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Auch in Waldshut-Tiengen ist die Situation von Kindern und Jugendlichen geprägt von Veränderungen im Bereich der Familie, im Medienkonsum, in einer Freizeit, die zunehmend in organisierter Form unter professionalisierter Betreuung stattfindet. 55 % der Jugendlichen sind nicht zufrieden mit den Freizeitmöglichkeiten vor Ort. Über ein Viertel der Jugendlichen wollen weg, wenn sie erst einmal die Schule hinter sich haben. Was sie sich wünschen, trugen 50 Jugendliche im Rahmen einer Zukunftswerkstatt zusammen: weitere Sportangebote jenseits von Fußball, informelle Treffmöglichkeiten im Freien, vielleicht Grillplätze, mehr, unterschiedliche und für ihren Geldbeutel erreichbare Einkaufsmöglichkeiten, Musikveranstaltungen für Jüngere und Treffpunkte ohne erwachsene Kontrolle oder pädagogische Aufwartung. Immer schwieriger wird es für Jugendliche, ihre Interessen zu organisieren. Sie finden zunehmend weniger Gleichgesinnte. Engagieren können sie sich fast nur noch in pädagogisierten Lern- und Bildungsräumen. Tatsächlich wird im öffentlichen Raum wenig jugendliche Initiative sichtbar. Die Studie: Nicht weniger, sondern mehr muss für Jugendliche getan werden, wenn sie weniger werden. Ziel der Untersuchung des Jugendamtes der Stadt Waldshut-Tiengen und des Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. in Kooperation mit der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen war die Beschreibung der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen in der Region. Die entwickelten Erkenntnisse sollen als Grundlage der Weiterentwicklung einer bedarfsgerechten und kooperativ angelegten Jugendarbeit dienen. Das nun vorliegende Buch dokumentiert nicht nur die quantitativen Ergebnisse der Studie, sondern lässt vor allem auch die Jugendlichen selbst zu Wort kommen.
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Seitenzahl: 314
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Stadt Waldshut-Tiengen, Archiv der Jugendkulturen e. V. (Herausgeber):
Jugend in Waldshut-Tiengen
Originalausgabe
© 2014 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG,
Berlin; [email protected]
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage November 2014
Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim – bugrim.de
Auslieferung Schweiz: Kaktus – kaktus.net
E-Books, Privatkunden und Mailorder: shop.jugendkulturen.de
ISBN (Dieses Buch gibt es auch als E-Book.)
978-3-945398-03-6 print
978-3-945398-04-3 pdf
978-3-945398-05-0 epub
Gestaltung und Layout: sehen und ernten e.V. – sehenundernten.org
Druck: werbeproduktion bucher – wpb-berlin.de
Organisation und Durchführung vor Ort: Stefan Maßmann & Kinder- und Jugendreferat Waldshut-Tiengen
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Nicolle Pfaff, Bildungswissenschaftliche Fakultät Universität Duisburg-Essen
Projektleitung und Lektorat: Klaus Farin, Archiv der Jugendkulturen e. V.
Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Buchreihe. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist immer an Material jeglicher Art interessiert.
Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.
Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen e. V. unterstützen und Teil eines kreativen Netzwerkes werden.
Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de
Kapitel 1von Karl-Heinz Behr
„Es gibt keine Waldshut-Tiengener“
Ein sozialstrukturelles Mosaik der Doppelstadt am Hochrhein
Kapitel 2von Stefan Maßmann
Jugend als Zukunft – das Projekt
Kapitel 3von Artur Grechman
Die Jugend der Zukunft.
