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The Maze Cutter - Das Erbe der Auserwählten (The Maze Cutter 1) E-Book

James Dashner

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Beschreibung

Die Menschheit kämpft ums Überleben. Nur auf einer kleinen Insel, wo Isaac mit seinen Freunden lebt, ist scheinbar noch alles in Ordnung. Bis eines Tages ein rostiges Schiff am Ufer anlegt. Mit einem Haufen Leichen an Bord und einer Frau, die verzweifelt auf der Suche nach Isaac und seinen Freunden ist. Denn nur mit deren Hilfe ist es möglich, ein Heilmittel gegen den Brand zu entwickeln. In all den Jahren ist nicht nur das Virus mutiert, auch die Cranks haben sich verändert: Sie sind schlauer, schneller und gefährlicher als jemals zuvor … Packend und dystopisch: Die Spin-off-Trilogie zur MAZE-RUNNER-Serie spielt 70 Jahre nach Labyrinth, Brandwüste und Todeszone. Band 2 erscheint im Januar 2024.

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James Dashner: Maze Cutter. Das Erbe der Auserwählten

Aus dem Englischen von Birgit Niehaus

73 Jahre nach Labyrinth, Brandwüste und Todeszone kämpft die Menschheit ums Überleben. Nur auf einer kleinen Insel, wo Isaac mit seinen Freunden lebt, ist scheinbar noch alles in Ordnung. Bis eines Tages ein rostiges Schiff am Ufer anlegt. Mit einem Haufen Leichen an Bord und einer Frau, die verzweifelt auf der Suche nach Isaac und seinen Freunden ist. Denn nur mit deren Hilfe ist es möglich, ein Heilmittel gegen den Brand zu entwickeln. In all den Jahren ist nicht nur das Virus mutiert, auch die Cranks haben sich verändert: Sie sind schlauer, schneller und gefährlicher als jemals zuvor …

Wohin soll es gehen?

 

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Epigraf

Die Dunkelheit schleicht schon durch meinen Geist, wabert mir faulig und rauchig entgegen. Ich atme den Gestank einer sterbenden Welt ein, das Blut in meinen Adern färbt sich dunkelviolett und wird immer heißer. Und trotzdem verschafft mir ein Gedanke Frieden: Ich habe Freunde gehabt. Und sie hatten mich.

Das ist die Hauptsache.

Das ist das Einzige, was zählt.

NEWTS TAGEBUCH

Thomas fand das Tagebuch drei Wochen nach dem Weltuntergang.

Es war ihm immer noch ein Rätsel. Wann? Und wie? Wann hatte sein Freund all diese Seiten vollgeschrieben? Und wie war das Buch in eine der vielen Kisten gelangt, die durch den Flat Trans geschickt wurden, bevor Thomas und seine Freunde selbst die Reise angetreten hatten? Natürlich steckte Ava Paige dahinter, so wie sie hinter allem steckte. Aber trotzdem: Wann? Und wie? Diese beiden Fragen gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf.

Thomas saß auf seinem Lieblingsfelsen und schaute in die Weite, in die Ewigkeit, in die endlose Leere des Ozeans. Die Luft war sauber und frisch, sie roch leicht nach Fisch und gleichzeitig süßlich, nach Verwesung. Gischtspritzer kitzelten seine Haut, angenehm kühl in der Hitze. Er schloss die Augen, blendete die Umgebung aus. Der Anblick war einfach zu entmutigend. Als wäre er auf dem Mond gestrandet. Oder auf dem Mars. In einer anderen Galaxie. Im Himmel. In der Hölle. Egal, was machte das schon für einen Unterschied? Er rutschte auf dem Felsvorsprung hin und her, um es sich bequemer zu machen. Seine Beine baumelten über dem tosenden, schwarz-blauen Wasser, das so unvorstellbar weit weg war von der Welt. Und das war schließlich etwas Gutes, oder? Doch, ja, war es. Trotzdem: Dass er Krankheit, Wahnsinn und Tod entkommen war, tröstete ihn nicht über all das hinweg, was er verloren hatte. Das brachte ihn zurück zu dem Tagebuch.

Er öffnete die Augen und griff nach dem aufgequollenen, zerfledderten, schmuddeligen Buch. Er hatte es in eine Nische im Sandstein gelegt, die aussah, als hätten die Jahrtausende sie dort hineingemeißelt, nur um dieses heilige Artefakt aufzunehmen. Heilig. Artefakt. Ja, das klang irgendwie richtig.

Vorsichtig klappte er das Buch in seinem Schoß irgendwo in der Mitte auf. Dann blätterte er langsam durch die Seiten. Jede einzelne war von oben bis unten in einer krakeligen, fast kindlich wirkenden Schrift beschrieben. Die Buchstaben wurden zunehmend schräger, neigten sich immer weiter vornüber. Der Stift schien immer hektischer aufs Papier gedrückt worden zu sein. Die Striche und Linien wurden dicker und dunkler. Das Schriftbild spiegelte wider, was der Inhalt in herzzerreißender Deutlichkeit offenbarte: dass sein bester Freund nach und nach in den Wahnsinn abgedriftet war, in einen kompletten, brutalen Wahnsinn. Das Tagebuch endete mit ungefähr dreißig leeren Seiten. Und auf der letzten beschriebenen Seite stand nur ein Wort, in riesigen, wild hingekritzelten Buchstaben: BITTE!

Mann, Newt, dachte Thomas. War es nicht alles schon schlimm genug? War das Ende nicht auch so schon der Gipfel aller Grausamkeiten gewesen? Warum zum Teufel musstest du noch dieses Tagebuch führen? Und es obendrein Ava Paige in die Hände fallen lassen? Warum?

Aber trotz der düsteren, bitteren Gedanken, die ihm beim Anblick der Seiten kamen, liebte er dieses Tagebuch. Er liebte die Aufzeichnungen seines Freundes. Und der Schmerz, den sie ihm bereiteten, half nur dabei, alles im Zusammenhang zu sehen. Das Buch war wie eine Leinwand, auf der ein Teil von Newts Leben für immer verewigt war – für sie, seine Freunde. Und für ihre Kinder. Für die Nachwelt. Es war ein Museumsstück, eine Quelle der Erinnerungen, der guten und der schlechten.

Thomas blätterte durch die Seiten, stoppte wahllos mal hier, mal dort. Doch er beschränkte sich auf den Anfang, als sich die ersten Symptome bei Newt gerade erst bemerkbar machten. Es war nicht klar, wann er mit dem Schreiben begonnen hatte, denn es gab keine Datumsangaben und kaum Hinweise auf konkrete Ereignisse. Aber die Passage, die Thomas jetzt gerade las, musste von dem Tag stammen, als sie Newt im Berk zurückgelassen hatten, während sie selbst sich nach Denver reingeschmuggelt hatten.

