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In der fernen Zukunft hat sich die Menschheit über die Galaxis ausgebreitet. Der Krieg gegen die nahezu unbesiegbare Alien-Zivilisation, die man die Architekten nennt, ist vor vielen Jahrzehnten beendet worden. Idris, einer der Kriegshelden von damals, fristet sein Dasein als Pilot eines Schrottsammelschiffs – bis er eine Entdeckung macht, die nur eines bedeuten kann: Die Architekten sind zurück. Und die Menschheit schwebt in höchster Gefahr …
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Seitenzahl: 754
DASBUCH
Die ferne Zukunft. Der Krieg der Menschheit gegen die Architekten, eine nahezu unbesiegbare Alien-Zivilisation, ist seit achtzig Jahren vorbei. Die Menschen haben gewonnen – doch der Preis für den Sieg war die Vernichtung der Erde. Idris, ein Supersoldat und Kriegsheld, fristet sein Dasein als Pilot eines Schrottsammelschiffs. Seit sein Körper und sein Geist mit außerirdischer Technologie optimiert wurden, ist er nicht gealtert und hat keine Sekunde geschlafen. Doch in Friedenszeiten hat die Menschheit keine Verwendung mehr für ihn. Als er und seine Crew in einem Asteroidenfeld ein seltsames Artefakt finden, kann das nur eines bedeuten: Die Architekten sind zurück. Und die Menschheit schwebt erneut in höchster Gefahr …
Adrian Tchaikovsky im Heyne Verlag:
Die Kinder der Zeit
Die Erben der Zeit
Im Krieg
Portal der Welten
DERAUTOR
Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire, geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Für seinen Roman Die Kinder Zeit wurde er mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.
Mehr über Adrian Tchaikovsky und seine Werke erfahren Sie auf:
ADRIAN TCHAIKOVSKY
Roman
Aus dem Englischen vonIrene Holicki
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Das Original ist unter dem Titel THE SHARDS OF EARTH erschienen.
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Deutsche Erstausgabe 7/2022
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2021 by Adrian Czajkowski
Copyright © 2022 dieser Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Das Illustrat, München,
unter Verwendung des Originalmotivs von Steve Stone
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-28428-2V001
www.diezukunft.de
Seit 2007 haben wir einen weiten Weg zurückgelegt.
Dieses Buch ist Simon gewidmet, der so vieles möglich gemacht hat.
Im achtundsiebzigsten Kriegsjahr kam ein Architekt nach Berlenhof.
Nach und nach waren seit dem Beginn der menschlichen Zivilisation überall in der Galaxis die Lichter ausgegangen. Auf all den kleinen Bergwerkswelten, den weit auseinanderliegenden Siedlungen, wo immer die Menschen sich eine Heimat geschaffen hatten. Die Kolonien, wie sie genannt wurden, die große, hohle Polyaspora der menschlichen Expansion, war von ihrem leeren Zentrum nach außen explodiert. Denn als Erstes hatten sich die Architekten die Erde vorgenommen.
Berlenhof war zum zweiten Herzen der Menschheit geworden. Schon vor dem Fall der Erde war es eine reiche und mächtige Welt gewesen. Im Krieg war es der Sitz des Militärkommandos und der Zivilregierung, von dort wurde eine zivilisationsweite Flucht koordiniert, als immer mehr Menschen gezwungen waren, ihre todgeweihten Welten zu verlassen.
Deshalb rüsteten die Kolonien zum Kampf, als der Architekt schließlich kam, und alle Verbündeten, die sie dort versammelt hatten, taten es ihnen gleich. So kam es zur großen Schlacht gegen jene galaxisweite Bedrohung, bei der jede Waffe eingesetzt und jeder geheime Vorteil genutzt wurde.
Trost erinnerte sich. Sie war dabei gewesen. Division Basilisk, Schwesternschaft der Himmelsschwert. Ihr erster Kampfeinsatz.
Die Kolonien hatten eine Geheimwaffe, wie sie es nannten. Eine menschliche Waffe. Trost hatte sie beim Kriegsrat gesehen. Nicht mehr als ein Haufen unbeholfener, sichtlich angeschlagener Männer und Frauen. Als die Hauptflotte sich für die Verteidigung von Berlenhof bereitmachte, waren eine Handvoll kleiner Schiffe mit solchen »Waffen« schon unterwegs zum Architekten, in der Hoffnung, mit diesem neuen Trick das Unvermeidliche irgendwie hinauszögern zu können.
Natürlich zwecklos. Ebenso gut können wir uns auf Gedanken und Gebete verlassen.
Auf der Himmelsschwert hingen alle, die dienstfrei hatten, gebannt vor den Displays, denn man wollte nur zu gerne glauben, diesmal hätte man etwas in der Hand. Auch wenn alle Geheimwaffen, auf die man bisher seine Hoffnung gesetzt hatte, nichts als heiße Luft gewesen waren. Trost starrte ebenso unverwandt auf die Bildschirme wie alle anderen. Der Architekt war unmöglich zu übersehen, eine gewaltige glänzende Masse so groß wie der verschwundene Mond der Erde, von der jeder Scan reflektiert wurde und jede Drohne abprallte. Die Verteidigungsflotte vor Berlenhof erschien daneben wie eine Schar von Nadelstichen, die einzelnen Schiffe waren durch den Maßstab so geschrumpft, dass sie erst zu sehen waren, als sie eine Vergrößerung anforderte. Das Herz der Kolonien hatte seine Streitkräfte bereits zusammengezogen, um sie anderswo einzusetzen, als der Architekt am Rand des Systems aus dem Unraum aufgetaucht war. Eine bessere Chance würde die Menschheit nicht mehr bekommen.
Da draußen waren Schiffe der Castigar und Hanni, zweier Alien-Handelspartner, die ihren menschlichen Verbündeten unter die Arme griffen, weil der Architekt ein Problem für alle war. Dazu kam eine riesige Flotte von menschlichen Schiffen, bunt zusammengewürfelt, denn abgesehen von einigen richtigen Kriegsschiffen hatte man alles, was nicht zur Evakuierung zu gebrauchen war, ins All geschickt. Im Orbit bauten Schwarmer-Fabriken ihre Arbeiter zu Waffen um. Sogar eine Heuschrecken-Arche der Naeromathi schwebte dort draußen – ein düsterer Koloss, der aber neben dem Architekten immer noch wie ein Zwerg aussah. Was die Heuschrecken wollten oder was sie dachten, wusste niemand, man sah nur, dass selbst sie gegen diesen Feind kämpfen wollten.
Und dann war da noch der Stolz der Flotte, Trosts Schwestern: das Parthenon. Menschen, aber nur nach einer bestimmten Definition. Genetisch veränderte weibliche Krieger, die seit dem Fall der Erde Schutz und Schild für die Kolonien gewesen waren. Die Himmelsschwert, die Schwebende Mutter und die Kataphrakta, die fortschrittlichsten Kriegsschiffe, die die Menschheit jemals gebaut hatte, ausgerüstet mit Waffen, die man sich in Vorkriegszeiten nicht einmal hätte vorstellen können.
Trost reckte sich und entdeckte zwischen der Flotte und dem Architekten einen Fleck aus winzigen Pünktchen: die Vorhut. Die Speerspitze der Menschheit bestand aus den schnellsten Schiffen der Parthenier. Normalerweise hätten sie die Aufgabe gehabt, den anderen Zeit zu verschaffen. Doch diesmal trugen die Pythia, die Ocasio, die Ching Shi und die anderen dem Feind ihre Geheimwaffe entgegen.
Trost glaubte nicht daran. Die Wende mussten die Massenwerfer und die Nullpunkt-Jäger bringen, mit denen die Himmelsschwert bestückt war, sonst wäre alles vergebens. Noch während sie das dachte, hörte sie die anderen Frauen aus der Freischicht miteinander tuscheln. »Intermediäre«, flüsterte eine, als ginge es um ein Tabu; und eine andere, kaum alt genug für den Militärdienst: »Man sagt, sie schneiden ihnen das Gehirn auf, um sie dazu zu machen.«
»Wir empfangen neue telemetrische Daten«, meldete eine Offizierin, und das Display fokussierte auf jene wenigen Punkte. Sie schossen auf den Architekten zu, als wollten sie sich daran zerschmettern wie an einer Felswand. Trosts Augen brannten, als sie angestrengt versuchte, den Bildern immer mehr Informationen abzutrotzen, noch tiefer hineinzuschauen, bis sie ins Innere der Schiffe vorgedrungen wäre.
Einer der Punkte erlosch. Der Architekt hatte die Angreifer wahrgenommen und schlug gleichmütig auf sie ein. Trost hatte gesehen, was übrig blieb, selbst wenn man mit der Kraft eines Architekten nur kurz in Berührung gekommen war: durch starke Gravitation verbogenes, zerdrücktes Metall, verformt und verdreht. Ein großes, gut abgeschirmtes Schiff mochte einen solchen Streifhieb überstehen. Auf diesen kleinen Schiffen gab es sicherlich keine Überlebenden.
»Es ist nutzlos«, sagte sie. »Wir müssen da hinaus. Wir.« Es juckte ihr in den Fingern, die Tasten für die Massenwerfer zu drücken.
»Myrmidone Trost, hältst du dich für klüger als die Exzellenten der Flotte?« Ihre unmittelbare Vorgesetzte, und natürlich stand sie dicht hinter ihr.
»Nein, Mutter.«
»Dann warte ab und halte dich bereit.« Leise, wie zu sich selbst, fuhr sie fort: »Nicht dass ich nicht deiner Meinung wäre.« Bevor sie noch zu Ende gesprochen hatte, war ein weiteres winziges Schiffchen ausgelöscht worden.