Kapitel 4von Karl-Heinz Behr
„Es hat uns nicht geschadet, dass wir hier aufgewachsen sind.“
Sich engagieren, gesehen werden, Wirkung erzielen – Erwachsen werden im Waldshut der 90er Jahre
Kapitel 5von Sara Burs, Nicolle Pfaff und Tina-Berith Schrader
Jugend gestern und heute – Biographische Erinnerungen von Angehörigen zweier Generationen
Kapitel 6
Die Studie
Kapitel 7von Stefan Maßmann
Räume für Jugendliche – drei Gruppenporträts
Kapitel 8von und mit Anja Tuckermann und Sandra Knecht
„Ich lache, aber ihr ahnt nicht, wie es in mir aussieht.“
Ein Foto- und Schreibworkshop
Anhang
Nur im E-Book:
Die komplette StudieDer Fragebogen
Von Karl-Heinz Behr
Es gibt keine Waldshut-Tiengener: Man wächst in Waldshut auf oder in Indlekofen, in Gurtweil, Tiengen oder einem anderen der 12 Ortsteile. Die Identifikation mit dem einen schließt häufig andere aus. Das ist auf den Dörfern so. Oberalpfener müssen immer wieder ihren Jugendtreff „Wäschhüsli“ verteidigen bei „Besuch“ von außerhalb, Ortsvorsteher und Ortschaftsrat müssen hin und wieder klärend eingreifen. Das ist aber auch in den Stadtteilen so. In Tiengen kann die Identifikation mit dem Stadtteil dann so klingen: „… Wo hab ich mich rumgetrieben und wie konnten wir nur alle die Kontrolle über unser Leben so verlieren ach ich weiß doch auch nicht wir waren doch den ganzen Tag dicht und jetzt sitzen wir vor Gericht ich hoff ich muss dort nie mehr hin denn dann müsste ich nach Waldshut und darauf hab ich keinen Bock weil ich mich lieber hier in Tiengen City auf irgendeine Bank hock … denn Tiengen ist die beste Stadt der Erde das is der Grund warum ich für immer hier in Tiengen City bleiben werde … und jetzt schreit mit mir Tiengen Tiengen Tiengen.“ `Empire State of Tiengen´ hat der Rapper Gravito, Tiengener, seinen Tiengen-Rap genannt, den er schon mehrfach enthusiastisch im Jugendzentrum vortrug. Ganz ungern geht er damit nach Waldshut.
Im Zuge der Gemeindereform, die zum 1. Januar 1975 die Stadt Waldshut-Tiengen schuf, wurde möglicherweise die Verwaltung gestrafft und vereinfacht, nicht aber das Zusammenleben der Bürger. Es gibt mit Schwyzertag Anfang Juli in Tiengen und der Waldshuter Chilbi Mitte August zwei große Stadtfeste, zwei Vereine kümmern sich um Handel und Gewerbe je in ihrem Stadtteil. Natürlich gibt es zwei Freibäder und zwei Rathäuser. Es gibt nur einen Gemeinderat, aber beispielsweise zwei CDU- und zwei SPD-Ortsvereine, die sich immerhin auf jeweils eine Liste für den Gemeinderat einigen können.
Trägt die Doppelstruktur in mancher Hinsicht zur bereichernden Vielfalt bei, so erhalten sich doch auch immer wieder wenig hilfreiche, manchmal teure Parallelstrukturen. Auch wenn manchem Verein die Aktiven fehlen, werden die vereinseigenen Strukturen und Bestände geschützt.
Die städtische Vereinsdatei weist 376 Einträge auf von A wie Akkordeon-Orchester Tiengen bis Z wie Zierfischfreunde Hochrhein. Vergleichsweise hoch ist die Vereinsbindung von Jugendlichen, stellt die Waldshut-Tiengener Jugendstudie 2014 fest: 73% der an der Studie Teilnehmenden sind in einem Sportverein, 36% in einer Musikgruppe, wobei sich die Zugehörigkeit zum einen oder anderen nach Geschlecht teilt – Mädchen machen eher Musik, Jungen sind mehr im Sport aktiv. Auch die soziale Herkunft spielt dabei eine Rolle. Trotz hoher Mitgliederzahlen klagen Vereine und Verbände über die Schwierigkeiten, einen Vorstand zu besetzen oder Jugendtrainer zu finden. Eigeninitiative und Engagement, so stellt die Jugendstudie fest, ist bei den befragten Jugendlichen gering ausgeprägt. Das entspräche wohl den Einstellungen ihrer erwachsenen Vorbilder, ergänzte ein Kommunalpolitiker bei der Vorstellung der Studie. Nicht überraschend, dass die Stadtjugendringe in Waldshut und Tiengen schon in den 90er Jahren eingeschlafen sind und auch der Kreisjugendring, als einzig verbliebene verbandliche Vertretung Jugendlicher, seit Jahren Nachwuchsschwierigkeiten hat.
