Genau wie in den alten Kriegs-Historios. Denn der alte Krieg war zurück.
Vor ihr in einer Entfernung von mehreren Hundert Millionen Kilometern, mit bloßem Auge nicht einmal zu erkennen, der Architekt. Er verringerte den Abstand in stetigem Tempo, und Staven, Andeckas Pilot, hatte seine elegant gekrümmte Bahn geplottet. Sie würde Assurs Orbit auf den Punkt genau schneiden, den Architekten um die Welt schleudern, und sie dann …
Zerstören. Umgestalten. Die lebende Welt in ein totes Kunstwerk verwandeln.
Den Schätzungen von Assurs Kybernet nach wären zu diesem Zeitpunkt im besten Fall noch etwa siebenundsechzig Millionen Individuen auf dem Planeten.
»Gibt es Nachricht von unserer Verstärkung?« Andeckas Narben juckten. Operationsnarben, die sich wie Blitze über ihre Kopfhaut zogen. Es hatte nur eine einzige Intermediäre mit natürlicher Begabung gegeben, Sankt Xavienne, die Seite an Seite mit Andecka Berlenhof verteidigt hatte und dabei umgekommen war. Damals waren sie auf einem sehr viel größeren Schiff als der Skipjack gewesen, einem vollwertigen Schlachtkreuzer, aber genutzt hatte es ihnen nichts.
Staven brummte nur, und als sie die Frage wiederholte, fuhr er sie an: »Glaubst du nicht, ich hätte es dir gesagt, wenn wir eine hätten?« In jenem sarkastischen Ton, den er nur anschlug, wenn er fast umkam vor Angst.
Es war also keine Hilfe gekommen. Ein Problem, wenn der ganze Angriffsplan darauf beruhte, dass es jemanden gab, an den man den Ball abgeben konnte.
»Dann improvisieren wir eben«, sagte Andecka.
»Wir sind tot«, erklärte Staven, aber er drehte mit der Skipjack nicht ab.
Bei seiner optimistischen Schätzung der Opferzahlen stützte sich das Kybernet darauf, dass jemand Zeit für die Evakuierung gewinnen konnte, und dieser Jemand war anscheinend Andecka Tal Mar. Damals im alten Krieg waren es Flotten von Kriegsschiffen und Drohnen gewesen, jedes verdammte Ding, das als kurzfristige Ablenkung besser geeignet war als ein Flüchtlingstransporter. Wenigstens das hatte sich verbessert. Jetzt lag diese Aufgabe bei Intermediären wie Andecka. Denn im ganzen Universum war sie diejenige, die versuchen konnte, mit dem Architekten zu reden. Zu jenem gewaltigen Alien-Bewusstsein Kontakt aufzunehmen und es wie in dem alten Medio für Kinder anzuschreien: Wir sind hier. Damit es einen Moment innehielt.
Vielleicht auch länger … nur war ihre Stimme so schwach, dass sie sich das nicht vorstellen konnte. Vielmehr würde der Architekt ihrer überdrüssig werden, um daraufhin sie, Staven und die Skipjack in ein interessantes filigranes Molekülgitter zu verwandeln, bevor er dem Planeten die gleiche Behandlung angedeihen ließ.
»Warte mal, gerade ist was Großes durchgekommen.« In Stavens Stimme flammte ein Fünkchen Hoffnung auf und erlosch gleich wieder. »Nicht sie. Es sind nicht sie.«
Andecka kämpfte mit ihren Instrumenten, während Assur hinter ihnen zurückblieb. Staven hatte sie auf Abfangkurs gebracht, damit sie ihre winzigen Klagen in das Kristallohr des Architekten rufen konnte. »Wer dann …?« Im schlimmsten Fall ein zweiter Architekt, das war schon einige Male vorgekommen. Offenbar gab es Planeten, bei denen die Ungeheuer sichergehen wollten. Selbst wenn Andecka gegen eines davon eine Chance haben sollte, für zwei wäre sie nicht einmal ein Stein im Weg.
»Transporter. Scheiße.« Staven hechelte nach jedem Wort, als hätte er bereits jetzt einen Herzinfarkt. »Transporter. Castigar.«
Sie holte sich die Daten auf ihren Bildschirm. Eigentlich sollte sie sich jetzt nicht darauf konzentrieren, aber sie musste es wissen. »Der ist verdammt groß«, bestätigte sie. Natürlich nicht mit einem Architekten zu vergleichen, sie hatte jedoch nicht gewusst, dass die Castigar mit solchen Megafrachtern um sich werfen konnten. Sie war immer noch mit dem Kybernet von Assur verbunden und platzte dort in ein Gespräch. Ein tentakelgesäumtes Maul schaute ihr entgegen, der Kopf eines Castigar, jeder Schlangenarm mit einer Augenperle und einer Klaue besetzt.
»Sie sagen …« Andecka blinzelte verdutzt. »Sie können zweieinhalb Millionen Passagiere aufnehmen. Wie wollen sie die …?«
Staven schob ihr die technischen Daten des Schiffs hinüber. Sie hatte wirklich nicht einschätzen können, wie groß der Frachter war. Sie hatte in Städten gelebt, die kleiner waren. Die Kolonien der Menschen nutzten überwiegend kleine Transportfahrzeuge, Überbleibsel aus der Zeit, als jeder Kubikmeter Frachtraum gebraucht wurde, um eine in rasantem Zerfall begriffene Zivilisation zu befördern. Die Castigar dagegen schworen für den Transport zwischen ihren Welten auf Großraumschiffe, und hier war vielleicht zum ersten Mal eines ihrer größten über einer von Menschen bewohnten Welt aufgetaucht. Und es näherte sich mit so hoher Geschwindigkeit, dass Andecka nur hoffen konnte, die Grav-Bremsung der Castigar wäre der menschlichen Technik überlegen, andernfalls bekäme der Architekt womöglich doch keine Chance, den Planeten zu überarbeiten.
Jetzt meldete sich das Kybernet bei ihnen. Denn was nutzte die Kapazität für weitere zweieinhalb Millionen Flüchtlinge, die den Planeten verlassen wollten, wenn einem nicht genügend Zeit blieb, um sie an Bord zu schaffen.
»Sag ihnen, wir tun, was wir können«, seufzte Andecka. Wo zum Teufel bleibt die Verstärkung? Sie übernahm die Steuerung, wenn auch nur, weil die Illusion von Kontrolle bei der mentalen Einstimmung hilfreich war. Wie ein Pfeil schossen sie auf das ferne Lichtpünktchen zu, das sie mittlerweile erkennen konnte. Ein Monster von der Größe eines Mondes, in dem sich ein Bewusstsein verbarg. Ihr Ziel.
»Wundert mich trotzdem«, bemerkte Staven und riss sie aus ihrer Konzentration.
»Was, Staven? Was wundert dich?«
»Ich habe die Medios von dieser Hegemonie-Welt gesehen. Wo der Architekt angegriffen wurde. Zwei weitere sind ihm zu Hilfe gekommen, sind praktisch geradewegs in den Orbit gesprungen. Ich meine, das können sie doch. Warum also dieses lange Vorspiel?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht brauchen sie eine Auszeit zum Nachdenken?«, zischte Andecka. Jetzt war ihre Konzentration endgültig dahin, denn er hatte recht. Die Art, wie sich die Architekten ihren Mordopfern näherten, wirkte seltsam höflich. Sie konnten natürlich aus dem Unraum direkt in die Schwerkraftsenke eines Planeten eintreten. Selbst wenn das schwierig oder mit großem Aufwand verbunden sein mochte, die Fähigkeit war vorhanden. Kein Grund, so langsam vorzurücken, dass den Leuten Zeit blieb, die Welt zu verlassen. Es war, als wollten sie das Entsetzen ihrer Opfer im Angesicht des Endes auskosten. Oder als wollten sie uns jede Möglichkeit zur Flucht geben.
Man konnte getrost sagen, dass die Meinungen darüber, was die Architekten tatsächlich wollten, geteilt waren. Die Mehrheit hielt sie für völkermordende Ungeheuer, und eine Reihe von eher wissenschaftlich Denkenden meinte, sie seien eben nicht zu verstehen, und Lebewesen seien ihnen gleichgültig. Und dann gab es einige, die den Geist der Instanzen berührt hatten und sie tatsächlich verstanden. Einige wie Andecka. Oder ihr Quasi-Mentor Idris Telemmier, der älteste noch lebende Intermediär. Der Mann, der so weit gegangen war wie niemand sonst und nun noch weiter gehen wollte.
