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Gefährliche Reise ins Ungewisse Im Kampf gegen Mensch und Natur suchen Isaac und die Inselbewohner nach Antworten. Ihr Weg führt sie zur Gottheit – doch die Dreieinigkeit ist gebrochen. Statt auf Klarheit, stößt die Gruppe auf weitere Geheimnisse, die alles, was die Jugendlichen bisher zu glauben wussten, hinterfragen lassen. Während sich die Cranks zum Angriff rüsten und Alexandras Herrschaft ein vorschnelles Ende nimmt, verschwimmt die Grenze zwischen Gut und Böse. Die Zukunft wird neu geschrieben – und am Horizont zeichnet sich eine Gefahr ab, die bedrohlicher ist als alle Cranks zusammen. Band 2 der Spin-off-Trilogie zur MAZE-RUNNER-SERIE!
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Aus dem Englischen von Birgit Niehaus
Im Kampf gegen Mensch und Natur suchen Isaac und die verbliebenen Inselbewohner nach Antworten über das Virus. Ihr Weg führt sie zur mysteriösen Gottheit, inzwischen angeführt von Alexandra – doch deren heilige Dreieinigkeit ist gebrochen. Statt auf Klarheit stößt die Gruppe auf weitere Geheimnisse, die alles, was die Jugendlichen bisher zu glauben wussten, infrage stellen. Während sich die Cranks zum Angriff rüsten und Alexandras Herrschaft ins Wanken gerät, verschwimmt die Grenze zwischen Gut und Böse. Die Zukunft wird neu geschrieben – und am Horizont zeichnet sich eine Gefahr ab, die bedrohlicher ist als alle Cranks zusammen …
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Viten
Nicholas war keiner, der die Gefahr scheute, aber er jagte ihr auch nicht hinterher. Außer heute Nacht. Um die neueste Variante Des Heilmittels zu testen, musste er direkt in die Hölle gehen – oder in den Crank-Palast, wie man die Hölle in Denver, Colorado, nannte. Er zog die Kapuze seines schwarzen Umhangs tiefer, damit niemand, kein Mann, keine Frau und kein Crank, seine Gesichtszüge erkannte. Während er das heilige Tor durchschritt, spielte er in der rechten Tasche seines Umhangs mit zwei Spritzen – er ließ die Kolben wie chinesische Klangkugeln umeinanderkreisen. Ganz entspannt. KLICK-KLACK, KLICK-KLACK …
Wimmerlaute und Schmerzensschreie erfüllten den düsteren Ort. Aus Crank-Gruben loderten Feuer. Rauch hing in der Luft. In den dunklen Ecken lagen Leichen. Ganz gleich, wie oft Nicholas diese finsteren Orte aufsuchte (und er konnte von sich behaupten, sie alle aufgesucht zu haben) – die abgrundtiefe Verzweiflung und die qualvollen Schreie gingen ihm immer wieder durch Mark und Bein. Sobald er einen Crank-Palast betrat, dachte er an arme Seelen, die über offenem Feuer gegrillt wurden.
Die Spritzen in seiner Tasche kreisten weiter, KLICK-KLACK, KLICK-KLACK, ein Tanz der Möglichkeiten für einen der Insassen dieses ersten aller Crank-Paläste. Gibt es einen besseren Weg, die Vergangenheit vor sich selbst zu retten, als nach Colorado zu kommen? Nicholas spürte, wie sich ihm jemand von hinten näherte, und blickte sich um. Ein Crank stolperte vorbei. Diesmal musste er vorsichtiger vorgehen. Die letzte Versuchsperson hatte beinahe unerwünschte Aufmerksamkeit erregt. Für Das Heilmittel eigneten sich nur diejenigen, die einen reinen, unverfälschten Geist hatten. Und selbst deren Wille und mentale Verfassung konnten sich noch von einem Augenblick zum anderen ändern, wie sein jüngstes Experiment schmerzlich gezeigt hatte. Wenn eine Person im Sterben lag, wurde sie zu einer anderen Version ihrer selbst – und zwar nicht nur der Teil von ihr, der sich langsam in einen Crank verwandelte. Dank seiner telepathischen Gabe wusste Nicholas, dass ein Mensch einem fast alles erzählen würde, was man hören wollte, wenn das Ende nahte. Gab man ihm jedoch die Chance zu leben … dann erwachten die alten Überzeugungen, Ängste und Wünsche schlagartig wieder – und zwar so schnell, dass es sich jeder Kontrolle entzog. So schnell, dass es nicht mehr sicher war.
Diesmal musste Nicholas wählerischer sein.
Er brauchte jemanden, der schon hinüber war, voll hinüber.
Wenn es ähnlich funktionierte wie beim letzten Mal, musste er lediglich dafür sorgen, dass der geheilte Crank mit seiner wiederhergestellten DNA unter seiner Aufsicht blieb, und zwar jahrelang und lückenlos. Nicholas hatte keine Ahnung, wie lange Das Heilmittel wirkte. Ein Jahr? Zwei? Ein Leben lang? Er wusste nur, dass die Heilmittel-Variante, die er heute dabeihatte, unvorstellbar schnell wirkte. Aber vielleicht ließ die Wirkung eines Tages auch genauso schnell wieder nach? Es waren noch viele Studien nötig.
Ein vorbeiwankender Crank mit noch halbwegs menschlichen Zügen stöhnte schwer. Vielleicht stöhnte er vor Hunger, vielleicht aus Trauer, weil ihm irgendwelche Erinnerungen gekommen waren. Auf jeden Fall war es das Stöhnen eines Menschen, dem sein Verstand entglitt. Nicholas ging weiter. Nein, er würde sich nicht für einen Crank entscheiden, der noch laufen konnte. Er musste einen auswählen, der mehr tot als lebendig war. Einen, der auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen krümmte. Der dem Tod nahe genug war, um das Versprechen zu halten, das er Nicholas gab. Für immer.
Er hatte Das Heilmittel in so vielen verschiedenen Varianten an unzähligen Cranks getestet, dass er den Überblick verloren hatte. Natürlich verwahrte er irgendwo zwischen den Fachzeitschriften seiner Bibliothek die Beobachtungsprotokolle all dieser Tests. Die Aufzeichnungen der unzähligen Experimente, mit denen er die Richtigkeit seiner Hypothese beweisen wollte: dass die DNA-Veränderungen, die der Brand auslöste, umkehrbar waren und dass Das Heilmittel, das den Brand beseitigte, gleichzeitig eine Fülle schlummernder DNA im menschlichen Körper reaktivierte. Genome, die sich im Laufe der Zeit in eine Sackgasse entwickelt hatten und von der Wissenschaft jahrhundertelang als »Junk-DNA« abgetan wurden. Nicholas verkniff sich nur mit Mühe ein Lächeln, als er an diese Entdeckung dachte. Angesichts von etwas so Monumentalem wie Der Evolution musste er sich doch wie ein Gott fühlen, oder nicht?
Aber das Gefühl verflog schnell. KLICK-KLACK ließ er die Kolben in seiner Tasche kreisen, während er die Cranks ringsum beobachtete. Ein fehlgeschlagenes Experiment war ein fehlgeschlagenes Experiment. Erfolge waren nur vorübergehend. Er gab der Villa regelmäßig Rückmeldung, was sie bei der nächsten Charge ändern mussten. Nebenwirkungen, Symptome im fortgeschrittenen Stadium, Todesfälle. Die meisten starben eines natürlichen Todes – nicht jede DNA war umprogrammierbar und nicht alle Körper vertrugen Das Heilmittel. Der Tod gehörte nun einmal zum wissenschaftlichen Fortschritt, selbst dann, wenn er von den Forschern absichtlich herbeigeführt wurde. Wie zum Beispiel bei Nicholas’ letztem Test, als der auserwählte Crank quer durch den Crank-Palast posaunt hatte, wie toll Das Heilmittel bei ihm wirkte: »Ich kehre zurück unter die Lebenden. Meine Hände, seht! Er hat mich geheilt! Dieser Mann ist ein Gott!« Damit hatte er Nicholas in Lebensgefahr gebracht. Und nicht nur das: Das Heilmittel selbst wäre gefährdet, wenn sich seine Existenz herumsprach. Zwar hatte auch dieser Crank versprochen, folgsam und verschwiegen zu sein, aber sobald seine Lebensgeister zurückkehrten, waren seine Gedanken nur so aus ihm herausgesprudelt. Nicholas war nichts anderes übrig geblieben, als das Leben, das er gerade erst geschenkt hatte, wieder zu beenden. Wie gewonnen, so zerronnen, könnte man sagen. Deshalb wollte er Das Heilmittel diesmal an jemandem testen, der bereits hinüber und leichter zu beeinflussen war. Manipulierbar. Kontrollierbar.