Trotz des auch hier vorhandenen landesüblichen Geburtendefizits ist die Bevölkerung in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen auf 22.700 im Jahr 2013. Das verdankt die Stadt vorwiegend den Gewinnen aus der bundesweiten Nord-Süd-Wanderung, aber auch den Wanderungsgewinnen aus dem Umland. 2012 blieb bei 1.963 Zuzügen ein Plus von 185 Personen. Der Demografiebericht der Bertelsmann-Stiftung, der Waldshut-Tiengen unter „mittelgroße Kommune mit geringer Dynamik im ländlichen Raum“ einordnet, prognostiziert einen weiteren leichten Anstieg bis zum Jahr 2025, bevor die Einwohnerzahl sinken wird. 2.700 Personen klassifiziert die Statistik als Ausländer, also rund 12% der Bevölkerung. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist, wenn man die Definition des Zensus 2011 zugrunde legt („Ausländer und alle nach 1955 nach Deutschland Zugewanderten einschließlich derer, die einen Elternteil haben, der nach 1955 nach Deutschland eingewandert ist“), etwa dreimal so hoch.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in den zwei städtischen und zehn dörflichen Stadtteilen ist, im Gegensatz zur Gesamtentwicklung, schon längst gesunken. Auch damit liegt Waldshut-Tiengen im Landestrend: Das Statistische Landesamt verzeichnete den Höhepunkt schon 2001 mit rund 4.800 jungen Menschen unter 20 Jahren. Der Jugendquotient, also der Anteil der unter 20-Jährigen bezogen auf die Zahl der 20-65-Jährigen, wird bis 2030 mit 4.000 auf 32,8% gesunken sein, wohingegen der Altenquotient, der Anteil der über 65-Jährigen mit 6.000 auf über 50% steigen wird. Folgte man der Logik einer „Demografischen Rendite“, wie sie landesweit derzeit die Kürzungen an Lehrerstellen begründet, dann brauchte man künftig wohl für Kinder und Jugendliche eher weniger als mehr tun.
„Die Wirtschaftsstruktur des Landkreises zeigt zwei Besonderheiten: 1. Die Grenzlage zur Schweiz bewirkt enorme Erwerbstätigenströme in die Schweiz und einen hohen Kaufkraftzufluss in den Landkreis. 2. Der Kreis ist dünn besiedelt und stark ländlich geprägt. Funktionen und Einrichtungen, die städtische Räume kennzeichnen, sind nur unterdurchschnittlich vorhanden oder fehlen ganz“, schreibt die „Wirtschaftsförderung des Landkreises Waldshut 2014“. Kennzeichen der gewerblichen Struktur des Landkreises seien ein breiter Branchen-Mix in kleinen und mittleren Unternehmen mit unter 1.000 Beschäftigten. 11.400 Personen waren 2013 in der Stadt Waldshut-Tiengen laut Statistischem Landesamt sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 40% davon arbeiteten im produzierenden Gewerbe, eine im Landesvergleich hohe Quote. „Eine Spezialität der Region ist die qualitativ hochwertige, flexibel auf Nischen und tendenziell auf kleinere Stückzahlen ausgerichtete Produktion. Viele Unternehmen … sind Ableger oder Töchter mit Entscheidungszentralen außerhalb der Region, häufig auch in der Schweiz. … Die stärksten Branchen im Dienstleistungssektor sind der Einzelhandel (am Hochrhein mit rund 40% Schweizer Kundschaft), der Tourismus (mit ca. 9% der regionalen Wertschöpfung) und das Gesundheitswesen mit 3.800 Arbeitsplätzen“, berichten die Wirtschaftsförderer.