Sie seien Sklaven, hatte er gesagt. Die meisten Leute – selbst die aktuell am Gemeinschaftsprojekt am Auge Beteiligten – hatte er nicht überzeugen können. Andecka dagegen schon. Es gab nicht viel, was Andecka nicht geglaubt hätte, wenn Idris Telemmier es sagte. Diese Art von Heldenverehrung war ihm zutiefst zuwider, doch sie hatte ihn aus nächster Nähe arbeiten sehen, Glanz und Elend zugleich. Er war die menschliche Kerze, die doppelt so hell leuchtete, aber niemals abbrannte. Und das Brennen tat weh, sie wusste es. Sie hatte die Hitze gespürt, und Idris stand vermutlich andauernd in Flammen.
Zumindest zum Teil war Idris dafür verantwortlich, dass man sie in aller Eile hierher nach Assur verfrachtet hatte, noch vor dem anderen Intermediär, damit sie das hiesige Kybernet rechtzeitig auffordern konnte, mit der Evakuierung zu beginnen. Noch etwas, das es im ersten Krieg nicht gegeben hatte. Ein Frühwarnsystem.
Wenn wir nun noch die magische Technik hätten, die es der Hegemonie erlaubt, jeden von einem Planeten wegzuteleportieren. Die Technologie gab es anscheinend, doch die Hegemonie der Essiel wollte das nicht zugeben und sie erst recht nicht mit anderen teilen.
Vor ihnen war der Architekt zu einem hellen Fleck von der Größe eines Daumennagels angewachsen. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie auf dem zackigen Antlitz, das er Assur und dem Stern des Systems präsentierte, bereits Einzelheiten erkennen.
Da drin ist jemand zu Hause, sagte sie sich. Jemand, den ich erreichen kann. Ohne den Verstand zu verlieren. Ohne eine tödliche biologische Rückkopplung zu riskieren. Sie war imstande, ihr Intermediär-Bewusstsein in das endlose Labyrinth der Innenwelt des Architekten einzuschleusen, bis sie jenen Brennpunkt erreichte, wo sich ein modifizierter Mensch und ein unbegreiflicher Gigant zusammensetzen und miteinander reden konnten. Beinahe. Sie hatte es noch nie alleine versucht. Es gibt immer ein erstes Mal.
»Du musst uns stabil halten.« Sie sprach zu schnell, zu zittrig. »Weit weg von allem, was er auswirft …«
»Ich weiß, ich weiß.« Die Angst machte Stavens Stimme noch giftiger.
Sie konzentrierte sich auf das Licht, das der Architekt reflektierte, ihr Bewusstsein entfaltete sich bereits und strebte in die namenlose Richtung, in der sie mit dem vollkommen Fremden in Kontakt kommen würde.
Die Angst stieg aus ihrem Bauch nach oben und wollte sich in ihr Bewusstsein krallen, und sie wusste zuerst nicht, ob sie dagegen ankämpfen oder sie zulassen sollte. Weder das eine noch das andere erschien ihr sinnvoll. Es waren menschliche Reaktionen, und sie war unterwegs zu etwas, das ganz und gar nichtmenschlich war.
Und dann:
»Kontakt!« Das kam von Staven, als wäre er der Intermediär und nicht sie. Dann kam nur noch wirres Kauderwelsch aus seinem Mund, und sie musste sich die Worte im Rückblick zusammenreimen. »Da sind sie. Gott sei Dank. Danke, verdammt! Da sind sie!«
Ihre eigenen Instrumente wurden von Sensorsignalen dominiert, die vom Architekten reflektiert wurden, aber sie registrierte, dass zwischen Assur und dem Architekten ein weiteres Schiff innerhalb des Systems aus dem Unraum gekommen war. Kein zweites Geschenk von den Castigar. Ein Kriegsschiff – und ein großes.
»Wieso«, beklagte sich Staven, »sitzen wir in dieser Blechbüchse, und die haben das?«
»Skipjack, hier spricht die Gran Brigitte«, kam eine Stimme über Funk, in knappem Kolvul mit Parthenier-Akzent. »Lagebericht.«
»Ich hoffe, ihr habt einen gottverdammten Int an Bord«, fauchte Andecka ohne Rücksicht auf Protokoll und Rangunterschied.
Die Pause, die nun eintrat, machte noch deutlicher, wie viele Skipjacks in den Schatten der Gran Brigitte passen würden. Dann: »Skipjack, hier spricht Kognoszent Intermediäre Ernst. Höre ich Andecka?«
»Gott und sein Prophet mögen uns retten und beschützen, ja, ich bin es«, antwortete Andecka. Bevor sie sich freiwillig meldete, war sie in einer religiösen Gemeinschaft aufgewachsen, und etwas davon kam wieder durch, wenn sie unter Druck stand. Und natürlich ein Funken Neid. Nicht nur, weil Ernst in ihrem persönlichen Kampfkreuzer herumschippern konnte, sondern auch, weil Andeckas Pendant bei den Partheniern das Narbennetz und die inneren Traumata erspart geblieben waren, die mit ihren Intermediär-Fähigkeiten einhergingen. Sie sind Betrüger, lautete das wenig freundliche Urteil der meisten kolonialen Ints, aber im Moment war für Andecka Hilfe von einer Betrügerin immer noch besser als gar keine Hilfe.
Dreimal hatte sie schon an solchen »Gemeinschaftsoperationen« teilgenommen. Sie wusste, wie so etwas lief. Letztlich kam es nicht darauf an, wie groß das Schiff war, mit dem das Parthenon kam, oder wie viele Waffen es an Bord hatte. Der Krieg wurde schließlich nicht mit Geschützen geführt. Hier kämpften Andeckas Bewusstsein und Kognoszent Ernsts Bewusstsein gegen das Bewusstsein des Architekten.
Staven steuerte die Skipjack in einen Schlingerkurs, um Zeit zu gewinnen, ohne an Geschwindigkeit einzubüßen, die Gran Brigitte holte sie ein, und sie passten sich in Tempo und Flugbahn an das größere Schiff an. Der Architekt war von einem Daumennagel über eine Hand zu dem angewachsen, was er war: ein mondgroßes Monster, das auf Andeckas Intermediär-Sinne einschrie. Er verdrängte viel mehr Masse, als mit seinen gewaltigen Ausmaßen zu erklären war, und warf im Unraum einen riesigen Schatten. Er war der Tod; der Weltenzerstörer. Doch damit allein war er nicht zu fassen. Er war auch Umgestalter, Künstler, Kunsthandwerker. Er ließ Planeten zurück, die penibel zu Skulpturen geformt waren. Und das war mit allen Intermediär-Kontakten im Universum nicht zu erklären. Selbst wenn die Architekten so handeln mussten, weil ihre Herren sie dazu zwangen, wusste man noch lange nicht, warum diese das verlangten. Warum sie das gesamte Universum zu einer Galerie voll bizarrer Exponate aus ehemals bewohnten Planeten machen wollten.
»Wie viel näher noch?«, hauchte Staven. Die Vorderseite des Architekten, ein schroffes Kristallgebirge, füllte die Bildschirme vollständig aus.
Andecka sendete den Entscheidungsbaum, den sie vorbereitet hatte, an Ernst. Augenblicke später hatte ihn die Parthenierin modifiziert und zu ihr zurückgeschickt. In den Sekunden des Anflugs ging dieser Plan ein halbes Dutzend Mal zwischen ihnen hin und her. Das Verfahren war von den Ints beider Seiten bei den ersten Gemeinschaftseinsätzen entwickelt worden. Denn oft brauchte es mehr als ein Bewusstsein, um über einen Architekten zu triumphieren. Es sei denn, man hatte Glück – oder man hieß Idris Telemmier.
Der letzte Baum, den Ernst schickte, kam Andeckas Anforderungen ausreichend nahe. Einverstanden, sendete sie zurück. Jeder Intermediär war anders, und jeder hatte Spielzüge, die er machen konnte, und andere, die ihm nicht möglich waren. Man musste die Kreise aufeinanderlegen und sehen, wo die Überschneidungen waren.
