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Die autonome Szene, die seit den 1970er Jahren als Teil der Anti-Atomkraft-, radikalen Frauen- und Hausbesetzer-Bewegung und schließlich durch ihre antifaschistischen Aktivitäten auf sich aufmerksam macht, steht seit einigen Jahren erneut im Mittelpunkt politischer und medialer Beobachtung. So heißt es im Verfassungsschutzbericht 2009: "Dem Verhalten der Linksextremisten will die Bundesregierung entschlossen entgegentreten. Dabei muss das Augenmerk noch stärker darauf gerichtet werden, die Leitfiguren der Szene zu identifizieren, Kommunikationswege aufzudecken und das daraus erwachsende Gewaltpotenzial perspektivisch zu bewerten." Die im Kern etwa 8-10.000 Menschen umfassende Szene gilt als die am schwersten zu erforschende Szene überhaupt. Selbst ihr nahestehenden PublizistInnen und WissenschaftlerInnen ist es bis heute nicht gelungen, biographische Interviews mit einer nennenswerten Zahl von Szene-Angehörigen zu führen. Das Archiv der Jugendkulturen, das innerhalb der letzten 15 Jahre intensive Kontakte in fall alle relevanten Jugendkulturen aufgebaut hat, ist nun erstmals in der Lage, ein derartiges Projekt zu realisieren. "Die Autonomen" ist in erster Linie ein Interview-Band, der die Haltung und Einstellungen derjenigen dokumentiert, die sich dazugehörig fühl(t)en.
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von Klaus Farin
Originalausgabe
© 2015 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin;[email protected] Rechte vorbehalten1. Auflage Januar 2015
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Layout & Cover
Maximilian Bornmann und Dorothée Schwartzmann, sehen und ernten – Werkstatt für Konzeption und Gestaltung
Druck
werbeproduktion bucher
ISBN
Print: 978-3-943774-39-9PDF: 978-3-943774-40-5EPUB: 978-3-943774-41-2
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von Klaus Farin
Klaus Farin, geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin. Nach Tätigkeiten als Schülerzeitungsredakteur und Fanzine-Macher, Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist nun freier Autor sowie Lehrbeauftragter und Vortragsreisender in Schulen und Hochschulen, Jugendklubs und Justizvollzugsanstalten, Akademien und Unternehmen. Diverse Veröffentlichungen über Skinheads, Fußballfans, Gothics, Karl May und andere (zuletzt: Frei.Wild. Deutschrock aus Südtirol. Archiv der Jugendkulturen 2015).
Von 1998 bis 2011 war Klaus Farin Leiter des auch von ihm gegründeten Archiv der Jugendkulturen (www.jugendkulturen.de), das Materialien jeglicher Art (Fanzines, Flyer, Tonträger, Bücher, wissenschaftliche Studien usw.) über & aus Jugendkulturen sammelt, analysiert, archiviert und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Seit 2011 ist er Vorsitzender der Stiftung Respekt – Die Stiftung zur Förderung von jugendkultureller Vielfaltund Toleranz, Forschung und Bildung.
Archiv der Jugendkulturen Verlag, Fidicinstraße 3, 10965 Berlin;E-Mail: [email protected]; Homepage: www.klaus-farin.de.
„Ich glaube, dass der Widerstand von heute an immer intensiver wird und in den 2020er Jahren in Europa und den Vereinigten Staaten einen Höhepunkt erreicht, um dann zwangsläufig in irgendeine Art Revolution zu münden. Dies ist unvermeidlich, da das alte System nicht von selbst verschwindet. […] Diese Umwälzung könnte natürlich auch durch friedvolle, parlamentarische Debatten auf den Weg gebracht werden, aber so wird es nicht kommen.“ (Karl Wagner 2012 in: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globalePrognose für die nächsten 40 Jahre)
„Mischt euch ein, empört euch!“ – Diese Aufforderung eines Dreiundneunzigjährigen erregte im Jahr 2010 großes Aufsehen. Immerhin war der Aufrufer Stéphane Hessel, der mit seinem Pamphlet gegen den Finanzkapitalismus kurzzeitig zum „Gewissen der westlichen Welt“ geworden war, nicht irgendein linksradikaler No-Name, sondern Überlebender des Nazi-Konzentrationslagers Buchenwald, 1948 Mitautor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die noch heute jeder Schüler und jede Schülerin irgendwann von ihren Politik- oder Geschichtslehrer_innen zu lesen bekommt, und langjähriger Diplomat bei den Vereinten Nationen. „Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung“, schreibt er weiter. „Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Nazi-Wahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert.“ (Hessel 2011a: 10).
Leider ist es heute sehr schwer geworden, wahre Empörung hervorzurufen. Sicher: Wir regen uns gerne und viel auf, vermutlich mehr als in früheren Jahrzehnten – über zu laut spielende Kinder, eine schlechte Internet-Verbindung, über verspätete Busse und Bahnen, die uns Minuten unseres Lebens sinn- und beschäftigungslos warten lassen, über Mütter, die mit ihren Kindertransportkutschen die ganze Breite des Bürgersteigs belegen, überhaupt über schlendernde Menschen inmitten unserer Unrast. Über Kriegsflüchtlinge und andere Fremde, die von „unseren Steuergeldern“ leben, über arbeitslose Hartz-4-Abhängige, die sich frech der oft menschenunwürdigen Zwangsarbeit verweigern – und dies auch noch offen der Bildzeitung oder deren TV-Äquivalent Günther Jauch gestehen.
Diese Art der Empörung, die der Logik des neoliberalen Gases folgt, das unsere soziale Umwelt durchtränkt und vergiftet, Konkurrenz, Neid, Rassismus und Raubtierkapitalismus als „soziale Marktwirtschaft“ und „moderne Leistungsgesellschaft“ verklärt, meint Stéphane Hessel nicht, wenn er zu „Empörung“ und „Widerstand“ aufruft: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“ (Ebd.: 21)
Die Anlässe, sich zu empören und aus der Empörung Engagement wachsen zu lassen, liegen heute „nicht mehr so offen zutage“ (ebd.: 19), schreibt er weiter. Das System der Machterhaltung ist geschmeidig geworden. „Die systemerhaltende Macht der Disziplinar- und Industriegesellschaft war repressiv. Fabrikarbeiter wurden durch Fabrikeigentümer brutal ausgebeutet. So führte die gewaltsame Fremd-Ausbeutung der Fabrikarbeiter zu Protesten und Widerständen. Möglich war hier eine Revolution, die das herrschende Produktionsverhältnis umstürzen würde. In diesem repressiven System sind sowohl die Unterdrückung als auch die Unterdrücker sichtbar. Es gibt ein konkretes Gegenüber, einen sichtbaren Feind, dem der Widerstand gilt. Das neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert. Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt, verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre“, analysiert auch der Philosoph Byung-Chul Han in Anknüpfung an ein Streitgespräch, das er mit Antonio Negri in der Berliner Schaubühne führte. „Warum ist das neoliberale Herrschaftssystem so stabil? Warum gibt es so wenig Widerstände dagegen? Warum werden sie alle so schnell ins Leere geführt? Warum ist heute keine Revolution mehr möglich trotz immer größer werdender Schere zwischen Reichen und Armen? Für eine Erklärung ist ein genaues Verständnis notwendig, wie die Macht und Herrschaft heute funktioniert. […] Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmens. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt der Gesellschaft.