Viele Jugendliche wollen weg, wenn sie erst einmal die Schule hinter sich haben. Aber es kommen auch viele. Nicht nur Touristen, die die Innenstädte von Waldshut und Tiengen bewundern, den Radweg am Rhein entlang nutzen, im Schwarzwald wandern oder klettern. 34.000 Gästeankünfte und 79.000 Übernachtungen verzeichnet die Statistik des Landkreises 2012 in Waldshut-Tiengen. Das Schwyzerdütsch, das in der Kaiserstraße Waldshut an sonnigen Tagen Standardsprache wird, wird nicht nur von Touristen, sondern auch von vielen Tagesgästen gesprochen, die in Deutschland günstig einkaufen oder essen gehen können. Zur Arbeit kommen 8.500 Menschen in die Stadt, 4.800 Arbeitnehmer müssen wegfahren.
4.400 Schülerinnen und Schüler besuchen täglich die 9 städtischen Schulen. Viele von ihnen kommen aus dem Umland. Mit den weiteren Schulen – Gewerbliche Schulen, die christliche Schule und verschiedene Förderschulen – pendeln fast 5.000 Schülerinnen und Schüler täglich in die 18 Schulen im Stadtgebiet ein. Manche haben lange Fahrwege: Sie kommen aus Hohentengen und Jestetten im Osten des Landkreises oder aus Görwihl westlich der Stadt. Dass Wohnort und Schulort sehr weit auseinander liegen und der Busverkehr außerhalb der Schulzeiten zu jugendlichen Lebensrhythmen oft nicht so recht passen will, ist die gemeinsame Erfahrung schon vieler Jugendgenerationen.
Eine Spezialität der Region ist, dass junge Leute mit Hochschulqualifikation vor Studium und Berufsausbildung abwandern, weil hier „keine Uni um die Ecke ist“ (Fabian Leber), und sie in der Regel nicht mehr zurückkommen. „Ich weiß nicht, ob inzwischen ein Bewusstsein dafür da ist, dass man die Leute auch hier halten muss. Irgendwann hast du dann echt Probleme, da noch Leute zu finden. Diese gut ausgebildeten Leute, die kriegst du dann auch nicht mehr zurück, wenn die einmal weg sind…“ gibt Fabian Leber zu Bedenken. Er ist in Waldshut aufgewachsen und lebt in Berlin (s. auch das Gespräch mit ihm in diesem Buch).
Die SGB-II-Quote für Waldshut-Tiengen beziffert der Demografie-Bericht der Bertelsmann-Stiftung mit 7,2%, das sind knapp 1.100 Personen zwischen 15 und 65 Jahren. Kinder und Jugendliche, die Leistungen nach dem SGB II erhalten gelten als arm. Im Jahr 2011 waren das 369 Kinder unter 15 Jahren (11%) und 49 Jugendliche zwischen 15 und 17 (7,1%) in Waldshut-Tiengen. Der monatliche Regelbedarf für Alleinstehende, also das Geld, das eine Person laut Sozialhilfegesetzgebung monatlich mindestens zum Leben braucht, liegt zurzeit bei 391 €. Hinzu gerechnet werden noch Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung, Miete und Heizkosten. Im Falle der Grundsicherung für Arbeitssuchende kommen unter Umständen einmalige Leistungen für Erstausstattungen, Mehrbedarf für Schwangere oder Schwerbehinderte, Leistungen für Bildung und Teilhabe oder ein Einstiegsgeld hinzu. Wenn von SGB-II-Beziehern (oder SGB-II-Quote) gesprochen wird, dann sind Arbeit suchende Menschen und deren Angehörige gemeint, die neben anderen Förderungen auch die finanziellen Zuwendungen nach dem 2. Sozialgesetzbuch bekommen.
