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Die Auserwählten - In der Brandwüste E-Book

James Dashner

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Beschreibung

Sie haben einen Ausweg aus dem tödlichen Labyrinth gefunden und geglaubt, endlich wären sie frei. Doch auf Thomas und seine Freunde wartet das Grauen: sengende Hitze, verbranntes Land und ein tödlicher Virus. Und noch immer halten die undurchsichtigen Schöpfer die Fäden in der Hand. Damit steht den Jungen die nächste Prüfung bevor. Sie müssen innerhalb von zwei Wochen die Brandwüste durchqueren, sonst sind sie verloren … Ein Wettkampf gegen die Zeit und mörderische Gegner – Spannung pur! Die Erfolgsserie zum Kinofilm Alle Bände der weltweiten Bestseller-Serie »Maze Runner«: Die Auserwählten im Labyrinth (Band 1) Die Auserwählten in der Brandwüste (Band 2) Die Auserwählten in der Todeszone (Band 3) Die Auserwählten - Kill Order (Band 4, spielt 15 Jahre vor Band 1) Die Auserwählten - Phase Null (Band 5, spielt unmittelbar vor Band 1) Die Auserwählten – Crank Palace (exklusive digitale Bonusgeschichte)

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James Dashner: Die Auserwählten – In der Brandwüste

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Der zweite Teil der mitreißenden und düsteren Trilogie »Die Auserwählten«

Sie haben einen Ausweg aus dem tödlichen Labyrinth gefunden und geglaubt, damit wäre alles vorbei. Dass sie frei sein werden und nie mehr um ihr Leben rennen müssen. Doch auf Thomas und seine Freunde wartet das Grauen: sengende Hitze, verbranntes Land und Menschen, die von einem tödlichen Virus befallen sind. Und die undurchsichtigen Schöpfer halten noch immer die Fäden in der Hand. Damit steht den Jungen die nächste Prüfung bevor. Sie müssen innerhalb von zwei Wochen die Brandwüste durchqueren, sonst sind sie verloren. Und dabei wird ihnen alles abverlangt, sogar ihre Menschlichkeit – doch dazu ist Thomas nicht bereit!

Alle Bände der weltweiten Bestseller-Serie und Filmvorlage »Maze Runner«:

Die Auserwählten im Labyrinth (Band 1)

Die Auserwählten in der Brandwüste (Band 2)

Die Auserwählten in der Todeszone (Band 3)

Die Auserwählten – Kill Order (Band 4, spielt 15 Jahre vor Band 1)

Die Auserwählten – Phase Null (Band 5, spielt unmittelbar vor Band 1)

Die Auserwählten – Crank Palace (exklusive digitale Bonusgeschichte)

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Für Wesley, Bryson, Kayla und Dallin. Die besten Kinder der Welt.

1

Bevor die Welt zusammenbrach, hörte Thomas etwas.

Hey, schläfst du noch?

Er drehte sich im Bett um und spürte eine Dunkelheit, die schwer auf ihm lastete. Bei der Vorstellung, er wäre vielleicht wieder in der Box gelandet, geriet er in Panik. Die Box – der schreckliche, kalte Metallkasten, in dem er damals auf der Lichtung inmitten des Labyrinths angekommen war. Seine Augen gingen mit einem Ruck auf; es gab ein wenig Licht, und in dem Riesenraum wurden undeutlich Umrisse und Schatten sichtbar. Stockbetten. Schränke. Das leise Atmen und gurgelnde Geschnarche tief schlafender Jungs.

Erleichterung überkam ihn. Er war jetzt in Sicherheit; er war gerettet und in diese Herberge gebracht worden. Keine Sorgen mehr. Keine Griewer mehr. Kein Tod mehr.

Tom?

Eine Stimme in seinem Kopf. Eine Mädchenstimme. Das Mädchen war nicht zu hören oder zu sehen. Aber er hörte sie trotzdem, telepathisch, auch wenn er niemandem hätte erklären können, wie es funktionierte.

Er atmete tief aus, ließ sich zurück ins Kissen sinken und wartete darauf, dass sich seine von diesem kurzen Moment des Grauens bis zum Zerreißen angespannten Nerven wieder beruhigten. Er antwortete ihr lautlos im Kopf.

Teresa? Wie spät ist es?

Keine Ahnung, gab sie zurück. Ich kann nicht schlafen. Ich habe wahrscheinlich eine Stunde oder so gedöst. Vielleicht auch länger. Ich habe gehofft, dass du wach bist und mir ein bisschen Gesellschaft leisten kannst.

Thomas versuchte, nicht zu lächeln. Sie konnte das zwar nicht sehen, aber peinlich war es trotzdem. Na toll. Eine Wahl hast du mir ja nicht wirklich gelassen, was? Es schläft sich nicht so gut, wenn man eine Stimme im Kopf hat, die einen zutextet.

Waa, waa. Dann leg dich wieder aufs Ohr, du Schlafmütze.

Nein, schon in Ordnung. Er starrte die Unterseite des im Dunkeln kaum erkennbaren Stockbetts über sich an, in dem Minho lag und Geräusche von sich gab, als hätte er unglaubliche Mengen von Rotz in der Kehle. Woran denkst du gerade?

Was glaubst denn du? Irgendwie schaffte sie es, die lautlosen Worte zynisch klingen zu lassen. Ich sehe ständig Griewer. Diese widerlich schleimige Haut und die glibberigen Körper und die ganzen Greifarme und Metallspikes. Weißt du noch, wie wir um ein Haar draufgegangen sind? Wie sollen wir diese schrecklichen Erinnerungen je wieder loswerden?

Thomas wusste, wovon sie sprach. Die Bilder würden sie nie vergessen – die fürchterlichen Dinge, die den Lichtern im Labyrinth zugestoßen waren, würden sie ihr Leben lang verfolgen. Lichter – so hatten sich die 50 Jungs, die das grauenvolle Experiment im Labyrinth über sich ergehen lassen mussten, selbst genannt. Vermutlich würden die meisten oder alle von ihnen psychische Probleme bekommen. Vielleicht sogar total abdrehen.

Doch eine Erinnerung hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt wie ein glühend heißes Brenneisen: Sein Freund Chuck, mit dem Messer in der Brust, als er in Thomas’ Armen verblutete.

Thomas wusste, dass er das nie vergessen würde. Trotzdem sagte er zu Teresa: Das geht schon irgendwann vorbei. Es braucht einfach seine Zeit, aber dann ist alles wieder gut.

Du bist so eine Labertüte, erwiderte sie.

Ich weiß. Es war irgendwie seltsam, dass er sich total freute, wenn sie so etwas zu ihm sagte. Wenn sie Witze machte, fühlte es sich gut an. Du bist ein Idiot, schalt er sich selbst und hoffte, dass sie den Gedanken nicht mitgehört hatte.

Ich finde es echt schlimm, dass ich von euch getrennt worden bin, sagte sie.

Das konnte Thomas allerdings nachvollziehen. Sie war das einzige Mädchen, alle anderen Lichter waren Jungs im Teenageralter – eine Truppe Strünke, denen man vermutlich nicht traute. Die wollten dich wahrscheinlich beschützen.

Ja. Kann sein. Traurigkeit lag in Teresas Worten und überschwemmte sein Gehirn mit Melancholie. Aber es ist echt Klonk allein zu sein, nach allem, was wir durchgemacht haben.

Wo bist du denn überhaupt? Sie klang so traurig, dass er am liebsten aufgestanden und sie suchen gegangen wäre, aber er wusste, das ging nicht.

Auf der anderen Seite von dem großen Gemeinschaftsraum, in dem wir gestern Abend gegessen haben. Ich bin in einem kleinen Zimmer mit ein paar leeren Stockbetten. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass sie die Tür abgeschlossen haben, als sie gegangen sind.

Ich hab’s dir doch gesagt. Die wollen dich beschützen. Dann fügte Thomas schnell hinzu: Nicht, dass man dich beschützen müsste. Gegen die Hälfte von den Strünken würde ich mein Geld auf dich setzen.

Nur die Hälfte?

Na gut, drei Viertel. Mich eingeschlossen.

Obwohl ein langes Schweigen folgte, konnte Thomas ihre Gegenwart immer noch fühlen. Er spürte Teresa. Es war fast wie mit Minho: Er konnte seinen Freund zwar nicht sehen, wusste aber, dass er nur zwei Meter über ihm lag. Nicht nur wegen des Schnarchens. Man spürt einfach, wenn einem jemand nah ist.

Trotz allem, was in den letzten paar Wochen geschehen war, überwältigte der Schlaf Thomas bald von neuem. Seine Welt versank im Dunklen, doch Teresa war da und in gewisser Weise bei und neben ihm. Fast so, als ob er sie berühren könnte.