Ineffizient ist jene disziplinarische Macht, die mit einem großen Kraftaufwand Menschen gewaltsam in ein Korsett von Geboten und Verboten einzwängt. Wesentlich effizienter ist die Machttechnik, die dafür sorgt, dass sich Menschen von sich aus dem Herrschaftszusammenhang unterordnen. Ihre besondere Effizienz rührt daher, dass sie nicht durch Verbot und Entzug, sondern durch Gefallen und Erfüllen wirkt. Statt Menschen gefügig zu machen, versucht sie, sie abhängig zu machen. […] Die systemerhaltende Macht nimmt heute eine smarte, freundliche Form an und macht sich dadurch unsichtbar und unangreifbar. Das unterworfene Subjekt ist sich hier nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Es wähnt sich in Freiheit. Diese Herrschaftstechnik neutralisiert den Widerstand auf eine sehr effektive Art und Weise. Die Herrschaft, die Freiheit unterdrückt und angreift, ist nicht stabil. Das neoliberale Regime ist deshalb so stabil, immunisiert sich gegen jeden Widerstand, weil es von der Freiheit Gebrauch macht, statt sie zu unterdrücken. Die Unterdrückung der Freiheit provoziert schnell Widerstand. Die Ausbeutung der Freiheit dagegen nicht.“ (Han 2014)
Wer sich trotzdem empört, stört den Frieden. Macht sich unbeliebt. Gilt als „Extremist“. „Dreckaufwühler“ nannte man solche früher. Und es war nicht als Kompliment gedacht.
Der Intellektuelle Hessel begründete sein Engagement nicht religiös. Er brauchte nicht die Krücke des Glaubens an eine übernatürliche Macht, um Verantwortung zu übernehmen. „Sartre lehrte uns, dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind – eine fast schon anarchistische Botschaft. Verantwortung des Einzelnen ohne Rückhalt, ohne Gott. Im Gegenteil: Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.“ (Hessel 2011a: 11)
Aus autonomer Perspektive übersetzt bedeutet dies: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Es ist nicht richtig zu versuchen, nur für sich selbst das Optimale aus den gesellschaftlichen Verhältnissen herauszupressen, koste es (den Rest der Welt), was es wolle. Es geht darum, die Existenzgrundlagen aller Lebewesen auf diesem Planeten zu optimieren, allen ein Leben ohne existenzielle Sorgen, in Freiheit und Selbstbestimmung, ohne Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung usw. zu ermöglichen. Was jede_r damit anfängt, bleibt jedem/r Einzelnen selbst überlassen, aber jeder Mensch muss zumindest die materielle Chance haben, „seines Glückes Schmied“ zu werden.
Doch weil das gesamtgesellschaftliche Utopia zu verwirklichen keine realistische Option für die nächsten Generationen ist, fangen wir eben schon einmal in unserem eigenen Lebensumfeld an. Immerhin mit der Hoffnung, um noch einmal Stéphane Hessel zu Wort kommen zu lassen, dass, „wenn eine aktive Minderheit sich erhebt, der Sauerteig seine Wirkung tun“ wird. „Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit.“ (Ebd.: 10)
Das „Lebensumfeld“, in dem gesellschaftliche Veränderungen angedacht, erkundet, exemplarisch verwirklicht werden können, definiert jede Autonomen-Generation und jede_r Autonome individuell immer wieder neu. Zur Geburtsstunde der autonomen Szene waren dies vor allem im konkreten Lebensbereich die Wiederaneignung von bezahlbarem Wohnraum („Instandbesetzungen“), der zugleich auch als Basis zur Erprobung neuer Formen des Zusammenlebens jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie dienen sollte (Kommunen u. a. Wohngemeinschaften, Arbeits- und Lebenskollektive), die Schaffung eigener temporär befreiter Kulturzonen (autonome Jugendzentren etc.) sowie überörtlich die entstehende Anti-Kriegs- und Umwelt- bzw. Anti-Atomkraft-Bewegung.
Das eigentliche Geburtsland der autonomen Bewegung (oder Szene – ich spare mir hier die artifizielle Debatte um die partiell unterschiedliche Bedeutung dieser beiden Begriffe und verwende sie synonym) ist Italien. In den dortigen Arbeitskämpfen der späten Sechziger errang eine politisch-soziale Bewegung eine große Bedeutung, die sich Autonomia Operaia („Arbeiterautonomie“) nannte. Die Autonomia Operaia führte Sabotageakte in Fabriken durch und auch ihre Demonstrationen waren von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei geprägt. Sie grenzte sich nicht nur von Staat und Kapital ab, sondern ebenso von der Kommunistischen Partei Italiens und den Gewerkschaften und entwickelte eine eigene Theorie, den Operaismus. Eines seiner zentralen Elemente war die Autonomie. Ende der 1970er Jahre verlor der Operaismus seine Bedeutung, aber dieses Verständnis von Autonomie – selbstbestimmte politische Kämpfe unabhängig von Parteien und Gewerkschaften, spontane Bewegung unter Verzicht auf hierarchische Organisation und Führung – pflanzte sich über die Grenzen Italiens fort und gehört seitdem, zum Selbstverständnis der Autonomen in ganz Europa.
Das revolutionäre Objekt der Begierde des Operaismus, aber eben auch des autoritären Kommunismus, die imaginierte „Arbeiterklasse“, spielte im deutschsprachigen Raum allerdings keine bedeutende Rolle mehr. Stattdessen wurden die von den Patriarchen der K-Gruppen zu „Nebenwidersprüchen“ Degradierten nun unter der Vorgabe, auch das eigene Verhalten in den revolutionären Kampf einzubeziehen, zu Querschnittsthemen, die alle angingen: die Unterdrückung von Frauen (später auch Homosexuellen und anderen „Geschlechtern“) und im 21. Jahrhundert schließlich die Ausbeutung aller Lebewesen (Tierrechtsbewegung und Veganismus; vgl. hierzu auch Rinas 2012).
Als eigenständige Bewegung sichtbar wurden die Autonomen erstmals in den späten 1970er Jahren als militanter Flügel der Anti-AKW-Bewegung und dann in den frühen 1980er Jahren im Rahmen der Hausbesetzer_innen-Bewegung. Die ersten Zusammenhänge und Aktivitäten, bei denen sich selbst als „autonom“ bezeichnende Gruppen auftraten, fielen in den Großstädten Westdeutschlands und in West-Berlin ab 1980 auf. In Berlin bildete sich das erste Autonomen-Plenum im Sommer 1981. Das erste spektakuläre Datum autonomer Präsenz ist jedoch schon der 6. Mai 1980: In Bremen kommt es zum ersten Mal zu massiven, auch militanten Protesten gegen eine Rekrutenvereidigung, ausgerechnet im Weserstadion. Der Staat wollte Flagge zeigen und wurde zum öffentlichkeitswirksamen Geburtshelfer einer neuen Protestbewegung.
Seitdem nahmen und nehmen autonome Gruppen regelmäßig an Demonstrationen und anderen Aktionen der Neuen Sozialen Bewegungen teil, vor allem der Friedensbewegung und der Anti-Atomkraft-Bewegung. Massiver beteiligt waren sie unter anderem am Widerstand gegen das Kernkraftwerk Brokdorf um 1981, die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf bis 1986, gegen den Bau der Startbahn West in Frankfurt am Main in den 1980er Jahren. Bis in die Gegenwart beteiligen sich auch viele Autonome an den Aktionen zur Behinderung der Castor-Transporte aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague ins deutsche Atommülllager Gorleben.
In der Anti-AKW-Bewegung stehen die Autonomen für eine undogmatische, linksradikale Position, die entstanden ist aus einer doppelten Abgrenzung gegenüber den gemäßigteren Forderungen der Bürgerinitiativen und daraus erwachsenen Grünen einerseits und eben gegenüber den K-Gruppen, deren hierarchische und autoritäre Strukturen sie ablehnten und denen sie ein taktisches Verhältnis zur Anti-AKW-Bewegung vorwarfen (vgl. A.G. Grauwacke 2003: 24). „Die Anti-AKW-Bewegung wäre mit diesen grünen Langweilern nie dahin gekommen, wo sie heute ist! Wenn sie nicht massiv die Kosten in die Höhe getrieben hätte durch Konfrontation.“ (Jan)
In der Hausbesetzer_innen-Bewegung waren die Autonomen Teil eines vielfältigen Spektrums unterschiedlicher Aktivist_innen, die den Leerstand innerstädtischen Wohnraums bei gleichzeitiger Wohnungsnot skandalisierten und die Hausbesetzungen nicht nur als symbolische Intervention, sondern auch als konkrete Möglichkeit der Schaffung von Räumen für die Realisierung alternativer Lebensentwürfe verstanden. Dabei waren die Grenzen zwischen Punks, Alternativbewegung, Autonomen etc. fließend, aber mitunter auch konfliktreich (siehe das ausführliche Interview in diesem Band dazu mit Michael Wildenhain).