In der Zentrale hatte man viel über die Bildung von festen Int-Paaren geredet, die gut aufeinander eingespielt waren, und früher oder später würde es dazu auch kommen. Aber im Moment war das Universum noch zu groß für die wenigen Ints. Deshalb war die Koloniale Kontaktbehörde auf die Idee mit den Bäumen verfallen – ein flexibler Angriffsplan, den jedes zufällig zusammengekommene Paar an seine Stärken anpassen konnte.
Und dann war der Architekt da. Nicht physisch, denn das war schon seit einer ganzen Weile der Fall. Aber in ihrem Kopf, fast als wollte er ihr entgegenkommen, als wäre er ebenso ein Teil des Spiels wie die beiden Ints.
Andecka ächzte, sie wurde in den Sitz gepresst, ihr Kopf zuckte hin und her, die Gelenke verdrehten sich, und sie biss sich auf die Zunge, doch den Schmerz spürte sie nur gedämpft. Ganz schwach drang das Echo von Stavens Aufschrei zu ihr. Und dann umfing sie die riesige, verschlungene Stadtlandschaft des Architekten-Bewusstseins. Das Labyrinth von Räumen und Engstellen war lediglich das Bild, das ihr Int-Bewusstsein ihr von der wahren Alien-Komplexität zeigte. Sie erinnerte sich, wie sie das erste Mal neben Telemmier gestanden und diese Kontaktaufnahme versucht hatte. Er war dabei fast gestorben, und die anderen, die bei ihnen waren, hatten tatsächlich nicht überlebt. Sie wollte an einen Ort gehen, den der menschliche Geist ebenso wenig ertragen konnte wie ihr Körper das Vakuum im All. Und der Geist rächte sich am Körper. Ihr Herz, ihr Gehirn, jeder Teil von ihr verkrampfte sich, bis er Risse bekam, um nicht dorthin gehen zu müssen, wohin sie ihn führte. Dennoch suchte sie unverdrossen nach diesem Funken, nach der Seele im Inneren des Grabmals, nach der Stelle, wo sie und der Architekt einander berühren konnten.
Und sie war nicht allein.
Der Baum hielt stand. Sie spürte, wie Ernst da draußen dem Plan folgend eine Entscheidung nach der anderen traf. Als wären sie beide die linke und die rechte Hand, und jede wüsste genau, was die andere gerade tat. Sie ergänzten einander, obwohl sie auf ganz verschiedene Weise an die Eintrittskarten zu dieser geistzerstörenden Vorstellung gekommen waren. Andecka hatte man das Gehirn aufgeschnitten, sie mit Drogen vollgepumpt, ihr kybernetische Implantate eingesetzt und hundert andere Versuchspersonen getötet, um sie zu dem zu machen, was sie war. Ernst gehörte der neuen Klasse an, sie war ohne Narben aus dem Parthenon gekommen, nur mit einer genetischen Prädisposition und einem riesigen Garten voller Technik. Für einen Moment durchzuckte Andecka der schiere Neid, und der hätte das Band zwischen ihnen fast zerrissen, aber sie bekam sich wieder in den Griff. Verbittert kannst du in deiner Freizeit sein.
Sie waren fast da. Niemand konnte das Bewusstsein eines Architekten verstehen, nicht wirklich, aber durch wiederholten Kontakt und die Datenanalysen der Schwarmer waren gemeinsame Muster und Wege sichtbar geworden. Mit verschiedenen Techniken und mentalen Gymnastikübungen war der fragile menschliche Geist einer Auflösung des Rätsels immer näher gekommen, und auf diese Weise waren auch die Knoten und Verzweigungen des Entscheidungsbaums festgelegt worden, den sie abarbeiteten. Als wären sie Fechter oder Schachspieler, die einer Standardsequenz von Eröffnung und Reaktion folgten. Die Bäume funktionierten so gut, dass sie tatsächlich ein Spiel daraus gemacht hatten, mit dem die Ints üben konnten, wenn gerade keine Architekten in der Nähe waren. Andecka hatte gehört, dass es inzwischen sogar von Zivilisten gespielt wurde, die glaubten, es zu verstehen.
Probiert doch mal, wie es ist, wenn man es während einer Gehirnoperation in einem Hurrikan spielt, dachte sie boshaft.
Allmählich nahm der Architekt sie wahr und versuchte sie auszuschließen. Sie wollte es Ernst mitteilen, doch im gleichen Augenblick veränderte Ernst ihren Kurs und kam näher heran, um sie zu unterstützen. Im Geist sah Andecka, wie mächtige weiße Steinplatten auf allen Seiten herunterkrachten und sie einschlossen. Sie war versucht, sich größer zu machen, den Kräften etwas entgegenzusetzen, die Türen offen zu halten, sie einzutreten. Aber so konnte man nicht gewinnen. Welche Kräfte man als Int auch hätte, und wäre man Idris Telemmier oder Sankt Xavienne selbst, man wäre nie stärker als ein Architekt. Also, sei flinker, werde kleiner. Spiele deine Vorteile als Mensch aus und mach dich unbedeutend. Ein Stäubchen. Ein schlechter Traum. Sie glitt unter den Architekten-Toren hindurch, zwischen die Atome hinein und zog Ernst mit sich, weiter und immer weiter …
Es war nicht das erste Mal. Viermal war es ihr gelungen, bis zum Sitz der Kognition eines Architekten vorzudringen. Davor war sie zweimal gescheitert, und daran war eine Welt zugrunde gegangen. Damit war ihre Trefferquote besser als bei den meisten anderen.
Ernst war jetzt deutlicher zu erkennen, die Parthenierin in ihrem eleganten Schiff mit all der blitzenden neuen Technik. Nur die Frau selbst war nicht blitzblank, sie war nicht einmal ganz heil, sondern verletzt und litt Schmerzen. Auch sie hatte ihre Narben, bei ihr waren sie innerlich. Und während sie beide auf den Architekten zuschossen, kamen sie sich näher, drangen tiefer ins Innere der jeweils anderen ein, verschmolzen zu einer einzigen Klinge und schoben sich in die Haarrisse und Fugen im Architekten-Bewusstsein, bis …
… er sie hatte. Sie ihn hatten. Die Fingerspitzen berührten sich. Nur gaben sie auf ihrer Seite alles, was sie jemals hatten, während der Architekt lediglich einen winzigen Bruchteil von sich einsetzte. Aber das genügte.
Warum?, fragten sie, und Bitte, sagten sie, und dann beschworen sie die Millionen auf dem Planeten. Die Menschen, die Biosphäre, das Leben. Die schiere unersetzliche Vielfalt an Formen und Arten, die es nur auf Assur gab. Die Träume seiner individuellen Bewohner, von denen die überwiegende Mehrheit niemals rechtzeitig evakuiert werden konnte. Das alles ginge verloren.
Der Architekt – riesig, nichtmenschlich, bizarr – schüttelte sie und fiel mit seinem ganzen Wesen über ihren Geist her. Nicht, um sie auszulöschen, denn wenn er auch bloß einen einzigen derartigen Gedanken hätte, wären in ihren beiden Schiffen nur noch Staub, Atome, geistlose Hüllen. Aber er versuchte es gar nicht, noch nicht. Er könnte es. Manchmal taten sie es. Doch Architekten hatten viel mit alten Gottesvorstellungen gemein. Zu groß, um sie zu verstehen, und dennoch konnten sie jeden Spatzen zählen, der vom Himmel fiel. Sie waren mächtig genug, um das Universum auf allen Ebenen bis hin zu den Atomen zu erfassen. Und irgendwo in dieser Kette war auch der Mensch.
In diesem Moment waren Andecka und Ernst keine Kämpfer, sie waren Bittsteller. Betteln war alles, was sie konnten. Empathie war ihre einzige Waffe. Mit äußerstem militärischem Einsatz war es zweimal gelungen, einen Architekten physisch zu zerstören, doch mit Empathie hatte man weitaus mehr Welten gerettet.