Jedes Zeitgefühl ging in diesem Zustand verloren. Halb schlief er, halb genoss er das Gefühl ihrer Nähe und den Gedanken, dass sie die Flucht aus ihrem schrecklichen Gefängnis geschafft hatten. Dass sie in Sicherheit waren und Teresa und er sich endlich richtig kennenlernen konnten. Dass ein richtiges Leben auf sie wartete.

Wunderbarer Schlaf. Wohlige Wärme. Dunkelheit. Als ob er innerlich leuchten, fast schweben würde.

Alles wurde herrlich gefühllos und die Dunkelheit tröstlich. Er fing an zu träumen.

Er ist noch klein. Vielleicht vier oder fünf Jahre alt? Er liegt im Bett und hat die Bettdecke bis unters Kinn hochgezogen.

Neben ihm sitzt eine Frau, die Hände im Schoß gefaltet. Sie hat lange braune Haare und ein Gesicht, dem allererste Spuren des Alterns anzusehen sind. Ihre Augen blicken ihn traurig an. Das weiß er, obwohl sie es hinter einem Lächeln zu verbergen versucht.

Er will etwas sagen, ihr eine Frage stellen. Aber er kann nicht. Thomas ist nicht wirklich da. Er beobachtet das Geschehen von einer Perspektive aus, die er nicht richtig versteht. Sie fängt an zu reden, und es klingt sehr lieb und zugleich so zornig, dass es ihn aufwühlt.

»Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet dich auserwählt haben. Aber eins weiß ich genau. Du bist ein besonderes Kind. Vergiss das nie. Und vergiss nie, wie sehr« – ihre Stimme versagt und Tränen laufen ihr das Gesicht herunter – »wie sehr ich dich liebe.«

Der Junge antwortet, aber es ist nicht wirklich Thomas, der da spricht. Nichts ergibt einen Sinn. »Wirst du jetzt auch so verrückt wie die Leute im Fernsehen, Mami? So verrückt wie … Daddy?«

Die Frau streicht ihm mit der Hand über die Haare. Frau? Nein, so kann er sie nicht nennen. Das ist seine Mutter. Seine … Mami.

»Mach dir deswegen keine Sorgen, mein Schatz«, antwortet sie. »Du wirst es nicht mehr erleben müssen.«

Ihr Lächeln ist plötzlich verschwunden.

Zu schnell wich der Traum völliger Dunkelheit und ließ Thomas in einem schwarzen Loch zurück, allein mit seinen Gedanken. War das eine weitere Erinnerung, die dem Gedächtnisverlust entkommen war? Hatte er eben wirklich seine Mutter gesehen? Und was hatte das zu bedeuten: Sein Dad war verrückt geworden? Eine tiefe Sehnsucht nagte in ihm, und er versuchte, wieder richtig einzuschlafen und alles zu vergessen.

Später – wie viel später, wusste er nicht – sprach Teresa wieder telepathisch mit ihm.

Tom, hier stimmt was nicht.

2

Damit fing das Grauen an. Er hörte Teresa, aber ihre Worte klangen wie von ganz weit weg, als ob das Mädchen am Ende eines langen Tunnels stände. Sein Schlaf war zu einem klebrigen, zähflüssigen Saft geronnen. Er spürte seinen Körper, aber er war wie begraben unter seiner Erschöpfung. Er konnte einfach nicht aufwachen.

Thomas!

Es war ein Schrei. Von Teresa. Ein markerschütterndes Kreischen in seinem Kopf. Furcht tröpfelte langsam wie Gift in sein Bewusstsein, aber er konnte einfach nicht richtig wach werden. Und sie waren ja jetzt in Sicherheit, man brauchte sich also um nichts mehr Sorgen zu machen. Genau, es musste ein Albtraum gewesen sein. Teresa ging es gut, es ging allen gut. Er versank wieder in tiefem Schlummer.

Bald schlichen sich andere Geräusche in sein Bewusstsein. Dumpfe Schläge. Das Klirren von Metall auf Metall. Etwas zerbarst. Jungengeschrei. Eher wie das Echo von Schreien, ganz weit weg, sehr gedämpft. Plötzlich wurde es zum Geheul. Unmenschliche Schreie der Angst und Qual. Aber immer noch weit weg, als ob Thomas in einem dicken Kokon aus schwarzem Samt eingewickelt wäre.

Endlich störte doch etwas seinen Schlaf. Das konnte nicht richtig sein! Teresa hatte nach ihm gerufen, weil etwas nicht stimmte. Er kämpfte gegen den tiefen Schlaf an, der ihn überwältigt hatte, und versuchte das schwere Gewicht abzuschütteln.

Wach auf!, brüllte er sich selbst an. Wach endlich auf!

Dann verschwand etwas aus seinem Inneren. Einen Augenblick war es noch da, im nächsten weg. Es fühlte sich an, als ob ihm ein wichtiges Organ aus dem Körper gerissen worden wäre.

Sie war es. Sie war weg.

Teresa!, schrie er im Kopf. Teresa! Bist du da? Bitte sag doch was.

Doch es kam keine Antwort, und das beruhigende Gefühl ihrer Nähe war auch verschwunden. Wieder rief er ihren Namen, dann noch einmal, während er weiter gegen den dunklen Sog des Schlafs ankämpfte.

Endlich war die Benommenheit weg. Voller Grauen riss Thomas die Augen auf und schoss im Bett hoch, trat um sich, bis er die Füße auf dem Boden hatte, und sprang auf. Blickte um sich.

Die ganze Welt war verrückt geworden.

Die anderen Lichter rannten laut schreiend im Schlafsaal umher. Schreckliche, fürchterliche, nicht auszuhaltende Töne füllten den Raum, wie das verzweifelte Jaulen von Tieren, die zu Tode gefoltert wurden. Da war Bratpfanne, der mit bleichem Gesicht auf ein Fenster zeigte. Newt und Minho rannten auf die Tür zu. Winston hielt sich die Hände vor das verängstigte, aknegeplagte Gesicht, als hätte er gerade einen menschenfressenden Zombie gesehen. Andere stolperten übereinander, um zu den verschiedenen Fenstern zu gelangen, hielten sich aber von den Scheiben entfernt. Voller Bedauern merkte Thomas, dass er von vielen, die das Labyrinth überlebt hatten, noch nicht mal die Namen wusste; seltsam, dass ihm das inmitten dieses unglaublichen Chaos einfiel.

Er sah etwas aus dem Augenwinkel und drehte sich in Richtung der Wand. Was er dort sah, machte augenblicklich jedes Gefühl der Sicherheit zunichte, das er in der vergangenen Nacht beim Gespräch mit Teresa empfunden hatte. Es ließ ihn daran zweifeln, dass solche Gefühlsregungen überhaupt in derselben Welt, in der er sich jetzt befand, existieren konnten.

Einen Meter von seinem Bett entfernt war, eingerahmt von einem bunten Vorhang, ein Fenster, durch das blendend grelles Licht hereinkam. Die Scheibe war zersplittert, spitze Glasscherben berührten die Gitterstäbe vor dem Fenster. Dahinter stand ein Mann, der die Gitterstäbe mit blutigen Händen umklammert hielt. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sie waren blutunterlaufen und voller Wahnsinn. Sein hageres, sonnenverbranntes Gesicht war übersät von offenen Wunden und Narben. Er hatte keine Haare, sondern nur noch Flecken auf dem Kopf, auf denen etwas wucherte, das wie grünliches Moos aussah. Quer über die rechte Wange zog sich ein fürchterlicher Schlitz, und durch die offene, eiternde Wunde konnte man seine Zähne sehen. Rosa Speichel hing ihm in Fäden vom Kinn.

»Ich bin ein Crank!«, schrie das Monster. »Ich bin krank! Krank! Krank!«

Und dann fing er an, dieselben Worte wieder und immer wieder so laut zu schreien, dass bei jedem Schrei der Speichel flog.

»Bringt mich um! Bringt mich um! Bringt mich um! …«

3

Eine Hand landete von hinten auf Thomas’ Schulter. Er schrie auf. Als er herumwirbelte, sah er zum Glück nur Minho vor sich, der an ihm vorbei auf den Wahnsinnigen starrte, der zum Fenster hereinschrie.

»Sie sind überall«, sagte Minho. Seine Stimme klang genau so verzweifelt, wie Thomas sich fühlte. Es schien, als ob alles, was sie sich in der vergangenen Nacht erhofft hatten, verschwunden wäre. »Von den Strünken, die uns gerettet haben, gibt es keine Spur«, fügte er hinzu.