Als Nicholas auf eine Gasse hinter den westlichen Gebäuden zusteuerte, setzte Regen ein. Blinzelnd blickte er auf einen Crank am Boden, dessen Gliedmaßen so schlaff waren wie die eines ausgeweideten Rehs. Leider kauerte über dem Crank noch eine zweite Gestalt, eine Frau, und Nicholas konnte nicht zwei Personen gleichzeitig spritzen. Er zog die Kapuze seines Umhangs noch ein Stück tiefer, aber der Regen verstärkte seine telepathische Kraft, wodurch die Gedanken der Frau nicht zu überhören waren. Könnte ich dir doch nur deine Schmerzen abnehmen. Wäre doch bloß ich infiziert und nicht du. Nicholas blieb im Schatten der Gasse stehen und betrachtete die beiden.
Was zum Teufel hat eine Gesunde im Crank-Palast zu suchen? Hat sie keine Angst vor dem Brand?
Die Frau schien um ihre längst verlorene Liebe zu trauern. Nicholas war zwar auch nicht infiziert, aber sein Aufenthalt hier war zielgerichtet und von kurzer Dauer. Außerdem konnte er schon deshalb unbesorgt sein, weil er Testperson seiner eigenen, kleinen Privatstudie gewesen war – einer Studie, von der die Villa nichts wusste. Er hatte als reine Vorsichtsmaßnahme eine der Heilmittel-Varianten genommen. Damit wäre er hoffentlich ein für alle Mal vor dem Brand geschützt. Mit den starken Nebenwirkungen, zu denen so verrückte und beängstigende Dinge wie Telepathie gehörten, hatte er allerdings nicht gerechnet.
Die menschliche DNA war eine seltsame Sache. Einen Crank machte Das Heilmittel gesund. Bei einem Nicht-Infizierten stellte es DNA-Strukturen wieder her, die im Laufe der Menschheitsgeschichte ins Leere oder in eine Sackgasse gelaufen waren. Damit reaktivierte das Mittel ein unglaubliches Potenzial an verloren gegangenen oder nie entdeckten Fähigkeiten – und eröffnete völlig neue Möglichkeiten.
Doch Nicholas’ telepathische Fähigkeiten waren gleichzeitig auch sein Fluch.
Er traute niemandem mehr.
»Können Sie uns helfen?«, fragte die Frau, eng an den Crank geschmiegt, der sich vor Schmerzen wand. Bitte. Bitte sagen Sie uns, dass Sie uns helfen können, las Nicholas ihre Gedanken. Er fühlte sich plötzlich nackt, als könnte sie durch seinen schwarzen Umhang Das Heilmittel in seiner Hand sehen.
»Helfen Sie uns«, bat sie.
Die Zuversicht in ihrer Stimme war völlig unbegründet, doch irgendwie fühlte sich Nicholas von der Frau angezogen. Von ihrem Optimismus. Und ihrem Mut. Er löste sich aus dem Schatten und trat näher. »Wie kommst du darauf, dass ich euch helfen kann?«
»Weil Sie nicht infiziert sind.« Ich sehe doch, dass Sie anders sind.
Der Regen wurde so stark, dass Nicholas geradezu mit ihren Gedanken tanzte.
»Und warum glaubst du das?«, fragte er.
»Ihre Augen.« Bitte helfen Sie uns. Ich würde alles tun, um ihn zu retten.
Nicholas beugte sich vor und stellte eine unzumutbare Frage. »Würdest du dein Leben für ihn opfern?«
»Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern.
In dem Moment änderte er seine Meinung. Er würde in dieser Nacht etwas Ungeplantes tun.
Etwas, das er noch nie zuvor getan hatte.
Er würde Das Heilmittel nicht nur dem elenden Crank dort auf dem Boden injizieren, sondern auch seiner furchtlosen Gefährtin. Und dann würde er sie beide studieren, sie in seinen Führungskreis aufnehmen und die Zukunft Tag für Tag neu gestalten.
Ein Infizierter und eine Gesunde …
»Ich würde alles tun, um ihn zu retten. Bitte, sagen Sie mir einfach, was ich machen soll.« Die Frau flüsterte, aber sie weinte nicht.
Nicholas betastete die beiden Spritzen in seiner Tasche. »Ich verlange, dass du schweigst. Nicht nur jetzt, sondern auch, nachdem wir diese Mauern hinter uns gelassen haben, und jeden einzelnen Tag danach. Egal, was geschieht.«
»Sie haben mein Wort.« Ihre Gedanken und Absichten stimmten überein. »Können Sie ihn retten?«
»Ich kann es versuchen. Aber ich werde auch dir eine Spritze geben müssen, falls du eine asymptomatische Infektion hast.« Nicholas würde ihr nichts von der DNA-Restrukturierung erzählen, die das Mittel bei ihr in Gang setzen würde. Er wollte sehen, wie sich die besonderen Gaben und Fähigkeiten bei ihr auf natürliche, ungesteuerte Weise entwickelten – falls sie das überhaupt taten.
»Bitte, ich mach alles, versprochen. Sie sind ein Geschenk der Götter.«
»Gott ist nichts weiter als eine fixe Idee, wir alle sind Götter. Das wirst du bald merken.« Nicholas klopfte sanft auf die Innenseite ihres Arms, um die Vene zu finden. Er fragte sich, in welche neue Reihenfolge Das Heilmittel die Basen ihrer DNA-Stränge wohl bringen würde. »Wenn wir hier fertig sind, begleitet ihr mich nach New Petersburg, damit ich euch weiter beobachten kann.«
»Nach Alaska? Ist das nicht ein bisschen weit von Colorado?«
»Mit dem Berk nur ein Katzensprung.« Nicholas drückte ganz langsam auf den Spritzenkolben, um ihren Körper nicht zu schnell mit Dem Heilmittel zu fluten. Er lächelte und sah, wie sich ihr Gesicht entspannte. »Aber wenn ich gleich deinen Partner spritze, darfst du keinen Laut von dir geben. Nicht den kleinsten Mucks. Wenn ich mehr als einen Erleichterungsseufzer von dir höre, muss ich …«
»Natürlich.« Sie sah zu, wie Nicholas sich dem Crank zuwandte, dessen Haut so dick war, dass die Nadel kaum hindurchkam. »Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Nicholas.«
»Ich danke Ihnen, Nicholas. Wir werden für immer in Ihrer Schuld stehen. Ich heiße …«
»Spielt keine Rolle.« Nicholas erhob sich vom nassen Boden und steckte die leeren Spritzen zurück in seine Tasche. KLICK-KLACK … »Von nun an wirst du Alexandra heißen. Und er Mikhail.«
Ich weiß nicht, was mich erwartet, nachdem ich hinüber bin. Vielleicht treffe ich meinen »Schöpfer«, wie mal jemand auf der Lichtung gesagt hat. Oder ich treffe einfach nur mich selbst wieder … mein ursprüngliches, komplettes Ich, mit meinen Erinnerungen, meinem richtigen Namen und allem. Vielleicht fügen sich am Ende die zerbrochenen Teile des Lebens ja wieder zusammen.