Die Organisationsstrukturen der Autonomen sind im Kern basisdemokratisch und antiinstitutionell. Als explizites Gegenmodell zu den hierarchischen und parteiförmigen Organisationsmodellen der K-Gruppen und -Parteien begründet, bilden lokale Kleingruppen die organisatorischen Kerne, in denen die politische Gruppe und der private Freundeskreis oft große Schnittmengen haben. Die Koordination der politischen Arbeit findet in allen Aktivist_innen offenstehenden Plena statt. Vor allem in den 1980er Jahren gab es eine Reihe regelmäßiger regionaler und bundesweiter Treffen, die außerhalb konkreter Kampagnen der Koordination und dem Informationsaustausch dienten. In jüngster Zeit gibt es wieder verstärkt, aber nicht immer erfolgreich Initiativen, nicht themengebundene Koordinationsstrukturen auf (über-)regionaler Ebene in Form von autonomen „Vollversammlungen“ zu etablieren.
Da die Autonomen nicht durch eine formale Organisationsstruktur stabilisiert sind, stellen ständige, nicht enden wollende Diskussionen zur Selbstvergewisserung oder Aktualisierung der bestehenden Organisationsformen und der allgemeinen politischen Ziele ein identitätsstiftendes Merkmal der Szene dar. In Phasen auslaufender Mobilisierungszyklen wird die Prämisse der „Politik der ersten Person“ regelmäßig infrage gestellt. „Tenor der periodisch wiederkehrenden Organisationsdebatten war die Kritik an der Kampagnenförmigkeit autonomer Politik – dem schnellen Aufgreifen und dann wieder Fallenlassen aktueller Themen – und die Forderung nach einer größeren Verbindlichkeit autonomer Strukturen (z. B. Interim 162, 27.9.91; ‚Wir sind doch kein Kampagnenheinz!’). Anstatt durch subjektive Betroffenheit solle sich autonome Politik aus der theoriegeleiteten Analyse gesellschaftlicher Widersprüche begründen. Transparente Organisationsstrukturen sollten an Stelle der Plena und Kleingruppen mit wechselnder Beteiligung und unklarer Kompetenz treten. Gegen die Forderungen nach stärkerer Formalisierung autonomer Strukturen wurde regelmäßig von Gegnern dieser Organisationsmodelle das autoritäre Scheitern der K-Guppen und die schon von Robert Michels (1911) konstatierte Eigendynamik der Bürokratisierung formaler Organisationen ins Feld geführt. Im Ergebnis blieben die Organisationsdebatten entweder folgenlos oder sie führten zu Ausgründungen, die allerdings nur im Antifa-Bereich eine relevante Mobilisierungsfähigkeit entfalten konnten. Dort spielen stärker formalisierte Organisationsmodelle, wie sie 1991 die Göttinger ‚Antifa (M)‘ in der Interim gefordert hatte (Interim 161, 19.9.91), bis heute eine gewisse Rolle, wobei allerdings im Angesicht nachlassender Mobilisierungsfähigkeit auch auf klassische Basis- und Selbstmobilisierungsprozesse gesetzt wird, wie beispielsweise in der ‚organize!’-Kampagne von Antifa-Aktivist_innen aus dem Ruhrgebiet.“ (Haunss 2013: 33f)
Bisher führten die Organisationsdebatten jedoch noch nie zu einer wirklich grundlegenden Änderung des autonomen Politikstils und der damit verbundenen, auf Basisdemokratie und Kleingruppen setzenden Organisationsstrategie. „Das Festhalten am basisdemokratischen Ideal hat eine große Bedeutung für die kollektive Identität der Autonomen.“ (Ebd.: 34) „Das bedeutet eben, dass es keine Hierarchien gibt, dass es sehr wohl Regeln gibt, die Regeln aber im Konsens immer wieder neu diskutiert und entschieden werden müssen, und nicht per Mehrheitswahlrecht oder Abstimmung. Natürlich ist Mehrheit immer wichtig, aber wichtiger ist die Argumentation. Also wenn zwanzig Leute gegen was abstimmen und es hat aber nicht wirklich Sinn, dann haben drei Leute immer noch die Möglichkeit, in einem demokratischen Basisgespräch zu erklären, warum sich vielleicht die anderen zwanzig täuschen, und sie zu überzeugen, so dass dann trotzdem noch mal anders entschieden wird. […] Manchmal ist es schon so, dass man sich gewünscht hätte, man hätte so eine gewisse autoritäre Stimme darin gehabt, die sagt: So Leute, wir machen das jetzt so und Schluss. Und ihr werdet sehen, es wird gut für euch sein. [Lacht.] Aber das ging ja nicht, es mussten immer alle einverstanden sein.“ (Suzana) Wer damit nicht klarkommt, wandert ab in Parteien oder andere linke Organisationsstrukturen.
Neben konkreten Treffen spielen – wie für alle Jugend- und Subkulturen und andere informelle Bewegungen – eigene Medien und Soziale Netzwerke eine wichtige Rolle für die Koordinierung der Bewegung über den lokalen Handlungszusammenhang hinaus. Aus der kaum zu überblickenden Vielzahl der regionalen und überregionalen Zeitschriften, die in der autonomen Bewegung seit den 1980er Jahren entstanden (und wieder eingingen), sind von besonderer historischer und überregionaler Bedeutung: Die Zeitschrift Autonomie (1975-79, später Autonomie – Neue Folge), sie stellte „in der personellen Kontinuität einzelner Mitarbeiter_innen so etwas wie eine historische Brücke von der Studentenrevolte bis zur autonomen Szene in den 80er Jahren dar“ (Geronimo 1990: 61). Die Zeitschrift radikal war bis Mitte der 1990er Jahre eine der wichtigsten Plattformen für Diskussionspapiere, Berichte und Anschlagserklärungen, die einen größeren Leser_innenkreis als die diversen lokalen Bewegungszeitungen erreichen sollten. Die erste Ausgabe erschien bereits im Juni 1976 – damals noch als Sozialistische Zeitung für Westberlin. Doch schon bald wurde sie trotz – oder wegen – Verbotsverfügungen, Beschlagnahmungen und ungezählter juristischer Verfahren für sicher zwei Jahrzehnte zum bedeutendsten Sprachrohr der autonomen Szene im deutschsprachigen Raum. (Deshalb widmet sich ihr beispielhaft für die Analyse der Autonomen-Medien ein eigener Beitrag in diesem Buch.) In den 1990er Jahren entwickelte sich die Berliner Autonomenzeitschrift Interim zum wichtigsten, auch überregional bedeutsamen Kommunikationsmedium der Autonomen. Seit den 1990er Jahren spielen Internetportale eine immer wichtigere Rolle; vor allem indymedia, aber auch Termin- und Ankündigungsportale wie Bewegungsmelder (Hamburg) oder Stressfaktor (Berlin).
Zu den theoretischen Grundlagen der Autonomen zählt die „triple oppression“ (Rassismus, Sexismus und Klassismus, vgl. Strobl/Viehmann u. a. 1993). Diese relativiert die monokausale Fokussierung sozialistischer und kommunistischer Klassiker, nach denen der Hauptwiderspruch im Kapitalismus liege, nämlich der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Produkts, und andere Formen von Ausbeutung und Unterdrückung wie Rassismus und Sexismus nur „Nebenwidersprüche“ darstellten. Vielmehr sei jeder Mensch Teil eines Netzes aus allen drei Gewaltformen, die sich nur je nach Lebenssituation unterschiedlich stark ausprägten.