Thomas hatte die letzten Wochen in Angst und Schrecken verbracht, aber diese neue Katastrophe ging über seine Kräfte. Sich endlich in Sicherheit zu wähnen, und dann wurde einem auch das wieder unter den Füßen weggezogen. Doch er war erstaunt, wie schnell er den kleinen Teil in sich zum Schweigen brachte, der zurück unter die Decke kriechen und Rotz und Wasser heulen wollte. Er verdrängte die Traurigkeit, die ihm noch in den Knochen saß, weil er sich an seine Mom und daran, dass sein Dad und andere Leute verrückt geworden waren, erinnerte. Thomas wusste, dass irgendjemand den anderen sagen musste, was zu tun war – wenn sie das hier überleben wollten, brauchten sie einen Plan.

»Ist einer von denen schon eingedrungen?«, fragte er seltsam ruhig. »Sind alle Fenster vergittert?«

Minho nickte in Richtung der vielen Fenster, die über die Wände des langen, rechteckigen Raums verteilt waren. »Ja. Letzte Nacht war es so dunkel, dass wir sie nicht bemerkt haben, außerdem hängen ja diese blöden Blümchenvorhänge davor. Aber jetzt bin ich froh, dass da Gitter dran sind.«

Thomas sah sich nach den anderen Lichtern um; manche rannten von einem Fenster zum nächsten, um zu sehen, was draußen los war, andere hatten sich zu zitternden kleinen Gruppen zusammengerottet. Alle sahen halb ungläubig, halb verängstigt aus. »Wo ist Newt?«

»Hier bin ich.«

Thomas drehte sich nach dem ein wenig älteren Jungen um und wusste nicht, warum er ihn bisher nicht bemerkt hatte. »Was ist da los?«

»Glaubst du, ich hab irgendeine Ahnung? So wie’s aussieht, ein Haufen Spinner, die uns zum Frühstück verspeisen wollen. Wir müssen uns einen anderen Raum suchen und eine Versammlung abhalten. Von diesem verdammten Gekreisch platzt mir noch der Schädel.«

Thomas nickte geistesabwesend. Mit dem Plan war er einverstanden, hoffte aber, dass Newt und Minho sich darum kümmern würden. Er musste unbedingt versuchen, mit Teresa Kontakt aufzunehmen – er hoffte, dass ihre Warnung nur Teil eines Traums gewesen war, vielleicht nur eine Halluzination, die aus den tiefsten Tiefen der Erschöpfung entsprungen war. Und dann war da noch diese Vision von seiner Mutter …

Seine beiden Freunde gingen los, schwenkten die Arme und trommelten die Lichter zusammen. Thomas warf dem blutenden Wahnsinnigen am Fenster einen schnellen, furchtsamen Blick zu, sah dann aber sofort wieder weg und wünschte, er hätte das Blut und zerfetzte Fleisch, die verrückten Augen und den hysterisch aufgerissenen Mund nicht gesehen.

Bringt mich um! Bringt mich um! Bringt mich um!

Thomas stolperte zur gegenüberliegenden Wand und lehnte sich schwer atmend dagegen.

Teresa, rief er im Geist immer wieder. Teresa. Hörst du mich?

Konzentriert wartete er mit geschlossenen Augen. Streckte unsichtbare Hände nach ihr aus und versuchte, irgendeinen Gedankenfetzen von ihr zu fassen zu bekommen. Doch da war nichts. Nicht mal ein vorbeihuschender Schatten oder die Andeutung eines Gefühls und erst recht keine Antwort.

Teresa, sagte er noch eindringlicher und biss die Zähne vor Konzentration zusammen. Wo bist du? Was ist passiert?

Nichts. Sein Herzschlag schien sich zu verlangsamen, bis er fast stillstand, und Thomas fühlte sich, als hätte er einen großen, haarigen Watteklumpen verschluckt. Irgendetwas musste ihr zugestoßen sein.

Er machte die Augen auf und sah, dass sich die Lichter vor der grün lackierten Tür versammelt hatten. Sie befand sich hinter dem Gemeinschaftsraum, in dem sie am Vorabend Pizza gegessen hatten. Ergebnislos rüttelte Minho an dem runden Messingknauf. Abgeschlossen.

Die einzige andere Tür führte zu einem relativ großen Duschraum, aus dem es keinen Ausgang gab. Das waren alle Türen, aber es gab noch die Fenster, jedes mit Eisengittern versehen. Zum Glück. Hinter allen wüteten kreischende Wahnsinnige.

Obwohl die Sorgen wie Säure an ihm fraßen, gab Thomas den Versuch, Teresa zu kontaktieren, fürs Erste auf und ging zu den anderen Lichtern. Jetzt probierte Newt sein Glück an der Tür, mit demselben Ergebnis: sinnlos.

»Abgeschlossen«, brummte Newt, als er schließlich aufgab und die Arme kraftlos fallen ließ.

»Ach nee, Superhirn«, sagte Minho, der Exläufer, der die muskulösen Arme, an denen überall die Adern hervortraten, vor der Brust verschränkt hatte. Einen Sekundenbruchteil lang meinte Thomas, er könne sogar das hindurchströmende Blut sehen. »Kein Wunder, dass du nach Isaac Newton benannt worden bist – das war sozusagen eine echt geniale Erkenntnis.«

Newt war jetzt nicht in Stimmung, darauf einzugehen. Oder vielleicht hatte er schon vor langer Zeit gelernt, Minho mit seinen sarkastischen Bemerkungen nicht allzu ernst zu nehmen. »Wir brechen den Griff einfach ab.« Er sah sich um, als erwarte er, dass ihm jemand einen Vorschlaghammer reichte.

»Wenn bloß diese Scheiß… Cranks die Klappe halten würden!«, schrie Minho und stierte den Nächststehenden aufgebracht an: eine Frau, die noch fürchterlicher aussah als der Mann, den Thomas erblickt hatte. Quer über ihr Gesicht zog sich eine blutende Wunde, die bis seitlich am Kopf reichte.

»Cranks?«, wiederholte Bratpfanne. Der behaarte Koch hatte bisher geschwiegen und sich im Hintergrund gehalten. Er sah aus, als hätte er jetzt noch größere Angst als beim blutigen Kampf gegen die Griewer, bevor sie aus dem Labyrinth entkommen waren. Und vielleicht war die Situation, in der sie jetzt steckten, ja auch wirklich schlimmer. Als sie sich gestern Nacht ins Bett gelegt hatten, schien alles gut zu sein. Ja, vielleicht war das hier tatsächlich schlimmer, weil ihnen dieses herrliche Gefühl der Sicherheit wieder weggenommen worden war.

Minho zeigte auf die schreiende, blutende Frau. »So nennen die sich. Hast du’s nicht gehört?«

»Von mir aus nenn sie Miezekätzchen«, fuhr Newt ihn an. »Besorg mir was, damit ich die Nepptür einschlagen kann!«

»Hier«, sagte ein kleinerer Jugendlicher und brachte ihm einen schlanken, aber soliden Feuerlöscher, den er von der Wand gerissen hatte. Wieder tat es Thomas leid, dass er noch nicht mal wusste, wie der Junge hieß.

Newt packte den roten Zylinder, um ihn von oben gegen den Türgriff zu rammen. Thomas stellte sich so dicht daneben, wie es ging, weil er unbedingt sofort sehen wollte, was hinter der Tür war. Auch wenn er das unangenehme Gefühl hatte, dass es ihm nicht gefallen würde.

Newt hob den Feuerlöscher hoch und ließ ihn mit höllischer Wucht auf den Messinggriff krachen. Das laute Donnern wurde von einem tieferen Knirschen begleitet, und es waren nur noch drei weitere Schläge notwendig, bevor das gesamte Schloss mitsamt einem Haufen verknoteter Metallteile zu Boden fiel. Die Tür ging einen Spaltbreit auf, gerade weit genug, dass auf der anderen Seite Dunkelheit sichtbar wurde.

Newt stand sprachlos da und starrte die lange schwarze Spalte an, als erwarte er, dass Dämonen aus der Unterwelt herausgeflogen kämen. Geistesabwesend reichte er den Feuerlöscher zurück an den Jungen, der ihn gefunden hatte. »Los geht’s«, sagte er. Thomas meinte, einen leicht zittrigen Unterton in seiner Stimme zu hören.

»Halt«, rief Bratpfanne dazwischen. »Wollen wir wirklich da rausgehen? Vielleicht gab es ja einen guten Grund, warum die Tür abgeschlossen war.«

Thomas musste ihm zustimmen; irgendetwas an der Sache machte ihn ebenfalls misstrauisch.

Minho trat vor, direkt neben Newt; er sah Bratpfanne an, dann Thomas. »Und was sollen wir sonst tun? Rumsitzen und warten, bis die Bekloppten reinkommen? Gehen wir.«

»Diese Monstertypen schaffen es niemals, die Fenstergitter rauszureißen«, gab Bratpfanne zurück. »Lasst uns einfach gründlich über die Sache nachdenken.«

»Jetzt wird nicht lang gefackelt«, antwortete Minho. Er trat die Tür ganz auf. Die Dunkelheit auf der anderen Seite schien sich nur noch zu verdichten. »Außerdem hättest du ja was sagen können, bevor wir das Schloss geschreddert haben. Jetzt ist es zu spät.«

»Wie ich es hasse, wenn du Recht hast«, nuschelte Bratpfanne.