Seine Reaktion traf Andecka mit voller Wucht, und sie spürte wie mit Geistersinnen, dass ihr Körper in seinen Haltegurten krampfhaft zuckte, während Staven Erste Hilfe leistete, um ihr Herz am Schlagen und ihr Blut am Fließen zu halten.
Zwingt mich nicht, bat der Architekt. Der Sinn dieser Worte drang durch, so fremd die Intelligenz auch war, die sie äußerte. Andecka wusste nicht, ob die Instanz sie beide anflehte oder ob sie zu ihren Herren sprach.
Ernst würgte die Informationen hervor, die ihnen Assurs Kybernet zugespielt hatte, und startete damit einen neuen Angriff. Bilder von Kindern, demografische Daten, Pläne für neue Häuser und Familien, halb fertige Medios, ökologische Studien. Der Zeitgeist einer Welt, zur Waffe gemacht.
Der Architekt hielt dagegen. Verzweiflung sickerte durch, und Andecka wusste nicht, ob es ihre eigene, die von Ernst oder die des Architekten war. Doch dann wuchs das Gefühl, wurde stärker und stärker, und sie verstand, dass der Geist eines Menschen niemals so viel Trauer, so viel Leid zu fassen vermocht hätte.
Er wird es trotzdem tun, dachte sie und ahnte, dass Ernst zum gleichen Schluss gekommen war. Sie hatten dem Architekten alles zu Füßen gelegt, was sie hatten, und er bedauerte ihre Verluste zutiefst. Gedanken und Gebete von einem gottähnlichen Zerstörer für die Welten, die er unter seinen Kristallfüßen zertrat.
Dann …
… riss die Verbindung abrupt ab. Sie schrie aus voller Kehle, doch das war nur ihr Körper. Für eine schreckliche Sekunde war ihr Geist zwischen dem Unraum und dem Realraum gefangen, hing an der Grenze fest, die Beendigung ihrer Existenz drohte. Aber Ernst hielt sie. Ernst war ihr Leuchtturm, ihre Rettungsleine, ihr Anker. Hand über Hand hangelte sie sich an Ernsts Konzentration nach oben, bis sie wieder Andecka Tal Mar und vollkommen existent war. Dann schickte sie ein Dankgebet an einen Gott, an den sie nicht wirklich glaubte. Und der Architekt …
… war verschwunden. Zurückgekehrt in den Unraum, der ihn hervorgebracht hatte. Nichts als Bitterkeit blieb zurück. Schmerz. Trauer. Ein hoher Preis. Namenlose Dinge, zu denen seine Herren ihn zwingen würden. Wie immer das vor sich gehen mochte. Niemand wusste es.
Begleitet von einer Symphonie von medizinischen Warnsignalen, kehrte sie in ihren Körper zurück, und es war, als käme sie nach Hause. Ihre Wahrnehmung von Kognoszent Ernst verblasste und schrumpfte, bis die Frau, die bis eben etwas zwischen Schwester und Ich gewesen war, nur noch eine Stimme aus dem Funkgerät war.
Das Kybernet von Assur – und große Teile des übrigen Planeten – redeten auf sie ein. Wahrscheinlich wollten sie Danke sagen, aber Andecka hatte eine Serie von Herzstillständen hinter sich – dass sie noch am Leben war, verdankte sie nur den medizinischen Geräten des Schiffs, und so war sie nicht in der rechten Stimmung für Gratulanten.
»Was jetzt?«, fragte sie Staven. Wahrscheinlich war vor Kurzem ein Paketschiff in Assur eingetroffen und hatte die nächste Charge von Vorhersagen des Orakels am Auge abgesetzt: jenes Frühwarnsystems, das sie im ersten Krieg nicht gehabt hatten und dem in diesem Krieg so viele Welten ihre Rettung verdankten. Das aber nach wie vor noch so viele andere nicht retten konnte. Sicherlich wartete schon der nächste Auftrag auf sie, und ihr bliebe herzlich wenig Zeit, den Einsatzort zu erreichen. Noch war sie nicht tot genug, um aus dem aktiven Dienst auszuscheiden.
»Gute Arbeit«, sendete sie an die Gran Brigitte. »Für eine Patho.« Die Stichelei war praktisch obligatorisch.
»Gleichfalls, Refugiant.« Ernsts Antwort kam prompt. Und bevor die Kommandantin der Brigitte die Verbindung schließen konnte: »Ehrlich, Schwester. Ein Vergnügen.«
»Drei Schutzlose«, meldete Staven. Das hieß, drei Welten sahen dem Tod ins Auge, und noch hatte sich dort kein anderer Int zum Einsatz gemeldet. Vielleicht kam ihnen noch jemand zuvor, und sie könnten weiterziehen. Oder sie wären bei der nächsten Begegnung ganz allein und dann höchstwahrscheinlich verloren. Die Kommunikation zwischen den Sternen war immer wieder unterbrochen, man wusste nie. »Bist du bereit für den Unraum? Wie viel Zeit brauchst du?«
Unraum. Wo die Architekten herkamen. Der unwirkliche Abgrund unterhalb der Realität. Staven konnte sich während des Flugs in Kryostase versetzen, doch Andecka musste wach bleiben, um das Schiff zu steuern. Wach, aber nicht allein. Eine weitere Freude des Int-Daseins, abgesehen davon, dass man mit seinem Geist gegen das zackige Antlitz eines Architekten anrennen musste.
»Such dir eine Liege aus«, sagte sie. »Und dann los.«
Keristina Soolin Almier, Anwältin. Das Ende der planetengebundenen menschlichen Zivilisation mochte gekommen sein, aber Anwälte wurden immer noch gebraucht. Gewiss, sie hatte sich mit einem radikalen Mix verschiedener Gruppierungen eingelassen, von denen die Kolonien und das Parthenon mehr oder weniger in Geiselhaft gehalten wurden, aber das bedeutete lediglich, dass die anwaltliche Tätigkeit intensiver wurde. Die große Wahrheit im Rechtswesen lautete, dass man umso dringender einen Anwalt brauchte, um sich herausholen zu lassen, je mehr sich die Lage verschärfte. Im Moment krachte rings um sie alles zusammen und wurde neu aufgebaut, und so konnte sie ihre juristische Expertise sogar zielgerichteter einsetzen als in den letzten zehn Jahren. Als reisender Schutzengel für Idris Telemmier hatte sie als Bürgerrechtsanwältin gearbeitet und war dafür auch qualifiziert, aber im Studium hatte sie sich zunächst mit Vertragsrecht befasst. Und Verträge waren für einen Anwalt das Bindegewebe des Universums. Auch verfügte das Auge nicht gerade über hinreichend juristisch ausgebildetes Personal. Und wenn, dann entstammte es zumeist dem Universalen Schwarmer-Kollektiv. Die kolonialen Vertreter innerhalb des Gemeinschaftsprojekts brauchten im Moment so viel juristischen Sachverstand, wie sie kriegen konnten, folglich hatte sie so viel Arbeit, wie sie nur wollte.
Sie und die anderen Anwälte im Team hatten auf Berlenhof mit HuKo und einigen Hannilambra-Fakturisten um Ressourcen, Transportmöglichkeiten und Vorräte gestritten. Denn das Auge war ein anspruchsvolles Projekt, das nach Energie, Material und Personal gierte. Es war nicht beliebt, aber alle wussten, dass sie es brauchten. Vorerst noch. Jedenfalls hoffte Kris, dass dem so war.
Nach dem Flug durch den Unraum war sie eben erst aufgewacht, die Nachricht von ihrem Erfolg eilte ihnen bereits voraus, und sie freute sich darauf, zumindest ein paar Tage mit Freunden zu verbringen und keine juristischen Argumente zu wälzen. Sie fand, das habe sie sich verdient.
»Was zur Hölle ist das?«, fragte einer der anderen, ein Kommilitone von Scintilla mit Namen Max Dreidel. Er war neu im Projekt, man hatte ihn als Experten für die Rechtsprechung von Berlenhof zugezogen. Soweit sie wusste, war er zum ersten Mal im All, und daher war es besonders unfair, ihn ausgerechnet nach Estoc zu schicken.