Jüngere verbinden mit dem Begriff „Autonome“ – neben „Gewalt“ – vor allem das Thema Antifaschismus. In der Tat bildete die „Antifa“-Arbeit seit den 1990er Jahren, dem Mauerfall und in Folge der Wiedervereinigung dem Erstarken einer aggressiven jungen Neonazi-Szene, den zentralen Aktionsschwerpunkt der Autonomen. Doch die Themenvielfalt der autonomen Szene ist überraschend groß, wie Sebastian Haunss in einer aktuellen Analyse der Interim festgestellt hat: „Neben dem Thema der Anti-Atom-Politik ging es in den Debattentexten um Internationalismus und Globalisierung, Rassismus und Antirassismus, Antifaschismus, Antinationalismus, Stadtteilpolitik und Gentrifizierung, Militanz sowie an erster Stelle um Sexualität und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. In einer detaillierteren Analyse lässt sich zeigen, dass diese Themen zum größeren Teil nicht episodisch einander abgelöst haben, sondern immer wieder aufgegriffen wurden. Bei aller Diskontinuität und Kampagnenhaftigkeit autonomer Politik gibt es daher ein klar sichtbares Set zentraler Themen, die die Bewegung seit ihren Anfängen begleiten.“ (Haunss 2013:31)
Sebastian Haunss’ Analyse der Bewegungsdebatten kristallisierten einen „Kern zentraler Elemente der Bewegungsidentität der Autonomen“ heraus, um die besonders intensive Auseinandersetzungen geführt worden sind:
1. Politik der ersten Person: Der Anspruch einer subjektivistischen Politik, die individuelle Selbstveränderung als mindestens ebenso wichtig ansieht wie die Veränderung der Gesellschaft. Die Einflüsse der Frauen- und Sponti-Bewegung auf die Autonomen treten in diesem Punkt besonders deutlich zutage.
2. Basisdemokratie: Eine Ablehnung traditioneller institutioneller Formen. Dieser antiinstitutionelle Impuls richtet sich sowohl gegen die Parteien und Institutionen des politischen Systems und der staatlichen Verwaltung als auch gegen Versuche, eher dem K-Gruppen-Modell folgende Organisationsstrukturen bei den Autonomen zu etablieren. Hier kommen Ideale zum Tragen, die aus einem meist diffusen Anarchismus und den Vorstellungen der Alternativbewegung gespeist sind.
3. Systemopposition: Eine grundsätzliche Gegnerschaft zur herrschenden (kapitalistischen) Ordnung der Gesellschaft (siehe Haunss 2013: 31f).
In der Zeit zwischen 1988 und 2001 wurden nach Haunss in der Interim „341 Diskussionstexte und Positionspapiere veröffentlicht, in denen es um Sexismus, Sexualität, sexuelle Gewalt, Feminismus und die Geschlechterverhältnisse in der autonomen Bewegung ging. Es ist nach den Organisationsdebatten der zahlenmäßig bedeutendste Diskursstrang. Die Debatten liefen dabei entlang vierer Hauptlinien (für eine ausführliche Diskussion siehe Haunss 2004, S. 149ff):
a) Diskussionen über die Notwendigkeit und Bedeutung separater Frauenorganisierung,
b) Fragen der Parteilichkeit, der Definitions- und Entscheidungsmacht bei Fällen sexueller Gewalt und Vergewaltigung in der autonomen Szene,
c) Sexualität und Begehren sowie
d) allgemeine Diskussionen über den Charakter und die Bedeutung des Patriarchats, besonders im Hinblick auf seine Verortung relativ und in Relation zu anderen Herrschaftsverhältnissen sowie – gegen Ende der 1990er – Diskussionen über Feminismus, Postfeminismus und Dekonstruktion.
Die Häufigkeit und Intensität dieser Debatten verweist auf die zentrale Rolle dieses Themenfeldes in der autonomen Bewegung. Dabei handelt es sich vor allem um ein Thema mit ‚interner‘ Bedeutung, d. h. Debatten zum Sexismus in der autonomen Bewegung überwiegen bei Weitem gegenüber Beiträgen und Mobilisierungen, die Sexismus in der Gesellschaft allgemein zum Thema haben.“ (Haunss 2013: 34f; vgl. auch seinen Beitrag zu „Männlichkeitsbildern auf Plakaten der autonomen Bewegung“ in Farin/Möller 2014: 183-197)
Ende der 80er Jahre stiegen viele Frauen aus der „gemischten“ autonomen Szene aus. Das Thema „Sexismus“ gewann an Brisanz, nachdem viele Frauen die an ihnen in der Szene begangenen „sexualisierten Grenzüberschreitungen“ und Vergewaltigungen thematisierten und Konsequenzen einforderten bzw. zogen. So warfen die Frauen in Bochum die Männer nach einer Sexismusdiskussion aus dem gemeinsamen autonomen Zentrum hinaus und erklärten dies zum „autonomen Frauenzentrum“. Oftmals spaltete sich in den geführten „Sexismusdiskussionen“ die Szene. „In Berlin gibt’s eigentlich so alle paar Jahre eine extreme Debatte über irgendwas, die die Szene krass spaltet“, relativiert Leonie. Dennoch ist Sexismus und der Umgang zwischen den Geschlechtern vermutlich das brisanteste Thema für eine Szene, die nicht nur gesamtgesellschaftliche Ziele und Utopien formuliert, sondern an sich selbst den Anspruch stellt, schon heute im eigenen Alltag so weit wie möglich hierarchiefrei und nicht-diskriminierend zu leben.
„Grundsätzlich gibt es ja Sexismus überall in allen Szenen so wie in der Restgesellschaft auch, das ist klar. Also auch in der autonomen Szene. Und natürlich waren es auch meistens die Frauen, die diese Themen eingebracht hatten, die gesagt haben, hier gibt es aber sexistisches Redeverhalten, weil die Typen reden schon wieder zwei Stunden, das ist auch Sexismus. Viele Intellektuelle sind verbale Macker, die reden drei Stunden und hören sich selber gerne reden. Aber es gibt auch eine autonome Queer-Szene, und die sehen das zum Beispiel als Hauptagitationsfeld. Aber natürlich gibt es Sexismus in der Szene. Für mich gibt es überall Sexismus, wie soll es dann in der autonomen Szene keinen Sexismus geben?! Sexismus, das sind doch Strukturen, die in allem drinstecken, also Machtstrukturen … Natürlich gibt es dieselben Dinge, die es woanders gibt, auch in der autonomen Szene, nur dass die Leute einen anderen Anspruch an sich selber haben und versuchen, genau diese Strukturen aufzubrechen und zu hinterfragen und zu reflektieren, auch, dass wir selber Teil dessen sind. Das habe ich oft in der autonomen Szene kennengelernt, da gab es eine hohe Selbstreflektion. Diese ganze Beschäftigung mit sich selbst, das ist fast schon Psycho-Seminar. Kennzeichnend für die autonome Szene ist, dass alles und jedes immer stundenlang ausdiskutiert wird, weil selten etwas eindeutig ist. Wenn die Betreiber des Kneipenkollektivs X sagen, der Typ hat einen sexistischen Spruch gebracht, die Frau hat sich belästigt gefühlt, wird das normalerweise erst mal mit dem Typen ausdiskutiert und er muss Stellung dazu beziehen. Wenn er das aber wiederholt tut, dann fliegt er raus. Auf Konzerten, auf Partys, auf Veranstaltungen werden Leute bestimmt, die dafür zuständig sind, so das Antisexismus-Team, die achten darauf und beobachten so ein bisschen. Und wenn die sehen, da gibt es einen Konflikt zwischen einem Typen und einer Frau oder der Typ macht die Frau dumm an und sie fühlt sich belästigt, dann gehen die hin und kümmern sich darum. Also insgesamt hat Sexismus und Anti-Sexismus einen hohen Stellenwert in der autonomen Szene. Es wird sich viel damit auseinandergesetzt, das fand ich immer positiv.“ (Lena)