Offiziell sind in Waldshut-Tiengen 450 Personen arbeitslos gemeldet, das sind 2% der erwerbsfähigen Bevölkerung. Nach anderer Rechnung (der Bertelsmann-Stiftung, die sich auch auf Zahlen aus der Bundesanstalt für Arbeit bezieht) lag 2011 der Arbeitslosenanteil für die Stadt bei 8,3%, das wären dann 1.200 Personen, 90 davon unter 25 Jahre alt. Zum Vergleich: Land und Landkreis liegen bei der Gesamtzahl der Arbeitslosen bei einer Quote um 5,6%. 390 Personen waren 2011 schon ein Jahr oder mehr ohne Arbeitseinkommen. Diese „Langzeitarbeitslosigkeit“ führt zu besonders prekären Lebenslagen. Tafelläden werden dann lebenswichtig. Personen, deren monatliches Gesamteinkommen unter 900 € liegt, dürfen im Tafelladen in der Waldshuter Bergstraße einkaufen. Unter Vorlage eines Einkommensbescheides kann man sich drei Mal pro Woche in der `Tafel´ der Caritas zu günstigen Preisen mit Lebensmitteln versorgen. Das Angebot ist in der Regel begrenzt und hängt davon ab, was an Lebensmitteln und wie viel davon die ehrenamtlichen Abholer des Ladens bei den örtlichen Lebensmittelgeschäften bekommen haben. Manchmal gibt es kein Joghurt und kaum Milch, an anderen Tagen sind Obst oder Eier knapp. Je nach Angebot wird begrenzt, wie viel jeder Kunde kaufen darf.
Unter dem Stichwort „Topographie der Kindheit“ stellte das Team um den Freiburger Soziologen Baldo Blinkert fest: „Durch veränderte gesellschaftliche Bedingungen verändert sich Kindheit.“ Das ist eine Selbstverständlichkeit. Interessant wird es, betrachtet man genauer, was denn die relevanten gesellschaftlichen Bedingungen sind: Auch in Waldshut-Tiengen sei die Situation von Kindern, so die Sozialwissenschaftler, geprägt von Veränderungen im Bereich der Familie, verändertem Medienkonsum, einer Freizeit von Kindern, die zunehmend in organisierter Form unter zunehmend professionalisierter Betreuung stattfindet. Zudem haben Kinder immer seltener Zugang zu naturnahen Flächen, die ihnen freies Spielen ermöglichen. In drei ausgewählten Wohnvierteln, in Waldshut auf dem Aarberg und im Ziegelfeld, in Tiengen westlich des Bahnhofs, wurde 2007 vom Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS) die „Aktionsraumqualität von Kindern und Jugendlichen“ exemplarisch untersucht. Befragt wurden in allen drei Gebieten Haushalte, in denen ein oder mehrere Kinder zwischen 6 und 15 Jahren lebten. Es wurden 177 Haushalte mit 266 Kindern in die Untersuchung einbezogen. Christine Schings, die die Untersuchung durchgeführt hat, kommt zu dem Schluss: „Trotz der eher ländlichen Verhältnisse ist bei einem Fünftel der Familien die objektive Aktionsraumqualität als schlecht bis sehr schlecht zu kategorisieren. Auch die Spielmöglichkeiten der Kinder weisen auf Handlungsbedarf hin: Zwar können zwei Drittel der Kinder laut Aussage ihrer Eltern unbeaufsichtigt im Freien spielen, dagegen kann dies ein gutes Viertel nur mit Bedenken der Eltern, fünf Prozent spielen nur unter Aufsicht im Freien und für drei Prozent ist das Spielen im Freien gänzlich unmöglich. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, wie notwendig es ist, vorhandene Aktionsräume für Kinder zu sichern … und dem Verschwinden von naturgerechten Erlebnisräumen entgegen zu wirken.“ Die Studie machte anschließend Vorschläge zu drei Aspekten: 1. Verkehr: Gefahren die vom Verkehr ausgehen, sollten abgemildert werden und auf die Vernetzung von Spielorten sollte geachtet werden. 2. Wohnumfeld: Nicht nur klassische Spielplätze verbessern die Aktionsraumqualität, sondern vor allem auch naturnahe Spielräume, die Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. 3. Um die Aktionsraumqualität dauerhaft zu sichern, muss dafür geworben werden, dass die Bürgerinnen und Bürger der Stadt die Bedürfnisse der Kinder nicht nur akzeptieren, sondern sie darüber hinaus als Bereicherung ihrer Wohn- und Lebensqualität erkennen.