Estoc war ein isoliertes System, man hatte nur eine einzige Unraum-Passage entdeckt, die dorthin führte. Seine ursprünglichen Herren, immer noch sehr präsent, ziemlich aufgebracht, aber im Moment noch kooperativ, hatten es genau aus diesem und noch einem anderen Grund ausgewählt. Das Zentralgestirn glich einer trotzig geballten Faust, von inneren Spannungen geschüttelt, es schickte stoßweise Gravitationswellen aus, die den einzigen ohnehin toten Planeten erschütterten. Im geostationären Orbit um diese Welt hatte man Archenwerften gebaut, mit einem riesigen Aufgebot an Sammelanlagen, um die freie Gravitationsenergie abzufangen und zur späteren Verwendung zu speichern.
Das allein hätte genügt, um jeden Planetenbewohner die Augen aufreißen zu lassen, doch als das Schiff näher kam – ein robustes altes Passagier-Shuttle, mehr als ausreichend, um Anwälte zu befördern –, zogen die Archenwerften selbst alle Aufmerksamkeit auf sich. Kris erinnerte sich noch an ihren ersten Besuch. Raumschiffwerften hatte sie natürlich schon früher gesehen, nachdem sie den Wechsel von der Sesshaftigkeit zum Raumfahrerleben vollzogen hatte. Nichts könne sie mehr überraschen, hatte sie gedacht. Doch dann war die Geiergott immer näher herangekommen, und die Werften und ihre Schiffe waren selbst aus weiter Ferne immer noch größer geworden.
Es war ein großes und streng geheimes Projekt gewesen, ein unglaubliches Unterfangen, sowohl von der Logistik wie von der Geheimhaltung der Planungen her. Eine Handvoll mächtiger Parteien innerhalb der Kolonien hatte, soweit Kris feststellen konnte, seit dem ersten Krieg im Verborgenen Gespräche geführt. Darüber, was zu tun sei, wenn die Architekten zurückkehrten. Dass es schlicht nicht praktikabel sei, all die vielen Kolonialwelten zu schützen, und dass die Intermediäre so verletzlich seien und keinen zuverlässigen Schild abgäben. Und so hatte man begonnen, Kompetenzen aufzubauen und Material zu sammeln, mit dem Ziel, die Menschheit – beziehungsweise den Prozentsatz von Auserwählten, die man retten konnte – so umzugestalten, dass sie auf Dauer ein Nomadenleben auf Schiffen führen konnte. Und dafür brauchte man Schiffe.
Die Werften von Estoc waren größer dimensioniert als alles, was irgendeine der Menschheit bekannte Spezies besaß. Die großen Anlagen des Parthenon zum Bau von Kriegsschiffen waren nicht damit zu vergleichen. Die riesigen Schlepper der Castigar wurden nur deshalb so groß, weil die wurmförmigen Aliens sie abschnittweise bauten und dann im All zusammensetzten. Möglicherweise hatten die Naeromathi einst etwas Ähnliches gehabt, als sie ihrerseits ihre Existenz auf Archen verlegt hatten. Wenn ja, war es längst zusammen mit ihren Welten untergegangen, und nichts wies mehr darauf hin.
Man musste den Verschwörern des Archenkomplotts zugutehalten, dass sie groß gedacht und sich nach Kräften bemüht hatten, Lebensraum für möglichst viele Menschen zu schaffen, auch wenn das lediglich ein Bruchteil aller Leute da draußen gewesen wäre.
Und es kann noch immer dazu kommen, dessen war Kris sich bewusst. Die Arbeiten an der Archenflotte waren nicht eingestellt worden, aber es ging langsamer voran, seit Ressourcen nicht nur für das Auge selbst abgezweigt wurden, sondern auch für das Schiff, in dem es sich befand. Den Edelstein in Estocs Krone, den das Auge-Kartell von denen, die ihn ursprünglich geborgen hatten, gewaltsam beschlagnahmt hatte.
Die Archen selbst waren riesig, aber für Menschen noch zu fassen. Sie waren genauso gebaut wie menschliche Raumschiffe, nur in größerem Maßstab. Max Dreidel konnte bloß noch staunen, als die großen gewölbten Rümpfe nacheinander vorbeiglitten. Zwanzig grotesk angeschwollene Schiffe, fünfhundert Kilometer lang, einige bereits komplett, andere noch im Bau befindliche Gerippe. Aber das alles würde ihn nicht wirklich niederschmettern.
Kris kannte sich im Bergungsgeschäft aus, jedenfalls glaubte sie das nach all den Jahren auf der Geiergott. Es war ein schmutziges, unsicheres Gewerbe; und es war gefährlich. Die Crews der Bergungsfrachter hatten eigene Geschichten und eine eigene Kultur, sie arbeiteten an den Rändern der menschlichen Zone, weit draußen, wo tödliche Unfälle an der Tagesordnung waren. Eine Geschichte, die man besonders häufig hörte, war die vom Großen Coup. Ein ganz besonderer Fund, nach dem eine Bergungsmannschaft entweder ausgesorgt hatte oder vernichtet war. Ein Alien-Schiff – weder Hanni noch Castigar, ja nicht einmal Hegemonie, sondern etwas noch nie Entdecktes, das da draußen durch den Tiefenraum taumelte. Unbekannte Technik, fremdartige Ästhetik, das Werk einer bis dahin unbekannten Kultur und Denkweise. Der Geiergott war nie ein derart sagenhafter Fang ins Netz gegangen, und Kris hatte auch sonst kein Bergungsunternehmen kennengelernt, das so etwas von sich behaupten konnte.
Aber es gab jemand anderen.
Sie hatte gehört, das Kartografiecorps hätte den Fund gemacht. Er schwebte im Raum in einem System ohne Planeten, wo die Passagen ins Leere liefen. Und das Corps war immer noch dabei, dieses System zu erkunden, weil das Ding von irgendwoher gekommen sein musste. Man war sich sicher, dass dort weitere Passagen zu finden sein mussten. Und an ihrem Ende vielleicht eine ganze neue blühende Zivilisation, vielleicht auch bloß ein totes Ruinenfeld. So oder so, es wäre die Entdeckung des Jahrhunderts.
Anfangs hatte niemand die Bedeutung des Fundes so ganz verstanden. Es waren nur einzelne Teile gewesen. Technisch komplex, doch was da in jenes weit entfernte sterbende System gelangt war, war seinerseits umgekommen. Auseinandergebrochen beim Austritt aus dem Unraum, sodass nicht einmal ein Wrack zurückgeblieben war, sondern nur eine Wolke von Elementen, die von der eigenen minimalen Schwerkraft und einem schwachen Magnetfeld zusammengehalten wurden. Bis Jahrzehnte später ein Team von fleißigen Wissenschaftlern das Geheimnis gelüftet hatte.
Man nannte es die Schar. Wie in Himmlische Heerschar. Natürlich war jedermann davon ausgegangen, dass es einmal ein Schiff gewesen war, aber niemand hatte begriffen, dass es das immer noch war – in der Gegenwart. Ein Schiff, erbaut von einer Spezies, die spektakulär unbekümmert mit Dingen wie Rumpfintegrität, Atmosphäre und Gravitationskräften umging.
Das Auge selbst war ein großer Steinbrocken mit schroffen Kanten, die einzige halbwegs intakte Originator-Stätte, die man jemals entdeckt hatte. Man hatte es aus dem Boden einer toxischen Welt gerissen und hierher nach Estoc geschleppt. Nun stand es im Zentrum der Bemühungen des Kartells, im Krieg gegen die Architekten eine Wende herbeizuführen, und wäre die Schar nicht gewesen, es wäre vielleicht eine statische Anlage geblieben, die den riesigen Werften hier draußen in diesem isolierten System Ressourcen und Personal entzog. Eine Operationsbasis und eine Forschungseinrichtung, nicht mehr.
Max stieß einen Fluch aus, und sein Gesicht wurde aschfahl, als sie eine massige, halb fertige Arche umrundeten und er das Auge in seiner Höhle rollen sah.