„Ich denke schon, dass die Rolle von Frauen in der autonomen Szene ganz klar ist, diesen Antisexismus zu vertreten. Das sind ja meistens Frauen, die dann sagen, so geht’s aber nicht, und das wird auch ein bisschen erwartet, dass Frauen diese Meinung haben und diese Sachen durchkämpfen und diese Konfrontation von Frauen initiiert stattfindet. Das ist selten so, dass Männer das einbringen. Die Männer in der Szene haben viele Themen und Rollen, die Frauen haben vor allem eine Hauptrolle: Antisexismus.“ (Leonie)
„Die Szene muss sich den Vorwurf der Männerdominanz schon vom Ursprung her machen lassen. Hat vielleicht auch schon mit dieser Rekrutierung über Gewalt zu tun. Wenn ich so an uns denke, uns haben immer diese wilden Straßenschlacht-Geschichten fasziniert. Autonome Politik ist natürlich auch viel Räuber und Gendarm spielen auf städtischem Niveau. Und das ist, auch wenn das jetzt sexistisch klingen mag, halt ein Jungs-Ding. Auch das äußere Erscheinungsbild von Autonomen, der berühmte Schwarze Block und so, ist natürlich männerdominiert, das sind auch Männeraktionsformen. Aber bei den Jüngeren sind die Mädchen eher die, die, notgedrungen, das Ideologische mitbringen. Die bringen die anderen Themen rein, wo die Jungs nichts mit anfangen können. Zum Beispiel das Thema Frauen selbstverständlich, das ist was, was Jungs gar nicht in den Kopf kommt, und dann auch diese Tierrechtsgeschichten und Veganismus. Das sind, wenn man ehrlich ist, schon eher die Frauenvarianten der autonomen Bewegung. Auch wenn die Männer das im Regelfall nicht zugeben werden und dann sagen, natürlich, uns sind auch Tierrechte wichtig. Insofern haben die Frauenfraktionen da auch eine diskursive Macht bewiesen, indem sie solche Themen auf die Agenda gesetzt und durchgebracht haben, wo die Jungs nicht einmal auf die Idee gekommen wären, dass das Probleme sind.“ (Jan)
„Eine Bewegung, die die Verhältnisse, wie sie sind, nicht hinnimmt, ist nicht qua dieser Positionierung anders, sondern sie beschreibt nur einen Weg, auf dem sie entlanggehen will und auf dem sie sich verändern wird. Privilegien abzugeben ist immer schwerer als Unterdrückung abzuwerfen. Von daher war der ‚Leidensdruck‘ unter Männern nicht so groß. Die Häuserkampf-Bewegung oder die Bewegungen, die es überhaupt gab, waren weder nur ein Abbild dessen, was sie angeblich bekämpft haben, noch verkörperten sie bereits den Himmel auf Erden. Sie haben darum gerungen.“ (Wolf Wetzel)
Autonome verstehen sich mehrheitlich als besonders entschlossene, radikale Teile anderer sozialer Bewegungen (Anti-AKW-Bewegung, Stadtteilinitiativen, Antifaschismus, Antirassismus etc.), die sich in ihren Aktionsformen nicht durch den Rahmen der Legalität einschränken lassen wollen. Militantes Handeln wird aus dieser Perspektive immer als eine gleichberechtigte Aktionsform unter anderen diskutiert. „Es ist eines der Mittel, die genutzt werden. Es existiert eine gewisse Grundhaltung, was die Gewalt angeht, außerdem ist es schlicht medienwirksamer, um so auf Aktionen hinzuweisen. Wie wäre die Anti-Globalisierungsbewegung wohl aufgestellt, wenn es Seattle 1999 oder Genua 2001 nicht gegeben hätte? Wie viele Menschen hätten vom Naziaufmarsch jährlich im Februar in Dresden erfahren, wenn dieser nicht auch durch militante Mittel 2010 angegangen worden wäre? Gewalt gegen Sachen finde ich absolut in Ordnung, so lange der Kopf benutzt wird, das heißt, kein Familienwagen umgedreht oder der Tante-Emma-Laden entglast wird. Gewalt gegen Menschen heiße ich nur im Falle von Gegenwehr für sinnvoll.“ (Henry) Diese Haltung, außerhalb der oft ritualisierten Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Demonstrationen und bei den Versuchen, öffentliche Auftritte von Neonazis zu verhindern, keine Gewalt gegen Personen anzuwenden, ist in der autonomen Szene weitgehend Konsens. „Aktionen, die dieser Maxime widersprechen, ernten in der Regel scharfe Kritik in den Bewegungsmedien. Nur einmal wurde – 1987 bei den tödlichen Schüssen auf Polizisten an der Startbahn West – das Tabu tödlicher Gewalt gegen Personen gebrochen.“ (Haunss 2013: 37; vgl. auch ID-Archiv im IISG 1988)
Bei militanten Aktionen von Autonomen handelt es sich in der Regel um Sachbeschädigungen, entweder am Rande von Demonstrationen oder als gezielte Sabotage. Militanz wird in den Autonomen-Gruppen im Wortsinn als „kämpferisch“, nicht als „militärisch“ verstanden. Gewalt als Selbstzweck oder als inhaltsleeres Ritual wird von den meisten Autonomen prinzipiell abgelehnt, wenngleich die Praxis mancher autonomer Gruppen und Individuen immer wieder das Gegenteil zu bedeuten scheint. Dementsprechend hat Militanz für die autonome Bewegung auch vor allem eine symbolische Bedeutung. Sie dient in der Selbstinszenierung gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber anderen Bewegungen als Ausweis der Radikalität. Die Signalisierung der Bereitschaft, sich bei den Formen des Protests nicht an den legalen Rahmen zu halten, ist ein wichtiges Element der Bewegungsidentität.
Ähnlich wie die Organisationsdebatten folgten die Militanzdebatten bei den Autonomen oft abflauenden Mobilisierungswellen. Noch stärker als erstere zeichnen sie sich durch eine hohe Zyklizität aus, d. h., mehr oder minder dieselben Argumente werden im Abstand weniger Jahre immer wieder aufs Neue diskutiert, ohne dass eine deutliche Weiterentwicklung der Bewegungspraxis und der Debatte zu beobachten wäre (siehe Haunss 2004: 169ff.).
Die Autonomen waren seit ihren Anfängen stets ein Schmelztiegel verschiedener Fraktionen der radikalen, außerparlamentarischen Linken. Je nach Region und Zeit dominierte dabei die eine oder andere Richtung. Zumeist waren es jene Gruppen und Individuen, die am „Anarchosyndikalismus“ ausgerichtet waren, mitunter in bestimmten Regionen, Städten oder auch nur Stadtbezirken aber auch die zeitweise RAF-nahen „Antiimps“ (Antiimperialisten). Die Autonomen waren schon immer eine sehr heterogene Bewegung – jedoch war es den verschiedenen politischen Spektren möglich, „intern“ miteinander zu streiten und sich zumeist dennoch auf ein gemeinsames Handeln zu einigen.
Die zwei gegensätzlichen Pole werden grob als „Antideutsche“ auf der einen Seite und eben „Antiimps“ auf der anderen Seite bezeichnet. Die Spaltung entzündete sich an der Debatte um Antisemitismus innerhalb der Linken und die „Palästinenser-Solidarität“ bzw. die Haltung zu Israel. Die Positionen sind dabei so verhärtet, dass es bei Zusammentreffen beider Fraktionen etwa in Hamburg und Berlin auch schon zu körperlichen Auseinandersetzungen und Überfällen von Veranstaltungen und Kneipentreffen der „Gegenseite“ kam.