Thomas sog jedes einzelne Wort auf, würdigte es, sann darüber nach:

Ich komme mir vor wie ein Arschloch, wenn ich das sage, aber ich muss hier raus. Ich halts nicht mehr aus. Ich liebe meine Freunde. Ich liebe sie mehr, als ich jemals jemanden lieben könnte. Klar, das sage ich, weil ich mich nicht an meine Eltern erinnern kann. Aber so muss es sich anfühlen, eine Familie zu haben. Denn genau das sind sie für mich, Thomas, Minho, alle: eine Familie. Trotzdem kann ich nicht einen Tag länger mit ihnen zusammen sein. Es bringt mich um und das ist jetzt kein verdammter Witz. Ich bin am Ende. Für sie bin ich erledigt. Hinüber. Ich meins ernst.

Verdammt, wie vertraut mir diese Worte schon sind: »umbringen«. »Hinüber sein«. Scheiße, ich leg das Buch jetzt lieber beiseite. Muss sowieso noch eine andere Nachricht schreiben.

Thomas klappte das Tagebuch zu und legte es zurück auf das Sandsteinbord über ihm. Dann rollte er sich auf die Seite, zog die Beine an und legte den Kopf auf seinen Unterarm. Er starrte wieder auf den weiten Ozean, der die Grenzen seines Sichtfelds und all seiner Gedanken sprengte. Er wusste, dass sich unter der rauen, gewellten, wie gemalt wirkenden Oberfläche Milliarden von Lebewesen tummelten, die sich keinen Kopf machten über Dinge wie Cranks, Wüsten und Labyrinthe. Sie schwammen und fraßen in ihrem nassen Universum, das wahrscheinlich auch unter den Sonneneruptionen gelitten hatte, sich aber viel schneller regenerierte als die völlig verwüsteten Landflächen. Ja, die Natur würde sich eines Tages wieder erholt haben.

Aber wir?, dachte Thomas. Was wird aus uns Menschen?

Plötzlich sah er seine Freunde vor sich. Newt. Teresa. Alby. Chuck. So viele Leben – alle verloren.

Mann, jetzt sei nicht immer so negativ, sagte er sich. Er musste aufhören, diesen ganzen Mist immer und immer wieder durchzukauen. Zumindest heute. Er stand auf, schnappte sich Newts Tagebuch und lief den Pfad durch das Dünengras entlang, der die Klippen säumte und zur Neuen Lichtung führte. Sie war noch lange nicht perfekt, aber das konnte ja noch kommen. Wie war das noch gleich mit der berühmten zweiten Chance?

»Essen ist fertig!«, brüllte jemand. Es war Bratpfanne. »Hab mir ein neues Rezept für diesen verdammten Fisch ausgedacht.«

Ein köstlicher Duft stieg Thomas in die Nase.

Teil1

73 Jahre später

Es ist ein komisches Gefühl, zu verlieren, was man liebt. Ich denke oft über Verlust nach. Wenn ich in der Zeit zurückreisen könnte, in meine frühe Kindheit, und mir vorstelle, dass irgendein göttlich-magisches Wesen mir damals verschiedene Zukunftsversionen präsentiert und mich vor die Wahl gestellt hätte – wofür hätte ich mich entschieden? Mal angenommen dieser Gott hätte mir die zwei schlimmsten Verluste meines Lebens vor Augen geführt und angeboten, mir einen davon zu ersparen, welchen von beiden hätte ich gewählt?

Newt? Was willst du behalten?, hätte die himmlische Kreatur gefragt. Deinen Verstand? Oder deine Freunde?

Jetzt weiß ich, was ich geantwortet hätte: Was macht das für einen Unterschied?

NEWTS TAGEBUCH

1   A L E X A N D R A

In einer Gegend namens Alaska stand Alexandra Romanov auf dem Balkon ihres Hauses und blickte über die im Dunkeln liegende Stadt. Nur in den Fenstern der Häuser und an Straßenkreuzungen flackerte das gelbliche Licht der Gaslaternen. Nicht eine einzige Wolke verdeckte die Sterne, die wie glühende Speerspitzen am Himmel funkelten. Die saubere Luft schmiegte sich um Alexandra wie unsichtbarer Nebel, warm und feucht. Sie benetzte ihr Haar, ihre Haut, ihre Kleidung. Alexandra atmete tief ein und genoss den Panoramablick auf die Welt, die sich unter ihr ausbreitete.

Ihre Welt. Alaska. Es gab noch andere … Welten … dort draußen. Die Rest-Nation, irgendwo in den Ebenen Nebraskas. Und es gab die verrückten Ärzte in Kalifornien. Sie taten Dinge, die kein vernünftiger Mensch tun sollte, aber sie waren weit weg. Und Alaska gehörte ihr.

Es spielte keine Rolle, dass sie es mit zwei anderen teilen musste. Mit Nicholas. Und Mikhail. Nicholas und Mikhail. Denn sie fühlte sich so mächtig und kraftvoll, als wäre es alles ihres. Und das würde es eines Tages ja wohl auch sein. Bis dahin würde sie all die Verbesserungen, Erweiterungen und Intensivierungen, die die Evolution ihr beschert hatte, noch optimaler zu nutzen lernen. Vielleicht würde sie die anderen beiden ein bisschen sabotieren, aber ihnen dennoch von Zeit zu Zeit das ganze Gewicht ihres furchtbaren Vorhabens auf die Schultern legen. Schrecken mit Schrecken bekämpfen. Tragik mit Tragik beenden.

Hieß es nicht, aller tragischen Dinge seien drei? Todesfälle, Erdbeben, Tornados. Sie hatte in ihrem Leben bislang nur ein einziges solches Schreckens-Trio erlebt, aber dafür waren diese drei Kinder auch wirklich die Hölle auf kleinen Füßen gewesen. Ihre durchdringenden Schreie in der Evolutionsnacht zerrten noch immer an ihren Nerven, sobald sie nur daran dachte. Zwar hatte nicht sie den Schreien ein abruptes Ende gesetzt, aber sie war kurz davor gewesen, es zu tun. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine glatte Lüge. Und diese süße Stille danach! Wie hatte sie die genossen!

Aller schlechten Dinge sind drei. Diese Weisheit war so alt wie die Zeit. Und sie waren drei: Zu dritt bildeten sie die höchstentwickelte Gottheit überhaupt. Mit Gedanken, die so schnell waren, als würden sämtliche Worte eines Menschenlebens auf einmal ausgesprochen, in derselben Sekunde. Mit maschinenartiger Kontrolle über die Sinne, die Physiologie, die Biochemie, die Endorphine, all das. Mit der mentalen Kapazität eines Universums, das alles Licht und Wissen in sich aufsaugt. Sie hatten sich weiterentwickelt, daran bestand kein Zweifel. Aber sie – Alexandra – war noch weiter als die anderen beiden. Sie war sogar weiter als beide zusammen. Dessen war sie sich sicher. Aber im Moment waren sie noch zu dritt.