Die einzelnen Bruchstücke der Schar waren Überreste des Schiffsrumpfs gewesen. Als das Forscherteam sie aktivierte, hatten die mehreren Hundert Teile zwischen sich ein Gravitationsfeld erzeugt und einen Raum eingeschlossen, der nur dadurch geformt und erweitert werden konnte, dass man die Teile bewegte. Gemeinsam bildeten sie ein Schiff, das lediglich so lange existierte, wie die Energie vorhanden war. Sobald der Schalter wieder umgelegt wurde, blieb nichts als eine Wolke von schwebenden Fragmenten zurück. Doch solange die Realität ihre Anwesenheit duldete, konnte die Schar einen Raum so groß wie die Archen oder – nachdem das Kartell es eingefangen hatte – so groß wie das Auge umschließen. Damit ließ sich das aus der Originator-Anlage herausgebrochene Bruchstück in eine mobile Festung verwandeln – die auch fliehen konnte, sollten die Architekten jemals vor Estoc erscheinen. Und, wie die falkenähnlicheren Mitglieder des Kartells beteuerten, die fähig war, den Kampf zum Feind zu tragen.
Allerdings befand sich der Feind im Unraum, soweit man das überhaupt feststellen konnte. Wie sollte man an einem Ort zurückschlagen, an dem man nicht real war? Offenbar machten die Ambitionen des Kartells nicht einmal vor dieser Grenze halt. Idris versicherte Kris, dass man daran arbeite.
Die Schar glich einem Panzer aus einzelnen Elementen, die im grellen Licht der Estoc-Spalte rot-golden schillerten. Die seltsam geformten Schuppen waren ohne jede Symmetrie, doch zusammen bildeten sie ein sinnverwirrendes Ganzes. Etwas an der Art, wie sich die einzelnen Teile aneinanderfügten, schnitt wie eine Papierkante in die menschliche Seele. Welche unbekannte Spezies dies auch entworfen hatte, sie hatte vollkommen anders gedacht als die Menschen. Selbst jetzt hatte der Rückbau des Schiffes noch keine Informationen über die Erbauer der Schar geliefert. Trine, der Schwarmer, der die Forschungen im aktuellen Abschnitt leitete, hatte die Theorie aufgestellt, es könnte sich um eine uralte Spezies handeln, die ein fortgeschrittenes Stadium der Raumfahrt erreicht hatte, ohne irgendeine Form von Schrift zu entwickeln.
»Funk für dich, Kris«, sagte der Pilot, und Kris linkte sich in ihrer eigenen Konsole ein. »Idris?«
»Da hättest du Glück«, hörte sie eine vertraute Stimme, die immer noch einen leicht antiquierten Parthenier-Akzent hatte. »Er ist abgetaucht. Kommt kaum zum Luftschnappen herauf.«
»Trost«, erkannte Kris.
»Du musst mit ihm reden. Er setzt sich zu sehr unter Druck.« Small Talk war noch nie Trosts Stärke gewesen.
»Okay, ich komme nach der Auswertung zum Brunnenkopf hinüber.« Kris überflog die Nachrichten, die Estoc erreicht hatten, während sie unterwegs waren. Da sie und die anderen erst vor Kurzem im Zentrum der Kolonien gewesen waren, war ihr vieles bereits bekannt, ein paar Entwicklungen fielen dennoch auf. »Wie ich sehe, ist es uns gelungen, Assur zu erhalten«, stellte sie fest. »Das war gute Arbeit.«
»Ja, aber Dos Tiemos ist zerstört«, gab Trost tonlos zurück. Kris konnte den Namen nicht einmal zuordnen. Irgendeine Welt, auf der sie nie gewesen war und die sie jetzt auch nicht mehr aufsuchen würde. »Und zwei andere Welten in der Castigar-Zone. Kleine Bergwerkskolonien. Sie schrauben hier gerade an einer Theorie zum gravitischen Labyrinth herum, um die Prognosen zu den Architektenbewegungen zu verfeinern. Wir fachsimpeln noch über die Berechnungen. Geht alles über meinen Horizont.« Kris sah im Geiste vor sich, wie Trost die Achseln zuckte. »Freue mich auf ein Wiedersehen. Komm her und mach Idris und Doc die Hölle heiß, ja?«
Kris hatte keine Gelegenheit gehabt, das Auge zu besichtigen, als es sich noch auf seinem Planeten befand. Und darüber war sie eigentlich ganz froh. Der betreffende Planet war so lebensfeindlich gewesen, dass nicht einmal die echten Originatoren – wer immer sie gewesen sein mochten – imstande gewesen waren, noch einmal zurückzukommen und es auszubauen. Verhindert hatte das laut Idris, dass sie versucht hatten, von der anderen Seite, vom Unraum aus zu arbeiten. Am Ende hatte Idris die Sache in die Hand genommen, das ganze Ding mit den starken gravitischen Motoren der Maschine aus dem Planeten gerissen und durch den Unraum in den Orbit geschleudert. Dort war es als luftleerer, von Gängen durchzogener Felsbrocken gekreist, denn wie sich von selbst verstand, hatten es seine Erbauer nicht für den Weltraum geplant.
Schließlich hatte es das Kartell, dieses befristete Bündnis von widerspenstigen Einzelfraktionen, nach Estoc schleppen und ins Innere der Schar mit ihren beweglichen Schuppen manövrieren lassen, wo es Atmosphäre, Schwerkraft und so viel Stabilität bekam, wie dieser unstete Traum von einer Hülle überhaupt liefern konnte. Kris hatte jedes Mal, wenn sie an Bord ging, mindestens eine Stunde lang ein flaues Gefühl im Magen. Das Auge selbst bestand aus Räumen in verschiedenen Dimensionen, Tunneln, Abgründen und jähen Erweiterungen, wie sie kein Mensch jemals entworfen hätte. Und wenn man zu einer der schroffen Kanten vordrang, hatte man die schillernden Platten der Schar vor sich, mit nichts als dem leeren Weltraum dazwischen. Sie bevorzugte Schiffe, bei denen man nicht den Rumpf absprengte, wenn man den falschen Schalter umlegte.
Die Verbindung von Auge und Schar hatte jedoch andere Vorteile. Niemand wusste, wer die Originatoren oder die Erbauer der Schar gewesen waren, doch der Zusammenschluss der beiden Technologien zeitigte ungeahnte Erfolge.
Die verschiedenen Örtlichkeiten auf dem Auge hatten ihre Namen nach Kris’ Meinung von einem Komitee von Geistesgestörten bekommen. Im Orakel belauschte ein Team von Ints, die sich in Schichten abwechselten, mit der Maschinerie des Auges die Bewegungen der Architekten und versuchte die Welten zu warnen, die ihre nächsten Ziele werden könnten. In der Zersplitterung arbeitete angeblich ein Team von Physikern und Philosophen hochtheoretisch an Anti-Architekten-Waffen. Und im Schema, der Kommandozentrale, stritten sich alle, die etwas mitzureden hatten, was man mit den hier angehäuften Reichtümern an Technik anfangen sollte. Verschiedene Bereiche des Alien-Bauwerks hatte man für so profane Bedürfnisse wie Schlafen, Essen und Erholung reserviert. Der Brunnenkopf war schließlich zum Kern des Projekts geworden, denn dort wurde jedermanns Verständnis von universeller Physik durch die Mangel gedreht.
Sie brauchte jemanden, der sie dorthin führte. Schließlich bot sich eine wortkarge Schwarmer-Instanz an, die ihren Bericht im Schema abgeliefert hatte und dort bloß noch unnütz herumhing. Die vierbeinige, büchsenförmige Entität fegte viel schneller durch die niedrigen Räume des Auges, als Kris folgen konnte, und machte ihr auch ohne ein Gesicht irgendwelcher Art unmissverständlich klar, wie wenig Geduld sie für ihre menschliche Schwäche aufbrachte. Es war nicht so, als wäre Kris noch nie hier gewesen, aber sie gehörte einer großen Minderheit an, die schlicht unfähig war, sich den Grundriss einzuprägen oder auch nur den aufgeklebten Schildern zu folgen, die man nach mindestens drei einander widersprechenden Systemen angebracht hatte. Etwas an dieser Umgebung störte ihr Gefühl für Raum und Richtung, auf das sie sich gewöhnlich fest verlassen konnte.