»War das …?«, rief jemand und wurde sofort unterbrochen. Die Offizierin verlangte: »Telemetrie aktualisieren und bestätigen!«
»Eine deutliche Abweichung«, bekräftigte jemand. Das Display lieferte ein revidiertes Bild, ein Fächer von Linien zeigte den projizierten Kurs des Architekten und seine aktuelle Flugbahn.
»Er hat also den Kurs geändert. Das macht keinen Unterschied«, zischte jemand, aber die Offizierin übertönte sie. »Sie haben einen Architekten zum Abdrehen veranlasst! Wie auch immer, er hat abgedreht!«
Dann verschwanden alle Daten. Nach einer Sekunde gespannten Schweigens sprangen die Displays wieder an. Die wenigen noch vorhandenen Schiffe flüchteten, als der Architekt erneut auf Berlenhof zusteuerte. Was immer das für eine Geheimwaffe sein mochte, sie hatte offenbar versagt.
»Höchste Alarmstufe! Alle Freischichten bereithalten, um bei Bedarf einzuspringen. Jetzt kommen wir an die Reihe!«, ertönte die Stimme der Offizierin. Trost starrte jedoch weiter auf das Display. Hatten sie wirklich nichts erreicht? Irgendwie hatte diese geheime Intermediärwaffe einen Architekten von seinem Kurs abgebracht. Bisher hatte er nie mit der Wimper gezuckt.
Prompt kamen die ersten Befehle. »Alles für die Ankunft der Pythia vorbereiten. Schadenskontrolle, medizinisches Personal, Eskorte.« Sie gehörte zur dritten Gruppe und wurde mit ihrem Team aus der Freischicht gerufen.
Die Pythia war ein schnittiges, lang gestrecktes Schiff gewesen: der breitere vordere Abschnitt mit den gravitischen Triebwerken hatte sich über die gesamte Länge zu einem segmentierten Heck verjüngt. Dieses Heck war nicht mehr da, und die noch vorhandenen zwei Drittel des Schiffes sahen aus, als hätte sich eine Hand um sie geschlossen und jede gerade Linie gewaltsam zu einer Kurve gebogen. Dass das Schiff überhaupt zurückgekehrt war, grenzte an ein Wunder. Sobald sich die Luke öffnen ließ, begannen die Überlebenden, die Verwundeten herauszutragen. Den Schiffsdaten hatte Trost entnommen, dass die Hälfte der Mannschaft gar nicht mehr herauskommen würde.
»Myrmidone Trost!«
»Mutter!« Sie salutierte und wartete auf ihre Befehle.
»Bring das auf die Brücke!«
Sie blinzelte. Das war ein Mann. Ein menschlicher Mann aus den Kolonien. Schlank und mit Segelohren. Er wirkte traumatisiert, schien unter Schock zu stehen. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Lippen bewegten sich stumm. Zuckungen liefen wie Ratten über seinen Körper. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, beim Kriegsrat. Einer der vielgepriesenen Intermediäre.
»Mutter?«
»Bring ihn auf die Brücke. Jetzt, Myrmidone!«, fauchte die Offizierin, dann beugte sie sich vor und packte Trost an der Schulter. »Das ist sie, Schwester. Das ist die Waffe! Und wenn es eine Waffe ist, müssen wir sie auch einsetzen.«
Auf Berlenhof befanden sich Milliarden von Menschen: die einheimische Bevölkerung sowie zahllose Flüchtlinge von den anderen zerstörten Welten. Niemand konnte auch nur ein Tausendstel davon wegschaffen, bevor der Architekt die Welt zerstörte. Doch je mehr Zeit sie für die Evakuierung gewinnen konnten, umso mehr Leben würden sie retten. Dafür opferte das Parthenon Schiffe und Menschenleben. Dafür würden auch die Schwarmer ihre künstlichen Körper opfern, und dafür würden die Alien-Händler, die Partisanen und die Ideologen sterben. Jedes verlorene Schiff bedeutete, dass ein weiterer mit Zivilisten vollgepackter Frachter von Berlenhof abheben konnte.
Es entging ihr nicht, wie viele staunende Blicke den Mann trafen, als sie ihn vom Dock zerrte und in eine Liftröhre schob. Wahrscheinlich bekam er soeben noch einen viel schlimmeren Kulturschock; normale Koloniale verkehrten nicht mit dem Parthenon, denn vor dem Krieg waren sich die beiden Seiten nicht grün gewesen. Nun fand er sich auf einem Schiff voller Frauen mit nahezu gleichen Gesichtern und nahezu gleichem kompaktem Körperbau wieder. So weit menschenähnlich, dass man sie als unheimlich empfand, aber für die meisten Kolonialen nicht menschlich genug.
Jetzt sagte er etwas. Im ersten Moment hörte sie nur unverständliche Laute, aber sie hatte so viel Kolvul gelernt, dass sie sich den Sinn zusammenreimen konnte. Er wollte lediglich, dass sie wartete. Nur waren sie bereits im Lift, also konnte er warten, solange er wollte, und sie kämen dennoch dahin, wo man sie haben wollte. »Warten Sie, ich kann nicht …«
»Sie sind hier … Menheer.« Die korrekte Kolvul-Anrede war ihr nicht gleich eingefallen. »Ich bin Myrmidone Trost. Ich bringe Sie auf die Brücke der Himmelsschwert. Sie werden mit uns kämpfen.«
Er starrte sie an – in Schockstarre. »Sie sind verletzt. Mein Schiff. Wir sind gesprungen …«
»Dies ist jetzt Ihr Schiff, Menheer.« Und weil er schon wieder zu zittern anfing, blaffte sie ihn an: »Ihr Name, Menheer?«
Er zuckte zusammen. »Telemmier. Idris Telemmier. Intermediär. Erste Klasse.«
»Sie sind angeblich eine Waffe. Und jetzt müssen Sie kämpfen.«
Er schüttelte den Kopf, doch sie schob ihn aus dem Lift, und die Offizierinnen riefen bereits nach ihm.
Die Bildschirme mit den bunten Schlachtszenen waren im Zentrum der Brücke angeordnet und zeigten, wie sich die riesige Flotte auf den Architekten zubewegte. Trost sah, dass sie sich endlich feuerbereit machten: um mit ihren Lasern und Projektilen, den Selbstmorddrohnen, Explosivgeschossen und der gravitischen Torsion an Schaden anzurichten, so viel sie konnten. Tatsächlich ging es nur darum, den Architekten zu behindern. Es galt bereits als Sieg, wenn man ihm so lästig wurde, dass er nach einem schlagen musste, bevor er den Planeten vernichten konnte.
Idris wurde vor dem Display postiert, wobei Trost ihn stützen musste.
»Was soll ich …?«, stieß er hervor. Trost sah, dass er keinen Schimmer hatte, was sich um ihn herum tat.
»Tun Sie, was immer Sie tun können«, fuhr ihn eine Offizierin an. Trost sah und spürte, dass die Himmelsschwert bereits zum Angriff überging. Sie hatte den verzweifelten Wunsch, in der Schicht zu sein, die für die Massenwerfer zuständig war, um diesen Pseudohammer gegen die Hülle des Architekten schmettern zu können. An den Intermediär glaubte sie ebenso wenig wie an Hexen und Zauberer.
Dennoch rang sie sich ein Lächeln ab, als er seinen matten Blick auf sie richtete, und damit schien sie ihn zu erreichen. In seinen Augen blitzte etwas auf: Wahnsinn oder ein göttlicher Funke.
Dann feuerte der Massenwerfer ihres Schwesterschiffs, und Trost verfolgte die Attacke der Kataphrakta über die Anzeigen auf der Brücke. Sie hatten diese Waffe mit ihren Erkenntnissen über die Architekten selbst entwickelt. Mit einem Hammerschlag reiner gravitischer Torsion wollten sie eine Bresche in das kristalline Äußere des Feindes reißen.
Die ersten Schadensberichte wurden abgelesen: minimale, aber immerhin vorhandene Risse; Zielbereiche, die man für einen konzentrierteren Angriff markierte. Nun schwebten die Nullpunkt-Jäger der Himmelsschwert aus ihren Hangars und verteilten sich, hundert Mücken, um den Feind für einen Moment von den großen Geschützen abzulenken.
Wie ein Chor schallte es durch die Brücke, als ihr eigener Massenwerfer feuerte und der Widerhall das ganze Schiff in Schwingungen versetzte. Trost hätte am liebsten mitgeschrien, wie sie es sonst immer tat, hielt jedoch den Mund, denn hier auf der Brücke hätte sie damit Anstoß erregt.
Und dann keuchte Idris, sein Körper bog sich in ihren Armen nach hinten durch, und Blut quoll ihm aus dem Mund. Er hatte sich auf die Zunge gebissen. Seine Augen waren weiter aufgerissen, als es menschenmöglich schien. Das Weiß war vollständig sichtbar und von einem roten Ring umgeben. Er schrie, und auf der Brücke wurden besorgte Stimmen laut, verstummten jedoch, als die kommandierende Exultant der Flotte ein Stocken in der Bewegung des Architekten meldete. Unmöglich, dass so viel unerbittliche Dynamik mit weniger als einem Asteroideneinschlag beeinflusst werden konnte. Dennoch hatte es genau in dem Moment, als Idris geschrien hatte, einen deutlichen Ruck gegeben.
Wieder sang der Massenwerfer, und Trost sah, dass auch die Kataphrakta und die Schwebende Mutter auf dieselben Bruchstellen in der Hülle des Architekten feuerten. Scharen von kleineren Schiffen wirbelten vor der zackenbewehrten Front des Ungeheuers vorbei und schossen, was die Rohre hergaben, um wenigstens einen winzigen Teil der Aufmerksamkeit des Monsters auf sich zu ziehen. Gruppenweise wurden sie ausgeblasen wie Kerzenflammen. Dann streckte der Architekt seine unsichtbaren Hände aus, verdrehte die Kataphrakta über ihre gesamte Länge und zog sie anschließend zu einer Blütenform auseinander. Das Schiff mit allen Insassen wurde zu einer Metallskulptur und trudelte steuerlos in den Tiefenraum ab. Genau das gleiche Schicksal hatte Berlenhof zu erwarten, wenn der Architekt den Planeten erreichte.