Ihre Gedanken überschlugen sich, Erinnerungen über Erinnerungen, alles in einem Augenblick. Der Brand und seine vielen Varianten. Die Mutationen, die Verstandeskraft hervorbrachten, der keine Grenzen gesetzt sind.

Vielleicht war es ja alles zu irgendetwas gut gewesen? Vielleicht sollten all die Katastrophen-Trios, die die Menschheit über Jahrtausende in Angst und Schrecken versetzt hatten, nur auf das vorbereiten, was jetzt entstanden war? Was ins Leben getreten war, um Angst und Schrecken mit allen Mitteln auszurotten.

Die dreieinige Gottheit.

Ja, verdammt, für Alexandra funktionierte sie.

»Göttin Romanov?«

Mist. Sie hatte gehofft, ein bisschen mehr Zeit für sich zu haben. Zeit, die sie verschwenden konnte. Sie wandte sich von der Schönheit ihrer Stadt ab und trat dem Mann entgegen, der sie angesprochen hatte. Ein großer, schlaksiger Typ, der sie immer an einen wandelnden Stock erinnerte. Dass seine Gelenke nicht bei jedem Schritt knackten und splitterten, wunderte sie jedes Mal aufs Neue.

»Was gibts, Flint?« Der Mann hieß nicht Flint, sie nannte ihn nur so – einfach, weil es ihr Spaß machte. Der Name ließ ihn irgendwie … schrumpfen, und das war gut so. Es war sogar perfekt.

»Es gibt Unregelmäßigkeiten im Pilgerstrom.« Seine Stimme klang, als würde eine Schubkarre mit Roherz ausgeschüttet. »Noch stimmen die Zahlen, aber bis morgen früh werden wir in jedem Teil der Stadt um mindestens acht Prozent danebenliegen. Alles wird aus dem Ruder laufen.«

Alexandra musterte ihn, wobei sie verschiedene Techniken der Brand-Meditation nutzte, die sie sich antrainiert hatte: Das geringste Zucken seiner Muskeln, die kleinste Augenbewegung, jede noch so winzige Regung seines Körpers speiste sie in ihren hyperleistungsfähigen Denkapparat ein. Er verschwieg ihr etwas. Er verschwieg, weshalb er eigentlich gekommen war.

»Spucks aus, Flint. Was zum Teufel ist passiert?«

Er blinzelte langsam und seufzte resigniert. Er hatte erkannt, wie sinnlos es war, seine Gefühle hinter einer Maske zu verbergen, die für sie komplett durchsichtig war. »Sieben Pilger wurden an den Färbebecken getötet … gewaltsam.«

»Gewaltsam?«

»Extrem gewaltsam.« Er hatte sein Klemmbrett mit den Tabellen schon gezückt, bereit, die genauen Daten zu liefern. Doch dann ließ er den Arm wieder sinken. »Vier Männer. Zwei Frauen. Ein Kind. Ein Junge. Sie waren …«

»Ausgehöhlt«, sagte sie. »Sie waren ausgehöhlt, stimmts?«

Er war etwas blasser geworden. »Ja, Göttin. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass es ziemlich fachmännisch gemacht war. Sie waren ausgeweidet. Der … äh … Abfall wurde nirgends gefunden. Nur die Rippen sind noch übrig.«

»Verflucht sei dieser Mann!«, zischte sie. Wut drohte das Taktgefühl wegzufegen, das sie sich mithilfe der Brand-Meditation angeeignet hatte. Schnell ging sie ihre Ziffern durch, diese präzise Zahlenfolge, die sie als Gefolgsfrau gelernt hatte. Sie brachte ihr Ruhe und Frieden, weil ihr Gehirn gezwungen wurde, die entsprechenden chemischen Botenstoffe auszuschütten. »Weißt du, wo er ist?«

Flint wusste genau, von wem sie sprach – sie konnte in seinen Augen ebenso lesen wie in den Tabellen und Diagrammen, die er die ganze Zeit mit sich herumtrug. Natürlich war ihr klar, was er sich gerade ausmalte: wie die armen Opfer in den Färbetümpeln der Länge nach aufgeschlitzt und mit grauenhafter Brutalität und Präzision ihrer Lebenssubstanz beraubt wurden. Das Blut, der Gestank, der ganze Horror … nur einer war dazu in der Lage, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Und sie beide hatten sofort auf den Richtigen getippt.

»Äh, ich glaube, er ist zum …« Flint räusperte sich. Es war ihm sichtlich unangenehm, einer Gottheit eine so persönliche Information über eine andere Gottheit zu verraten.

Alexandra trat dicht vor ihn, kontrollierte jede ihrer Bewegungen und blieb schließlich stocksteif stehen. Dann schaute sie ihm tief in die Augen. »Sag mir, wo er ist.« Ihr Tonfall ließ ihm gar keine andere Wahl.

Flint nickte ergeben und antwortete, fast wie in Trance: »Mikhail ist zur Lichtung gegangen.«

Alexandra versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen, aber zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ließ die Brand-Meditation sie komplett im Stich. Ein greller Zornesblitz explodierte in ihrem Kopf, nahm ihr für einen Moment die Sicht, löschte die Welt um sie herum aus. Warum? Warum machte Mikhail das? Sie hätte am liebsten laut geschrien. Aber sie riss sich zusammen und machte stattdessen eine schnelle, ausladende Handbewegung. Und tatsächlich ließ ihre Wut nach und ihre Sicht kehrte zurück: Flint hatte eine blutende Wunde auf der Wange. Sie hatte ihn mit ihren lackierten Nägeln gekratzt. Eine Überreaktion. Verdammt, sie musste sich besser im Griff haben.

Sie sah den armen Mann an, dessen Augen vor Angst flackerten. »Na los, verbinde das, schnell! Wenn Mikhail tatsächlich auf der Lichtung ist, müssen wir uns beeilen.«

2   I S A A C

Klank.

Klank.

Klank.

Das Geräusch zog sich schon eine ganze Weile durch Isaacs Albträume. Ein regelmäßiges Klank, absolut nervtötend und unüberhörbar. Anfangs war es ein Vogel gewesen, ein schwarzes, zauseliges Ding, das oben auf dem Holzzaun von Bratpfannes Acker im Norden der Insel hockte. Der spitze Vogelschnabel klappte auf und zu und klankte dabei jedes Mal. Wobei es sich eher nach einem mechanischen Hund anhörte.

Danach hatte sich das Geräusch in das Rattern einer riesigen Maschine verwandelt, die Isaac aus den Lagerfeuergeschichten der Alten Welt kannte. Die Maschine hieß Bulldozer, und aus irgendeinem Grund versuchte sie vergeblich, über einen Berg von starren, silberglänzenden Metallbäumen hinwegzuwalzen. Klank, klank, klank, machte es jedes Mal, wenn der Bulldozer Anlauf nahm, die riesige gezahnte Schaufel weit aufgerissen.