Am Brunnenkopf kamen sie überraschenderweise durch die Decke heraus, und sie musste eine wacklige Metallleiter hinabklettern, um nach unten zu kommen. Das war typisch für das ganze Auge: Weniger fähige Hände hatten auf den Originator-Stein verschiedene Dinge zur eigenen Bequemlichkeit angebracht – Türen, Rampen, Treppen, Schächte, Kabel und Schaltrelais. Das alles war kurzerhand ohne Rücksicht auf die Ästhetik angeschraubt worden, einiges in menschlichen Dimensionen, anderes für jemand Größeren ausgelegt.
Der Brunnenkopf selbst war so gut wie vollständig aufgesetzt, eine überkuppelte Blase, die an die, wie Kris vorsichtig vermutete, »Unterseite« des Auges genagelt war. Vieles davon war lediglich ein Gerüst. Es hieß immer wieder, man würde es ummanteln, aber sooft sie auch wiederkam, sah sie immer noch die großen Gleitflächen der Schar und das viele leere Vakuum dazwischen. Und das war erst der zweitschlimmste Schandfleck hier.
Ein Dutzend Techniker, Menschen wie Schwarmer, waren dort zugange, meistens um weiteres Zeug anzubringen – Drähte, Kästen und Schächte und andere Dinge, deren Zweck Kris nicht erraten konnte. Inzwischen war der kreisrunde Raum von fünf säulenförmigen Anbauten umgeben, angenietet ohne jedes Gefühl für Symmetrie. In der Mitte befand sich das Brunnenrohr selbst, aber sie vermied es, den Blick darauf zu richten, denn es war offen, und der Anblick verwirrte ihren Verstand.
Trost begrüßte sie. Die Parthenierin trug, wie Kris nicht entging, ihre Rüstung, mit Ausnahme des Helms und, zum Glück, ohne den Beschleuniger. Sie ging rasch hinüber, stets mit dem Rücken zum Rohr, und schloss die Frau kurz in die Arme.
»Ärger mit den Nachbarn?«
Trost schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Schon bald, nehme ich an, aber vorerst benehmen sie sich noch.« Die Mehrheit der Belegschaft der Estoc-Werft stand noch im Dienst der ursprünglichen Besitzer, bevor sich das Kartell dazwischengedrängt hatte. Die waren keine Freunde, besonders die berüchtigte magdanische Adelsfamilie Uskaro nicht, aber sie hatten sich notgedrungen der Vision und den Drohungen des Kartells gebeugt. Kris war schon einmal Gast oder Gefangene der Uskaros gewesen und wunderte sich, dass es noch nicht zur Explosion genommen war. Sechs Monate in dieser fragilen Allianz. Ich hätte keine Wetten darauf abgeschlossen. Überwiegend lag das, wie sie wusste, an Trosts Leuten. Solange das Parthenon bei seinem Entschluss blieb, das Auge und damit den Schlag, den es möglicherweise gegen die Architekten führen konnte, zu unterstützen, so lange würden wahrscheinlich auch alle anderen bei der Stange bleiben.
»Wo ist …?«, begann Kris, und Trost nickte in die Richtung, in die sie nicht schauen wollte.
»Doc Shin!«, rief sie. »Wie lange schon?«
Kris entdeckte den hageren, dunkelhäutigen Mann gegenüber an einer der Säulen, hinter der er sich möglicherweise vor Trosts scharfen Augen hatte verstecken wollen. Doktor Haleon Shinandri kam herüber, er schien sich wie mit Trippelschritten seitlich anzuschleichen, auch wenn das in Wirklichkeit nicht der Fall war.
»Neunzehn Stunden inzwischen, jawohl«, antwortete er so schnell, als wollte er die Worte durch eine Grenzkontrolle schleusen, bevor sie aufgehalten werden konnten. »Das ist kein Problem. Es braucht kein Problem zu sein, du meine Güte, keineswegs.«
Trost sah aus, als würde sie ihn gerne so lange ohrfeigen, bis es gefährlich wurde, stattdessen warf sie Kris nur einen stummen flehentlichen Blick zu.
»Muss ich mit dem Kartell reden?«, fragte Kris. »Oder holen Sie ihn auch so heraus?«
»Er will nicht rauskommen«, murmelte Shinandri. »Er ist mit solcher Hingabe bei der Sache, ja, wirklich. Wie kann ich ihn da bitten …?«
»Sie bitten Idris nicht. Sie sagen es ihm einfach«, erklärte Kris aus langer Erfahrung. »Das ist der Grund, warum er sich schon sein halbes Leben lang vor jeglicher Verantwortung drückt. Denn wenn er sich einmal darauf eingelassen hat, kann er nicht mehr aufhören. Bitte holen Sie ihn raus, Doktor.«
Idris lag vollkommen ruhig, dennoch fiel er. Irgendwo im Hintergrund suchte er den Fall zu beschleunigen, vielleicht konnte er auf diese Weise den Stimmen entkommen.
Er wusste nicht, wie lange es her war, dass man ihn in die Maschine im Herzen des Brunnenkopfs geschnallt hatte, auf einer Liege ausgestreckt, als wäre er zu früh ins Leichenschauhaus gekommen, an mehr medizinische Überwachungsgeräte angeschlossen, als er überschauen konnte. Und er war nicht allein. Er wurde vorbereitet, instruiert, verhätschelt, ermutigt, aufgefordert, über seine Gefühle zu sprechen. Eine medizinische Kognoszent der Parthenier ratterte in tonlosem Parsef Zahlen herunter. Doktor Shinandri rieb sich die Hände und spekulierte über mögliche Fortschritte. Idris versuchte sie alle auszublenden, denn mit einem Mal herrschte in seiner einsamen Berufung zu viel Betrieb.
Und damit nicht genug. Weitere fünf Intermediäre. Drei langjährige Veteranen von der Kontaktbehörde – was bedeutete, dass sie etwa ein Drittel jener Zeitspanne auf sich vereinten, die er dort verbracht hatte – sowie ein Neuling, eine Frau, die zum ersten Mal eintauchte und bereits so viel Panik schob, dass eine Embolie drohte; und eine Parthenierin aus der letzten Klasse. Ihre Liege war vollgepackt mit der zusätzlichen Technik, die sie brauchte, um Idris folgen zu können. Sie waren jetzt ein Team und sollten gemeinsam in den Unraum eintreten.
Aber das war nicht möglich. Niemals.
Diese Maxime hatte ihn sein ganzes Leben begleitet. Wenn du im Unraum bist, bist du allein. Niemand anderer überlebt den Eintritt. Jenseits der Grenze zwischen Realität und Irrealität ist jeder auf sich gestellt. Ob noch andere auf dem Schiff sind, ob sie womöglich neben dir sitzen und dir gar die Hand halten, spielt keine Rolle. Du tauchst allein in den Unraum ein, bis die Präsenz dein Eindringen registriert und sich an die Verfolgung macht.
Und doch führte er jetzt ein Team dorthin.
Ermöglicht wurde es durch die Technik des Auges. Wobei das nach Doktor Shinandris Einschätzung nicht sein ursprünglicher Zweck gewesen war. Aber viele sehr schlaue Leute hatten an dieser Technik herumlaboriert und sie als Fundament für den Brunnenkopf verwendet. Doc Shin selbst, Ahab der Naeromath, Ash der Prophet, Delegat Trine und jede Menge genialer Wissenschaftler aus den Reihen der Kolonien, der Schwarmer und der Parthenier, sie alle hatten bis zum Umfallen daran gearbeitet, um etwas zu entwickeln, das gegen alle Gesetze des Unraums verstieß. Dann hatten sie Idris und die anderen Ints in die Maschine gesteckt und auf die Jagd geschickt.
Schön und gut, wenn das Orakel das nächste Ziel eines Architekten-Angriffs mit einer Zuverlässigkeit von etwa siebzig Prozent vorhersagte. Schön und gut, wenn Ints durch das Weltall reisten und sich bemühten, die Ungeheuer abzuwehren, sobald sie dort eintrafen. Aber Idris wusste sehr genau, dass es beim Projekt Auge viele Falken gab, die sich mit einer Verteidigung von einzelnen Welten nicht zufriedengeben wollten. So konnte man auf lange Sicht den Völkermord, den die Architekten anrichteten, nicht verhindern.