Als Nächste wurde die Arche der Heuschrecken vernichtet, sie löste sich einfach auf, als sie versuchte, mit ihrer Masse dem Architekten den Weg zu versperren. Der Werfer der Schwert meldete sich wieder, doch diesmal war der Gesang disharmonisch, und das Kriegsschiff ächzte unter der Wucht seiner eigenen Artillerie in allen Fugen. Idris umklammerte Trosts Hände so fest, dass es schmerzte, lehnte sich an sie und weinte. Der Architekt hatte angehalten, zum ersten Mal, seit er ins System eingedrungen war, und rückte nicht weiter gegen den Planeten vor. Trost spürte, wie Idris erbebte, sich versteifte und etwas tat, um mit dem Universum um die Kontrolle über diese apokalyptische Maschine zu ringen. Das rasante Geratter der Brückenberichte dröhnte ihr in den Ohren: Spannungsbrüche, Zielkoordinaten, die elegante Physik, mit der Schwerkraft als Knüppel eingesetzt wurde. Schadensmeldungen. So viele Schadensmeldungen. Einmal hatte der Architekt sie bereits gestreift, doch das hatte Trost kaum wahrgenommen. Die Hälfte der Decks auf der Himmelsschwert wurde evakuiert.
»Sie zerbricht!«, rief jemand. »Sie bricht auseinander!«
»Festhalten!« Trost musste nicht nur sich selbst, sondern auch Idris abstützen. Denn sein Geist war anderswo, er kämpfte auf einem Schlachtfeld, das sie sich nicht einmal vorstellen konnte.
Ein heftiger Aufprall, die Bildschirme fielen kurz aus. Und während die Himmelsschwert in ihren letzten chaotischen Zügen lag, bekam Trost von der Flotten-Exultant die letzten Befehle. Daraufhin packte sie den Intermediär – den kleinen Kolonialen, der womöglich ihre stärkste Waffe war – und schob ihn vor sich her durch die Trümmer und die noch intakten Schiffsabschnitte zu den Rettungskapseln. Sie gab ihm den Vorrang vor ihren Schwestern, nicht nur, weil man ihn in ihre Obhut gegeben hatte, sondern auch, weil er Hoffnung bedeutete: im Universum gab es jetzt einen zerstörten Architekten; vor der Schlacht von Berlenhof war das noch nicht der Fall gewesen.
Später, in dem riesigen Lazarettlager auf dem Planeten, saß Trost an Idris’ Bett und hielt seine Hand, als er erwachte. Sie waren umgeben von weiteren Opfern von der Himmelsschwert, all jenen, die das Glück gehabt hatten, mit Verletzungen davonzukommen, anstatt ausgelöscht zu werden. Bis zum explosionsartigen Ende der Schlacht waren die Hälfte der Flotte und ein Dutzend Orbitale lahmgelegt worden.
Idris hatte ihre Hand gedrückt, und sie hatte ihn spontan umarmt, wie sie es mit einer Schwester getan hätte. Es würde weitere Kämpfe geben, doch im Moment waren sie Waffengefährten. Zwei Menschen, die sich dem Unausweichlichen entgegengestellt und es doch abgewendet hatten. Nun schuldete ihnen der Krieg die Zeit, die sie zur Genesung brauchten.
Sechs Jahre später sollten die Intermediäre den Krieg endgültig beenden, aber nicht, indem sie den Feind zerstört oder zumindest besiegt hätten. Nachdem die Architekten die Menschheit fast hundert Jahre lang von einer Welt zur anderen gejagt hatten, waren sie einfach verschwunden, abgetaucht in die endlosen Weiten der Galaxis. Niemand konnte sagen, wo sie geblieben waren. Und niemand wusste, wann oder ob sie wiederkommen würden.
Neununddreißig Jahre später wurde Trost ein weiteres Mal aus der Kryostase geweckt, und man erklärte ihr, sie würde als Soldatin gebraucht. Nicht, weil die Architekten zurückgekehrt waren, sondern weil das Parthenon und die Kolonien am Rand eines Krieges standen.
Roshu
1
Trost
Trost hatte angenommen, ihr Trupp würde sich mit militärischer Präzision und in blitzblanker Rüstung, wie es sich für die offizielle Eskorte einer Monitor Superior gehörte, im Shuttle-Hangar versammeln. Stattdessen rief die Monitor sie zuerst an das zentrale Sichtfenster des Großraumfrachters.
»Ihr werdet gleich eine grundlegende Erfahrung machen. Mir ist bewusst, dass Myrmidone Exekutor Trost dies bereits gesehen hat, aber für alle Übrigen: Hier ist der Ort, von dem ihr stammt. Wir alle kamen ursprünglich von der Erde, und lasst euch von niemandem etwas anderes erzählen.«
Das war lange her. In Trosts persönlicher Geschichte mehr als zehn Jahre, die sie immer wieder in Kryostase verbracht hatte; nach objektiver Zeit, was immer das bedeuten mochte, vierzig Jahre. Nichts hatte sich verändert. Die Erde würde für immer dieselbe bleiben.
Die Erde glich einer stets der Sonne zugewandten Blume. Einer fremdartigen Blume, deren Vorbild in einem üppigen Dschungel auf einer fernen Welt wachsen mochte. Ein Gebilde aus Ranken und weit ausgreifenden Schösslingen, mehr als eine Pflanze, weniger als ein Tier.
Erdmantel und -kruste waren zurückgebogen worden wie Blütenblätter mit spiralförmig gedrehten Spitzen von tausend Kilometern Länge. Der Kern des Planeten war herausgespritzt, als wolle er sich sehnsüchtig ausstrecken, und hatte sich in hundert verschiedenen Prozessen zu Ringen, Kringeln, Bögen und geschwungenen Armen geformt … bis die flüssige Masse nach vielem Winden und Drehen schließlich abgekühlt war. So war eine Blume mit einem Durchmesser von zwanzigtausend Kilometern entstanden, für immer voll erblüht; ein Denkmal für die zehn Milliarden Menschen, die es nicht mehr auf die Schiffe geschafft hatten.
An nichts anderes hatte Trost denken können, als sie die verlorene Heimat ihrer Spezies zum ersten Mal gesehen hatte. Man hatte gefeiert, erinnerte sie sich, Reden gehalten und gejubelt, dass der Krieg nun endlich vorüber sei, dass sie – was? – gesiegt hätten? Vielleicht hatten sie eher überlebt als gesiegt, aber manchmal galt es bereits als Sieg, wenn man überlebte. Dann war sie in einen anderen großen Raum gegangen, den Saal, wo echte Diplomaten schon bald ihre Verhandlungen führen würden. Mit einer Handvoll weiterer Veteranen hatte sie auf die Erde hinabgeschaut und an die vielen Leben gedacht, die ausgelöscht worden waren.
Der Anblick war von einer grausigen Schönheit. Man konnte diese feinziselierte Blumenskulptur nicht ansehen, ohne zu würdigen, wie großartig, wie vollkommen sie war. Kein sinnloses Chaos war über den Planeten hereingebrochen. Hinter der präzisen handwerklichen Ausführung, den Symmetrien, die den Blick leiteten, stand ein Plan. Selbst für menschliche Augen war die Erde zu einem tödlich prachtvollen Kunstwerk geworden, das bis hinunter auf die atomare Ebene eine gezielte Organisation verriet. Deshalb hatte man die Objekte, die zur Erde – und zu so vielen anderen Planeten – gekommen waren, nicht Zerstörer oder Vernichter genannt. Die traumatisierten menschlichen Überlebenden hatten sie als Architekten bezeichnet. Denn so wirkten sie – sie gestalteten. Niemand wusste warum, aber es gab ganz offensichtlich einen Grund, denn sie arbeiteten mit penibler Sorgfalt. Sie folgten strengen Kriterien. Insbesondere waren die Welten, aus denen sie ihre Kunstwerke, Maschinen oder Botschaften schufen, alle bewohnt gewesen. Als bräuchte es für den letzten künstlerischen Schliff jemanden auf der Oberfläche, der in die Sterne schaute und seinen eigenen Untergang kommen sah.
Trost kehrte in die Gegenwart zurück und sah in die aufgerissenen Augen, die angespannten Gesichter ihres Trupps. Diese jungen Myrmidonen waren noch nie mit ihrer Geschichte konfrontiert worden. Sie ging von einer zur anderen und erinnerte sie freundlich daran, dass sie alle Soldaten waren. Beziehungsweise gewesen waren, als noch Krieg herrschte. Jetzt war es an der Zeit, sich auf der Station Lune in Diplomatie zu üben.
Zu den Überresten ihrer angestammten Heimat hatte sie der Großraumfrachter Wu Zhao gebracht. Kein reines Kriegsschiff, aber doch so stattlich, dass das Parthenon allen anderen menschlichen Abkömmlingen demonstrieren konnte, wer über die größten Geschütze verfügte. Wenn die Wu Zhao wie ein riesiger segmentierter Silberfisch auf die Station Lune zusteuerte, würde es nicht wenigen kalt den Rücken hinunterlaufen.
Trost und die sechs Schwestern ihres Trupps trugen eine leichte Kampfrüstung – wahrscheinlich ausreichend, um die Station einzunehmen, sollte jemand den Krieg erklären wollen, solange sie an Bord waren. Auch diese leichte Panzerung ließ die nicht sehr großen, kompakten Körper deutlich massiger erscheinen. Sie wirkten so, als hätten sie sich in ihrer Entwicklung an eine höhere Schwerkraft und eine dichtere Atmosphäre angepasst.