Irgendwann schlich sich ein Mann in Isaacs Albträume, hinter sich den dunklen, sternenübersäten Himmel. Der Mann hatte weder Haare noch Augen. Und nur eine halbe Nase. Und ein Ohr. Und obwohl man es in dem Zwielicht schwer erkennen konnte, glänzten Rinnsale auf seiner Haut, die eigentlich nur Blut sein konnten, das aus unzähligen Wunden austrat. Was für ein hässlicher Scheißkerl, dachte Isaac.

Der Mann versuchte etwas zu sagen, aber der einzige Laut, der ihm über die Lippen kam, war wieder dieses nervige Klank.

Klank.

Klank.

Klank.

Dabei wölbte sich der Hals des Typen vor, als wollte er eine verschluckte Pflaume hochwürgen.

Isaac erinnerte sich an so viele Albträume, dass die Finger und Zehen sämtlicher Inselbewohner nicht ausgereicht hätten, um sie daran abzuzählen. Aber der aktuelle Traum erschütterte ihn bis ins Mark. Mit einem Aufschrei, der dem fiesen Klank-Geräusch ziemlich nahekam, fuhr er aus dem Schlaf … und stellte fest, dass das Geräusch immer noch da war.

Er schrak hoch und kroch zögernd aus dem Bett, wankte zum Fenster und spähte durch die Vorhänge, die sein Vater vor mindestens zehn Jahren genäht hatte. Es war ein düsterer Tag, grau und trist. Die Wolken schoben sich wie eine dickflüssige Masse über den Himmel. Es hatte nicht geregnet, aber über das Gras im Hof kroch Nebel. Entlang des Zauns schien er sich zu klumpen, ansonsten waberte er in dünnen Fäden durch die Luft. Und hinter den Häusern auf der Ostseite der Insel, nahe dem Strand, schlug jemand mit einem sehr großen Hammer auf heißes Eisen.

Die Schmiede.

Isaac liebte die Schmiede. Man hatte sie unten an den Strand gebaut, damit die frische Meeresbrise das Feuer am Brennen hielt. Er verstand nicht ganz, wie sich der Dreck, den sie aus den zerklüfteten Bergen kratzten, in eine zähflüssige rote Masse verwandeln konnte, aber es war ihm eigentlich auch egal. Der Prozess faszinierte ihn. So wie alles, was in der Schmiede passierte. Er liebte die Hitze und den Dampf, die leuchtenden Rottöne und das weiß glühende Spritzen der Funken. Er liebte den Geruch des Ozons und der brennenden Schlacke, den Rauch und das gleichmäßige Metallklirren.

Ja, er wollte das Schmiedehandwerk erlernen und ging nun schon seit fast einem Monat bei Captain Sparks in die Lehre. Bisher war noch niemand anders dazu übergegangen, Rodrigo, den Schmied, Captain Sparks zu nennen, aber Isaac hatte sich vorgenommen, den Spitznamen bis zum Winter durchzusetzen. Er fand ihn genial und ließ sich nicht davon abbringen.

Heute war Isaacs freier Tag – und er hatte etwas vor. Er, Miyoko, Dominic, Trish, Sadina und ein paar andere hatten vor zwei Wochen verabredet, mit den Kajaks raus zum Stone Point zu paddeln, durch die Höhlen zu schwimmen und von den Klippen zu springen. Die Chancen standen gut, dass Dominic sich nackt ausziehen und einen Bauchklatscher vom »Toten Mann«, einem der Felsen, machen würde. Es würde garantiert lustig werden. Außerdem konnte Isaac es sich einfach nicht erlauben, zu Hause zu bleiben. Er würde sich ewig wie ein Weichei fühlen. Er war noch nie bis nach Stone Point rausgekommen. Zwar war das inzwischen verboten – nach drei tödlichen Badeunfällen –, aber irgendwie machte das die Sache nur spannender.

Doch all diese Überlegungen schmälerten nicht seine Sehnsucht nach der Schmiede. Wie von einem unsichtbaren Band fühlte er sich zu diesem Klank-Klank-Klank hingezogen. Für ihn hörte es sich an wie das rhythmische Schlagen eines eisernen Herzens. Er liebte es einfach, Captain Sparks in Aktion zu sehen! Dagegen kam ihm das stundenlange Paddeln, Schwimmen und Springen plötzlich extrem anstrengend vor.

Wie der alte Seemann, der den Lockrufen der Sirenen verfällt (die Geschichte hatte ihm sein Großvater trotz allgemeinen Protestes einmal am Lagerfeuer erzählt), sprang Isaac in die Klamotten und stürmte aus seiner Jurte. Ab zu den Flammen und dem geschmolzenen Metall.

Seine Jurte. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er eine eigene Jurte besaß. Eine Ein-Zimmer-Behausung wie die meisten Leute auf der Insel. Außer denen, die verrückt genug waren, mehr als ein paar Kinder zu haben. Es war schon drei Monate her, dass Isaac die Jurte gebaut und bezogen hatte, aber er war noch immer stolz auf seine Leistung.

Der Himmel war aufgerissen und die Sonne hatte die letzten Wolken und den Nebel vertrieben. Die Temperatur war perfekt. Wo er auch hinschaute, überall waren Leute unterwegs – auf dem Weg zu ihren Äckern, den Läden, der Mühle, dem Lagerhaus, der Fischerei. Die meisten von ihnen waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie keinerlei Notiz von dem jungen Mann nahmen, der zum Strand eilte. Nur Mr Jerry winkte ihm zu. Seine buschigen Augenbrauen sahen aus wie gekämmte Wolle. Und ein paar Jurten weiter zwinkerte ihm Miss Ariana zu – was jedoch völlig unverfänglich war, denn sie gehörte zu den ältesten Inselbewohnerinnen. Sie war nur ein Jahr nach dem Flat Trans geboren. Ihr silbernes Haar und die vielen Runzeln um die Augen erinnerten Isaac an die Großmutter von Rotkäppchen.

»Wohin so eilig, Junge?«, rief sie vom Rand ihres kleinen Rasens, in der Hand den Rundbrief, den Isaacs Freundin Sadina jeden Morgen verteilte. »Brennts irgendwo?«

»Wie immer, in der Schmiede.« Isaac blieb kurz stehen, um einen kleinen ironischen Hofknicks vor ihr zu machen und ihr schwungvoll zuzuwinken. »Und was machen Sie heute so? Haben Sie wieder ein Date mit dem Alten Bratpfanne?«

Sie stieß einen spitzen Schrei aus. »Das wär ja noch schöner! Der Geizknüppel könnte doch nicht mal ’ne Wassermelone umwerben.«

Isaac lachte, dann winkte er ihr zum Abschied noch einmal zu und rannte weiter.

»Lauf, Junge!«, rief sie ihm hinterher. »Lauf wie der Wind!«

Ach, er liebte diese alte Dame.