Vielleicht ergeben sie dann einen Sinn. Vielleicht auch nicht.
Vielleicht ist es ein bisschen von beidem.
NEWTS TAGEBUCH
Die Flammen des nächtlichen Lagerfeuers tanzten und schlugen hoch. Sie saßen um das Feuer herum, wie damals nach einem Festessen auf der Insel, fand Isaac. Als wäre alles wie immer. Wie früher. Dabei war alles anders. Vollkommen anders. Am deutlichsten sah er die Veränderung Jackie an. Das Leuchten in ihren Augen war erloschen, seit Lacey und Carson tot waren. Oder vielleicht auch, seit sie einen glatzköpfigen Halb-Crank mit bloßen Händen erwürgt hatte. Jedenfalls schien sich Jackie mit jeder Meile, die sie der Küste näher kamen und sich von Lacey und Carson und dem kaputten Grief Walker entfernten, auch innerlich von der Gruppe zu entfernen.
Sie sprach nicht über das, was in den letzten Wochen geschehen war, und Isaac verstand das sehr gut. Er hatte auch nie über den Verlust seiner Mutter, seines Vaters und seiner Schwester sprechen wollen. Worte machten das Geschehene real. Aber die Leere, die sie in seinem Leben hinterlassen hatten, war ihm schon real genug. Isaac lächelte Jackie vorsichtig zu – seine Art, ihr zu zeigen, dass er mit ihr fühlte. Dass er verstand, was sie durchmachte. Er wusste, was es hieß, geliebte Menschen zu verlieren. Er kannte das Gefühl, das der Alte Bratpfanne einmal als »Überlebensschuld« bezeichnet hatte – die Gewissheit, noch zu leben, während geliebte Menschen tot waren. Jackie lächelte vorsichtig zurück.
»Hey, wollt ihr mal eine Spinne bellen hören?« Dominic stand auf und streckte sich, und bevor Miyoko ihn aus dem Lagerfeuerkreis schubsen konnte, machte er es schon wieder: Er ließ einen fahren. Seit sie den Berks entkommen waren, stellten Dominics Blähungen die größte Gefahr dar, der sie ausgesetzt waren.
Trish funkelte ihn wütend an. Sie hatte eine Regel: In der Nähe des Lagerfeuers wird nicht gefurzt. »Irgendwann steckst du uns noch alle in Brand mit deinen Gasen!« Genervt rückte sie näher an Sadina und verschränkte ihre Finger mit denen ihrer Freundin. Seit Sadinas und Isaacs Entführung klammerte sich Trish noch stärker an sie. Isaac verstand auch das. Er war dankbar, dass er die Gruppe hatte, aber richtig verankert fühlte er sich nicht. Ihm war als könnte jederzeit ein Sturm aufziehen und alles auseinanderwehen. Vielleicht lag es daran, dass sie draußen schliefen, als wären sie auf der Flucht. Er vermisste die Geborgenheit der Jurte, die er sich auf der Insel gebaut hatte. Er ließ seinen Blick über die Bäume ringsum schweifen. Alles Baumaterial. Es würde einige Zeit dauern, aber er könnte hier einen Unterschlupf für die ganze Gruppe errichten.
»Danke fürs Abendessen, Bratpfanne.« Isaac sammelte die Schalen ein, die sie aus Holz geschnitzt hatten, und half beim Abwaschen. Er hatte den Alten Bratpfanne noch nie so glücklich erlebt wie hier in ihrem Lager in den Bergen, wo er für die ganze Truppe aus Kaninchenfleisch und irgendwelchen Pflanzen Mahlzeiten zauberte, sofern seine Kräfte es zuließen.
Minho lehnte sich zurück und streckte sich. »Du hast sogar noch Roxys Eintopf verfeinert, dabei hätte ich darauf gewettet, dass das unmöglich ist.«
»Er hat irgendein nadeliges Kraut aus dem Wald reingetan«, sagte Roxy, die Isaac beim Abwaschen half.
»Das Kraut heißt Rosmarin. Keine Ahnung, warum ich mich an den Namen erinnere.« Der Alte Bratpfanne rückte näher ans Feuer.
Roxy nahm Isaac die Holzschalen ab und stapelte sie ineinander. »Ich geh gleich morgen früh etwas weiter östlich auf Nahrungssuche. Mal sehen, was ich dort finde.«
»Ich komme mit und versuche, ein paar Eichhörnchen zu erwischen.« Orange zupfte an den lästigen Kletten, die sich bei der Jagd in ihren Haaren verfangen hatten. »Autsch! Diese kleinen Dinger tun echt weh!«
Unkraut, Gestrüpp und Lianen besaßen in diesem Teil der Welt ihre eigenen Waffen. Daheim auf der Insel gab es außer den Klippen, dem Meer, den Quallen und dem Wetter nichts Bedrohliches. Hier draußen lauerten unzählige Gefahren. Und jeden Tag, so schien es Isaac, kamen neue hinzu. Ganz zu schweigen von herumstreunenden Cranks und riesigen Tötungsmaschinen.
»Wie gehts deinem Insektenbiss?«, fragte Isaac Dominic.
»Ich glaub nicht, dass mich was gebissen hat. Eher gestochen.« Dominic musterte seinen Bizeps. »Das Teil sah aus wie eine Biene, nur mit viel längerem Stachel. Können Griever schrumpfen und fliegen?« Alle außer dem Alten Bratpfanne lachten.
»Über Griever sollte man keine Witze reißen«, sagte er, und sofort verstummten alle aus Respekt vor dem grauhaarigen Veteranen.
»Vielleicht beißen die Bienen hier?«, sagte Miyoko.
»Ich seh aber keine Bissspuren.« Dominic untersuchte seinen Arm noch genauer.
Jetzt kam auch Roxy herüber und begutachtete die Rötung. »Hm … Ameisen waren es nicht, sonst hättest du mehr von diesen Stellen. Klingt, als könnte es eine Riesenhornisse gewesen sein. Das wäre nicht gut.«
»Eine Riesenhornisse? Was heißt das? Fällt mir jetzt der Arm ab?« Dominic sah Roxy erschrocken an, und Isaac konnte nicht sagen, ob er ihr wirklich glaubte. »Sind die tödlich?«
»Das Ding hat bestimmt nur deine Blähungen aus dir gesaugt!« Trish lachte, bis Sadina sie mit dem Ellbogen anstieß.
Roxy musste an sich halten, um nicht ebenfalls loszuprusten. »War nur ein Scherz. Es wird wahrscheinlich noch ein paar Tage wehtun, aber es ist nichts Schlimmes.« Liebevoll tätschelte sie Dominics Arm. »Ein Glück, dass das Biest dich nur ein Mal erwischt hat.«
Miyoko und Trish kämmten mit ihren Fingern vorsichtig durch Oranges Haare. Die stacheligen Kletten hatten ihre roten Locken in eine Art Vogelnest verwandelt. Isaac war froh, dass Orange und Minho die Gruppe anführten, obwohl sie ihn manchmal noch mehr einschüchterten als Miss Cowan. Ohne Orange wären sie längst alle tot.
Er hockte sich wieder ans Feuer und ließ die Umgebung auf sich wirken. Der Wind frischte auf. Die stiebenden Funken erinnerten ihn an die Schmiede zu Hause. Was würde er nicht dafür geben, wenn er seine Lehre fortsetzen könnte! Obwohl, wahrscheinlich war selbst das Inselleben nicht mehr dasselbe.
Das Lagerfeuer schenkte Isaac ein Gefühl der Sicherheit, und der Rauch überdeckte ihre Ausdünstungen, wenn sie länger nicht im Fluss gebadet hatten. Die Windböen nahmen zu.
»Ist euch auch aufgefallen, dass es nachts jetzt immer kälter wird?« Isaac hatte das erst vor ein paar Tagen gemerkt, aber es war eindeutig: Kurz vor der Dämmerung sank die Temperatur merklich und jede Windböe dauerte länger als die vorige.