Monitor Superior Takt legte den Kopf in den Nacken und neigte ihn leicht nach links – ein höflicher Hinweis, dass sie über ihr Implantat ein Gespräch führte. Zumindest sie war in ihrem langen grauen Gewand aus dünnem, schillerndem Stoff passend für eine diplomatische Mission gekleidet. Um den Hals trug sie einen Ring aus Bleischeiben, ein Reif aus dem gleichen Material umgab ihre Stirn. Beides war garantiert vollgepackt mit Abwehrelektronik und Notfallbewaffnung irgendwelcher Art. Dass Takt eine schlanke, würdevolle alte Frau war, hieß noch lange nicht, dass sie im Nahkampf nicht ihren Mann stehen konnte.
»Wir haben die Freigabe zum Andocken«, verkündete sie nun. »Exekutor Trost, prêt à combattre?«
»Prêt, Mutter.« Bereit zum Kampf, bereit für alles. Eine Floskel, die so tief in der Parthenier-Kultur verankert war, dass sie nun für jede Bestätigung zwischen Vorgesetzter und Untergebener gebraucht wurde. Genauso hatte Trost als Kind jeden Morgen ihren Lehrern geantwortet, lange bevor ihr jemand eine Waffe in die Hand gedrückt hatte.
Die gravitischen Felder der Wu Zhao trugen ihr Shuttle sanft aus dem Andockhangar des Frachters und auf die Station zu, wo der Feldgenerator von Lune es aufnehmen würde. »Es ist lange her«, bemerkte Takt nachdenklich. »Als ich das letzte Mal auf Lune war, ging es um unsere Sezession.«
»War das nicht auf Berlenhof?«, entfuhr es Trost, bevor sie sich zurückhalten konnte. Vorgesetzte zu korrigieren, war eine schlechte Angewohnheit.
»Die diplomatische Haupt- und Staatsaktion kam später. Die Bande zur Kommission für Humaninteressen wurden in aller Form hier durchschnitten, vor einem Publikum aus einem Dutzend von deren Parteigranden. Es war inzwischen für niemanden mehr eine Überraschung, aber in diesem Raum stand die Angst so dicht, dass man sie mit einem Messer hätte schneiden können, Tochter.« Takt sah in die Gesichter ihrer Soldaten und fügte hinzu: »Ja. Auf beiden Seiten. Jeder dachte, das könnte Krieg bedeuten. Und weder die Parthenier noch HuKo wollten weiter Krieg führen – schon gar nicht Menschen gegen Menschen.«
»Wir sollten die Refugia leeren«, unterbrach ein Mitglied der Eskorte schroff. »Deine Genehmigung vorausgesetzt, Mutter.«
Takt presste die schmalen Lippen aufeinander. »Ach ja, die Refugia.« Damit war die Müllkippe für überschüssige genetische Variabilität gemeint. Und damit wiederum die gesamte nicht zum Parthenon gehörige Menschheit. »Ich will diesen Ausdruck nicht hören, solange wir auf der Station sind, und niemand redet von ›Asylanten‹ oder dergleichen. Denn ihr könnt vollkommen sicher sein, dass man bei HuKo genau weiß, wie abfällig das gemeint ist. Est-ce compris?«
Als der Architekt sein Vernichtungswerk begonnen hatte, war der Mond der Erde ins All geschleudert worden. Man hatte nicht einmal verfolgt, wo er abgeblieben war, die verzweifelten Evakuierungsbemühungen der Menschheit hatten alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Noch ein Stück Vergangenheit, das unwiederbringlich verloren war.
Die Station Lune trug ihren Namen zum Andenken an den verschwundenen Trabanten. Als sie näher kamen, konnte Trost die hohle Schale sehen, die das Zentrum bildete. Nach außen hin war sie durchsichtig, sodass jeder, der sich dort aufhielt, sehen konnte, was aus der Erde geworden war. Rings um die Außenseite ragten Sonnenkollektoren, Kommunikationsanlagen und die Arme des Brachator-Triebwerks der Station wie riesige Fächer ins All.
Takt unterbrach ihre Überlegungen, als die Wu zum Endanflug ansetzte. »Tochter«, sagte sie. »Ich gehe davon aus, dass du dir deiner neuen Rolle bewusst bist. Du bist keine einfache Trupp-Schwester mehr, est-ce compris?«
»Compris«, bestätigte Trost. Das Shuttle kam zum Stillstand. Im Innersten würde sie immer eine Trupp-Schwester bleiben. Aber sie war alt genug, um zu wissen, dass man die Interessen des Parthenon nicht immer am besten mit einem Beschleuniger verteidigte. Und anders als ihre jüngeren Schwestern, die den Krieg nicht miterlebt hatten, war sie mit Schwarmern, Normalmenschen und Aliens zusammen gewesen. Sie hatten alle gemeinsam gegen die Architekten gekämpft. Deshalb hatte es sie so tief getroffen, als sie nach dem Aufwachen feststellte, wie sehr man sich seither entfremdet hatte.
Der Ruck, mit dem die Andocksteuerung der Station sie übernahm, wäre durchaus vermeidbar gewesen. Irgendein kolonialer Lotse wollte ihnen wohl seine Genitalien präsentieren, dachte Trost. Sie spürte das kurze Absacken, als Lunes induzierte Schwerkraft einsetzte, die gleiche Standardschwerkraft von 1 g wie auf der Erde, wie sie auch auf der Wu herrschte.
»Vergesst nicht«, wandte Takt sich an alle, »ein gutes Bild abzugeben. Effizienz, Disziplin, Selbstbeherrschung, est-ce compris? Wir sind der Stolz der Galaxis, der Schutzschild der Menschheit, die gepanzerte Faust, das entfaltete Banner.« Ihre Stimme war plötzlich hart geworden und hallte wie Hammerschläge von den Metallwänden wider. »Wir brechen keine Schlägereien vom Zaun, aber wenn es dazu kommt, sollen alle glauben, dass wir sie verdammt noch mal auch beenden.«
»Compris, Mutter«, rief die Eskorte im Chor, stand auf und formierte sich.
Die Partei der Menschen, die Kommission für Humaninteressen, kurz »HuKo«, hatte keine derart streitbare Truppe entsandt. Nur eine Handvoll Sekretäre in den knielangen, gegürteten Kitteln, die hier als angemessene Garderobe für wohlhabende Bürokraten galten, stand zu ihrem Empfang bereit. Der Mann in der Mitte war ähnlich gekleidet – außer, dass ihm der Stoff seines extravaganten Übergewandes bis zu den glänzenden Schuhen reichte. Trost fand das lächerlich unpraktisch, aber das war vermutlich beabsichtigt. Hier stand ein Mann, der seine Kämpfe nicht selbst ausfechten musste.
Er küsste Takt auf beide Wangen, wie es bei den Partheniern Sitte war. Sie umfasste seine Hand – mit aneinandergelegten Unterarmen – zum »kolonialen Händedruck«. Alles sehr symbolisch, ein Zeichen, dass die zersplitterten Fragmente der Menschheit doch noch zusammenhielten oder etwas ähnlich Unsinniges.
»Monitor Superior Takt«, begrüßte er sie in halbwegs flüssigem Parsef und lächelte verbindlich. »Ich hatte eine Offizierin erwartet, an deren Armen noch das Blut der letzten Schlacht klebt.«
»Kommissar Poulos. Ich gehe davon aus, dass Sie den Zusatzantrag einreichen konnten, den ich Ihnen geschickt hatte.«
Trost bemerkte das Zögern in seinem Blick, bevor er sich von Takt abwandte und ihre Eskorte musterte.
»Viel zu lange habe ich keine von den berüchtigten Myrmidonen der Parthenier mehr gesehen«, verkündete er, wobei Trost den Verdacht hegte, er hätte bis zu seinem Lebensende gerne auf dieses Vergnügen verzichtet. Mit demonstrativem Interesse studierte er die Verbandsabzeichen und stutzte, weil bei ihr allein anstelle des Sonnenrads der Wu Zhao das geflügelte Schwert und die Schlange zu sehen waren. Myrmidone Exekutor Trost, Schwesternschaft der Himmelsschwert, Division Basilisk. Dass sie sich von ihrem angestammten Schiff sehr weit entfernt hatte, entging ihm offensichtlich nicht.
»Sie haben eine Schülerin mitgebracht, Takt?«, fragte er sanft, während Trost sich unter seinem Blick in ihrer Rüstung verkriechen wollte. »Das Schwert steht für das Schiff, und die Schlange, das ist eine Artillerie-Division – die Engel von Unendlicher Tapferkeit wurden Sie doch genannt?« Ein Ehrenname aus der Zeit, als die Parthenier noch der Schutzschild der Menschheit gegen die Architekten und nicht der Feind gewesen waren.
»Nein, Menheer«, und dann, sie konnte sich nicht zurückhalten, »die Engel, die euch ins Gesicht schlagen.« Sie konnte zusehen, wie ihm ein großes Stück Poesie auf der Zunge verdorrte.
»Ach ja«, seufzte er. »Schön. Wir sollten wohl …« Die beiden setzten sich in Bewegung und überließen den Kampf um den Vortritt ihren Begleitmannschaften, ein Machtspielchen, das die gepanzerten Parthenier für sich entschieden. Trost spürte Takts Blick und ahnte, dass sie der Rolle der angehenden Diplomatin nicht ganz gerecht wurde.
»Wir haben eine lange Reihe von Handelsabkommen durchzuwinken«, bemerkte der Kommissar. »Was Ihren anderen Antrag angeht …«
»Ja, was ist damit?«, erkundigte sich Mutter Takt. Denn sie hatte den weiten Weg nicht gemacht, um bloß über Frachtzölle zu sprechen.