3   M I N H O

Der Waisenjunge stand reglos hinter der Brüstung der Festungsmauer. Das Gewehr ruhte auf seiner Schulter, der Lauf ragte in den wolkenverhangenen Himmel. Wie schon die letzten elf Jahre starrte er auf die endlosen Felder, die seine Heimat wie ein ausgetrockneter Burggraben umgaben. Es war totes, unfruchtbares Land. Sämtliches Leben und jegliche Vegetation waren mit dem Gift getötet worden. Vor dem Waisenjungen erstreckte sich das Ödland langweilig und grau, wie ein Friedhof ohne Grabsteine, weit wie der Ozean.

Der Waisenjunge hatte keinen Namen.

Zehn Meter entfernt, in nördlicher Richtung, stand eine weitere namenlose Gestalt. Sie hatte kantige Schultern, einen rasierten Schädel und steckte in einem Artillerieanzug. Ein menschliches Geschoss, buchstäblich. Zehn Meter südwärts befand sich noch ein Waisenkind. Allerdings stand es nicht. Es hockte auf einem metallenen Geschützturm, der eine solche Feuerkraft hatte, dass er die Festungsmauer, auf die er montiert war, problemlos hätte zerstören können. Auch dieses Waisenkind besaß keinen Namen.

Zumindest hatte man ihnen ihr ganzes Leben lang erzählt, sie seien namenlos. Vom Tag ihrer Geburt an, nachdem man sie ihren Müttern weggenommen hatte, die allesamt mit Dem Brand infiziert gewesen waren.

Obwohl er sich natürlich nicht daran erinnern konnte, wusste der Waisenjunge, dass man ihn unzählige Male auf jede erdenkliche Weise getestet hatte. So wurde sichergestellt, dass er nicht auch infiziert war. Trotzdem musste er fünf Jahre lang in Quarantäne verbringen, zusammen mit anderen Schicksalsgenossen. Dort ist er herangewachsen, hat gelernt, wurde trainiert. Dann folgten weitere Tests. Daran erinnerte er sich, auch wenn der Tag, an dem die Ergebnisse eintrafen, ein wenig verschwommen war. Nicht, dass das wichtig gewesen wäre. Die Ergebnisse waren negativ ausgefallen. Sonst gäbe es ihn nicht. Man hätte ihn in dieselbe Grube geworfen wie seine Mutter und hundert Tage lang verbrannt.

Obwohl der Junge keinen Namen hatte, hieß er Minho.

Aber das durfte er natürlich niemandem verraten. In seinem ganzen Leben hatte ihn niemand so genannt. Und auch jetzt jagte ihm die Vorstellung, irgendjemand könnte seine Gedanken lesen und es herausfinden, einen Angstschauer über den Rücken. Denn dann würden garantiert auch die Grief Bearer bald erfahren, dass er seine Lebensaufgabe beschmutzt und seine Daseinsberechtigung verwirkt hätte – einfach deshalb, weil er sich selbst einen Namen gegeben hatte. Selbstverständlich würde das bestraft werden, und zwar augenblicklich. Ohne Gerichtsverhandlung. Also musste es ein Geheimnis bleiben. Niemand durfte es je erfahren. Dennoch umklammerte er das Gewehr fester, presste die Lippen zusammen und atmete etwas schwerer – weil er an dieser einen Sache festhielt.

Sein Name war Minho.

Trotz aller Geheimhaltung, um die man sich in der Rest-Nation bemühte, kursierten unter den Waisen Gerüchte über die Zeit, als Der Brand sich auf der Erde ausgebreitet und die menschliche Spezies nahezu ausgelöscht hatte. Niemand konnte genau sagen, welche der Geschichten stimmten und welche bloß Gerüchte waren. Wie so oft lag die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo dazwischen. All die Legenden – über ANGST, über die Cranks, über Heilmittel, Heldentum und Niedertracht, über das Labyrinth und diejenigen, die ihm entflohen waren – ähnelten einem schmierigen Film auf einer Fensterscheibe: Es war unmöglich, scharfe und eindeutige Konturen dahinter auszumachen. Zu erkennen, was Sinn ergab. Aber eine Geschichte stach aus allen anderen heraus, eine Geschichte, die von unerschrockener Tapferkeit erzählte. Und dieser Legende hatte Minho seinen Namen entnommen.

In seiner Vorstellung sah er exakt so aus wie der Minho von den legendären Lichtern. Er redete wie er, dachte wie er, träumte wie er. Und er kämpfte wie er. Er hatte das gleiche tapfere Herz, und deshalb verdiente er den Namen.

Minho.

Aber Tapferkeit hin oder her – der Name musste unter Verschluss bleiben, bis sich die Dinge änderten.

Plötzlich zerriss ein tiefer Hornstoß die Stille. Er hallte vom nächsten Wachturm herüber und ließ die Luft vibrieren. Minho spürte es in seinem Kiefer. Augenblicklich wurde er wachsam, wie er es im Training gelernt hatte. Er verlagerte sein Gewicht und kniete sich hinter die niedrige Brüstungsmauer. Sein Gewehr platzierte er obenauf und brachte es in Schussposition. Er atmete gemäß dem Ruhe-Mantra, das man ihm schon im Alter von fünf Jahren beigebracht hatte, und spähte in die Ferne, über die weiten Felder. Suchte nach dem Auslöser für das Warnsignal vom Wachturm.

Einige Minuten vergingen. Vor ihm erstreckten sich Morast, Erde und verrottete Vegetation.

Geduld. Niemand hatte so viel Geduld wie die Waisen.

Am Horizont tauchte eine Gestalt auf. Sie näherte sich rasch und Minho brauchte nicht lange, um Bescheid zu wissen. Es war ein Reiter auf einem galoppierenden Pferd. Ein Mann, unbewaffnet, in Lumpen gekleidet. Seine langen Haare flatterten um ihn herum, wie ein Knäuel dünner, wuselnder Schlangen. Der Mann nahm den kürzesten Weg, er ritt direkt auf Minho zu. Als er nur noch etwa einen halben Kilometer entfernt war, verlangsamte er sein Tempo, ließ das Pferd erst traben, dann in den Schritt fallen. Schließlich blieb er stehen, ungefähr achtzig Meter vor der Mauer. Er hob beide Hände, als wüsste er genau, wie viele Waffen auf ihn gerichtet waren, und rief:

»Ich bin nicht infiziert! Ich bin getestet und war sechs Monate in Selbstquarantäne! Keine Symptome! Bitte! Ich schwörs! Ich bleibe hier, bis ihr euch selbst davon überzeugen könnt, dass ich nicht krank bin.«

Minho hörte dem Mann zu, obwohl es keine Rolle spielte, was er sagte. Nicht die geringste. Wie fast alles, was sich im Herrschaftsbereich der Rest-Nation ereignete, stand auch der Ausgang dieses Szenarios längst fest. Der Brand war der Teufel, Das Heilmittel war ihr Gott. Minho machte sich bereit, denn er wusste, dass er nicht den Mut hatte, gegen die Bestimmungen zu verstoßen, weder jetzt noch in nächster Zeit.