Die „Antiimps“ betrachten die Politik Israels und der USA prinzipiell als imperialistisch. Sie solidarisieren sich so auch mit dem „Befreiungskampf des palästinensischen Volkes gegen die israelische Unterdrückung“. Zentral für ihre Weltsicht ist die Annahme, dass der Reichtum der Industrienationen auf der Ausbeutung der drei Kontinente Südamerika, Afrika und Asien basiert und der Kapitalismus damit eine geostrategische Dimension bekommen hat: Da selbst die ärmsten Bewohner der Industriestaaten noch von der Ausbeutung der drei Kontinente profitieren, gibt es in den Industrieländern quasi außer ihnen selbst und den politisch bewussten Einwander_innen aus ebenjenen Ländern niemanden mehr, der ein materielles Interesse an einer sozialen Revolution hat. Also bleibt nur, die Befreiungsbewegungen und noch verbliebenen sozialistischen Regime in den „Entwicklungsländern“ zu unterstützen und den „militärisch-industriellen Komplex“ in den Industrieländern durch Sabotage oder auch Intervention in politischen Bewegungen wie der Friedensbewegung zu bekämpfen. Allerdings: Die meisten Antiimperialisten verstehen sich längst nicht (mehr) als Autonome.
Das gilt zunehmend allerdings auch für die „Antideutschen“. Diese treten für die kritik- und bedingungslose Solidarität mit Israel ein und bewerten häufig auch die entsprechende Nahostpolitik der USA positiv. So ist es ihnen zu verdanken, dass nun auch auf linksradikalen Demonstrationen bisweilen USA-Fähnchen geschwungen werden.
Die Mehrzahl der Autonomen sieht das freilich weniger amused: Sie lehnen die Verwendung von Nationalflaggen sowie Solidaritätsbekundungen für Nationen oder nationale Befreiungsbewegungen prinzipiell ab, da Herrschaft und Unterdrückung immanente Bestandteile des Konstruktes „Nation“ seien. „Mir gingen sie alle auf die Eierstöcke, die Selbstmordattentäter genauso wie die fanatisierten Siedler. Weit mehr noch aber nervten mich diejenigen unter meinen Zeitgenossen, die diesen oder ähnliche Konflikte zum Anlass nahmen, Winkelemente der einen oder anderen Seite zu schwenken, ohne dass es dafür auch nur einen nachvollziehbaren Grund gegeben hätte. Egal, wie dünn die Informationslage, wie gering die Kenntnisse der historischen Gegebenheiten oder das Wissen um das Geschehen vor Ort auch sein mochten, pawlowschen Hunden gleich fühlten sich diese neunmalklugen Tröpfe im Krisen- oder Kriegsfall sogleich bemüßigt, Partei zu ergreifen und uns anderen ungebeten mitzuteilen, wer diesmal die Cowboys und wer die Indianer waren.“ (Off 2012: 106) „Die Begriffe ‚antideutsch‘ und ‚Antiimperialist‘ sind heute innerlinke Fremdzuschreibungen, die nichts erklären. Beispielsweise tauchen in Berlin periodisch diese ultranervigen zwanzigjährigen Politaktivisten auf, die mich wahlweise mit der Forderung nach uneingeschränkter Solidarität mit Israel oder der ebenfalls uneingeschränkten antiimperialistischen Solidarität mit Palästina nerven. Beide gehen mir auf den Keks. Beiden geht es nicht um die Sache, sondern um linke Identitätsbildung, und beide nutzen dafür den Nahostkonflikt. Meine Position als Autonomer war immer ganz klar antinational. Mit dem linksnationalistischen Antiimperialismusquatsch konnte ich nie etwas anfangen. Das ganze antiimperialistische Denkmuster, dieses manichäische Weltbild, das den Globus in zwei Sphären aufteilt, ist mir fremd. Für die klassischen Antiimps gibt es nur die Weißen, die ausbeutenden Imperialisten der globalen Metropole, und die ausgebeuteten schwarzen, armen Völker auf der anderen Seite. Dieses im kolonialistischen Befreiungskampf verhaftete Denken ebnet viele Widersprüche völlig ein. Die antideutsche Linke ist komplizierter. Ein Teil hat sich in der Auseinandersetzung um die zweite Intifada und den 11. September im Namen eines sehr fragwürdigen Verständnisses von Fortschritt und Moderne von der Linken verabschiedet. Sie glauben, dass die Alternative zum Elend des Kapitalismus nur noch die völlige Barbarei sei. Mit dieser Position haben sie vor den Verhältnissen feige kapituliert und sind mit fliehenden Fahnen ins Lager der Liberalen und Neokonservativen gewechselt. Ein anderer Teil gehört nach wie vor zur radikalen Linken und widmet sich vor allem der Ideologiekritik. Das finde ich schon viel spannender! Dass es in der radikalen Linken heute überhaupt eine so eine intensive Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus gibt, ist eben dieser Strömung zu verdanken.“ (Björn)
In Verfassungsschutz-Publikationen wird immer wieder behauptet, die „Anhänger der Autonomen“ seien zwischen 15 und 30 Jahren alt (siehe Baron 2011: 239). Allerdings finden sich dort wie beim Verfassungsschutz üblich keinerlei Hinweise auf die empirische Basis und Quellen dieser Angaben. „Die Teilnahme an einer beliebigen von Autonomen organisierten Veranstaltung oder Demonstration zeigt in jedem Fall, dass mit 30 bei den Autonomen noch lange nicht Schluss ist, es sich bei den Autonomen also in keinem Fall nur um eine Jugendbewegung handelt. Die Autonomen sind weder im demografischen noch im substanziellen Sinn eine Jugendbewegung. Das Altersspektrum der Aktivist_innen reicht weit über die Jugendlichkeits-Grenze von üblicherweise 25 Jahren hinaus. Jugendkulturelle Stile und ein jugendkultureller Habitus spielen sicherlich für die kulturelle Selbstpositionierung vieler Aktivist_innen auch jenseits des Jugendalters eine wichtige Rolle. Allerdings gilt dies inzwischen für weite Teile der Gesellschaft, es handelt sich also nicht um ein Spezifikum der Autonomen, so dass in jedem Fall eine rein jugendkulturelle Perspektive zu kurz greift. Aus den Selbstzeugnissen von Aktivist_innen (Kongreßlesebuchgruppe 1995; A.G. Grauwacke 2003) und in den Diskussionsbeiträgen in autonomen Bewegungszeitschriften wird deutlich, dass die Attraktivität der Bewegung nicht in erster Linie in ihrem jugendkulturellen Appeal liegt, sondern daran, dass die Autonomen für eine radikale Kritik der bestehenden politischen und ökonomischen Ordnung stehen. Wichtige Merkmale, die die anhaltende Attraktivität der autonomen Bewegung und damit auch ihre immer noch vorhandene Mobilisierungsfähigkeit ausmachen, sind sicherlich auch das Versprechen der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung, die (relative) Abwesenheit von Hierarchien, die Bereitstellung (und Durchsetzung) von ‚Freiräumen‘, die (nicht-kommerzielle) Orte für den Versuch der Verwirklichung alternativer Lebensweisen bieten, und sicherlich auch die Tatsache, dass die Aktionsorientierung der Autonomen einen Abenteuer- und Erlebnisraum jenseits der vorgegebenen Ordnung bietet.“ (Haunss 2013: 39f.)
Dennoch ist die autonome Szene stark jugendkulturell geprägt: War es in den 1980er Jahren noch der Punk, der Autonome in Bewegung setzte, eroberten in den Neunzigern parallel zum jugendkulturellen Mainstream elektronische Beats die Herzen der Szene. Heute spiegelt die autonome Szene längst die Vielfalt und Multikulturalität der aktuellen Jugend wider: Von Hardcoreüber Reggae- bis zu Schlagerpartys ist alles möglich (nur Deutschrock geht irgendwie gar nicht …), Dreadlocks treffen auf Glatzen, Punks auf Hipster, in G-Star-Camouflage gewandete Antifas auf „Bacon had a mom“-T-Shirt-Trägerinnen. Schwarz ist immer noch mehr als eine Farbe, hat aber ihr Monopol verloren. Wie in allen anderen Jugendkulturen gibt es auch hier immer mehr Menschen über 40, 50, 60 Jahre, die oft das organisatorische Rückgrat der Szenen bilden. Doch kaum jemand stößt erst im fortgeschrittenen Alter dazu. Insofern ist der Begriff Jugendszene oder -kultur vielleicht unvollkommen, aber nicht komplett falsch. Es sind fast ausschließlich junge Menschen, die sich empören, auf der Suche nach Gleichgesinnten in autonomen Zusammenhängen landen und dann gemeinsam mit anderen ihrer Empörung Taten folgen lassen.