Thomas konnte den Blick nicht von der offenen Tür und dem tintenschwarzen Meer aus Dunkelheit abwenden. Eine ihm mittlerweile viel zu vertraute düstere Vorahnung packte ihn, weil er genau wusste, dass etwas nicht stimmte. Sonst wären die Leute, die sie gerettet hatten, ihnen schon lange zu Hilfe gekommen. Aber Minho und Newt hatten Recht – sie mussten raus und Antworten finden.

»Klonk drauf«, sagte Minho. »Ich geh als Erster, es passiert schon nichts.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er durch die Tür und verschwand fast augenblicklich in der Finsternis. Newt warf Thomas einen zögerlichen Blick zu, dann folgte er ihm. Thomas fand, er sollte als Nächster gehen, und folgte ihnen ebenfalls.

Man konnte kaum etwas erkennen, und er hätte sich genauso gut mit geschlossenen Augen vorwärtsbewegen können. Zudem stank es in dem Raum. Ganz fürchterlich sogar.

Vor ihm stieß Minho einen grellen Schrei aus, dann rief er: »Passt bloß auf! Irgendwas … Ekliges hängt von der Decke.«

Thomas hörte ein leises Quieken oder Stöhnen, als etwas knarrte. Als ob Minho gegen einen niedrig hängenden Leuchter gerannt wäre, der jetzt hin und her schaukelte. Auf ein Ächzen von Newt irgendwo rechts folgte das Quietschen eines Metalltischs, der über den Boden schabte.

»Tisch«, sagte Newt. »Passt auf, die stehen überall rum.«

Bratpfanne fragte hinter Thomas: »Weiß noch jemand, wo die Lichtschalter sind?«

»Bin auf dem Weg«, antwortete Newt. »Ich weiß genau, dass ich gestern hier irgendwo welche gesehen habe.«

Blind tappte Thomas weiter vorwärts. Seine Augen hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Was vorher wie eine schwarze Wand ausgesehen hatte, ließ sich mittlerweile als Umrisse von Schatten auf Schatten unterscheiden. Doch irgendetwas stimmte nicht. Thomas war noch immer leicht desorientiert, aber es wirkte auf jeden Fall so, als ob die Dinge an Stellen standen, an die sie nicht gehörten. Es war fast, als ob –

»Iiieh-hi-hiiie«, stöhnte Minho mit einem Schauder des Ekels, als wäre er gerade in einen Riesenhaufen Klonk getreten. Ein weiteres Knarren ließ alle erstarren.

Bevor Thomas fragen konnte, was los war, stieß er selbst gegen etwas. Hart. Unregelmäßig geformt. Es fühlte sich an wie Stoff.

»Gefunden!«, rief Newt triumphierend.

Es klickte einige Male, dann flutete Neonlicht den Raum und blendete alle. Thomas stolperte weg von dem, wogegen er gestoßen war, rieb sich die Augen und stieß gegen die nächste steife Gestalt, die von ihm wegschwang.

»Achtung!«, schrie Minho.

Thomas kniff die Augen zusammen und konnte jetzt deutlich sehen. Er zwang sich, die Szene des Grauens anzuschauen.

Überall in dem großen Raum hingen Menschen von der Decke – mindestens ein Dutzend. Sie waren allesamt erhängt worden; die Seile gruben sich in die lila angelaufenen, aufgedunsenen Hälse. Die steifen Leichname schwangen ein wenig hin und her, blassrosa Zungen hingen aus weißen Mündern. Alle hatten die Augen offen, die jedoch vom Tod bereits stumpf geworden waren. Dem Anschein nach hingen sie schon seit vielen Stunden so da. Die Kleidung und einige der Gesichter kamen Thomas bekannt vor.

Er ließ sich auf die Knie fallen.

Er kannte diese Toten.

Es waren die Leute, von denen die Lichter gerettet worden waren. Erst am Tag zuvor.

4

Als er sich aufrappelte, versuchte Thomas, keinen der Toten anzusehen. Halb ging, halb stolperte er hinüber zu Newt, der immer noch an den Lichtschaltern stand und entsetzt von einem baumelnden Leichnam zum nächsten blickte.

Leise vor sich hin fluchend trat auch Minho zu ihnen. Andere Lichter tauchten erst jetzt aus dem Schlafsaal auf und schrien, als ihnen klar wurde, was sie da vor sich sahen. Thomas hörte, wie mehrere von ihnen würgten, spuckten und sich übergaben. Ihm war ebenfalls hundeelend, aber er kämpfte gegen den Brechreiz an. Was war bloß geschehen? Wie war es möglich, dass ihnen alles so schnell wieder weggenommen worden war? Sein Magen zog sich zusammen, und er meinte, vor Verzweiflung zusammenklappen zu müssen.

Dann fiel ihm Teresa wieder ein.

Teresa!, rief er in Gedanken. Teresa! Immer und immer wieder schrie er es in seinem Kopf, mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen. Wo bist du?

»Tommy«, sagte Newt ruhig und drückte ihm die Schulter. »Was ist’n los mit dir?«

Als Thomas die Augen öffnete, merkte er, dass er zusammengekrümmt dastand und sich den Bauch hielt. Langsam richtete er sich auf und versuchte die Panik zu unterdrücken, die ihn von innen aufzufressen drohte. »Was … was glaubst du denn? Guck dich doch mal um.«

»Schon, aber du hast ausgesehen, als ob du Bauchschmerzen hättest oder so was.«

»Es geht schon – ich versuche nur, Teresa im Geist zu erreichen. Aber da ist nichts.« Er hasste es, wenn er die anderen daran erinnerte, dass er und Teresa sich telepathisch verständigen konnten. Und dass die Leute hier alle tot waren … »Wir müssen herausfinden, wohin sie gebracht worden ist«, platzte er heraus, weil er unbedingt etwas tun wollte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ohne die Leichen dabei anzusehen, ließ er den Blick auf der Suche nach einer Tür und Teresas Zimmer durch den Raum schweifen. Sie hatte gesagt, es befinde sich auf der anderen Seite des Gemeinschaftsraums, gegenüber vom Schlafsaal der Jungen.

Da. Eine gelbe Tür mit einem Messinggriff.

»Er hat Recht«, meinte Minho an die Gruppe gewandt. »Verteilt euch, findet sie!«

»Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.« Thomas, erstaunt darüber, wie schnell er sein Denkvermögen zurückerlangt hatte, war schon unterwegs. Er rannte zu der gelben Tür, wobei er den Tischen und Toten auswich. Da musste sie drin sein, in Sicherheit, wie auch die Jungen es gewesen waren. Die Tür war zu, das war ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich abgeschlossen. Vielleicht war sie in dieselbe Art von Tiefschlaf gefallen wie er und hatte ihm deswegen nicht geantwortet.

Er war fast an der Tür, als ihm einfiel, dass sie vielleicht ebenfalls gewaltsam geöffnet werden musste. »Holt noch mal den Feuerlöscher!«, schrie er über die Schulter. Der Geruch im Aufenthaltsraum war fürchterlich; als er ein wenig tiefer einatmete, wurde ihm beinah übel.

»Los, Winston«, befahl Minho hinter ihm.

Thomas war als Erster an der Tür und rüttelte an der Klinke. Sie war fest verschlossen und rührte sich nicht. Dann bemerkte er an der Wand rechts neben der Tür ein quadratisches, zirka fünfzehn Zentimeter großes Schild an der Wand. Unter dem Plexiglas steckte ein Stück Papier, auf dem ein paar Worte standen.

Teresa Agnes. Gruppe A, Proband A-1.

Die Verräterin.

Was Thomas am meisten ins Auge stach, war seltsamerweise Teresas Nachname. Oder was wie ihr Nachname aussah. Agnes. Er wusste nicht, warum, aber er erstaunte ihn. Teresa Agnes. In seinem nach wie vor sehr bruchstückhaften Gedächtnis fiel ihm niemand aus der Geschichte mit diesem Namen ein. Er selbst war nach Thomas Edison, dem großen Erfinder der elektrischen Beleuchtung, benannt worden. Aber Teresa Agnes? Von dieser historischen Persönlichkeit hatte er noch nie gehört.

Natürlich waren ihre Namen allesamt im Grunde ein Witz; wahrscheinlich wollten die Schöpfer – die Leute von ANGST oder wer ihnen das alles angetan hatte – sich damit auf schrecklich gefühllose Art und Weise von den Kindern distanzieren, die sie ihren Müttern und Vätern weggenommen hatten. Thomas konnte den Tag kaum erwarten, an dem er endlich erfahren würde, mit welchem Namen er auf die Welt gekommen war, mit welchem Namen seine Eltern seitdem an ihn dachten, wo immer sie auch sein mochten. Wer sie auch sein mochten.