»Er wurde eingereicht.« Mehr wollte der Mann dazu nicht sagen.
Auf dem Weg zu ihrer Unterkunft zog die Eskorte der Parthenier finstere Blicke auf sich. Offensichtlich wurden sie von vielen Angestellten auf Lune als Bedrohung wahrgenommen. Der Rüstung des Parthenon konnten jedoch finstere Blicke nichts anhaben. Keinen Schutz bot sie freilich vor der Langeweile, als sie warten mussten, während Takt mit einem Raum voller HuKo-Diplomaten in unpraktischer Kleidung durch Handelsgenehmigungen und Frachtkonzessionen watete, um zu dem einen Thema vorzudringen, das im Moment tatsächlich von Bedeutung war.
Als endlich eine Nachricht von Takt an Trost eintraf, bestand sie aus einer Reihe von kurzen verschlüsselten Datenpaketen, die so gestaltet waren, dass sie von den Kolonialen nicht abgehört werden konnten.
Die Kontaktbehörde ist nicht daran interessiert, Informationen zum Intermediär-Programm weiterzugeben, bestätigte Takt. Die Ints bleiben »Waffentechnologie«, die nicht mit fremden Mächten geteilt werden kann.
Aber Intermediäre wurden nicht als Waffen gegen uns geplant … und die Architekten sind nicht mehr da, schoss Trost zurück.
Solange unsere Technologie der Ihren überlegen ist, werden sie uns keinen Gefallen erweisen. Die Ints sind das Einzige, was sie uns voraushaben. Und die neuesten Exemplare stehen unter der Kontrolle der Regierung. Keine Chance, einen zur Untersuchung in die Finger zu bekommen, ohne damit einen Krieg auszulösen. Genau das könnte der nächste Schritt des Parthenon sein, dachte Trost. Das Problem war, dass die Intermediäre nicht nur die beste Waffe bei einem erneuten Überfall durch die Architekten waren: als Navigatoren ermöglichten sie es zudem ihren Schiffen, sich in der gesamten Galaxis frei zu bewegen. Ein Kriegsschiff mit einem Int-Piloten konnte überall auftauchen, zuschlagen und wieder verschwinden, es war uneinholbar. Und das Parthenon hatte zwar die besten Kriegsschiffe, aber die Kolonien hatten alle Ints.
Wie lauten meine Befehle, Mutter? Im Geiste sah sich Trost schon in Datenbanken von HuKo einbrechen, Funktionäre entführen und Informationen aus ihnen herausprügeln. Alles zum Wohl des Parthenon, das auch das Wohl des Universums war, aber dennoch … Ich will nicht, dass die Kinder meinen Namen hören, wenn sie lernen, wie der nächste Krieg angefangen hat.
Ich schicke dir stationsinterne Koordinaten. Begib dich dorthin. Jemand will sich mit dir treffen. Bonne chance. So viel Geheimniskrämerei war eigentlich nicht Takts Art.
Dieser Jemand. Hat er nach mir persönlich gefragt? Trost war erstaunt, denn sie war weder Spionin noch Diplomatin. Noch nicht jedenfalls. Nachdem man sie geweckt hatte, war sie im Eiltempo durch eine Grundausbildung gejagt worden. Doch seit sie erwachsen war, hatte sie bis zu diesem Moment immer nur hinter einer Individualwaffe oder einer Weltraumkanone gestanden.
Das ist korrekt. Maximale Diplomatie, est-ce compris? Das hieß, weder Waffen noch Panzerung.
Compris, Mutter. Sie schlüpfte in eine gegürtete, bis über die Hüfte reichende Tunika mit halblangen Ärmeln im kolonialen Stil. Alles im Blaugrau der Parthenier mit dem Kompanieabzeichen links vom Herzen. Wenn sie sich nur in dem Unterzeug präsentiert hätte, das sie unter dem Panzer trug, hätte sie die auf Seriosität bedachten Kolonialen wahrscheinlich über Gebühr provoziert.
Der Ort, den sie aufsuchen sollte, befand sich an der Unterseite der Station, in dem von der Sonne abgewandten Bereich, wo die eigentliche Arbeit verrichtet wurde. Hier lagen die Andockhangars, die Maschinenräume und die beengten Unterkünfte für das Personal. Schließlich betrat sie eine Kranbrücke über einem Trockendock, wo gerade eine Landefähre montiert wurde. Das überkuppelte Schiff mit den sechs Beinen war fast komplett, Techniker mit Waldo-Manipulatoren und eine Vogelscheuche von einem Schwarmer-Gerüst fügten die letzten Teile ein. Die Fähre würde auf die geschundene Erdoberfläche fliegen und dort für eine symbolische Präsenz sorgen, damit sich irgendwo ein Politiker damit brüsten konnte, man hätte die Heimatwelt nicht ganz und gar aufgegeben.
»Myrmidone Exekutor Trost«, ließ sich eine Stimme neben ihr auf der Kranbrücke vernehmen. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen und verwünschte sich selbst. Der Neuankömmling war plötzlich da gewesen. Es – das Alien – war wie aus dem Nichts aufgetaucht.
Sobald sie es sah und erkannte, stand sie ganz still und wartete ab, was es tun würde. Das Alien wurde Ash und »der Prophet« genannt. Es war unmittelbar vor dem Krieg mit einem Handelsschiff auf die Erde gekommen und hatte berichtet, eine gigantische Alien-Instanz sei im Begriff, den Planeten umzugestalten. Die Castigar-Crew, die es mitgebracht hatte, wusste ebenso wenig mit ihm anzufangen wie die Menschen auf der Erde.
Was dann geschah, war für die Castigar wie für die Menschen ein böses Erwachen. Ash verkündete den Menschen, das Ende sei nahe, und obwohl ihm kaum jemand glaubte, bedeutete dieses »kaum« doch, dass einige Schiffe startklar waren, als der Architekt tatsächlich erschien und sein schreckliches Vernichtungswerk begann. Sie nahmen Fahrgäste auf und machten sich auf den Weg zu den Kolonien der Erde. Die Warnung des Propheten rettete Millionen, auch wenn Milliarden mehr ums Leben kamen.
Danach war Ash mehrfach an verschiedenen Punkten überall in der menschlichen Polyaspora aufgetaucht – geachtet, verehrt und gefürchtet. Und jetzt stand das Alien neben ihr auf einer Kranbrücke in der Station Lune.
Ash hatte ein Gewand in menschlichem Stil irgendwie um seine eigentümliche Physiognomie drapiert. Sein Körper ruhte mit der Unterseite auf einem Nest von zuckenden Scheinfüßchen, oben wuchsen zwei baumähnliche Äste heraus. Der eine trug Ashs Kopf oder zumindest seine Sinnesorgane: eine Handvoll matt leuchtender, rötlich flackernder Kugeln. Unterhalb davon klafften mehrere vertikale Schlitze in Ashs ledriger grauschwarzer Haut – Funktion unbekannt. Ash war das einzige Alien seiner Art, das jemals gesichtet worden war, und niemand hatte Gelegenheit bekommen, seine Physiognomie zu studieren. Der zweite Ast steckte grotesk verdreht in einem Ärmel des Gewands, aus der unteren Öffnung ragte ein Knäuel aus gummiartigen Ranken, mit gutem Willen als die Karikatur einer Hand zu erkennen. Der zweite Ärmel war leer und an der Vorderseite festgesteckt. Alles in allem keine sonderlich gute Imitation eines Menschen, und der Kopf überragte die meisten Vertreter dieser Spezies um mehr als einen halben Meter. Immerhin war das Wesen so weit humanoid, dass man sich davor hinstellen und so tun konnte, als würde man mit etwas ähnlich Geartetem kommunizieren.
Einige verehrten Ash als Boten Gottes, weil es so viele gerettet hatte. Andere nannten es einen Teufel, der eingebunden war in die Pläne der Architekten. Wobei niemand wusste, worin die bestanden.
»Du schon wieder«, sagte Trost, denn es war nicht ihre erste Begegnung mit dem verdammten Alien. Beim letzten Mal hatte sie es unmittelbar vor der großen Schlacht auf Berlenhof getroffen. Es war plötzlich aufgetaucht, wie das Gespenst des Todes.
»Ich«, bestätigte es, »schon wieder.« Ashs volle, tiefe Stimme kam aus seinem Körper, der Kopf hatte nichts damit zu tun. Es hatte immer selbst entschieden, in welcher Sprache es sich unterhalten wollte, und jetzt sprach es perfektes Kolvul, das aus vielen Elementen zusammengestückelte Idiom der Kolonien.
»Rede wenigstens wie ein zivilisiertes Wesen«, grollte Trost auf Parsef – einer Mischung aus drei Sprachen der Erde, ergänzt durch Französisch für den förmlichen Gebrauch.
»Da, wo du hingehst, wirst du dein Kolvul brauchen«, bemerkte Ash im Plauderton. Von der vermaledeiten Kreatur hatte sie schon mitreißende Reden gehört, Deklarationen, mystische Warnungen. Einmal hatte Ash sogar jemandem die Pointe seines Witzes geklaut.
»Und wo soll das sein?«
»Das Parthenon sucht nach Intermediären.« Ash artikulierte die Worte sorgfältig.