»Klar doch«, sagte Dominic.
Miss Cowan trat näher ans Feuer. »Zu Hause war es nie so kalt.«
Die flackernden Flammen zeichneten Schatten auf ihr Gesicht und ließen sie noch angespannter wirken. Seit dem Temperaturabfall vor einigen Nächten war sie beunruhigend still. Wahrscheinlich, dachte Isaac, lastete die Entscheidung, sich gegen den Inselrat gestellt und die Insel verlassen zu haben, immer noch auf ihr. Besonders jetzt, wo Wilhelm und Alvarez tot waren. Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass die Reise mit so vielen Toten enden würde?
»Glauben Sie, zu Hause gehts allen gut?«, fragte Isaac sie, aber Miss Cowan antwortete nicht. Sie verzog keine Miene. Nach und nach drehten sich alle Köpfe zu ihr.
»Miss Cowan?«, hakte Isaac nach.
Selbst Orange, Minho und Roxy, die die Insel gar nicht kannten, warteten gespannt auf ihre Antwort, aber Miss Cowan starrte nur in die Flammen.
»Mom?«, fragte Sadina über das Feuer hinweg.
Da blinzelte Miss Cowan. »Was ist, Liebes?«
»Glauben Sie, dass es zu Hause allen gut geht?«, fragte Isaac erneut.
Miss Cowan sah ihn an, als hätte er ihr eine Fangfrage gestellt. »Ja, denen gehts gut. Da bin ich mir sicher.« Sie betonte das »denen« so übermäßig, als ginge es ihnen, den elf Menschen rund um das Feuer, nicht gut. Beklommenheit erfasste ihn.
»Wie viele Berks gibts bei euch auf der Insel?«, fragte Minho, während er Äste ins Feuer warf.
Die Insulaner sahen sich an.
»Bis wir damit geflogen sind, wussten wir nicht mal, was ein Berk ist«, antwortete Trish schließlich.
»Wir haben keine Berks. Es war ja nicht vorgesehen, dass wir unsere Insel je verlassen …« In Miss Cowans Worten schien Bedauern mitzuschwingen, und Isaac spürte, wie die Stimmung zu kippen drohte. Aber schließlich riss sich Miss Cowan aus ihrer Trance. »Mir ist bewusst, dass Lacey, Carson, Wilhelm und Alvarez noch am Leben wären, wenn wir die Insel nicht verlassen hätten.« Sie atmete langsam tief ein. »Aber wir waren es der Menschheit schuldig, unseren Beitrag bei der Suche nach einem Heilmittel zu leisten. Hätte die Mission Erfolg gehabt, hätten wir Hunderttausende Leben retten können. Vielleicht sogar Millionen. Wer weiß.«
»… falls es überhaupt noch so viele Menschen gibt«, warf Roxy grimmig ein.
»Wir können sie immer noch retten«, sagte Miyoko, während sie Oranges Haare zu einem Zopf flocht. »Die Villa, von der Kletter sprach, ist nicht weit von dem Ort entfernt, wo wir an Land gegangen sind, oder? Vielleicht ein paar Kilometer?« Sie überlegte kurz. »Ich glaube, Kletter sprach von einem zweitägigen Marsch, bevor … äh …«
Isaac wusste, warum Miyoko verstummte: Die Formulierung »bevor Kletter die Kehle aufgeschlitzt wurde« ging einem nun mal nicht so leicht über die Lippen.
»Ja, wir waren wohl schon ganz in der Nähe dieser Villa«, schaltete sich Sadina ein. »Deshalb hat Letti uns ja auch entführt und uns immer wieder eingebläut, den Leuten dort und vor allem Kletter nicht zu trauen.«
»Ach, aber Letti und Timon traust du?« Isaac konnte nicht glauben, dass seine beste Freundin ihre beiden verrückten Entführer für zuverlässigere Ratgeber hielt. Zugegeben, eine Zeit lang hatte auch Isaac gehofft, Letti und Timon würden sie vor etwas schützen wollen. Immerhin hatten sie Sadina und ihm erlaubt, Spuren zu hinterlassen, damit ihre Freunde ihnen folgen konnten. Auf der anderen Seite hatten die beiden nie richtig erklärt, was die sogenannte Evolution war.
»Ich bin dafür, dass wir nach Hause zurückkehren«, sagte Dominic, und die ganze Gruppe verstummte, einschließlich Minho und Orange, deren Zuhause sich nach einem Albtraum anhörte.
Das Feuer knisterte. »Oder wir begleiten Minho nach Alaska«, sagte Roxy betont munter, aber bei dem Wort Alaska sprang der Alte Bratpfanne empört auf. Er hatte so viel von Alaska gesehen, dass es für mehrere Leben reichte.
»Ich bin nicht so alt geworden, um am Ende zum Labyrinth zurückzukehren. Lieber sterbe ich hier, als einen Fuß in diese gottverlassene Gegend zu setzen. Es gibt Wunden, die man nicht aufreißen sollte.« Nachdem er seinen Unmut geäußert hatte, setzte er sich wieder.
Isaac fragte sich, wie es wohl wäre, tatsächlich nach Hause zurückzukehren. Als sie damals sämtliche Inselbewohner mit vergiftetem Wein betäubt hatten und überstürzt mit der Maze Cutter aufgebrochen waren, mochte das zu dem Zeitpunkt die beste Lösung gewesen sein, aber wie sollte Miss Cowan die Aktion bei ihrer Rückkehr erklären? Würde sie lügen und alles auf Kletter schieben? »Sie hat euch vergiftet und uns gekidnappt.« Oder würde sie mit der Wahrheit herausrücken: »Hey, wir haben versucht, die Welt zu retten, aber es hat sich alles als etwas komplexer herausgestellt. Eine Horde Wissenschaftler wollte uns töten, die Cranks haben sich weiterentwickelt, aber dank zweier Waisen aus der Rest-Nation konnten ein paar von uns entkommen. Keine große Sache. Jetzt sind wir jedenfalls wieder da!«
Und was, wenn ihre Rückkehr auf die Insel weitere Neugierige anlocken würde? Typen von Kletters Schlag? Leute, die hinter ihnen allen, vor allem aber hinter Sadina her gewesen waren? Obwohl es doch die Absicht der damaligen Lichter war, die Immunen und ihre Nachkommen vor Entdeckung zu schützen. Daher kam es Isaac egoistisch vor, die Daheimgebliebenen erneut in Gefahr zu bringen. Aber was war die Alternative? Den Rest des Lebens auf der Flucht zu sein?
»Also gut. Sollen wir abstimmen?« Miss Cowans Frage verwandelte die nächtliche Lagerfeuerrunde unversehens in eine Art Ratssitzung. Auf der Insel hatte Isaac nie Lust gehabt, sich an irgendwelchen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Ihn hatte immer nur die Schmiede interessiert, das Erlernen des Handwerks. Aber jetzt hatte er das Gefühl, etwas sagen zu müssen, ihm lag so viel auf der Zunge.
»Ja, ich bin dafür, dass wir abstimmen.« Dominic war aufgestanden. Er klang plötzlich ganz fremd.
Isaac war sich nicht sicher, was sie tun sollten, wenn sie die Küste erreichten: in der Wildnis bleiben und eine Jurte bauen? Umkehren und sich zu Hause für den heimlichen Aufbruch entschuldigen? Nach Alaska weiterlaufen, um eine Mission zu beenden, die sie nicht durchschauten? Das Labyrinth von einst aufsuchen? Sich zu der ominösen Villa durchschlagen, um dort irgendwelche ominösen Wissenschaftler zu treffen? Es waren einfach zu viele Optionen. Zu viele, um durchzublicken. Wie so oft.