Die verschwommenen Erinnerungen, die nach der Verwandlung zurückgekommen waren, hatten bei ihm den Eindruck hinterlassen, dass er keine Eltern hatte, die ihn liebten. Dass sie ihn gar nicht gewollt hatten. Dass er aus schrecklichen Lebensumständen weggeholt worden war. Aber jetzt konnte er das nicht mehr glauben, besonders nach dem Traum von seiner Mom in dieser Nacht.

Minho schnipste vor Thomas’ Augen mit den Fingern. »Hallo? Erde an Thomas? Heb dir das Träumen für später auf. Hier hängen haufenweise Leichen rum, die stinken, wie’s bei Bratpfanne unterm Arm riecht. Wach auf.«

Thomas sah ihn an. »Tut mir leid. Ich find’s nur komisch, dass Teresa mit Nachnamen Agnes heißt.«

Minho schnalzte mit der Zunge. »Ist doch klonkegal. Aber was soll der Mist von wegen ›Die Verräterin‹?«

»Und was heißt ›Gruppe A, Proband A-1‹?« Das war Newt, der Thomas den Feuerlöscher in die Hand drückte. »Na, jedenfalls bist du jetzt dran mit Schlosszertrümmern.«

Thomas packte den roten Metallzylinder und ärgerte sich auf einmal über sich selbst, dass er wertvolle Sekunden mit dem Nachdenken über das blöde Türschild verschwendet hatte. Teresa war da drin und brauchte ihre Hilfe. Er versuchte, sich nicht von dem Wort »Verräterin« stören zu lassen, hob den Löscher und ließ ihn auf den Messingknauf knallen. Der Stoß ging ihm durch alle Knochen, als das Klirren von Metall auf Metall erdröhnte. Er fühlte den Knauf ein wenig nachgeben, und zwei Schläge später fiel er zu Boden, und die Tür ging ein Stückchen auf.

Thomas warf den Feuerlöscher beiseite, fasste nach der Tür und stieß sie ganz auf. Rasende Ungeduld mischte sich mit Grauen vor dem, was sie finden würden. Er betrat das erleuchtete Zimmer als Erster.

Es sah aus wie eine Kleinausgabe des Jungenschlafsaals, in dem allerdings nur vier Stockbetten, zwei Kommoden und eine geschlossene Tür waren, die vermutlich ins Bad führte. Alle Betten waren ordentlich gemacht, mit Ausnahme von einem, bei dem die Decke zur Seite geschoben, das Bettlaken zerwühlt war und das Kissen halb herunterhing. Doch von Teresa keine Spur.

»Teresa!«, schrie Thomas mit panischer Stimme.

Das wirbelnde Gurgeln einer Toilettenspülung erklang hinter der geschlossenen Tür, und Erleichterung überkam ihn. Das Gefühl war so stark, dass er sich beinah hinsetzen musste. Sie war da und in Sicherheit. Er ging auf das Bad zu, aber Newt streckte den Arm vor ihm wie eine Schranke aus und hielt ihn zurück.

»Ich glaube, du bist zu sehr an das Leben mit Jungs gewöhnt, mein Freund«, sagte Newt. »Es ist nicht gerade höflich, einfach ins Frauenklo reinzulatschen. Wart einfach, bis sie rauskommt.«

»Die anderen sollen auch hier reinkommen, damit wir eine Versammlung abhalten können«, fügte Minho hinzu. »Hier drin stinkt’s nicht, und es gibt auch keine Fenster, hinter denen die Cranks rumkrakeelen können.«

Bis zu diesem Augenblick hatte Thomas das Fehlen von Fenstern noch nicht bemerkt, auch wenn das eigentlich, gemessen am Chaos in ihrem Schlafsaal, am auffälligsten hätte sein müssen. Die Cranks. Er hatte sie fast vergessen.

»Kann sie nicht ein bisschen schneller machen?«, murmelte er.

»Ich trommle schnell die anderen zusammen«, sagte Minho und ging in den Aufenthaltsraum zurück.

Thomas starrte die Badezimmertür an. Bratpfanne und ein paar andere Lichter kamen ins Zimmer und setzten sich auf die Betten, alle in derselben Haltung: vornübergebeugt, Ellbogen auf die Knie gestützt, sich geistesabwesend die Hände reibend. Die Angst und Beklommenheit waren ihnen deutlich anzumerken.

Teresa?, sagte Thomas im Geist. Kannst du mich hören? Wir warten hier draußen auf dich.

Keine Antwort. Und er fühlte immer noch diese Leere in sich, als ob ihre Anwesenheit für immer verschwunden wäre.

Ein Klicken. Der Türknauf an der Badezimmertür drehte sich. Dann öffnete sich die Tür. Thomas trat einen Schritt vor, um Teresa fest zu umarmen – es war ihm egal, ob die andern es sahen. Aber es war nicht Teresa, die aus dem Bad kam. Thomas blieb so abrupt stehen, dass er beinahe gestolpert wäre. Alles in ihm schien zu zerbrechen.

Es war ein Junge.

Er hatte dieselben Sachen an, die Teresa am Vorabend bekommen hatte – einen sauberen hellblauen Schlafanzug mit Flanellhosen und durchgeknöpftem Oberteil. Olivbraune Haut und überraschend kurz geschorene Haare. Allein der unschuldige Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht hielt Thomas davon ab, den Strunk am Kragen zu packen und zu schütteln, bis er erklärte, was das zu bedeuten hatte.

»Wer bist du?«, fragte Thomas barsch.

»Wer ich bin?«, gab der Junge leicht sarkastisch zurück. »Und wer seid ihr?«

Newt war aufgesprungen und baute sich vor dem Neuen auf. »Jetzt mach mal schön halblang, Alter. Wir sind ein paar mehr als du. Also sag uns verdammt noch mal sofort, wer du bist!«

Der Junge verschränkte die Arme und sagte trotzig: »Von mir aus. Ich heiße Aris. Wollt ihr sonst noch was wissen?«

Thomas hätte dem Typ am liebsten eine reingehauen. Er machte so einen Wirbel um seinen dämlichen Namen, dabei war Teresa verschwunden. »Wie bist du hierhergekommen? Wo ist das Mädchen, das letzte Nacht hier geschlafen hat?«

»Mädchen? Was für ein Mädchen? Hier ist niemand, nur ich, und so war es auch, als sie mich gestern Abend hier untergebracht haben.«

Thomas zeigte auf die Tür zum Gemeinschaftsraum. »Da draußen ist ein Schild, auf dem steht, dass das hier ihr Zimmer ist. Teresa … Agnes. Von einem Aris steht da nichts.«

Etwas an seinem Ton musste dem Jungen klargemacht haben, dass es sich nicht um einen Witz handelte. Er machte eine versöhnliche Geste mit den Händen. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, Mann, echt wahr. Sie haben mich gestern Nacht in dieses Zimmer hier gebracht, und ich habe in dem Bett da geschlafen« – er zeigte auf das zerwühlte Bettzeug –, »und vor ungefähr fünf Minuten bin ich aufgewacht und pinkeln gegangen. Von Teresa Agnes habe ich noch nie etwas gehört. Tut mir leid.«

Die kurze Erleichterung, die Thomas verspürt hatte, als die Toilettenspülung zu hören gewesen war, war verflogen. Er wechselte einen Blick mit Newt, weil er nicht wusste, was er als Nächstes fragen sollte.

Newt zuckte mit den Achseln, dann wandte er sich wieder an Aris. »Und wer hat dich gestern Abend in das Zimmer gebracht?«

Aris warf die Arme hoch und ließ sie wieder herunterfallen. »Was weiß ich, Mann. Leute mit Gewehren haben uns gerettet und uns gesagt, jetzt wären wir in Sicherheit.«

»Wovor haben die euch gerettet?«, fragte Thomas. Es wurde allmählich seltsam. Sehr, sehr seltsam.

Aris blickte zu Boden, seine Schultern fielen ein. Er sah aus, als ob ihn schreckliche Erinnerungen überrollen würden. Er seufzte, dann blickte er schließlich wieder auf und antwortete.

»Aus dem Labyrinth, Mann. Aus dem verdammten Labyrinth.«

5

Etwas in Thomas gab nach. Der Typ log nicht – das merkte man einfach. Den Ausdruck des Grauens auf Aris’ Gesicht kannte er selbst nur zu gut. So hatte Thomas sich oft gefühlt, und er hatte ihn genauso auf den Gesichtern der anderen gesehen. Er wusste haargenau, was für grauenhafte Erinnerungen hinter diesem Gesichtsausdruck steckten. Außerdem war klar, dass Aris keinen Schimmer hatte, was mit Teresa passiert war.