»Und warum kümmert dich das?«
»Du weißt, warum«, brummte Ash und legte seinen Pseudokopf unnatürlich schief. »Die Marine der Parthenier ist die Hauptstreitmacht der Menschheit. Ohne Intermediäre als Navigatoren seid ihr bei Reisen zwischen den Sternen eingeschränkt. Und ohne sie fehlt euch obendrein eine wichtige Waffe gegen den Feind.«
»Die Architekten?«
»Genau.«
»Und wenn die Architekten nie mehr wiederkommen? Inzwischen sind vierzig Jahre vergangen, nicht wahr?«
»Sie kommen immer wieder.«
Trost überlief ein Schauer, das hatte Ash vermutlich beabsichtigt. Was weiß es wirklich? Eine banalere, traurigere Wahrheit kam ihr in den Sinn. Ash behauptete, der Letzte seiner Art zu sein, einziger Überlebender einer Spezies, die vor langer Zeit von den Architekten ausgerottet worden war. Für Ash waren die Architekten immer im Anzug. Deshalb hatte es sein Leben der Aufgabe geweiht, andere zu warnen.
»Es gibt nicht viele Intermediäre«, bemerkte es. »Weniger, als man glauben würde. Die meisten menschlichen Gehirne ertragen die Konditionierung nicht. Die Alten halten nicht durch, und die Neuen sind anfällig. Die Transformation ist nicht leicht für sie.«
Trost starrte das Wesen an und sah erschrocken, dass die Leuchtkugeln ihren Blick genau wie richtige Augen erwiderten.
»Erinnerst du dich an Idris Telemmier?«
Trost blinzelte. »Der ist doch sicher tot.« Er muss uralt sein. Und er war immer so schwach.
»Er lebt. Lebt und ist frei. Nicht an HuKo oder seine Kontaktbehörde gebunden. Frei, sich seine Verbündeten selbst auszusuchen. Falls du sein Vertrauen gewinnen kannst. Noch einmal.«
Irgendwie gelang es diesem widerlichen Alien, seinen Worten einen anzüglichen Unterton zu geben. Trost spürte, wie sie errötete. Ja, nach Berlenhof waren sie und Telemmier zusammen gewesen – für eine Weile. Auch viele ihrer Schwestern hatten mit dem anderen Geschlecht experimentiert. Und er war so allein und so verwundbar gewesen. Auf jemanden wie sie, der in einer Kultur der Eigenständigkeit und Einigkeit aufgewachsen war, hatte das eine seltsame Faszination ausgeübt.
Ob er sich wohl an mich erinnert? Denn wenn sie Ash glauben konnte, brauchten ihre Vorgesetzten genau das. Einen Int, den man kaufen oder überreden konnte, sich den Partheniern anzuschließen. Eine Waffe gegen die Architekten, sollten sie jemals zurückkommen. Oder ein Mittel, den einzigen Vorteil der Kolonien zunichtezumachen …
Während Ash sprach, lieferte ihr Implantat Informationen, die an den stationseigenen Kanälen von Lune vorbeigeleitet worden waren. Der Name eines Schiffes, ein Standort – weit draußen am Rand des von Menschen bewohnten Weltraums, wo es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr weit her war.
»Danke.« Sie wollte Fragen stellen, aber die Antworten wollte sie nicht hören. Eine Kreatur wie Ash … vielleicht würde ihr das Alien den eigenen Tod verkünden, den Tod ihres Schiffes, ihrer Flotte, den Tod von allem. Ash war die Stimme in der Nacht gewesen, die den Fall der Erde vorhergesagt hatte. Jede Art von Verhängnis mochte seinen schlurfenden Schritten folgen.
Auf dem Weg zurück zum Andockhangar erstattete sie Takt Bericht. Die zeigte sich nicht überrascht. Als Trost wieder zu ihrem Trupp stieß, hatte ihre Vorgesetzte bereits alles geregelt. Trost sollte ihre Artgenossen verlassen, um ein weiteres Mal in eine neue Rolle zu schlüpfen. Sie sollte sich als Spion bei den Refugia einschleichen – dem Menschenstamm, über den ihre Leute längst hinausgewachsen waren. Und dabei wollte ich nie etwas anderes sein als eine Soldatin.
2
Idris
Im Jahr »51 Danach« nach kolonialer Zeitrechnung war mitten im Krieg ein Architekt über der Kolonialwelt Amraji aus dem Unraum ausgetreten.
Die Kolonialen hatten sofort mit der Evakuierung begonnen, denn sie hatten einundfünfzig Jahre zuvor erlebt, was der Erde widerfahren war. Inzwischen lebte praktisch jedes menschliche Gemeinwesen in der gesamten Galaxis mit Fluchtplänen unter dem kollektiven Kopfkissen und einer gepackten Tasche, und alle waren stets zum Aufbruch bereit.
Unten hatte jeder, der dazu imstande war, das nächstbeste Schiff bestiegen. Anschließend verließen alle Schiffe wie vom Teufel gejagt den Planeten, so schnell sie nur konnten, auch dann noch, als der Koloss des Architekten bereits den halben Himmel verdunkelte. Bei einigen, die vor den nächstgelegenen Kolonien eintrafen, war die Hälfte der Passagiere traumatisiert, geistig verwirrt oder sogar katatonisch, weil es nicht genügend Kojen gegeben hatte, um vor dem Eintritt in den Unraum alle in Kryostase zu versetzen. Bei anderen waren Teile des Rumpfes zu kunstvoll filigranen Bändern verdreht, weil sie dem Architekten bei seiner Arbeit zu nahe gekommen waren. Wieder andere erreichten niemals ihr Ziel. Bei jeder Evakuierung waren Verluste zu beklagen. Hektik, Panik, unerfahrene Navigatoren, schlecht gewartete gravitische Triebwerke – es gab so viele Gründe.
Die Gamin war ein mittelgroßer Frachter gewesen, den man für die Evakuierung von lebenden Menschen umgerüstet hatte. Nicht gut genug, wie sich herausstellte. Sie hatte Amraji mit einer vierköpfigen Besatzung und mehr als siebenhundert Passagieren verlassen und Kurs auf die Kolonie Roshu genommen. Dort traf sie nie ein.
Vor einem Jahr – mehr als siebzig Jahre nach dem Verschwinden der Gamin – wurde das Schiff bei einer Expedition von einem Kartografie-Korps entdeckt. Durch einen Fehler in der Kursberechnung war es von den bekannten Passagen durch den Unraum abkommen und beim Wiedereintritt in den Realraum so weit von zu Hause entfernt gewesen, dass sein schwaches Notsignal jahrzehntelang unbemerkt blieb. Die Expedition, die es entdeckte, meldete den Fund und drang anschließend weiter in den unerforschten Unraum vor, um nach neuen Passagen zu suchen, auf denen weniger abenteuerlustige Schiffe unbekannte Sterne erreichen könnten. An sich hatte ein antiquierter Frachter keinen großen Wert, aber er war ein wichtiges historisches Artefakt. Irgendwann beauftragte die »Stiftung Koloniales Erbe« eines der wenigen unabhängigen Schiffe mit einem Navigator, der imstande war, es dorthin zu steuern, wo die Gamin zu finden war, mit der Bergung. Diese wohltätige Mission war Thema in allen angesagten Medios, allerdings unterließ es die Stiftung zu erwähnen, dass das Bergungsschiff den Namen Geiergott trug, aus Angst, das könnte als pietätlos empfunden werden.
Man brauchte schon sehr viel Fantasie, um Ähnlichkeiten zwischen der Geiergott und irgendeiner Vogelart zu erkennen. Höchstens mit einem sehr fetten Vogel mit riesigen Klauen und kleinen Stummelflügeln. Im Zentrum des fassförmigen Rumpfes befand sich das überdimensionierte gravitische Triebwerk, das genügend Masse in den Unraum verdrängen konnte, um die Gamin zurückzuholen. Die kurzen »Flügel« ihres Brachator-Triebwerks, mit dem es im Realraum Halt finden und manövrieren konnte, standen quer dazu. Nominell »unten« – die Richtung wurde durch die Bordschwerkraft bestimmt – hing das wirre Bündel der eingeklappten Andockarme. Die Geier konnte sich an so ziemlich alles anklinken und es durch die Gegend ziehen, und nachdem sie nun die Gamin erreicht hatte, war sie einsatzbereit.
Idris war wie immer wach, doch nachdem er den ganzen letzten Tag über dem Unraum ins Auge gesehen hatte, fühlte er sich ausgelaugt und müde. Bereit für ein Schläfchen von etwa hundert Jahren, das ihm freilich nicht vergönnt sein würde.
Auch im Tiefenraum war er als Einziger wach geblieben und hatte die Geiergott durch den Unraum gesteuert. Er hatte Unmengen von leeren Lichtjahren in wenigen Augenblicken durchquert, um, absurd weit entfernt von allem anderen, in der Nähe des Ortes aufzutauchen, an den es die Gamin verschlagen hatte. Da war das versprochene Notsignal, laut und deutlich. Der verschollene Frachter trudelte langsam durchs All, das Signal war das einzige noch aktive System. Jemand hatte vermutet, dass sich noch Menschen in Kryostase an Bord befinden könnten, aber Idris kannte zusammengeflickte Schiffe wie die Gamin, und Wunder kamen da eher nicht vor.
Er stellte rudimentäre Berechnungen für den Anflug an und verbrannte ein wenig Treibstoff in den Massentriebwerken, um billigen, schmutzigen Schub zu bekommen. Dann ließ er die Brachator-Triebwerke nach jener Grenzschicht suchen, wo Unraum und Realraum aufeinandertrafen, jenen Quantenschaum aus kurzlebigen Schwerkraftknoten, wo die »Greifer« Halt finden konnten. Die Geiergott scherte seitwärts durch den Raum, als ihre Trägheit sich um dreißig Grad verschob, und schoss näher an das ferne Blinksignal der Gamin heran. Idris kommentierte das plumpe Manöver mit verächtlichem Zungenschnalzen und nahm einige Korrekturen vor. Er drehte das Schiff um seine Achse, stabilisierte die Abdrift und griff sich noch eine Handvoll Universum, um die Geier in einen etwas anderen Anflugwinkel zu ziehen.