Sadina stand jetzt ebenfalls auf. »Mom, können wir nicht einfach …?«
»Nein. Wir hatten zu Hause eine Demokratie und wir werden sie hier nicht abschaffen. Wir stimmen per Handzeichen ab. Jeder meldet sich bitte nur ein Mal«, sagte Miss Cowan.
Ihre Worte wunderten Isaac etwas. Bisher war die Reise nicht sonderlich demokratisch gewesen, ging es doch ausschließlich um Sadina und die Hoffnung, ihr Blut könnte die Welt verändern. Und auch die Betäubung von Andersdenkenden war nicht gerade der Inbegriff von Demokratie.
Er sah Sadina an. »Tut mir leid«, murmelte er.
Während dieser Reise hatte es einige Momente gegeben, in denen Sadina sich freute, ihre Mutter dabeizuhaben – aber dieser Moment gehörte definitiv nicht dazu. Warum konnten sie die Angelegenheit nicht ein paar Tage lang besprechen, die verschiedenen Optionen abwägen und sich alle Meinungen anhören? Warum musste bei ihrer Mutter immer alles in einer Hauruckaktion münden? Genau wie diese Wein-Betäubungsnummer im Amphitheater. Wie kam man bloß auf die Idee, die ganze Stadt zusammenzutrommeln, nur um alle Anwesenden zu betäuben, sich dann davonzuschleichen und so zu tun, als wäre man gekidnappt worden? Sadina kapierte das nicht.
Wenn die Wahrheit nicht infrage kam, warum waren sie dann nicht einfach nachts in See gestochen und hatten eine Nachricht über ihre Absichten hinterlassen? Wenn die Suche nach einem Heilmittel so gut und edel war, warum dann diese Geheimniskrämerei? Eigentlich hätte es egal sein müssen, dass einige Mitglieder des Inselrats anderer Meinung waren. Das kam immer wieder vor. Ständig hatte irgendjemand irgendwelche Einwände. Verdammt, Sadina wollte manchmal einfach nur in Ruhe überlegen. Mit gesundem Menschenverstand. So wie jetzt. Warum konnten sie nicht eine Nacht über die Frage schlafen und morgen in aller Ruhe darüber diskutieren?
Aber ihre Vorstellung von gut und angemessen spielte leider keine Rolle. Darum hatte sich ihre Mutter noch nie geschert.
Auf das, was als Nächstes geschah, hatte Sadina ebenso wenig Einfluss wie auf die Beschaffenheit ihres Blutes. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Freunde eine gute Entscheidung trafen – wie auch immer die ausfiel. Letti und Timon hatten Kletter für so abgrundtief böse gehalten, dass sie sie bei erstbester Gelegenheit umgebracht hatten. Isaac und alle anderen hätten sie ebenfalls töten können, dann hätten sie mit ihr, Sadina, leichteres Spiel gehabt. Aber sie hatten sie alle am Leben gelassen. Und arbeiteten die beiden nicht auch irgendwie mit der Rest-Nation zusammen? Jedenfalls hatten sie auch von denen niemanden getötet, obwohl sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Bei Kletter dagegen hatten sie nicht lange gefackelt. Warum? Diese Frage ging Sadina nicht aus dem Kopf, und es gab nur eine Antwort: Weil die Villa schlecht war.
»Wähl das Gleiche wie ich«, flüsterte sie Trish zu.
»Wo immer du hingehst, ich gehe mit.« Trish schlang ihre Finger so fest um die Hand ihrer Freundin, dass Sadinas Knöchel schmerzten.
»Und wann immer du mich brauchst, bin ich für dich da«, flüsterte sie zurück.
Sadinas Mutter räusperte sich. »Lasst uns das wie eine ordentliche Abstimmung bei uns auf der Insel handhaben. Das heißt: keine Gefühlsausbrüche und keine Streitereien. Wie auch immer die Wahl ausfällt, wir halten uns daran, und damit basta. Verstanden?«
Alle in der Gruppe nickten.
Sadina hätte nicht sagen können, ob sie die Frau in ihrer Mitte in diesem Moment eher als Mutter oder als Vorsitzende des Inselrats empfand, aber letztlich war es auch egal: Die »Basta!«-Attitüde legte ihre Mutter in beiden Rollen an den Tag, worauf Sadina gut verzichten konnte. Und überhaupt: Was, wenn beim Votum der Mehrheit nicht die beste Option herauskam?
»Alle, die dafür sind, hierzubleiben, heben die Hand«, rief ihre Mutter.
Bratpfannes Arm schnellte nach oben, als wollte er eine Sternschnuppe vom Himmel pflücken. Jackie hob ebenfalls die Hand. Aber mehr Stimmen kamen nicht hinzu, und als die Abstimmungsleiterin auf die beiden zeigte, um zu signalisieren, dass sie ihr Votum registriert hatte, senkten Bratpfanne und Jackie schnell die Arme.
»Warum willst du hierbleiben?«, flüsterte Dominic Jackie zu, aber Sadinas Mutter bat um Ruhe.
»Alle, die dafür sind, nach Hause zurückzukehren, heben die Hand«, sagte sie als Nächstes.
Dominic meldete sich als Einziger und schaute verstimmt zu Jackie, als ob es etwas geändert hätte, wenn sie seiner Meinung gewesen wäre. Sadina sah zu Isaac hinüber. Sie war sich sicher gewesen, dass er ebenfalls heimkehren wollte. Er hatte in den letzten Tagen über nichts anderes als eine eigene Schmiede gesprochen und wie er am Point fischen und Miss Ariana, die Inselälteste, besuchen würde.
Sadina nickte ihm zu. Dann wollte er wohl mit ihr stimmen, und dafür war sie ihm dankbar. Warum war sie bloß so nervös? Sie holte tief Luft, und ihr Nacken knackte. Unglaublich, dass Bratpfanne, der alte Mann, tatsächlich für immer hierbleiben wollte. Sie war vom Schlafen auf dem harten Boden wie gerädert – und sie war jung. Der kleinste Stein, jedes Lehmklümpchen weckte sie nachts auf. Trish hatte ihr zwar eine Schlafmatte aus Gras geflochten, aber die half nicht wirklich. So viel Gras konnte auf dem Festland gar nicht wachsen, um sie hier zu halten. Selbst die nackten Holzplanken und klapprigen Pritschen auf der Maze Cutter waren bequemer gewesen.
»Nächste Abstimmung.« Sadinas Mutter räusperte sich erneut. Als würde sie dadurch offizieller klingen, ha! »Alle, die dafür sind, nach Alaska zu gehen, heben die Hand.«
Minho, Orange und Roxy meldeten sich sehr entschieden. Wenn es Sadina an einen Ort verschlagen würde und sie sich für brenzlige Situationen Verstärkung mitnehmen dürfte, würde sie, ohne zu zögern, Minho und Orange wählen. Das bestärkte sie in dem Gefühl, dass sie nach Alaska musste. Letti und Timon hatten vielleicht nicht den kompletten Durchblick gehabt, aber eines wussten sie mit Sicherheit: Die Villa würde ihnen nicht weiterhelfen, jedenfalls nicht so, wie Kletter es sich vorgestellt oder wie sie es ihnen vorgegaukelt hatte. Sadina drückte Trishs Hand und schaute ihr in die Augen. Zwei ineinander verschränkte Hände gingen in die Höhe, denn Trish ließ Sadina nicht los – nicht einmal beim Abstimmen. Weil Trish bedingungslos zu ihrer Freundin hielt. Selbst dann, wenn Sadina falschlag.
Aber was war mit Isaac? Sadina sah ihn verwirrt an. Träumte er? Sie wartete, dass er die Hand hob, aber nichts dergleichen passierte.