»Wahrscheinlich setzt du dich besser hin«, sagte Thomas. »Wir haben eine Menge zu besprechen.«

»Was meinst du damit?«, fragte Aris. »Wer seid ihr? Wo kommt ihr überhaupt her?«

Thomas stieß einen Seufzer aus. »Aus dem Labyrinth. Die Griewer. ANGST. Und so weiter.« Es war so viel passiert, wo sollte er da anfangen? Ganz davon abgesehen, dass ihm vor Sorge um Teresa ganz schwindlig war und er am liebsten rausgerannt wäre und nach ihr gesucht hätte, aber er blieb trotzdem, wo er war.

»Du lügst«, flüsterte Aris, dessen dunkelhäutiges Gesicht einen vollen Ton bleicher geworden war.

»Nein, tun wir nicht«, antwortete Newt. »Tommy hat Recht. Wir müssen reden. Klingt, als ob wir etwas Ähnliches durchgemacht hätten.«

»Was ist ’n das für ’n Typ?«

Thomas drehte sich um und sah, dass Minho mit den übrigen Lichtern in der Tür stand. Vor Ekel über den Geruch hatten sie die Gesichter verzogen, und in ihren Augen stand das Grauen über das, was den Saal hinter ihrem Rücken füllte.

»Minho, das ist Aris«, sagte Thomas, trat einen Schritt beiseite und zeigte auf den Neuen. »Aris, das ist Minho.«

Minho stotterte vor sich hin, als könne er sich nicht recht entscheiden, was er sagen sollte.

»Warum machen wir’s nicht so?«, sagte Newt. »Wir nehmen die oberen Stockbetten runter und verteilen sie im Raum. Dann können wir alle schön im Kreis hocken und rausfinden, was zum Geier hier eigentlich gespielt wird.«

Thomas schüttelte den Kopf. »Nein. Wir müssen zuerst Teresa finden. Sie muss in irgendeinem anderen Raum stecken.«

»Gibt’s nicht«, antwortete Minho.

»Wie meinen?«

»Ich habe mir gerade den ganzen Laden hier angeguckt. Es gibt den großen Gemeinschaftsraum, dieses Zimmer, unseren Schlafsaal und eine total neppige Tür nach draußen – die, durch die wir gestern vom Bus reingekommen sind. Allerdings ist sie von innen verschlossen und zugekettet. Es ergibt keinen Sinn, aber ich habe keine anderen Türen oder Ausgänge gesehen.«

Thomas schüttelte fassungslos den Kopf. Es war, als hätten gerade eine Million Spinnen sein Gehirn in Spinnweben eingepackt. »Aber … aber was ist mit gestern Abend? Wo ist das Essen hergekommen? Hat denn niemand irgendwelche anderen Räume gesehen, eine Küche, irgendwas?« Auf eine Antwort hoffend sah er um sich, aber keiner sagte ein Wort.

»Vielleicht gibt es ja eine Geheimtür«, äußerte Newt sich schließlich. »Hör zu, wir können nur eins nach dem andern machen. Wir müssen –«

»Nein!«, schrie Thomas. »Wir haben den ganzen Tag Zeit, mit diesem Aris zu quatschen. Auf dem Schild an der Tür steht, dass Teresa hier sein muss – wir müssen sie finden!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drängte er sich zwischen den hereinkommenden Jungen hindurch zurück in den Aufenthaltsraum. Es stank, als ob ihm jemand einen Eimer Gülle über den Kopf gekippt hätte. Die aufgedunsenen, purpurrot angelaufenen Leichen hingen da wie Tierkadaver, die zum Trocknen aufgehängt worden waren. Leblose Augen starrten ihn an.

Ekel füllte seinen Magen und löste einen Würgereflex aus. Thomas zwang seine Innereien, sich wieder zu beruhigen. Als ihm endlich nicht mehr ganz so schlecht war, begann er mit der Suche nach einem Lebenszeichen von Teresa, wobei er sich mit ganzer Kraft darauf konzentrierte, die Toten nicht anzusehen.

Doch plötzlich durchfuhr ihn ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn sie …

Er rannte im Raum umher und blickte allen Leichen ins Gesicht. Keine Teresa. Erleichterung löste den Moment der Panik ab. Thomas untersuchte den Raum noch einmal ganz genau.

Die Wände hätten einfacher nicht sein können – glatter, weiß gestrichener Putz ohne jede Dekoration. Und aus irgendeinem Grund fensterlos. Er ging schnell ein Mal außen herum, mit der linken Hand immer an der Wand entlang. Er kam an die Tür zum Schlafsaal der Jungen, ging daran vorbei, dann zu der großen Tür, durch die sie am Vorabend hereingekommen waren. Zu dem Zeitpunkt hatte es geschüttet wie aus Eimern, was man sich jetzt nicht mehr vorstellen konnte, wenn man an den grellen Sonnenschein dachte, den er vorhin hinter dem Verrückten gesehen hatte.

Der Eingang – oder Ausgang – bestand aus zwei großen silberglänzenden Stahltüren. Und genau wie Minho gesagt hatte, hing dort eine extrem starke Kette – die Glieder waren mehr als zwei Zentimeter dick –, die durch die Türgriffe gelegt und mit zwei dicken Vorhängeschlössern gesichert war. Thomas zog an den Ketten, um zu probieren, ob sie nachgaben. Das Metall fühlte sich kalt an und bewegte sich keinen Millimeter.

Er erwartete Schläge von der anderen Seite, Cranks, die genau wie an den Fenstern im Schlafraum reinzukommen versuchten. Doch es waren nur gedämpfte Geräusche aus den beiden Schlafräumen zu hören. Weiter weg die Schreie und Rufe der Cranks und im anderen Zimmer Gesprächsgemurmel von den Lichtern.

Frustriert machte Thomas weiter mit seiner Runde an der Wand entlang, bis er wieder an dem Zimmer angekommen war, das angeblich Teresas war. Nichts, nicht mal ein Spalt oder eine Fuge deutete auf einen weiteren Ausgang hin. Der große Raum war noch nicht mal rechteckig – er war ein großes Oval, überall gerundet, ohne Ecken.

Thomas war total perplex. Er dachte an den Vorabend zurück, als sie alle dagesessen und wie Halbverhungerte Pizza gegessen hatten. Da mussten ihnen doch andere Türen oder eine Küche oder irgendetwas aufgefallen sein. Doch je mehr er darüber nachdachte, je mehr er sich vorzustellen versuchte, wie es nun tatsächlich ausgesehen hatte, desto nebulöser wurde das Ganze. Eine Alarmglocke schrillte in seinem Kopf – ihre Gehirne waren auch vorher schon manipuliert worden. Passierte wieder so etwas mit ihnen? Waren ihre Erinnerungen beeinflusst oder ausradiert worden?

Und was war mit Teresa geschehen?

In seiner Verzweiflung überlegte er sich, ob er auf dem Boden herumkriechen und nach einer Falltür oder so etwas – irgendeinem Hinweis darauf, was hier geschehen war – suchen sollte. Aber er konnte keine weitere Minute mehr in Gegenwart der verwesenden Leichen verbringen. Der Neue bot die letzte Chance. Thomas seufzte und ging zurück in das kleinere Zimmer, in dem sie ihn gefunden hatten. Irgendetwas musste Aris doch wissen, das ihnen helfen konnte.

Genau wie von Newt angeordnet, waren die oberen Betten heruntergehievt und an die Wände gerückt worden, so dass die zwanzig Lichter und Aris in einem Kreis sitzen und sich ansehen konnten.

Als Minho Thomas erblickte, klopfte er auf die freie Stelle neben sich. »Ich hab’s dir doch gesagt, Alter. Setz dich, dann können wir anfangen. Wir haben auf dich gewartet. Mach bloß die Klonktür zu – da draußen stinkt’s wie Gallys Schweißfuß.«

Wortlos zog Thomas die Tür hinter sich zu und ließ sich neben Minho nieder. Er wollte den Kopf in die Hände sinken lassen, tat es aber nicht. Nichts deutete darauf hin, dass Teresa in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte. Etwas sehr Seltsames ging hier vor sich, wofür es jedoch tausend Erklärungen geben konnte; es konnte ihr genauso gut gehen.

Newt saß auf dem Bett rechts von ihm so weit vorne an der Kante, dass nur ein Stückchen seines Hinterns die Matratze berührte. »Also, los geht’s. Lasst uns anfangen, damit wir dann bald zum echten Problem kommen können – wo wir etwas zu futtern herkriegen.«

Wie aufs Stichwort fing Thomas’ Magen an zu knurren. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Wasser hatten sie – in den Badezimmern –, aber von Essbarem keine Spur.