Die Schiffsintelligenz setzte er wieder so weit in Gang, dass sie ihm eine Tasse dringend benötigten Kaffee bereiten konnte. Dann erst ging er daran, die anderen zu wecken.
Die Geiergott konnte mit einer siebenköpfigen Besatzung aufwarten, darunter fünf Menschen. Eine seltsame Mischung für Schiffe, die sich an die regulären Passagen hielten – jene leicht zu navigierenden Pfade innerhalb des Unraums, die den meisten Schiffen vorschrieben, wo sie fahren konnten oder auch nicht. Für Tiefenraumschiffe galten diese Maßstäbe allerdings nicht. Von denen gab es einfach nicht genug. Die meisten Spezies hatten nicht einmal die Mittel, sich abseits der ausgetretenen Pfade zu bewegen, und selbst wo diese Mittel zur Verfügung standen, waren sie schwer zu lenken und mussten behutsam behandelt werden. Auch Idris hatte den dringenden Wunsch, behutsam behandelt zu werden.
Er war für diese Tätigkeit nie bestimmt gewesen. Er sollte immer eine lebende Waffe sein. Obwohl sein Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen war, schleppte er sich immer noch weiter – wie weite Teile der kolonialen Zivilisation und erst recht wie die Geiergott. Seit nunmehr vier Jahren war er an Bord und hatte deshalb Mühe, keine sentimentalen Gefühle für das Schiff aufkommen zu lassen. Es hatte immer seinen Dienst getan und niemals irreparabel versagt. Und wenn es etwas gab, was die koloniale Menschheit durch Krieg sehr, sehr gründlich gelernt hatte, dann war es die Flickschusterei an beschädigten Raumschiffen.
Nach einem Schweißausbruch im Unraum fühlte er sich unwohl, und als sich der Rest der Crew allmählich regte, hatte er seinen Körper unter der Trockendusche gesäubert und sich frische Kleidung ausgedruckt. Das war einer der Vorzüge, wenn man lange Strecken auf einem Raumschiff mit kleinem Budget zurücklegte. Im Grunde zog er dieselben Kleider nominell sauber wieder an, nachdem sie zerkleinert und neu zusammengesetzt worden waren. Weißes Unterhemd, kurzärmlige schwarze Tunika, graue Kniehosen und Sandalen, das war seine Garderobe. Als er sich den Werkzeuggürtel um die Taille schnallte, fühlte er sich fast imstande, es mit dem ganzen Universum aufzunehmen.
Seine Kabine befand sich unten, ganz in der Nähe des Drohnenhangars, wo die Schiffstechnik überwacht wurde. Von drinnen hörte er Barney lauthals über die lange Liste von Systemen klagen, die seit dem Aufbruch Störungen entwickelt hatten. Olli machte wahrscheinlich die Klauen der Geier bereit, damit sie die Gamin packen konnten, und Medvig würde … das tun, was Medvig eben tat, wenn der Schwarmer nichts Konstruktives beizutragen hatte. Idris stieg zum Kommandostand hinauf, wo Rollo sich die ersten Scans ansah.
Rollo Rostand war ein vierschrötiger Mann mit kantigem Gesicht, braun gebrannt von der schwachen Strahlung, der er seit Jahrzehnten ausgesetzt war, mit dünnem dunkelgrauem Haar und einem ebensolchen Schnurrbart. Seine Physiognomie hatte die seltene Eigenschaft, jeden Gewichtsverlust zu verhindern, und die Geier war wirtschaftlich so erfolgreich gewesen, dass die Wampe über seinem Gürtel nicht abgeschmolzen war. Er ergänzte die ausgedruckte Standardgarderobe der Crew mit einer Jacke aus Militärbeständen, die angeblich seinem Vater, einem Kriegshelden, gehört hatte. Wenn er von dessen Heldentaten erzählte, klang das jedes Mal ein wenig anders, aber in jener Generation hatte jeder irgendetwas geleistet. Idris, tatsächlich ein Veteran, hatte gegen Rollos Ausschmückungen nichts einzuwenden, verhinderten sie doch, dass man ihn nach seinen Erlebnissen fragte.
»Hola, meine lieben Kinder«, sagte der Mann, als Idris sich durch die Eingangsklappe duckte. »Wie ist die allgemeine Lage?«
»Alles total im Eimer«, drang Barneys mürrische Stimme aus dem Funkgerät. »Ich schicke dir eine Liste, damit kannst du einkaufen gehen, wenn wir wieder auf Roshu sind.«
»Schickst du auch genügend Largesse mit, damit ich die Einkäufe bezahlen kann?« Er deutete das bedeutungsvolle Schweigen als Verneinung und fügte hinzu: »In diesem Fall empfehle ich, dass du die Methode ›Reparatur und Wiederverwertung‹ anwendest, wie es sich für einen braven Sohn der Erde gehört. Olli?«
»Bei einer von den Drohnen ist nichts mehr zu machen«, ließ sich leicht verzerrt die Stimme der Drohnenspezialistin vernehmen. Idris wusste, dass sie den Flug durch den Unraum in ihrer Kontrollkanzel verschlafen hatte, was nicht optimal war.
»Reparatur …«
»… und Wiederverwertung, ich weiß, ich weiß. Aber im Moment ist mehr Wiederverwertung als Reparatur angesagt.«
Rollo strahlte Idris an, als hätte er sich keine bessere Nachricht wünschen können. »Soeben haben wir uns an die Rotation unseres Zielobjekts angeglichen, meine lieben Kinder. Ich markiere unseren Zugangspunkt. Von dort müssten wir in die Mannschaftsräume der Gamin kommen. Vielleicht.«
»Vielleicht?«, fragte Idris.
»Als diese Kiste für Passagiere umgebaut wurde, hat niemand die neuen Pläne bei den entsprechenden Behörden hinterlegt, ist das klar? Also müssen wir tun, was wir können.« Rollo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die nackten Füße auf die Konsole. »Wenn du schon einmal hier bist, mein Sohn, kannst du auch die Honneurs machen«, forderte er ihn auf, und Idris ließ sich in den Pilotensessel fallen. Die Geiergott bewegte sich jetzt synchron mit der Gamin, und zwar so exakt, als stünden die beiden still. Idris schaltete das Brachator-Triebwerk zu und brachte das Bergungsschiff noch näher heran – behielt aber alle anderen Flugvektoren bei, sodass sie in den Schatten des Frachters glitten wie ein Parasit, der sich zögernd seinem Wirt nähert.
Sobald sie nahe genug waren, zündete er auch die Massentriebwerke und ließ die Geier mit sorgfältig dosiertem Schub über den hässlichen, von einem Flickenteppich aus Schweißstellen verunstalteten Rumpf der Gamin schweben. Der Mannschaftsbereich des Frachters befand sich mittschiffs an einer Seite. Die Räumlichkeiten darüber waren wohl größtenteils für die Fracht – in diesem Fall die Passagiere – bestimmt. Das gravitische Triebwerk lag wie ein schiefer Ring um den Schiffskörper. Schief deshalb, weil ein Teil davon fehlte, ein Abschnitt des Torus war aufgerissen und zu eigenartig spiraligen Klauenfingern verdreht, die ins Leere griffen.
Rollo schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als hätten sie den Start zu knapp kalkuliert.« Dass die Schäden auf das Konto eines Architekten gingen, war unverkennbar.
Idris wollte sich gar nicht vorstellen, wie es für die Crew der Gamin gewesen sein musste: es hieß, entweder mit einem beschädigten Triebwerk in den Unraum zu gehen oder zu bleiben, wo man war, auf die Gefahr hin, die Aufmerksamkeit des Architekten zu erregen. Wahrscheinlich hätte er die gleiche Entscheidung getroffen.
»Olli«, sendete er. »Du kannst loslegen.«
»Schon dabei.« Seine Konsole leuchtete auf und zeigte ihm, dass sie die Klauen der Geier ausfuhr und damit den restlichen Abstand zwischen den Schiffen überbrückte.
»Was kriegen wir außer dem Signal?«, fragte Rollo. »Kittering, schick es rüber.«
Wenn Kittering durch rasantes Aneinanderreiben von einigen seiner Mundwerkzeuge seinen richtigen Namen nannte, klang das, als kratze man mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel. Das krabbenähnliche Alien kauerte wahrscheinlich in seiner Nische, die perfekt auf seine Physiognomie und sein Wohlbefinden abgestimmt war. Kittering war vor allem für die Rechnungsführung und die Logistik zuständig. Außerdem war er ein fähiger Zweiter Ingenieur, und wenn sie einen Auftrag hatten, packte ohnehin jeder mit an.
Sogar Kris. Das letzte Crewmitglied – Idris’ Geschäftspartnerin – war noch nicht aufgetaucht. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, viel Zeit verstreichen zu lassen, bevor sie sich zum Dienst meldete. Wäre Idris für das Unternehmen nicht so wertvoll gewesen, Rollo hätte sie wahrscheinlich längst irgendwo abgesetzt. Aber für Idris war sie unentbehrlich, und die Geier brauchte Idris, um in den Tiefenraum fliegen zu können. Ohne ihn wäre sie nur einer von den vielen Bergungsfrachtern gewesen, die um Aufträge entlang der Passagen kämpften.
Kittering übermittelte alles, was die maroden Sensoren der Geier über die Gamin zusammengetragen hatten. Abgesehen vom Notsignal gab es lediglich wenige schwache Energiesignaturen: ein paar Systeme, die in dem ansonsten toten Schiff noch mit letzter Kraft arbeiteten.
»Du glaubst doch nicht, dass wir tatsächlich …« Für einen Moment blitzte in Idris die Hoffnung auf, es könnte noch funktionierende Kryokapseln geben.