»Bitte!«, flehte der Mann. »Ich bin so sauber wie …«

Ein einzelner Schuss ertönte und hallte in alle Richtungen.

Aus dem Einschussloch im Schädel des Fremden kräuselte sich ein dünner Rauchfaden. Dann rutschte der Mann von seinem Pferd und fiel mit einem nassen Platschen in den Morast. Ein zweiter Schuss und das Pferd sackte ebenfalls zusammen.

Minho atmete den Schießpulvergeruch ein. Er war stolz auf seine Treffsicherheit. Und bedauerte, dass er sie hatte unter Beweis stellen müssen.

Der Waisenjunge richtete sich wieder auf, stand still und legte sich das Gewehr über die Schulter, wie er es seit elf Jahren treu machte.

Der Waisenjunge hatte keinen Namen.

1   I S A A C

»Wage es bloß nicht!«

Isaac war keine zwanzig Meter mehr vom Zaun der Schmiede entfernt, als seine Freundin Sadina wie aus dem Nichts auftauchte und sich ihm in den Weg stellte. Sie legte die Stirn in Falten und funkelte ihn an. Ihre dunklen Augen besaßen magische Kräfte, man konnte ihrer Besitzerin einfach nicht widersprechen.

Isaac blieb stehen, um nicht Stirn an Stirn mit Sadina zusammenzuknallen.

»Hey«, grüßte er und suchte fieberhaft nach einer Ausrede. Das Holzfeuer trieb ihm beinahe die Tränen in die Augen – und das lag nicht nur am stechenden Schlackegeruch. Es war schon nicht mehr normal, wie sehr er diesen Ort liebte, an dem man so viele großartige Sachen herstellen konnte.

»Wage es bloß nicht, uns heute zu versetzen.« Sadinas Stimme war so hart wie die Eisenstäbe, die in den Wassertonnen der Schmiede abkühlten. »Nächsten Monat wirds kälter und dann fahrt ihr Weicheier garantiert nicht mehr nach Stone Point raus. Heute ist der Tag der Tage! Es ist dein erstes Mal und du kommst mit!« Sie milderte ihren resoluten Auftritt mit einem Grinsen ab.

»Ich fahre also nach Stone Point?«, fragte er.

»Du fährst so was von nach Stone Point – oder du bist tot. Deine Entscheidung.«

Isaac warf einen fast verzweifelten Blick über ihre Schulter in die Schmiede. Es war wirklich verrückt: Er hatte frei und das sollte er eigentlich genießen, so wie man freie Tage nun mal genoss. Aber das Meer machte ihm einfach Angst, und die anderen würden … Schnell verdrängte er den Gedanken. Verdammt, es wurde Zeit, dass er lernte, sich auch außerhalb der Schmiede wohlzufühlen – und seine Familientragödie zu vergessen.

»Ich wollte nur, dass du vorbeikommst und mich lieb bittest«, sagte er schließlich.

Sie lachte schnaubend. »Träum weiter. Ich brauche bloß jemanden, der noch mehr Schiss vor den Klippen hat als ich. Damit ich nicht als Oberschisserin dastehe.«

»Danke, dass du mich abgeholt hast«, sagte er und staunte über seine eigenen Worte. »Ich meine … du weißt schon, danke.«

Er rechnete mit Augenrollen und irgendeinem blöden Spruch, aber sie überraschte ihn wieder. »Komm schon, Mann. Ohne dich hätten wir dort draußen nicht halb so viel Spaß. Zumindest ich nicht.«

Einen Moment schwieg Isaac. Und dann dachte er über all das nach, was er ausgeblendet hatte, seit er mit dem Klank-Geräusch im Ohr aufgewacht war. Sein Gefühlsaufruhr hatte nichts mit Sadina zu tun – schließlich hatte sie eine feste Freundin, verdammt noch mal. Nein, ihre Freundlichkeit hatte einfach nur Erinnerungen wachgerufen. Erinnerungen an all die Katastrophen, die sich in den letzten Monaten in seinem Leben abgespielt hatten und die der wahre Grund dafür waren, warum er sich so verzweifelt in die Schmiedearbeit stürzte. Die Hitze, das Zischen, der Dampf, das Hämmern und überhaupt die ganze schweißtreibende Arbeit hielten ihn vom Grübeln ab.

»Komm schon, wir wollen dich alle dabeihaben. Wir lieben dich, das weißt du!«, fuhr Sadina fort. »Sag alles andere ab. Wir paddeln los, stellen uns blöd an, kreischen vor Angst oder lachen uns tot, was auch immer. Auf jeden Fall werden wir Spaß haben, ich schwörs beim Alten Bratpfanne.«

Isaac nickte. Er war so dankbar für diese Worte, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Sadina zog ihn an sich und umarmte ihn. Dann fasste sie ihn bei der Hand, schenkte ihm das süßeste Lächeln, das er je gesehen hatte, und zog ihn fort von der Schmiede und der Rauchsäule, die aus dem Schornstein aufstieg.

2

Je näher sie der Nordküste der Insel kamen, desto lauter wurde das Rauschen des Ozeans. Die Brandung hier war viel stärker und die Landzunge von gezackten Klippen umgeben. Wenn die Wellen dagegen donnerten, erfüllte Gischt die Luft. Nach jedem Brecher tauchten Hunderte kleiner Wasserfälle aus den schwarzen Felsen aus und hinterließen kleine Tümpel in den Mulden. Die Gegend war wunderschön – zeitlos schön. Trotzdem brach Isaac bei ihrem Anblick das Herz. Von allen Orten auf der Insel war dies der Lieblingsort seiner Mutter gewesen.

Als sie den Pfad erreichten, der sich von der Klippenkante zu den vielen abenteuerlichen Buchten hinunterschlängelte, hielt Isaac noch immer Sadinas Hand. Da entdeckten sie Sadinas Freundin Trish. Sie kraxelte gerade die erste Serpentine hinab, und als Sadina sie rief, drehte sie sich um und rannte zurück. Die beiden waren schon ewig ein Paar. Sie fielen sich um den Hals und küssten sich, dann wandten sie sich Isaac zu und schlossen ihn spontan in ihre Umarmung ein. Er spürte ihre Küsse auf seinen Wangen, und eine volle Minute lang sagte niemand ein Wort.

Plötzlich stand Dominic vor ihnen. Isaac hatte keine Ahnung, von wo er gekommen war.

»Uuuh, ein Fest der Liebe!«, flötete er. »Soll ich mir die Augen zuhalten?«

Dominic klopfte andauernd blöde Sprüche, aber durch die Art, wie er sie vorbrachte, konnte man ihm irgendwie nie böse sein. Isaac hätte das auch gerne gekonnt. Egal mit welchen Beleidigungen Dominic um sich warf, alle Welt liebte ihn.