»Gut, das«, sagte Minho. »Schieß los, Aris. Erzähl uns alles.«

Der neue Junge saß Thomas direkt gegenüber – die neben dem Fremden sitzenden Lichter waren so weit wie möglich von ihm weggerückt. Aris schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Ihr zuerst.«

»Ach, wirklich?«, erwiderte Minho. »Wie wär’s, wenn wir dir alle der Reihe nach die Fresse polieren? Dann fordere ich dich das zweite Mal zum Reden auf.«

»Minho«, ermahnte Newt ihn streng. »Es gibt keinen Grund –«

Minho zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Aris. »Mensch, hör auf. Woher sollen wir wissen, dass dieser Strunk nicht einer von den Schöpfern ist? Jemand von ANGST, der uns ausspionieren soll. Woher weiß ich denn, dass nicht er die Leute da draußen umgebracht hat – er ist der Einzige, den wir nicht kennen, und alle Türen und Fenster sind verriegelt! Es geht mir total auf den Sack, dass er hier so eine dicke Lippe riskiert, dabei sind wir zwanzig gegen einen. Er soll als Erster reden.«

Thomas stöhnte innerlich auf. Der Junge würde sich nie öffnen, wenn Minho ihm so viel Angst einjagte.

Newt seufzte und sah Aris an. »Da ist was dran. Sag uns einfach, was du damit gemeint hast: Du würdest aus dem Labyrinth kommen. Dem sind wir gerade entkommen, und dich haben wir da ganz bestimmt nicht getroffen.«

Aris rieb sich die Augen und sah Newt dann direkt an. »Von mir aus, also hört zu. Ich war in einem riesigen Labyrinth mit ziemlich dicken, hohen Mauern gefangen – aber bevor ich da hingekommen bin, ist mein Gedächtnis ausgelöscht worden. Ich konnte mich an nichts mehr aus meinem bisherigen Leben erinnern. Ich wusste nur noch meinen Namen. Ich habe mit einer Gruppe Mädchen im Labyrinth gelebt. Es müssen so an die fünfzig gewesen sein, und ich war der einzige Junge. Vor ein paar Tagen haben wir es geschafft zu entkommen – die Leute, die uns geholfen haben, haben uns ein paar Tage lang in einer Turnhalle untergebracht, gestern Nacht haben sie mich dann hierhergeschafft. Aber erklärt hat uns niemand was. Und ihr wart angeblich auch in einem Labyrinth oder was?«

Die letzten Worte von Aris waren kaum noch zu verstehen, weil die anderen Lichter durcheinanderschrien. In Thomas’ Kopf drehte sich alles. Aris hatte die schrecklichen Erlebnisse der letzten Wochen so einfach beschrieben, als ob es ein Ausflug an den Strand gewesen wäre. Wenn es stimmte, handelte es sich um Wahnsinn von monumentalen Ausmaßen. Zum Glück brachte jemand anders genau das auf den Punkt, was Thomas gerade zu verstehen versuchte.

»Einen Augenblick«, sagte Newt. »Du hast in einem Riesenlabyrinth gewohnt, auf einem Gehöft, wo die Wände sich jede Nacht geschlossen haben? Gab es Monster, die Griewer heißen? Bist du als Letzter da eingetroffen? Und hat nach deiner Ankunft alles kopfgestanden? Hast du im Koma gelegen? Und hattest du einen Zettel in der Hand, auf dem stand, dass du der Allerletzte sein würdest?«

»Halt, halt, halt«, wehrte Aris ab, noch bevor Newt fertig geredet hatte. »Woher weißt du das alles? Wie …?«

»Es ist das gleiche beschissene Experiment«, sagte Minho, aus dessen Stimme alle Feindseligkeit verschwunden war. »Oder dasselbe … was weiß ich. Bloß dass es bei denen nur Mädchen und ein Junge waren, und wir hatten nur Jungs und ein Mädchen. ANGST muss zwei Labyrinthe gebaut und zwei Tests durchgeführt haben!«

Das hatte Thomas längst als Tatsache akzeptiert. Er beruhigte sich endlich genug, um etwas dazu zu sagen. Er sah Aris fragend an. »Haben sie dich den Auslöser genannt?«

Aris, der offensichtlich genauso perplex war wie alle anderen, nickte.

»Und kannst du …?«, fing Thomas an, zögerte dann aber. Jedes Mal, wenn er es erwähnte, kam er sich vor, als würde er vor aller Welt zugeben, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. »Konntest du mit einem der Mädchen im Kopf reden? So telepathisch, weißt du?«

Aris riss die Augen auf und starrte Thomas durchdringend an, als hätte er gerade ein dunkles Geheimnis durchschaut, das nur ein anderer Eingeweihter verstehen konnte.

Hörst du mich?

Der Satz tauchte so kristallklar in Thomas’ Gedanken auf, dass er zuerst dachte, Aris hätte laut etwas zu ihm gesagt. Aber nein – er hatte die Lippen nicht bewegt.

Hörst du mich?, wiederholte der Junge.

Thomas zögerte und schluckte. Ja.

Sie ist umgebracht worden, sagte Aris zu ihm. Sie haben meine beste Freundin ermordet.

6

»Was ist jetzt los?«, fragte Newt und blickte von Thomas zu Aris. »Warum guckt ihr zwei Strünke euch an, als ob ihr ineinander verknallt wärt?«

»Er kann es auch«, antwortete Thomas, ohne die Augen von dem Neuen abzuwenden; die anderen nahm er kaum noch wahr. Aris’ letzter Satz hatte ihn entsetzt: Wenn sie seine Telepathie-Partnerin umgebracht hatten, dann …

»Was kann er?«, wollte Bratpfanne wissen.

»Na was wohl?«, erwiderte Minho. »Er ist auch so ein Abartiger wie Thomas. Die können im Kopf miteinander reden.«

Newt sah Thomas durchdringend an. »Ehrlich?«

Thomas nickte und hätte fast wieder telepathisch mit Aris gesprochen, sagte es dann aber in letzter Minute laut. »Wer hat sie getötet? Wie ist das passiert?«

»Wer hat wen getötet?«, unterbrach ihn Minho. »Schluss jetzt mit diesem Voodoo-Klonk, solange wir auch noch da sind.«

Thomas standen die Tränen in den Augen, als er schließlich den Blick von Aris abwandte und Minho ansah. »Er hatte jemanden, mit dem er sich im Kopf unterhalten konnte. Genau wie ich. Aber er hat mir gesagt, dass diese Person getötet worden ist, und ich will wissen, von wem.«

Aris ließ den Kopf hängen und schien die Augen geschlossen zu haben. »Im Grunde weiß ich nicht, von wem. Es ist alles zu verwirrend. Man konnte die Guten nicht von den Bösen unterscheiden. Aber trotzdem glaube ich, dass sie ein Mädchen, Beth heißt sie, irgendwie dazu gebracht haben … meine Freundin … zu erstechen. Sie hieß Rachel und ist jetzt tot, Mann. Sie ist nicht mehr da.« Er vergrub das Gesicht in den Händen.

Thomas’ Bestürzung war so groß, dass es fast wehtat. Alles wies darauf hin, dass Aris gerade aus einer anderen Version des Labyrinths kam, in dem alles genauso gewesen war wie bei ihnen, nur dass Jungen und Mädchen vertauscht waren. Das hieß, dass Aris das Gegenstück zu Teresa war. Und Beth klang wie deren Version von Gally, der Chuck auf dem Gewissen hatte. Ihn erstochen hatte. Sollte das etwa heißen, dass Gally eigentlich Thomas töten sollte?

Und warum war Aris jetzt hier? Und wo war Teresa? Was eben noch beinah klick zu machen schien, ergab jetzt keinerlei Sinn mehr.

»Ja, und wie bist du dann bitte schön bei uns gelandet?«, fragte Newt. »Wo sind die ganzen Mädchen, von denen du ständig redest? Zu wievielt seid ihr entkommen? Seid ihr alle zu uns gebracht worden oder nur du?«

Thomas hatte Mitleid mit Aris. Es musste hart sein, mit so vielen Fragen bombardiert zu werden, wenn einem gerade so etwas Grauenvolles zugestoßen war. Wenn die Rollen vertauscht wären und Thomas mit angesehen hätte, wie Teresa vor seinen Augen ermordet worden wäre … Es war schrecklich genug gewesen, Chuck sterben zu sehen.

Schrecklich genug?, dachte er. Oder war es sogar noch schlimmer, Chuck sterben zu sehen? Thomas hätte am liebsten geschrien. In diesem Augenblick hatte er einen Hass auf die ganze Welt und besonders auf die Schöpfer.

Aris hob schließlich den Kopf und wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Er tat das ohne jede Scham, und Thomas wusste auf einmal, dass er den Jungen gernhatte.