Die Autonomen sind mittlerweile eine der am längsten kontinuierlich aktiven Sozialen Bewegungen Nachkriegsdeutschlands. Sie können seit Ende der 1970er Jahre auf eine über 30-jährige Geschichte zurückblicken. Dennoch ist die Literatur, die sich mit dieser Bewegung beschäftigt, recht überschaubar. Neben Darstellungen von (ehemaligen) Aktivist_innen gibt es nur wenige Arbeiten, die sich wirklich ernsthaft, ergebnisoffen und multiperspektivisch mit der Szene beschäftigen. Fast alle wissenschaftlichen und anderen Arbeiten fokussieren auf den Aspekt der Gewalt. „Die dominante Perspektive, unter der die Autonomen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, ist die der Gewalt. Kaum ein Zeitungsbericht oder Fernsehbeitrag über die Autonomen kommt ohne Bilder brennender Barrikaden oder schwarz vermummter Demonstrant_innen aus. Dieser Ausgangspunkt strukturiert auch die Extremismusforschung (z. B. Pfahl-Traughber 1998; Baron 2011) und die Berichterstattung der Verfassungsschutz-Ämter auf Bundes- und Landesebene – wobei beide Perspektiven sowohl inhaltlich als auch personell nicht immer klar zu unterscheiden sind.“ (Haunss 2013: 27) – Sprich: Hauptamtliche Mitarbeiter des Verfassungsschutzes firmieren in ihren Fachaufsätzen, Rezensententätigkeiten etc. gerne als unabhängige Wissenschaftler. „Auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung bildet die offensiv propagierte Militanz der Autonomen oft den Anlass, sich mit der Bewegung zu beschäftigen (Bock 1989; Busch 1989; Paris 1991; Rucht/Teune 2008; Leach/Haunss 2010). Neben vereinzelten Selbstzeugnissen von Aktivist_innen gibt es keine sozialwissenschaftliche Forschung über die Gründe und Motive, sich den Autonomen anzuschließen und/oder diese wieder zu verlassen. Es gibt kaum Untersuchungen, die sich mit der Interaktion von Autonomen und anderen Bewegungen beschäftigt haben.“ (Haunss 2013: 27ff.) (Eine umfangreiche Literaturliste enthält dieses Buch im Anhang.) „Der Versuch, die Autonomen zentral als gewaltbereit oder gewalttätig darzustellen, ist ersichtlich Bestandteil einer Kriminalisierungsstrategie und als solcher zu analysieren und zu kritisieren. Zudem verkennt dies die genuin politischen Motive, die für die autonome Szene grundlegend sind. An die Stelle einer politischen Auseinandersetzung mit den Autonomen tritt damit der Versuch, sie straf- und verfassungsrechtlich zu kontrollieren.“, meint der Soziologe Albert Scherr (das komplette Interview ist im Anhang dokumentiert).
Dieses im Kontext des Archiv der Jugendkulturen entstandene Buch ist ein Versuch, dies zu ändern. „Publikationen des Archiv der Jugendkulturen zeichnen sich üblicherweise dadurch aus, dass sie frühzeitig – bevor die Wissenschaft und die seriöse Publizistik das Thema entdeckt – auf neue, gesellschaftlich relevante Entwicklungen im Umfeld jugendlicher Kultur- und Freizeitwelten aufmerksam machen“, schrieb einmal das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. „Dass das kleine private Institut so schnell wie fundiert auf Trends reagieren kann, liegt an der immer wieder bewusst gesuchten Nähe zu den Szenen selbst. Selbst Angehörige üblicherweise verdeckt agierender Szenen wie Satanisten oder Neonazis werden – trotz offen bekundeter inhaltlicher Distanz – mit dem Versprechen geködert, ausführlich und unzensiert zu Wort zu kommen. So sind die Veröffentlichungen des Archiv der Jugendkulturen stets sehr genaue, authentische Abbilder der subkulturellen Realität vor allem von Szenen, an die sich ‚normale‘ ForscherInnen oft gar nicht herantrauen oder schon aufgrund ihres Habitus keine Chancen haben – und damit eine unerschöpfliche und unverzichtbare Quelle für die Arbeit eben dieser anderen WissenschaftlerInnen, aber auch für politische BildnerInnen, Medien- und Bewegungsmenschen.“
Kaum jemand – nicht einmal viele autonome Aktivist_innen selbst – glaubt, dass die Autonomen heute noch eine gesellschaftsverändernde Kraft darstellen. Zum Teil liegt das an der Szene selbst, meint Leonie: „Die Szene definiert sich ganz klar darüber, dass sie was Besseres sind als andere Leute, dass sie sich als was Besseres fühlen dadurch, dass sie sich so klar abgrenzen und dadurch einen bestimmten Status für sich innehaben, der über ein innen/außen, gut/schlecht funktioniert. Das klingt jetzt ganz böse, aber ich find das schon ungewöhnlich in Deutschland, wie das hier in der autonomen Szene abläuft zum Teil und wie die Szene auch so auftritt in der Art, dass Leute in der Nachbarschaft nicht unbedingt das Gefühl haben, mit denen will ich mich jetzt befreunden oder das sind ganz nette Jungs und Mädels. In anderen Ländern ist der Schwerpunkt viel mehr darauf gerichtet, wie kommen wir rüber, wie können wir das vermitteln an Leute, dass die das verstehen, also viel mehr von der anderen Perspektive gedacht wird und nicht von der eigenen Perspektive, sondern gekuckt wird, wenn du jetzt die Oma von nebenan bist, wie soll die denn diese Parole verstehen und wie bereitet man die Sachen auf, dass da eine Kommunikation stattfindet. Deshalb frage ich mich auch manchmal bei der autonomen Szene, ist denn die Idee überhaupt, die Gesellschaft zu verändern, oder ist die Idee einfach nur, seinen eigenen Freiraum zu haben, aber auch nur für bestimmte Leute, die in erster Linie weiß sind oder aus der Mittelklasse kommen, also das ist eine ganz klare demografische Tatsache. Diese ganze autonome Szene ist schon sehr privilegiert und ich finde, da fehlt manchmal so ein bisschen die Selbstkritik.“
Für den Berliner Autonomen Björn ist „die Bildung von kritischem Bewusstsein“ von zentraler Bedeutung. „Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden heute von den meisten Menschen so selbstverständlich wie ein Naturgesetz, wie die Schwerkraft hingenommen. Damit stirbt auch der Gedanke daran, dass es anders werden kann und dass Menschen um ihre Befreiung kämpfen können. Ich glaube, dass es heute vor allem darum geht, die Idee der menschlichen Emanzipation am Leben zu halten. Etwas anderes als die Anziehungs- und Überzeugungskraft ihrer Ideen kann die radikale Linke eh nicht bieten. Die Autonomen können nur so etwas wie Impulsgeber sein. Sie sind ein Laboratorium subversiver Ideen und Praktiken. In bestimmten gesellschaftlichen Situationen, wie zum Beispiel in Griechenland vor drei Jahren, können sie zeitweise als Avantgarde von sozialen Bewegungen agieren. Aber gerade das Beispiel Griechenland zeigt die Begrenztheit der Autonomen. Jenseits vom Aufstand bekommen sie nichts hin. Es mangelt ihnen schlicht an einer langfristigen Strategie und einer Perspektive jenseits der Revolte. Johannes Agnoli hat mal über die Autonomen gesagt, dass sie die Richtigen sind, die alles falsch machen. Ich glaube, das stimmt.“
„Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit. ‚Ohne mich‘ ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den ‚Ohne mich’-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhandengekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement“ (Hessel 2011a: 13), mahnt Stéphane Hessel, der als junger Widerstandskämpfer der Resistance miterleben musste, wie die Mehrzahl der Franzosen zur Zeit der Kollaborationsregierung von Vichy den Nazis gegenüber gleichgültig sich ins „unpolitische“ Private zurückzogen – und damit alle Verbrechen zuließen. „Auch heute begegnen wir diesem Gegensatz zwischen militanten Pionieren des Widerstands und der passiven Masse. Ich bin versucht zu sagen, dass höchstens 10 bis 20 Prozent der Menschen sich wirklich bewegen, um etwas Neues zustande zu bringen, und die anderen laufen dann eben mit. Und das ist bereits eine eher optimistische Aussage.“ (Hessel 2011b: 26)