Und dann kam Miss Cowan schon zur letzten Option. »Alle, die dafür sind, zur Villa zu gehen, heben die Hand.«
Entgeistert beobachtete Sadina, wie Isaac, ihre Mutter und Miyoko sich meldeten. Weshalb, bitte schön, glaubten ihr bester Freund und ihre Mutter, sie wüssten besser als sie, was mit ihrer DNA geschehen sollte? Und hatten sie vergessen, dass Kletter die gesamte achtköpfige Crew der Maze Cutter getötet hatte, bevor sie auf der Insel gelandet war? Wie konnten sie das ausblenden? Was, wenn Kletter einfach nur eine begnadete Lügnerin war, eine Meisterin der Manipulation? Und wenn die acht Menschen, die sie getötet hatte, auch alle Wissenschaftler waren? Es gab einfach noch zu viele offene Fragen, und für Sadina schien ein Marsch nach Alaska und ein Treffen mit der Gottheit die einzige Möglichkeit, Antworten zu bekommen. Echte Antworten.
Sadina schüttelte Trishs Hand ab. »Euer Ernst? Die Villa? Ihr wisst schon noch, dass die Wissenschaft an allem schuld ist? Das Virus. Der Brand. ANGST, die Abteilung Nachepidemische Grundlagenforschung, Sonderexperimente Todeszone. Das Labyrinth. Die Tests. Und ihr stimmt dafür, denen zu vertrauen, die genau dort arbeiten?« Sadina war fassungslos, dass sie die Einzige war, die Dinge infrage stellte. Isaac und ihre Mutter ließen die Hände sinken, aber sie sagten nichts.
Was fiel denen ein! Sadina jagten so viele Fragen durch den Kopf und hielten sie nachts wach. Was wäre zum Beispiel, wenn … wenn die Wissenschaftler vorhätten, ihre ganze Gruppe mit irgendetwas Neuem zu infizieren und auf die Insel zurückzuschicken, damit alle Insulaner, bis hin zur alten Miss Ariana, sich ansteckten? Was, wenn es gar nicht darum ging, jemanden zu heilen? Was, wenn sie einfach nur neue Testpersonen brauchten? Was, wenn die Versuche niemals enden würden? Wem konnte Sadina eigentlich noch trauen?
»Nun, ich denke, dann ist es entschieden. Eure Wahl ist auf Alaska gefallen«, verkündete ihre Mutter wenig begeistert.
»Und wenn wir zwischen den beiden Optionen mit den meisten Stimmen noch einmal abstimmen …?«, schlug Dominic vor, aber Sadinas Mutter unterbrach ihn.
»Wir sind hier nicht beim Mittsommer-Schwimmen auf der Insel. Das ist kein Ausscheidungswettkampf. Das sind die Regeln der Demokratie. Wir gehen nach Alaska.«
Obwohl sich Sadinas Wunschoption durchgesetzt hatte, fand sie die Art, wie sie zu der Lösung gekommen waren, ätzend. Warum fühlten sich Isaacs, Jackies und Miyokos Stimmen wie Verrat an?
Sadina beobachtete, wie der Alte Bratpfanne Newts Tagebuch hervorholte. Jackie starrte gedankenverloren ins Feuer. Isaac und Roxy waren mit dem Abräumen des Abendessens fertig und alle außer Minho wirkten so, als lastete die Entscheidung noch schwer auf ihnen.
»Okay, dann also auf nach Alaska.« Minho warf eine Handvoll Reisig aufs Feuer, das zustimmend aufzulodern schien.
»Alles in Ordnung?«, fragte Trish Sadina.
»Ja«, antwortete sie, ohne nachzudenken.
»Sieht aber nicht so aus …«
Sadina hielt inne und dachte nach. Trish hatte recht, ihre Freundin kannte sie besser als jeder andere Mensch.
»Warum hab ich das Gefühl, dass dies das letzte Mal ist, dass wir alle zusammen sind? Dass nicht alle von uns nach Alaska gehen werden?« Sie wartete darauf, dass Trish das Gesicht verzog, so wie immer, wenn Sadina besonders dramatisch war, aber das tat sie nicht.
»Komisch, das Gefühl hab ich auch«, antwortete sie stattdessen.
Sie stand auf ihrem Balkon und beobachtete staunend, wie die Aurora borealis die gesamte Farbpalette ausschöpfte und sich am Firmament ausbreitete. Das milchige Grün des Polarlichts verschwand nie ganz, es lag wie ein Schleier über der Stadt. Doch heute Abend leuchtete der Himmel in allen Farben des Regenbogens. Nachdem sie so viele Jahre nicht zu sehen gewesen waren, schlängelten sich intensive blaue, orangefarbene und violette Lichtbänder vor ihr. Rosatöne hingen am weitesten unten und zogen am Lila, und bei genauerem Hinsehen entdeckte Alexandra sogar einen roten Wirbel. Er schwebte direkt über ihr, als wollte er etwas ankündigen. Konnte das sein? Ja. Es war so weit.
Alaska war bereit für Die Evolution.
Und auch Alexandra war bereit.
Das Schauspiel über ihr war geradezu perfekt. Die tanzenden Himmelslichter waren nach Aurora, der römischen Göttin der Morgendämmerung, und nach Boreas, dem Gott der Nordwinde, benannt. Es war fast Mitternacht, aber für Alexandra war es der Anbruch eines neuen Tages. Der Anbruch Der Evolution. Sie inhalierte die kalte alaskische Luft und stellte sich vor, wie geschockt die Menschen früher beim Anblick der Lichter gewesen sein mussten. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren genoss Alexandra den Luxus von Zeit und Wissen. Und im Gegensatz zu ihren Vorfahren brauchte Alexandra keine Märchen zu erfinden und den Einwohnern Alaskas von Göttern und Streitwagen zu erzählen. Sie konnte einfach die Wahrheit sagen: Der Himmel war kein Ort für Götter. Die einzigen Götter, die auf der Erde gebraucht wurden, lebten auch dort. Wissenschaftler. Akademiker. Und diejenigen, die mit dem unendlichen Wissen der Welt gesegnet waren – zum Beispiel sie selbst.
Obwohl sich die Aurora borealis noch nie zuvor so farbenprächtig gezeigt hatte, genügte Alexandra ein flüchtiger Blick auf den leuchtenden Himmel, um im Handumdrehen mit allen nötigen Informationen versorgt zu sein. Mit sämtlichen Fakten über das Ereignis – und ein Ereignis war es in der Tat. Die Sonnenwinde waren aktiver als je zuvor. Unabhängig von den Sonneneruptionen schleuderten die koronalen Massenauswürfe Teilchen über Millionen von Kilometern ins All und in das Magnetfeld von allem, was ihnen in die Quere kam. Tanzten diese Teilchen mit Sauerstoff aus der unteren Atmosphäre, entstanden wallende grüne Lichtvorhänge. Vermischten sich die magnetischen Winde mit Stickstoff, leuchteten sie in hellen Blautönen. Und die seltenen violetten Lichter entstanden im Zusammenspiel mit den Wasserstoffmolekülen aus der Atmosphäre.
Eine solche Pracht zu sehen und sie nicht zu verstehen, wäre eine … Sünde.
Ja, eine Sünde.
Alexandra richtete ihr Augenmerk auf die smaragdgrünen Streifen, die sich weiter und intensiver ausbreiteten als die anderen Farben – genau so, wie sie bald die stärkste Stimme der Gottheit sein würde. Das ehemals trübe Grün trug jetzt funkelndes Leben in sich. Hach, wenn Nicholas und Mikhail ihren Triumph über Alaska doch nur miterleben könnten – so wie sie jetzt den Lichtreigen.
Obwohl, in gewisser Weise schaute Nicholas ja sogar zu. Sie drehte sich um und öffnete die Balkonvorhänge gerade so weit, dass Nicholas’ abgetrennter Kopf in seinem versiegelten Glaskasten die Aussicht genießen konnte. Und weil seine Lider entfernt worden waren, traten seine Augäpfel besonders stark hervor. Sein Ausdruck wirkte ähnlich unverschämt wie in den Momenten, wenn er sich angemaßt hatte, anderer Leute Gedanken zu lesen. Beim Anblick seiner Gesichtsfarbe und der schuppigen, aufgesprungenen Haut am Hals drehte sich Alexandra der Magen um. Wie viel Druck Mannus wohl ausgeübt hatte, um all die Muskeln, Sehnen und Knochen zu durchtrennen.