Jetzt lag er auf seiner Liege. Um ihn herum warfen die Höhlenwände des Brunnenkopfs seltsame Laute zurück. Metall unter Spannung, Schotten unter Druck, das tiefe Ächzen von gestressten und versagenden Bauteilen, so fern wie Walgesang. Geräusche des Verfalls, niemand wusste genau, warum, aber er würde Largesse darauf setzen, dass sie nichts Gutes bedeuteten.
Und die anderen. Undeutlich konnte er sie erkennen, wie Bewegungen aus dem Augenwinkel. Sie schwebten an den gewölbten Wänden des Brunnenkopfs entlang und starrten hinaus in die bläulich graue Leere des Unraums. Wenn er die Augen so fest zusammenkniff, dass es schmerzte, konnte er sie scharf sehen. Da war die Parthenierin in ihrer grauen Uniform, sie hatte die Fäuste geballt und die Augen geschlossen und griff mit ihrem Geist aus. Da war die Neue von der Behörde, sie hielt ihre Knie umfasst und schaukelte hin und her. Er könnte zu ihr gehen. Sie trösten. Hoffentlich tat es jemand anderer, er brachte es nicht über sich. Die Vorstellung, im Unraum einen anderen Menschen zu berühren, war ihm ein Gräuel. In dieser Umgebung war er allein, mit dieser Überzeugung lebte er, seit er erwachsen war. Er hörte Doktor Shinandris Stimme verzerrt durch das Rohr dringen, er schickte ihm neue Daten, sammelte ein, was Idris entdeckt hatte, und erschreckte ihn zu Tode. Es kam ihm vor, als wäre er nicht mehr Herr über den eigenen Verstand.
Dazu kam noch, dass er über das, was er vorhatte, lügen musste. Er konnte nur hoffen, dass niemand dahinterkam, wie ungeheuer weit er von der Mission abwich. Er wühlte sich durch die nichtexistenten Schichten des Unraums weiter nach unten und suchte nach etwas ganz anderem als dem angegebenen Ziel.
Die anderen kamen gut zurecht. Wenn er ihnen helfen wollte, wäre er ihnen wahrscheinlich im Weg. Sie versuchten, den Unraum zu kartieren – einen Bereich, wo die Gesetze der Raumgeometrie nicht galten, eine Region, die tatsächlich nicht auf die gleiche Weise existierte wie reguläre Materie und normaler Raum. Wenn sie eine Schneise durch das Unmögliche schlugen, könnten sie mit Waffen, die irgendjemand entwickeln müsste, den Kampf vermutlich zu den Architekten tragen. Seinetwegen durfte sich gern jemand anderer rühmen, jenen letzten, schwer fassbaren Wegpunkt im Nichts gefunden zu haben, der sie zu den Architekten führte. Idris wollte damit nichts zu tun haben, obwohl es sein Auftrag war.
Wieder drangen Stimmen aus dem Realraum zu ihm. Shinandri, Ahab, die Technikerin Tokamak Jaine. Und jetzt Trine, der alte Schwarmer. Trine, der mehr über die Originatoren und ihre Arbeit wusste als sonst ein lebendes Wesen. Der während des Krieges als mechanischer Sekretär Eigentum von jemand anderem gewesen war und ein Ich-Bewusstsein entwickelt hatte. Der anschließend den Kampf seiner künstlichen Spezies um Rechte und Unabhängigkeit miterlebt hatte und nun der größte Experte des Universums zu dem Thema war, das seine ursprünglichen Herren seit Langem studierten.
»Idris, mein lieber alter Forschungskollege, du bist schon wieder vom Kurs abgekommen.« Trines helle, ironische Stimme, die jeden Moment auf messerscharfen Sarkasmus umschalten konnte. »Man könnte fast den Eindruck bekommen, du wärst nicht bei der Sache.«
Nichts konnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, nur waren seine Sache und die der anderen voneinander verschieden. »Was brauchst du?«
»Ich will noch einmal das Auge auslesen, du mein menschliches Sonargerät, und ich brauche deine Daten. Schick mir einen Impuls und zeige mir, was aus den tiefsten Tiefen des Nirgendwo zu dir zurückschallt. Ich glaube, einem Durchbruch nahe zu sein. Womöglich einem Zusammenbruch, wenn du weiterhin so dahinschlingerst.«
Idris musste sich wohl oder übel ins Glied zurückschleppen und für eine Weile schön mit den anderen spielen, während Trine seine Experimente durchführte. Er wusste, dass der Schwarmer, Ahab, Ash und Shinandri die Köpfe zusammengesteckt und einen großartigen geheimnisvollen Plan ausgeheckt hatten. Ein Verfahren, um mithilfe des Auges gegen die Architekten zu Felde zu ziehen.
Als man Idris zum ersten Mal in eine der Maschinen im Inneren des Auges geschnallt hatte, die ihm diesen unendlich weiten Blick in den Unraum ermöglichten, hatte er nach etwas ganz anderem gesucht. Dann hatten sie jenen Klumpen Organisation und Struktur im Unraum entdeckt, wo es nichts geben sollte, und er hatte gedacht, er hätte es gefunden. Aber er war nicht auf der Jagd nach den Architekten gewesen. Seit jener Begegnung über Berlenhof hatte er nach der Hand gesucht, die die Peitsche hielt. Nach jenen unvorstellbaren Entitäten, die die Architekten zu ihren ganz persönlichen Hämmern und Meißeln gemacht hatten, um mit ihnen das Universum umzugestalten.
Stattdessen hatten sie die Architekten selbst gefunden. Ihren Entstehungsort. Einen Informationsknoten im Inneren des Unraums, der ihre Brutstätte war und den das Auge-Projekt nun um jeden Preis vernichten wollte. Das war das Ziel, das Trine zu treffen suchte, um es zu zerstören.
Idris war dagegen immer noch auf der Suche nach dem größeren Wild, auch wenn er seinen Betreuern etwas anderes erzählte.
Und jetzt – das hieß, nachdem eine weitere nicht messbare Zeitspanne verstrichen war, seit Trine zu ihm gesprochen hatte – waren diese Betreuer wieder in seinem Ohr und flüsterten wie die Dämonen auf ihn ein.
»Idris.« Shinandris schrille Stimme, stets kurz davor, in hysterisches Kichern umzuschlagen. »Es ist Zeit, Idris. Sie waren lange genug weg. Kommen Sie zurück, dann sehen wir uns an, was Sie haben.«
Aber Idris’ Geist war weit weg, jenseits der fiktiven Grenzen des Brunnenkopfs. Er war unten im Rohr, tief im Unraum, und spürte, wie die Präsenz sich träge regte und nach ihm suchte. Er hatte keinen visuellen Bezugspunkt, spürte nur instinktiv, wie sich im Herzen aller Dinge etwas Riesiges entrollte und durch alle unwirklichen Räume expandierte. Wie es seine blinden Fühler ausfuhr und nach ihm tastete. Das, was man am meisten fürchtete. Die Entität, die nicht anzugreifen war, wollte man sich nicht selbst zerstören. Dieser Entität war Idris ein halbes Leben lang aus dem Weg gegangen, und etwas in ihm wollte sie immer noch meiden. Was er suchte, das, was den Architekten ihre Befehle gab, war ebenfalls da unten. Es war nicht die Präsenz an sich, sondern ein anderer Bewohner derselben Tiefen.
»Idris«, kam es erneut von Shinandri, aber Idris war gewohnt, den Mann zu ignorieren. Immerhin waren auch die anderen noch da draußen. Mochte Shinandri sie drangsalieren.
Doch dann eine neue Stimme: »Idris!« Kris. Offenbar war sie schon wieder da. »Idris, du musst zurückkommen.«
Aber er wusste doch, dass er dem Ziel näher kam. Er fiel noch tiefer, die Stimmen wurden immer schwächer. Er war der Taucher, den sein Bleigürtel in den schwarzen Abgrund hinunterzog. Er war der Astronaut im All, den jede Bewegung weiter von seinem Schiff wegtragen würde.
Es regte sich unter ihm, strebte auf ihn zu. Er spürte, wie der Raum ringsum an Komplexität gewann, als die Präsenz auf allen Seiten zur Existenz gerann. Kris’ Stimme war immer noch in seinem Ohr, aber er schob sie weit von sich. Er starrte ins Nichts, wollte es zwingen, seinen Blick zu erwidern. Ich komme zu dir.