»Oh, hallo Domi-Dick«, grüßte ihn Trish. Der Spitzname war platt und holprig, aber sie benutzte ihn bei jeder Gelegenheit. Die Chance, dass er sich durchsetzte, stand vermutlich ähnlich schlecht wie bei Captain Sparks.

Immerhin war Dominic klug genug, den Namen geflissentlich zu überhören.

»Oh, hallo Trish. Hey Sadina, Isaac.« Bei jedem Namen nickte und lächelte er, doch bei Isaac wurde seine Miene einen Wimpernschlag lang ernst. Himmel, wie sehr wünschte sich Isaac, dass die anderen sich ihre mitleidigen Blicke sonst wo hinsteckten.

»Immer wieder schön, dich zu sehen«, erwiderte Isaac, aber Dominics spöttischen Tonfall bekam er einfach nicht hin.

»Du sagst es, du sagst es.« Dominic verdrehte theatralisch die Augen, als würden sie gerade das peinlichste Gespräch aller Zeiten führen. Was vielleicht ja stimmte.

»Wer bringt die Kajaks mit?«, fragte Sadina.

»Miyoko schleppt sie gerade runter«, antwortete Trish. »Ich sollte ihr eigentlich helfen … Ich hoffe, sie hat sich nicht das Genick gebrochen.«

»Na, dann nichts wie hinterher«, sagte Sadina.

Und sie machten sich auf den Weg.

3

Miyoko hatte es halb bis nach unten geschafft und dann aufgegeben. Die fünf Kajaks waren mit einem Seil zusammengebunden, und obwohl es bergab ging, war es für eine einzelne Person extrem mühsam, sie zu ziehen.

»Ihr habt wohl gehofft, ich schufte alleine, was?« Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage.

»Logisch«, antwortete Trish. »Und wir hätten besser noch zehn Minuten oben warten sollen. Man lernt nie aus.«

»Wo sind die anderen?«, fragte Miyoko. Sadina hatte Isaac erzählt, dass Carson und ein paar andere Westküstler ebenfalls kommen wollten. Insgesamt sollten sie zehn sein, zwei pro Kajak.

»Vielleicht schon unten«, antwortete Sadina. »Oder sie verspäten sich, wie immer. Egal, lasst uns endlich die Boote runterbringen. Es ist nicht ewig hell.«

»Aber ich hab Zahnschmerzen«, maulte Dominic.

»Was hat das denn damit zu t…?« Trish war so verblüfft, dass sie mitten im Satz verstummte.

»Und pinkeln muss ich auch«, fügte er hinzu.

Immerhin war er – das musste man ihm lassen – der Erste, der sich das Seil schnappte und zu ziehen begann.

4

Eine Stunde verging. Isaac hatte sich damit abgefunden, den Tag nicht in der Schmiede zu verbringen. Auch die überraschende Erkenntnis, warum er sich mit solcher Leidenschaft in die Schmiedearbeit stürzte, hatte er verdaut – samt allen schmerzlichen Erinnerungen, die daran hingen. Es tat einfach gut, in Bewegung und im Gespräch zu sein, zu lachen und die Kajaks zum Ozean hinunterzuwuchten, sie auseinanderzubinden und startklar zu machen. Seit Wochen hatte er sich nicht mehr so wohlgefühlt.

»Ich dachte, du müsstest pinkeln, Kumpel«, sagte Trish.

Dominic hatte sich auf den Vordersitz eines der Kajaks plumpsen lassen und hockte dort wie ein Schüler, der auf den Lehrer wartet.

»Jetzt nicht mehr«, grinste er.

»Du weißt schon, dass der Ozean kein Klo ist?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Fische auf menschlichen Urin stehen.«

»Wow, ich hatte ganz vergessen, auf welch hohem Niveau ihr Ostküstler euch unterhaltet«, bemerkte Carson, der gerade mit ein paar Freundinnen und Freunden von der Westküste auftauchte. Er war ein Riese von einem Kerl und hatte Muskeln an Stellen, wo Isaac keine erwartet hätte. Er sah immer ein wenig unproportioniert aus, als würde er manche Körperpartien stärker beanspruchen als andere. An dem Tag, an dem er alles ins Gleichgewicht gebracht hätte, würde seine Haut wahrscheinlich vor lauter Spannung reißen, was eine ziemliche Sauerei geben würde.

»Beim Runterwuchten der Scheißdinger hätten wir deine Muckis gut gebrauchen können.« Sadina deutete auf seine Bizeps.

»Sorry, tut mir leid, aber Lacey hatte was mit dem Magen und wir mussten auf sie warten.«

Lacey, die ungefähr tausendmal mehr Temperament als Körpermasse hatte, boxte Carson gegen den Bauch. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber offenbar hatte sie ihn trotz seines muskulösen Schutzpanzers kalt erwischt.

»Stimmt das etwa nicht?«, fragte er halb stöhnend, halb lachend, die Hand auf die Stelle gepresst, wo ihre Faust gelandet war.

»Doch, aber das musst du ja nicht allen hier auf die Nase binden, du beklongter Neppdepp.«

Alle kicherten. Lacey setzte alles daran, eine Sammlung von jahrzehntealten Schimpfwörtern wiederzubeleben, die ihr Großvater ihr zusammen mit den Aufzeichnungen aus seiner Zeit bei den Lichtern vermacht hatte. Keiner wusste, warum Lacey das tat – aber es war auf jeden Fall sehr lustig.

»Uff, das schmerzt noch mehr als der Schlag in die Magengrube, Lacey«, sagte Carson.

»Das nächste Mal ziele ich tiefer.«

»Glaub ich dir sofort.«

Trish klatschte kurz in die Hände. Sie hatte sich ein Doppelpaddel unter den Arm geklemmt und sah startklar aus. »Okay, Leute, wie wärs, wenn wir endlich in diese verdammten Boote steigen und zum Point rudern, anstatt über Dominics und Laceys Ausscheidungen zu fachsimpeln?«

Die Gruppe johlte, Isaac eingeschlossen. Sie waren zu zehnt: Alle, die sie gefragt hatten, waren dabei. Isaac, Sadina, Trish, Dominic and Miyoko von der Ostküste. Carson, Lacey, Boris, Jackie und Shen aus dem Westen. Isaac kannte die Westküstler nicht so gut, aber sie schienen ziemlich cool zu sein. Boris war ein ruhiger, nachdenklicher Typ mit raspelkurzen Haaren und riesigen Ohren. Jackie hatte die dunkelste Haut, die Isaac je gesehen hatte, und dazu ultralange, zu einem dicken Zopf zusammengebundene Haare. Shen war laut und forsch und ein wahres Energiebündel – obwohl er total mager war, das krasse Gegenteil von Carson. Mit neun so grundverschiedenen Leuten wird es garantiert nicht langweilig, dachte Isaac.