»Menschen finden? Die am Leben sind … Und zu verdammten Helden des Universums werden?« Rollo schüttelte den Kopf. »Aber nur zu, wette mit mir um tausend Halma, dass wir sie finden, oder lieber um fünftausend Largesse? Sag irgendwas!«
»Ich wette nicht«, sagte Idris leise, und Rollo nickte.
»Ich würd’s auch nicht tun.«
Hektisches Blinken auf der Konsole zeigte an, dass sie nahe genug herangedriftet waren, um alle Annäherungsalarme auszulösen, aber Olli hatte das große Spiralknäuel der Klaue gut im Griff. Es entfaltete sich gerade wie eine mechanische Tarantel an der Unterseite der Geier und schickte sich an, nach dem Rumpf des Frachters zu greifen. Olli war bei der Fernsteuerung von Drohnen eine absolute Spitzenkraft mit einer seltenen Gabe – sie konnte nichthumanoide Konstruktionen genauso steuern wie ihren eigenen Körper. Im Moment befand sie sich in der Andockklaue und streckte und beugte die sieben Gelenkarme, bis sie sicher an der Gamin hafteten und magnetisch einrasteten.
»Gute Arbeit, Olli, mein liebes Kind«, lobte Rollo. »Weich wie ein Babyarsch. Und jetzt mach die Cutter bereit.«
»Willst du keinen Anruf absetzen?« Die neue Stimme kam von der Zugangsklappe des Kontrollstands. Idris blickte auf und nickte, als Kris eintrat. An Bord trug sie in etwa die gleiche ausgedruckte Garderobe wie er, hatte sich aber wie immer eines ihrer charakteristischen Halstücher umgebunden. Sie war von dunkler Hautfarbe, ein klein wenig größer als er, mit feinem Kraushaar, das sie stets sorgfältig frisierte. Sie hatte eigene Probleme, vor denen sie auf der Flucht war, aber sich aus Schwierigkeiten herauszuwinden, war ihre besondere Spezialität.
»Da ist niemand, den man anrufen könnte«, versicherte ihr Rollo, leitete aber nach kurzem Zögern zähneknirschend die entsprechende Prozedur ein. Wenn jemand herausfiel und im All starb, sobald sie den Rumpf aufschnitten, konnten sie sich wenigstens damit rechtfertigen, sich vorschriftsmäßig verhalten zu haben. Solcherart waren die Schwierigkeiten, auf die Kris spezialisiert war.
Sie hätten das ganze Schiff kurzerhand ins Schlepptau nehmen und es der »Stiftung Koloniales Erbe« wie ein Geschenkpaket aushändigen können. Mehr wurde im Kontrakt nicht verlangt. Aber Rollo war immer auf der Suche nach einer Zugabe. Angenommen, die Gamin enthielte einen unerwarteten Schatz? Angenommen, es hätten wirklich Flüchtlinge überlebt? Warum den Leuten von der Stiftung den Ruhm überlassen, wenn die Geier-Crew ihn einheimsen konnte?
Sie hätten wie zivilisierte Leute durch eine Luke ins Schiff gelangen können. Aber vor vier Jahren war ein anderes Bergungsschiff wahrhaftig durch Sprengfallen zerstört worden, gelegt von der längst verstorbenen Besatzung des Schiffes, das sie geöffnet hatten. Menschen, die in einem gestrandeten Schiff gefangen waren, kamen auf seltsame Ideen, insbesondere, wenn sie lange Zeit dem Unraum ausgesetzt gewesen waren. Die Crew der Geiergott wollte nichts riskieren und ging lieber durch die Wand. Dazu setzte Olli so lange Schnitte entlang bereits vorhandener Schweißnähte, bis die ganze Seite des Frachters aufklappte. Keine abgestandene Luft zischte heraus, Vakuum traf auf Vakuum. Hätte schlimmer sein können, räumte Idris ein.
»Gut, dann bringen wir es hinter uns«, kommandierte Rollo. »Olli, du schickst deine Drohnen rein, Medvig kommt mit seinen Kerlchen hinterher. Und du, Rechtsverdreherin«, wandte er sich an Kris, »kannst eine Kameradrohne folgen lassen. Die Medios sind sicher etwas wert. Und jetzt Doppeltempo, wenn ich bitten darf! Was nicht das Gleiche ist wie Doppelsold, also spart euch die Frage!«
Durch die Mannschaftsräume der Gamin schwebten viele kleine Objekte. In den frühesten Tagen der Raumfahrt hätte niemand gewagt, in einem Raumschiff so viel ungesicherten Schrott herumliegen zu lassen, doch schon Generationen bevor der Architekt nach Amraji kam, war die künstliche Schwerkraft für alle zur Selbstverständlichkeit geworden. Sie wurde nebenher von denselben Triebwerken erzeugt, von denen die Schiffe durchs All getragen wurden. Doch jetzt waren die gravitischen Triebwerke der Gamin tot. Ollis Drohnen manövrierten vorsichtig durch eine Wolke von verschiedensten Gegenständen und lieferten Bilder: Datenträger, Tablets, Handschuhe, ein blankes Silbermedaillon, ein steif gefrorenes Plüschtier. Von der Crew selbst war nichts zu sehen, und Idris fragte sich, ob die Leute wohl ein Shuttle genommen und versucht hatten … wohin zu kommen? Ein ungeplanter Austritt aus dem Unraum mitten im Nirgendwo, ausgebrannte Triebwerke und das nächste Sonnensystem Lichtjahre entfernt, wo sollte man da noch hin?
»Atmosphärenverlust durch langsames Entweichen, würde ich vermuten«, ließ sich Ollis verzerrte Stimme vernehmen. »Sonst wäre dieses Zeug schon rausgeblasen worden. Gehen jetzt Richtung Frachtraum.«
»Kontrolliert vor jeder Tür, ob dahinter Druck herrscht«, verlangte Kris, die mit ihren Kameras folgte.
»Habe die Hände in der Leiche«, verkündete Medvig in diesem munter blechernen Tonfall, der die künstliche Stimme der Schwarmer bei jedem Thema prägte. Wie viele Schwarmer, war Medvig zunehmend absonderlicher geworden, je länger er von der großen Schwarmintelligenz des Kollektivs getrennt war.
Idris schlurfte in den Hangar hinunter, denn er fand, wenn er schon selbst nichts tun konnte, sollte er zumindest da sein, wo etwas getan wurde. Olli hing mit geschlossenen Augen unter der Decke in ihrer Kanzel, während ihre drei Drohnen im Wrack den Weg für Medvig bahnten. Sie war eine blasse, schwammige Frau, die trotz der kargen Raumfahrerkost durch Bewegungsmangel dick geworden war. Ihr Körper steckte zur Hälfte in der Kanzel, die verkürzten, nahezu nutzlosen Gliedmaßen bestimmten ihre Silhouette. Die Arme mündeten an den Ellbogen in ein Bündel nur halb ausgebildeter Finger, ein Bein endete unter dem Knie in einem glatten Stumpf, das andere fehlte ganz. Olian Timo – Olli – war so zur Welt gekommen und hatte keinerlei eigene Körperwahrnehmung – sie lebte wie eine Fremde in ihrem missgebildeten Leib. Sie war jedoch in eine Kolonie hineingeboren worden, in der jeder Mensch eine wertvolle Ressource darstellte, und man hatte schon früh herausgefunden, wo ihre Stärke lag. Olli arbeitete mit verschiedensten Drohnen, seit sie drei Jahre alt war. Geistig konnte sie sich in jede Körperform hineinversetzen, ganz gleich, wie deren Gliedmaßen und Sinne konfiguriert waren. Drei Drohnen auf einmal zu steuern, war weiter nichts Besonderes für sie.
Die Crew hatte die noch etwa drei Meter voneinander entfernten Rümpfe mit einer Röhre verbunden. Sie führte »hinunter« zur Crew der Geier – auch wenn die Richtung im ausgestorbenen Inneren der Gamin nicht von Bedeutung war. Medvigs armloses Dreibein-Gerüst hockte bereits am Geier-Ende. Die Metallkonstruktion bestand aus matten Bronze- und Kupferteilen, der zylindrische Körper wurde von vier quadratischen Öffnungen beherrscht. Der Kopf hatte kein Gesicht, nur zwei unterschiedlich helle gelbe Lichter – Menschen schätzten es, wenn sie sich auf etwas konzentrieren konnten. Medvig konnte seine »Hände« wie eigenständige Drohnen einsetzen und hatte die kleinen spinnenartigen Gebilde bereits durch die Röhre in den Frachter geschickt, damit sie Olli bei der Feinarbeit behilflich waren.
Kris saß auf dem Boden und winkte Idris zu, Kittering kauerte neben ihr. Das Alien war nicht viel mehr als einen Meter groß, aber eineinhalbmal so breit, sodass es an eine Krabbe erinnerte, wenn es sich durch die für Menschen gebauten Korridore bewegte. In ihrer Heimat konnten hochgestellte Hannilambra mit üppigen Verzierungen auf dem Rückenpanzer und der schildartigen Oberfläche ihrer Schutzarme ihren Rang und ihren Reichtum zur Schau stellen. Bei Kittering war beides mit billigen Bildschirmen besetzt, die er zur Kommunikation verwendete oder als Werbeflächen vermietete.
»Kryokapseln …«, meldete Olli. Idris warf einen Blick auf den Hauptbildschirm des Hangars, über den ein Drohnen-Feed nach dem anderen flimmerte. Dies war der große Frachtraum der Gamin, mit Kryokojen auf beiden Seiten. An der unregelmäßigen Anordnung und ihrem unterschiedlichen Aussehen war zu erkennen, dass man sie in aller Eile eingebaut hatte. Keine der Drohnen detektierte Energiesignaturen.
»Könnte schlimmer sein«, bemerkte Kris, und Idris konnte nur nicken.