Durchaus amüsant, dass der Hauptgott jetzt nur noch aus einem Haupt besteht, dachte Alexandra. Der Gelehrte in Nicholas hätte an dem Wortspiel bestimmt seine Freude gehabt. »Aber sobald der Rest von dir gefunden wird, fliegst du hier raus.«
Sie stellte den gläsernen Kasten auf den Tisch. Nie hätte sie geglaubt, dass Nicholas’ Leiche so lange unentdeckt bliebe, aber wegen all der geheimen Reisen und Ausflüge, die er ständig unternahm, war seine Abwesenheit noch niemandem aufgefallen. Seit Wochen nicht. Niemand vermisste ihn. Sie jedenfalls vermisste es nicht, dass er sich ständig in ihre Gedanken einmischte. Nicholas’ Tod gab ihr nicht nur die Freiheit, endlich ihre Pläne zu verwirklichen, er befreite ihren Geist auch von seiner Aufdringlichkeit. Wie sehnte sie den Tag herbei, an dem sie ihn ein für alle Mal los sein würde. An dem sie nicht mehr in sein verwesendes Gesicht starren musste. Aber vorerst würde sie den Kopf noch behalten – so lange, bis Mikhail klar war, dass sie jetzt das Sagen hatte.
Sie war die Eine, die über allen stand. Die Göttin der neuen Morgenröte.
Bunte Lichtstreifen schlängelten sich leuchtender als je zuvor über ihr, und unter Alexandras Balkon versammelten sich scharenweise Pilger, um das Phänomen zu bestaunen. Sie zeigten zum Nachthimmel, ihre Arme waren von einer mickrigen Ernte mager und die senfgelben Gewänder vom Alltag schmutzig. Aber dieser Moment gab ihnen Hoffnung. Und sie, Göttin Romanov, würde ihre Hoffnung erfüllen.
Ein Klopfen an der Tür dröhnte ihr in den Ohren. Hastig schüttelte sie das Geräusch aus ihrem Kopf, huschte zum Glaskasten und bedeckte Nicholas’ Überrest mit einem Tuch. »Was gibts?«
Flint drückte glückselig die Tür auf. Er schnaufte, als würde er keine einzige Treppenstufe mehr schaffen. Im Labyrinth damals hätte er nicht einen Tag überlebt. Manchmal überlegte Alexandra, Flint einfach für ein, zwei Wochen nach unten in die Ruine zu schicken, nur um ihre Annahme bestätigt zu sehen.
»Nun, was ist? Du schnaufst, als würde die Welt in Flammen stehen.«
»Das Licht. Die Himmelslichter!«, rief Flint strahlend und deutete auf den Balkon, als ob Alexandra keine Augen im Kopf hätte.
»Ja, natürlich, die Lichter sind wieder da.« Alexandra schob Nicholas’ zugedeckten Kopf näher an den Balkon, damit er verfolgen konnte, wie sie die Welt veränderte. Sie schmunzelte. Wie oft hatte Nicholas sie angefleht, sich zu gedulden. Nicht so ungestüm zu sein. »Die Lichter sind ein Zeichen für Die Evolution. Alles entwickelt sich weiter, Flint. Alles evolviert. Dies ist erst der Anfang.«
»Die Menschen auf den Straßen weinen. Sie sprechen davon, Opfer darzubringen.«
»Sei nicht albern«, fuhr Alexandra ihm über den Mund.
»Ich habe Sorge, dass es heute Nacht noch mehr Aushöhlungen geben wird.« Flint stand in der Tür, weder ganz drinnen noch draußen. Genauso verhielt er sich im Leben, er schwankte zwischen Glauben und Angst.
Doch Alexandra hatte keine Zeit für Zauderei. Nach Jahren des Wartens stand Die Evolution unmittelbar bevor.
»Nicholas sollte die Menschen beruhigen und …«, begann Flint, doch wieder fiel sie ihm ins Wort.
»Ich werde das Volk beruhigen. Sag den Pilgern, dass ihre Göttin morgen zu ihnen spricht und ich im Falle von nächtlichen Aushöhlungen persönlich dafür sorgen werde, dass die Opfernden als Nächstes geopfert werden. Kriegst du das hin?«
Er nickte. Er verbeugte sich. Er ging.
Alexandra riss den Deckel von Nicholas’ Glaskasten.
»Genieß die Aussicht.«
Es war so kalt, dass sie zitternd aufwachte. Sie zog an der Grasmatte herum, die Trish ihr gemacht hatte, aber es wurde nicht bequemer. Ihre Abstammung von Sonya hatte sie bislang nie als Last empfunden. Okay, manchmal hatte sie sich auf der Insel als etwas Besonderes gefühlt. Hin und wieder war sie auch bewundert worden und immer behütet, aber nichts davon hatte sie auf ihrer Reise zum Festland begleitet.
Seit sie angekommen waren, fühlte Sadina sich unsicher und verletzlich. Sie hatte Angst, ihr Leben könnte ausgelöscht werden, bevor sie herausgefunden hatte, warum ihre Familien-DNA so gefragt war. Würden noch mehr ihrer Blutsverwandten leben, dann würde sich die Last auf mehrere Schultern verteilen – auf Brüder, Schwestern, Cousinen und Cousins. Aber Sadina war das einzige Kind ihrer Generation, genau wie schon ihre Eltern. Leise erhob sie sich von ihrem provisorischen Schlaflager neben Trish und ging an ihrer Mutter, dem Alten Bratpfanne und Minho, die alle noch schliefen, vorbei zum Feuer. Minho behielt selbst nachts seine Stiefel an. Waisensoldaten hatten komische Angewohnheiten.
Im Schneidersitz hockte sich Sadina neben die Flammen, rieb sich die Schläfen und blickte in die Glut. Plötzlich schreckte ein Rascheln links in den Bäumen sie auf. Hastig drehte sie sich um und zählte die dunklen schlafenden Körper. Dabei tastete sie nach irgendetwas, das als Waffe taugte. Sie fand einen Stein. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Nacht. Das Rascheln wurde lauter. Was zum Teufel war das? Ein Tier? Und wenn ja, wie groß? Minho hatte Geschichten über die Tiere erzählt, die sie dort, wo er herkam, jagten. Tiere, größer als alles, was sie auf der Insel kannten. Und Isaac hatte erzählt, wie viel Kraft es brauchte, um einen Halb-Crank zu töten. Sadina glaubte nicht, dass sie etwas Größeres als eine Spinne töten konnte. Das war auch noch nie nötig gewesen. Was, wenn sie gezwungen wäre, etwas mit ihrem eigenen Körpergewicht zu zermalmen? Das Rascheln kam näher. Sadinas Blick wanderte zu Minhos Stiefeln. Vielleicht sollte sie ihren Stein zu Minho werfen, um ihn aufzuwecken? Er besaß Pistolen und Messer und für ganz brenzlige Situationen ein altertümliches Wurfgeschütz, das explodierte, wenn man einen Stift herauszog. Sadina fuhr zusammen – an der Baumgrenze zeichnete sich ein großer, gebückter Schatten ab. Sie kniff die Augen zusammen, aber im schwachen Feuerschein konnte sie nicht mehr als den Umriss einer Person erkennen – und dass sie etwas Langes, Dünnes hielt. Eine Waffe? Was sonst? Ihr Herz fing an zu rasen und pumpte all das besondere Blut durch ihren Körper. Panik erfasste sie.
»Lass dich nicht stören«, flüsterte der Schatten, während er sich näherte. »War nur pinkeln, wie jede Stunde. Und ich hab gleich was zum Nachlegen mitgebracht.« Der Alte Bratpfanne trat in den Lichtschein, noch bevor ihr müdes Gehirn seine Stimme zuordnen konnte.