»Du fährst mit mir«, sagte Sadina zu Isaac und deutete auf das Kajak, in das sie bereits ihren Rucksack geworfen hatte.

»Willst du nicht mit Trish paddeln?«, fragte er zögernd, obwohl er eigentlich nichts lieber wollte, als mit Sadina in einem Boot zu sitzen.

»Machst du Witze?«, spottete Sadina. »Trish und ich im selben Boot – wir würden uns sofort zerfleischen!«

Trish verkniff sich einen Kommentar und zuckte nur die Achseln.

»Okay, Leute, Schluss jetzt mit dem Rumgelaber«, sagte Dominic. »Auf gehts.«

Isaac ließ sich auf den Vordersitz des Kajaks gleiten, das Sadina ihnen gesichert hatte. Dabei lief ihm etwas Wasser in die Shorts. Ihm stockte der Atem, so eisig war es. Wie konnte es sein, dass sich der Ozean nicht erwärmte, obwohl die Sonne den ganzen Tag auf ihn herunterbrannte? Isaac begann zu schlottern.

Sadina plumpste auf den Sitz hinter ihm und stieß sie mit dem Paddel ab. Dann tauchte sie das Paddel auf der rechten Seite ein. »Weißt du noch, wies geht?«

Ich bin kein Idiot, hätte Isaac gern geantwortet, aber er fürchtete, beleidigt zu klingen. Deshalb begnügte er sich mit einem Nicken und tauchte sein Paddel links ein. Sadina gab den Rhythmus vor und sie schossen so schnell aufs Meer hinaus, dass keines der anderen Boote mithalten konnte.

Nein, ich hab keine Angst vor dem Wasser, beschwor er sich. Ich hab keine Angst vor dem Wasser.

5

Stone Point lag an der Spitze einer langen, zerklüfteten Halbinsel, die sich von der Hauptinsel erst nach Norden und dann in einem Bogen nach Westen wölbte. Die fünf Kajaks waren von der Westküste der Halbinsel aufgebrochen und durchquerten nun die offene Bucht zwischen der Hauptinsel und der langen felsigen Landzunge. Obwohl sie höchstens ein paar Hundert Meter vom Land entfernt waren, spürte Isaac einen Adrenalinrausch. Als könnten sie jeden Moment von der unermesslichen Weite des Ozeans verschluckt werden. Als stünde ihre Aussicht, einen schrecklichen nassen Tod zu sterben, bei 10,3 Prozent. Er kam sich fast so wagemutig vor wie die Lichter von einst.

»Direkt vor Stone Point gibts eine kleine Bucht«, rief ihm Sadina von hinten zu. »Da müssen wir rein und die Kajaks vertäuen, damit sie in den Wellen nicht hin und her schlagen. Von dort aus wandern wir dann zu den Klippen und Höhlen.«

»Klingt gut.« Isaac bemühte sich um eine feste Stimme. Von Klippen springen? Keine der Klippen im weiten Umkreis sah auch nur ansatzweise so aus, als sollte man von ihr herunterspringen. Und wer wusste schon, was alles in diesen Höhlen hauste? Fledermäuse? Haie? Krokodile? Eben war er sich noch mutig vorgekommen, doch jetzt fühlte er sich entsetzlich beklommen.

Es dauerte nicht lange und sie erreichten die kleine Bucht, von der Sadina gesprochen hatte. Sie war umgeben von hoch aufragenden schwarzen Felsen. Sie steuerten ihre Kajaks auf den flachen Kieselstrand und banden die Boote an einen dicken Baum, der aussah, als sei er schon seit den napoleonischen Feldzügen tot. Abgesehen davon gab es nicht das kleinste bisschen Vegetation.

»Okay«, sagte Trish, als sie sich vor dem Eingang einer Höhle versammelten, den Isaac alleine niemals bemerkt hätte. Von oben rechts nach unten links senkte sich ein Überhang herab und tauchte die etwa zwei Meter hohe Felsöffnung in absolute Dunkelheit. »Folgender Plan: Wir zwängen uns durch diesen Tunnel, der auf die nördliche Seite führt. Wenn eine Welle reinrauscht, kriegt bloß keine Panik, sonst schluckt ihr literweise Salzwasser. Haltet euch einfach fest und wartet, bis das Wasser wieder rausfließt.«

Inhalt

Cover

James Dashner: Maze Cutter. Das Erbe der Auserwählten

Wohin soll es gehen?

Epigraf

Prolog – Stimmen aus dem Staub

Teil 1

73 Jahre später

Kapitel 1 – Die Dreieinigkeit des Schreckens

1 Alexandra

2 Isaac

3 Minho

Kapitel 2 – Der Ausflug

1 Isaac

2

3

4

5

6

Kapitel 3 – Alte Namen

1 Alexandra

2 Minho

3 Isaac

4

5

6

Kapitel 4 – Die Hüterin der Ruine

1 Alexandra

2 Minho

3

4 Alexandra

Kapitel 5 – Die Schlummerrunde

1 Isaac

2

3

4

5

6

7

Teil 2

Wasser und Land

Kapitel 6 – Unterhalb und oberhalb

1 Alexandra

2 Isaac

3

4

5

6

Kapitel 7 – Kalter Abgrund

1 Minho

2 Alexandra

3 Jackie

Kapitel 8 – Enthüllungen im Lampenschein

1 Isaac

2

Kapitel 9 – Wege kreuzen sich

1 Minho

2 Alexandra

3 Jackie

4 Minho

5 Alexandra

6 Jackie

7 Minho

8 Isaac

Teil 3

Einen Monat später

Kapitel 10 – Der Fluss

1 Jackie

2

3 Minho

4 Isaac

5

Kapitel 11 – Das Brückenskelett

1 Alexandra

2 Minho

3 Jackie

4 Isaac

5 Minho

6 Jackie

7 Isaac

8 Minho

9 JACKIE

10 ISAAC

Kapitel 12 – Monstermaschinen

1 Alexandra

2 Isaac

Teil 4

Alte Welt, Neue Welt

Kapitel 13 – Im Bauch des Monsters

1 Jackie

2 Minho

3 Isaac

4 Jackie

5 Minho

6 Isaac

7 Jackie

8 Isaac

Kapitel 14 – Alles läuft nach Plan

1 Alexandra

2 Isaac

3 Minho

4 Jackie

5 Isaac

6 Minho

7 Jackie

8 Isaac

9 Minho

Kapitel 15 – Neue Cranks

1 Isaac

2 Jackie

3 Minho

4 Isaac

5 Jackie

6 Minho

7 Isaac

8 Minho

9 Jackie

10 Isaac

11 Minho

Kapitel 16 – Die Zukunft der Zukunft

Isaac

Zwei Behältnisse

Alexandra

James Dashner

Birgit Niehaus

Impressum

Cover

Impressum

Textbeginn

Inhalt