Und doch steckt in den Worten von Stéphane Hessel ganz nebenbei noch eine Optimismus rechtfertigende Aussage: „… und die anderen laufen dann eben mit.“ Niemand kann heute bestreiten, dass die Bewegung der Achtundsechziger einigen Ländern einen spürbaren evolutionären Kick in Richtung Liberalisierung gegeben hat (auch wenn manches davon längst wieder zurückgedreht wurde). Und doch waren die linkspolitisierten Achtundsechziger seinerzeit realistisch betrachtet nur eine kleine Minderheit innerhalb der deutschen, französischen etc. Gesellschaften. Die reichhaltige Landschaft zivilgesellschaftlichen Engagements wäre ohne den Aufbruch der Achtundsechziger nicht möglich – war doch noch in den späten Sechzigern die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung der Meinung, Demonstrationen gehören nicht in eine Demokratie. Die deutsche Anti-AKW-Bewegung der 1980er Jahre war ebenso eine kleine, radikale, kriminalisierte Minderheit – doch ohne ihren militanten Widerstand gegen den atomaren Wahnsinn wäre der heute von einer konservativ geführten Regierung beschlossene (wenn auch nur halbherzig umgesetzte) Atomausstieg nicht denkbar. Dass sich heute liberal-konservative und populistische Politiker wie Guido Westerwelle oder Berlins Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit als homosexuell outen und die gleichgeschlechtliche Partnerschaften diskriminierenden Gesetze verändert wurden, ist ein Verdienst der radikalen Schwulen- und Lesbenbewegung früherer Jahrzehnte. So greift die autonome Bewegung auch heute zentrale Fragen unserer Zukunft auf und kritisiert unermüdlich gegenwärtige Fehlentwicklungen: Wie wollen wir zukünftig leben? Wie können wir heute schon besser miteinander leben und umgehen, ohne viele einzelne Menschen und die Erde als Ganzes zu zerstören? Warum seht Ihr weg, wenn vor Euren Augen Rassismus, Gewalt und anderes Unrecht geschieht?
Sie stellen diese Fragen nicht immer mit den richtigen Worten (so dass sie Menschen guten Willens, die nicht schon ein Dutzend autonome Plena besucht haben, auch verstehen können), und auch ihre Antworten sind nicht immer tauglich. „Widerstand kann Berufung sein, doch Gestaltung geht darüber hinaus. Aufbau ist die Fortsetzung des Widerstandes mit anderen Mitteln. Lebensweisheit ist das Gebot der Stunde. Man kann nicht nur Yin oder Yang sein; man muss sich im Rhythmus von beiden bewegen.“ (Hessel 2011b: 31) Sie zerfleischen sich bisweilen in absurden selbstreferenziellen Diskursen und begegnen sich und anderen in Formen, die weit vom „Neuen Menschen“ entfernt sind. Sie sind oft dogmatisch, rechthaberisch, unsolidarisch mit Nicht-Szeneangehörigen, uniformierte Mitläufer, prollige Machos oder arrogante Intellektuelle. Von den eigentlichen Zielen einer gerechten Veränderung der Welt abgekapselt, haben sich in der autonomen Szene „Wichtigtuer, Sektierer, Privilegienwahrer“ (Hessel 2011b: 31) breitgemacht. Sie gefallen sich oft so sehr in der Außenseiter- und „Randgruppe der Gesellschaft“-Pose, dass sie gar nicht mehr wollen, dass andere ihrem Beispiel folgen, fürchten sie doch den Verlust der liebgewonnenen Exklusivität.
Vieles davon sind schlicht jugendgemäße – um nicht etwas despektierlicher „pubertäre“ zu sagen – Verhaltensweisen, die schon lange über das biologische Jugendalter hinausgewachsen sind. Im Gegenzug sind Junge noch zu einer Empörung und Radikalität fähig, die sich auf Empathie – die Fähigkeit, am Leid anderer Lebewesen mitzuleiden – und nicht bloße Ratio stützt, eine wichtige Ressource, die bei der Mehrheit der Erwachsenen schon verbraucht zu sein scheint, wie könnten sie – wir – sonst so viel Unrecht tagtäglich ertragen. Oder vielleicht sind auch nur durch zu viel Brot & Spiele und die notgedrungen konservative Hineinsozialisierung in die erwachsene Konkurrenz- und Spaßgesellschaft die Synapsen nicht mehr mit den entsprechenden Hirnregionen verbunden und es bedarf eines kräftigen Stromschlages, um die schlummernde Kraft der Empörung zu wecken?!
Ohnehin schon Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer, junge Menschen werden in sozialdarwinistischen Ausleseanstalten, genannt Schule, jetzt schon fast überall ganztägig kaserniert, vitale Alte aus dem beruflichen und gesellschaftlichen Aktivleben in Wellnessrefugien abgeschoben, die Kindersterblichkeit liegt in den proletarischen Suburbs deutscher Großstädte dreimal so hoch wie in den gutbürgerlichen Vierteln – angesichts der horrenden strukturellen Gewalt in unserer Gesellschaft kann man selbst als Pazifist die Militanz der autonomen Szene ganz entspannt frei nach Bert Brecht bewerten: Was ist das Scheiben einwerfen bei einer Bank gegenüber der Geschäftsführung einer Bank? Oder, wie es der autonome Viktor formuliert: „Wenn man in Amerika die Leute sieht, die mit 500 kg auf den Hüften rumrennen, und dagegen die afrikanischen Kinder verhungern sieht, will man schon mehr verändern.“
„Die Welt ist keine Gerade“, las ich gestern auf einem T-Shirt. Sie hat Kurven und Buckel und gelegentlich unüberwindbare Gräben, die umgangen werden müssen. Gelegentlich muss man erst zwei Schritte zurückgehen, um vorwärtszukommen. Autonome sind in vielerlei Hinsicht Experten darin, zwei Schritte zurückzugehen, erreichte Ziele wieder einzureißen, nach dem erfolgreichen Sprung über die Barrikade deren Steine zu nutzen, um gleich vor sich eine neue aufzubauen. Doch vielleicht ist das einfach unabdingbar, um vorwärtszukommen. Wer den vorgegebenen Pfad nicht verlässt, entdeckt auch keine neuen Wege und verfügt damit auch nicht über einen Plan B, wenn sich der breite Pfad als Sackgasse entpuppt. Wie heißt es so schön: Nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Doch im Nichtstun sind wir alle – die meisten von uns – schon selbst ganz großartig. Wenn uns eines Tages bewusst wird, dass dieses Nichtstun das Starren auf die Mauer am Ende der Sackgasse ist, wird es Stimmen wie die der Autonomen und anderer radikaler Abweichler_innen bedürfen, uns alternative Wege aus der Falle zu offenbaren.
A.G. Grauwacke:Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren. Assoziation A, Berlin 2003.
Baron, Udo: „Die linksautonome Szene“, in: Dovermann, Ulrich (Hrsg.): Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn (2011), S. 231–245.
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Busch, Heiner: „Die Bürgerinitiative in der Lederjacke. Anmerkungen zu den Autonomen“, in: Vorgänge 101, Jg. 28/1989, Heft 5, S. 62–67.
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Michels, Robert:Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. W. Klinkhardt, Leipzig 1911.
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Rinas, Bernd:Veganismus: Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen? Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2012.
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Wagner, Karl, in: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre. 2012. Online unter: www.clubofrome.org/?p=703 [21.11.2014].
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