»Lasst es gut sein«, sagte Aris. »Ich habe genauso wenig Durchblick wie ihr. Ungefähr dreißig von uns haben überlebt. Wir sind in eine Turnhalle gebracht worden und haben etwas zu essen und was Sauberes zum Anziehen bekommen. Und letzte Nacht haben sie mich dann hierher verfrachtet. Angeblich mussten sie mich von der Gruppe trennen, weil ich ein Kerl bin. Das war’s. Und dann seid ihr Stöcke aufgekreuzt.«

»Stöcke?«, wiederholte Minho.

Aris schüttelte den Kopf. »Ist ja auch egal. Ich weiß selbst nicht mal genau, was das heißen soll. Ein Wort, das sie schon hatten, als ich da hingekommen bin.«

Minho wechselte einen halb belustigten Blick mit Thomas. So wie es aussah, hatten beide Gruppen ihr eigenes Vokabular entwickelt.

»Hey«, rief einer der Lichter, den Thomas nicht mit Namen kannte. Er saß mit dem Rücken an der Wand hinter Aris und zeigte auf ihn. »Was hast du denn dahinten an deinem Hals? Irgendwas Schwarzes, direkt unterm Kragen.«

Aris versuchte, an seinem Nacken nach hinten zu gucken, konnte den Hals aber nicht so weit verdrehen. »Was?«

Als Thomas sich vorbeugte, erkannte auch er direkt über dem Kragen am Schlafanzugoberteil des Jungen etwas Dunkles. Von weitem sah es wie eine dicke Linie aus, die sich am Hals vom Schlüsselbein bis auf den Rücken zog. Die Linie war unterbrochen, als könne es sich um Buchstaben handeln.

»Hier, lass mal sehen«, bot Newt an. Er stand auf und humpelte zu ihm hinüber – im Labyrinth war irgendetwas Schlimmes mit seinem Bein passiert, das Thomas nie erfahren hatte. Newt zog Aris’ Oberteil ein Stück herunter, damit er die seltsame Markierung besser erkennen konnte.

»Es ist eine Tätowierung«, meinte Newt und runzelte die Stirn, als traue er seinen Augen nicht.

»Und was steht da?«, wollte Minho wissen, der bereits aufgestanden war, um sich die Sache selbst anzusehen.

Als Newt nicht gleich antworten wollte, zwang die Neugier Thomas ebenfalls auf die Füße. Er beugte sich vor, um Aris’ Tätowierung mit eigenen Augen zu betrachten. Bei dem, was da in fetten Druckbuchstaben stand, setzte sein Herz einen Schlag lang aus.

Eigentum von ANGST. Gruppe B, Proband B-1. Der Partner.

»Und was soll das jetzt wieder heißen?«, fragte Minho.

»Was steht denn da?«, fragte Aris verzweifelt, befühlte Hals und Schulter mit der Hand und zog den Kragen weg. »Ich schwör’s, das war gestern Abend noch nicht da!«

Newt las ihm die Worte vor, dann sagte er: »Eigentum von ANGST? Ich dachte, wir wären denen gerade entkommen! Beziehungsweise ihr wärt denen entkommen. Du weißt, was ich meine.« Frustriert wandte er sich ab und setzte sich wieder aufs Bett.

»Und warum wirst du ›Der Partner‹ genannt?« Minho starrte immer noch das Tattoo an.

Aris schüttelte den Kopf. »Keinen blassen Schimmer. Ich schwör’s euch, das war hundertprozentig gestern Abend noch nicht da, das weiß ich genau. Ich habe geduscht und in den Spiegel geguckt. Da hätte ich was bemerkt. Und im Labyrinth wäre es garantiert jemandem aufgefallen.«

»Du willst mir also erzählen, du wärst mitten in der Nacht tätowiert worden und hättest nichts davon mitgekriegt?«, fragte Minho. »Verarsch mich nicht, Frischling.«

»Ich schwör’s!«, beharrte Aris. Dann sprang er auf und lief ins Bad, wahrscheinlich, weil er es im Spiegel mit eigenen Augen sehen wollte.

»Ich glaube dem Neppdepp kein Wort«, flüsterte Minho Thomas zu, als er sich wieder hinsetzte. Doch als Minho sich zurück auf die Matratze fallen ließ, verrutschte sein Oberteil ein bisschen nach hinten, so dass auch an seinem Hals eine dicke schwarze Linie sichtbar wurde.

»Ich fass es nicht!«, entfuhr es Thomas. Der Mund stand ihm offen.

»Was?«, fragte Minho und starrte Thomas an, als wäre ihm gerade ein drittes Ohr aus der Stirn gewachsen.

»Dein äh – dein Hals«, brachte Thomas schließlich heraus. »Du hast da auch was!«

»Was zum Geier soll das heißen?«, fragte Minho und zog mit verzerrtem Gesicht an seinem Oberteil, weil er unbedingt den für ihn unsichtbaren Schriftzug sehen wollte.

Thomas stürzte zu Minho hinüber, schlug seine Hand weg und zog den Kragen nach unten. »Heiliger Klonk … Da! Genau dasselbe, außer …«

Thomas las leise für sich, was auf Minhos Nacken stand.

Eigentum von ANGST. Gruppe A, Proband A-7.

Der Anführer.

»Mensch, raus mit der Sprache, Alter!«, schrie Minho ihn panisch an.

Die meisten anderen Lichter drängelten sich hinter Thomas, um auch was zu sehen. Thomas las schnell laut vor, was an Minhos Hals eintätowiert war, erstaunt darüber, dass er sich nicht dabei verhaspelte.

»Das ist nicht dein Ernst, Mann«, sagte Minho und stand auf. Er bahnte sich einen Weg durch die Jungs, um ebenfalls ins Bad zu gehen.

Dann spielten auf einmal alle verrückt. Thomas merkte, wie ihm jemand das Oberteil runterzog, während er gleichzeitig versuchte, anderen auf den Rücken zu schauen. Alle redeten wild durcheinander.

»Da steht überall Gruppe A.«

»Eigentum von ANGST, genau wie bei ihm.«

»Du bist Proband A-13.«

»Proband A-19.«

»A-3.«

»A-10.«

Thomas drehte sich langsam wie betäubt im Kreis und sah zu, wie die Lichter gegenseitig die Tätowierungen beäugten. Bei den meisten stand außer der Eigentumsbezeichnung nichts mehr. Newt ging von einem zum nächsten und überzeugte sich mit versteinertem Gesichtsausdruck selbst; er schien sich auf das Auswendiglernen der einzelnen Nummern zu konzentrieren. Und dann standen die beiden sich eher zufällig gegenüber.

»Was steht bei mir?«, fragte Newt.

Thomas zog Newts Kragen zur Seite und las dann die Worte, die mit schwarzer Tinte in seine Haut eingestanzt waren. »Du bist Proband A-5 und wirst ›Der Kleber‹ genannt.«

Newt sah ihn überrascht an. »Der Kleber?«

Thomas ließ sein Oberteil los und trat einen Schritt zurück. »Ja. Wahrscheinlich bist du irgendwie der, der uns alle zusammenhält. Keine Ahnung. Lies meins.«

»Habe ich schon –«

Thomas bemerkte einen seltsamen Ausdruck auf Newts Gesicht. Zögern. Oder sogar Furcht. Es schien, als wollte er Thomas nicht sagen, was auf seinem Tattoo stand. »Ja und?«

»Du bist Proband A-2«, antwortete Newt. Dann sah er zu Boden.

»Und?«, beharrte Thomas.

Newt zögerte und sagte dann, ohne ihn anzusehen. »Du wirst nichts Besonderes genannt. Da steht nur … ›Muss von Gruppe B umgebracht werden.‹«

7

Thomas blieb kaum Zeit zu verarbeiten, was Newt gesagt hatte. Er wusste nicht, ob er bestürzt oder verwirrt sein sollte, als plötzlich ein schrillender Alarm im Zimmer losging. Unwillkürlich presste er die Hände auf die Ohren und sah sich nach den anderen um.

Alle waren völlig verwirrt, aber dann fiel es Thomas wieder ein: Es war dasselbe laute Geräusch, dass er auf der Lichtung im Labyrinth gehört hatte, bevor Teresa in der Box zu ihnen gekommen war. Bei Teresas Ankunft hatte er die Sirene das einzige Mal gehört; hier, in diesem engen Raum, klang sie erschreckender – noch viel durchdringender, voll sich überlappender Echos. Trotzdem war er sich ziemlich sicher, dass es derselbe Alarm war, mit dem auf der Lichtung angekündigt wurde, dass ein Neuer – ein Frischling – eingetroffen war.

Das Problem war, dass das Heulen einfach nicht aufhörte. Thomas merkte, wie er langsam schreckliche Kopfschmerzen bekam.

Inhalt

Cover

James Dashner: Die Auserwählten – In der Brandwüste

Wohin soll es gehen?

Widmung

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Epilog

Danksagung

James Dashner

Anke Caroline Burger

Impressum