»Mist, hast du mich erschreckt!« Sadina atmete erleichtert aus und ließ den Stein fallen.
»Na, das ist ja ein Kompliment. Tut mir leid, wollte dich nicht erschrecken. Warum bist du auf?«
»Ich konnte nicht schlafen. Zu aufgeregt wegen Alaska.«
»Wem sagst du das.« Bratpfanne brach einen Stock entzwei und schob die beiden Hälften in das verlöschende Feuer. Es dauerte nicht lange und die Flammen loderten wieder hell auf.
»Tut mir leid.« Sadina wusste nicht, was sie sonst erwidern sollte. »Ich habe natürlich all die alten Lichter-Geschichten gehört, aber um ehrlich zu sein: Die klangen immer nach Geschichtsunterricht – und nicht nach wahrem Leben. Bis ich den ersten Crank gesehen habe …«
»Wegen der Cranks musst du dir keine Sorgen machen. Die Zeit hat ihnen zugesetzt, so gut sie konnte«, spottete er. »Nein, die Menschen sinds, vor denen du dich in Acht nehmen musst.«
Sadina zog die Knie an ihre Brust. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich meine … wie soll ich das erklären …?« Bratpfanne holte sich einen Holzklotz und setzte sich neben sie. In Gedanken versunken rutschte er hin und her. »Seit Jahrzehnten ist die Insel unserer Rückzugsort. Ein sicherer Hafen«, sagte er schließlich. »Wer in der dortigen Sicherheit geboren wurde, kennt das Böse draußen in der Welt nicht. Das ist einerseits gut, das ist ja der Sinn eines sicheren Ortes, andererseits …«
»Du meinst die Leute in der Villa?«
»Ich weiß nicht, ob die Leute in der Villa gut oder schlecht sind. Ich weiß nur, dass sie uns nicht so gut kennen, wie wir einander kennen. Und wir wiederum kennen ihre Beweggründe nicht.« Bratpfannes Stimme klang durch sein Flüstern noch eindringlicher. »Oder die Beweggründe der Gottheit.«
»Wenn sie wirklich den Brand heilen wollen, ist das doch gut, oder?«
»Ava Paige wollte den Brand auch heilen«, stieß er hasserfüllt hervor.
»Es ist wahrscheinlich wie bei allem: Selbst wenn die Beweggründe gut sind, können schlechte Handlungen daraus folgen. Oder die Beweggründe ändern sich …« Sadina legte den Kopf in den Nacken und suchte den größten Stern am Himmel. Jetzt, wo sie über all das nachdachte, konnte sie das Einschlafen vergessen. Was, wenn die Gottheit gute Absichten hatte, sie aber schlecht umsetzte? So wie ihre Mutter mit ihrem »Akt der Demokratie« sicher die besten Absichten gehabt hatte, dadurch aber die Stimmung in der Gruppe zerstört hatte.
»Jeder Mensch, von hier bis ins Jenseits, hat seine Beweggründe. Wenn du jemanden kennenlernst, versuche, seine Motive zu durchschauen. Versuche herauszufinden, was ihn umtreibt.« Bratpfanne warf einen weiteren Zweig ins Feuer. »Weißt du, warum mir Cranks keine Angst mehr machen? Weil sie über ihre Urtriebe nicht hinausdenken können. Aber Menschen … Menschen sind manipulativ. Getrieben von Machtwillen, Gier und Motiven, die dir und mir fremd sind.«
Sadina wünschte, die Dinge wären entweder schwarz oder weiß – Heilung oder keine Heilung. Sie hasste diese ganzen Zwischentöne. Sie hasste die Grauzone, in der Menschen wie Ava Paige lebten. »Glaubst du, es war idiotisch von mir, für Alaska zu stimmen?«
Bratpfannes »Nein« kam so schnell, dass Sadina nicht wusste, wie ernst er es meinte.
»Bin ich naiv, wenn ich meinen beiden Kidnappern vertraue?«, fragte sie und hoffte auf eine ehrlichere Antwort, obwohl sie ahnte, dass ihre Frage ziemlich lächerlich war.
»Ich kann dir nicht sagen, wem du vertrauen sollst.« Jetzt sprach Bratpfanne genauso bedächtig wie ihre Großmutter Sonya. Ältere Leute hatten eine Art zu reden, die dem Gesagten irgendwie mehr Gewicht verlieh. Wahrscheinlich, weil so viel Lebenserfahrung in ihren Worten steckte.
Sadina hätte gerne einen Funken von Sonyas Weisheit besessen, dann wäre ihr vielleicht vieles klarer. Aber ihre Großmutter war schon vor Jahren gestorben. Nachdenklich blickte sie ins Feuer. »Woher wusstest du, wem du vertrauen kannst?«, fragte sie schließlich.
Cover
James Dashner: Godhead Complex. Aufbruch nach Alaska
Wohin soll es gehen?
Prolog – Vor 31 Jahren Die Nacht Der Evolution
Teil 1
Natürliche Auslese
Kapitel 1 – Aufbruch
1 ISAAC
2 SADINA
3 ALEXANDRA
Kapitel 2 – Verwandtschaft und Feuerholz
1 SADINA
2 MINHO
Kapitel 3 – Geheime Mission
1 ISAAC
2
3
Kapitel 4 – Sicherheit und Göttlichkeit in Zahlen
1 MINHO
2 ALEXANDRA
Kapitel 5 – Lieber Nicholas
1 MIKHAIL
2 ALEXANDRA
3 MIKHAIL
Kapitel 6 – Das Feuer erlischt
1 SADINA
2 ALEXANDRA
3 MINHO
Teil 2
Glaube und Überzeugungen
Kapitel 7 – Kontrollpersonen
1 ISAAC
Kapitel 8 – Eine neue Reise
1 MINHO
2 ISAAC
3 ALEXANDRA
4
Kapitel 9 – Die Unendliche Lichtung
1 MIKHAIL
2
Kapitel 10 – Bibliothek der Geheimnisse
1 ALEXANDRA
Kapitel 11 – Überstürzte Entscheidungen
1 SADINA
2
3 ISAAC
Kapitel 12 – Weise Worte
1 XIMENA
Kapitel 13 – Wilde Tiere
1 MIKHAIL
Kapitel 14 – Das Schicksal wartet schon
1 SADINA
2 MINHO
Teil 3
Direkte Beobachtung
Kapitel 15 – DER Alarm
1 ALEXANDRA
2
3
Kapitel 16 – Kriegspfad
1 MIKHAIL
2
3 MINHO
Kapitel 17 – Reines Glück
1 ISAAC
2
3 XIMENA
4 MINHO
Kapitel 18 – Halt verlieren
1 MIKHAIL
2 ALEXANDRA
3 SADINA
4 MINHO
5
Kapitel 19 – Geisterhäuser
1 ISAAC
2
3 XIMENA
4 ISAAC
5 MINHO
6 SADINA
7 XIMENA
8
Teil 4
Die Grenzen der Paradoxie
Kapitel 20 – Himmel in Brand
1 ALEXANDRA
2
3 MIKHAIL
4 SADINA
Kapitel 21 – Gefesselte Zuhörer
1 ISAAC
2 MINHO
3 ISAAC
Kapitel 22 – Brennende Gerechtigkeit
1 ALEXANDRA
2 XIMENA
3 SADINA
4 ALEXANDRA
Kapitel 23 – Zweifel und Fassungslosigkeit
1 MINHO
2 XIMENA
3
4 ISAAC
5 XIMENA
6 ISAAC
Kapitel 24 – Stillstand im Sumpf
1 SADINA
2 ALEXANDRA
3 MINHO
Kapitel 25 – Die Letzten
1 XIMENA
2 ISAAC
Epilog – Ein letzter Brief
James Dashner
Birgit Niehaus
Impressum