Die Stadtverwaltung sieht Erhalt und Verbesserung von Spiel- und Aktionsräumen als Querschnittsaufgabe. „Ich würde mir wünschen, dass bei allen Leuten in verantwortlichen Positionen, ob jetzt in der Schule, im Betrieb oder im Verein, Jugend eine Rolle spielt“, sagte Martin Albers, Oberbürgermeister von Waldshut-Tiengen, den Interviewern der Jugendstudie. Die Stadtverwaltung bemüht sich um die 63 „offiziellen“ Spiel- und Bolzplätze, meist in kleinen Schritten, aber stetig. Wo immer möglich, werden Kinder und Anwohner in Bau- und Umgestaltungsprojekte einbezogen, ihre Ideen und Vorstellungen sind gefragt, sie können mithelfen beim Pflastern oder Pflanzen. Hinzu kommt eine weitere Aufgabe: Es gilt, Flächen für kindliches Spiel zu sichern, die keine Spielplätze sind, aber offensichtlich Spielpotenzial aufweisen: Verwilderte Grundstücke, Uferflächen, die nicht bewirtschaftet werden, Waldränder oder Böschungen bieten Kindern vielfältige Spielmöglichkeiten. In Waldshut-Tiengen sind solche „weißen“ Flächen kartiert und den in verschiedenen Ämtern genutzten Geo-Informationskarten hinterlegt. Soll eine dieser Flächen bebaut oder anderweitig genutzt werden, kommt ein verwaltungsinternes Prüfverfahren in Gang, das die Nutzung entweder verhindert oder die Suche nach geeigneten Ersatzflächen initiiert.
550 Schülerinnen und Schüler an Waldshuter Schulen sind mit dem, was man in der Freizeit in Waldshut machen kann, nicht zufrieden. 580 meinen, dass Waldshut ein Jugendhaus braucht. Das war 1994. Jugendliche einer Waldshuter „Jugendhausinitiative“ hatten nach einer eigenen Umfrage 670 Fragebogen ausgewertet, um ihrer Forderung nach einem Jugendhaus Nachdruck zu verleihen. Im Oktober 1997 wurde das „Jugendcafé im Kornhaus“ Waldshut eingeweiht. Da war der größte Teil der engagierten Jugendlichen schon weggezogen, zu Zivildienst oder Bundeswehr, zum Studium oder für eine Berufsausbildung. „Nichts wie weg!“ war das bestimmende Gefühle der letzten Schuljahre, erinnert sich Fabian Leber, der einer der Initiatoren dieser Umfrage war.
20 Jahre später stellt die aktuelle Jugendstudie fest: 55% der Jugendlichen sind nicht zufrieden mit den Freizeitmöglichkeiten vor Ort. Auch hier wurden wieder fast 700 Fragebogen ausgewertet. Geantwortet hatten aber nicht nur Waldshuter, sondern eine breite Auswahl von Jugendlichen, die in Waldshut-Tiengen zur Schule gehen und zwischen 14 und 18 Jahre alt sind.
Und wie steht es inzwischen mit den Fluchtgedanken? 36% der Jugendlichen leben gern an ihrem Wohnort, stellt die Studie weiterhin fest, nur 6% nicht gern. Aber über ein Viertel der Jugendlichen möchte die Region nach dem Schulabschluss verlassen. Dabei gibt es Unterschiede nach Bildungsniveau, Migrationshintergrund, Alter und Geschlecht.
Was sie sich wünschen, trugen auf Einladung des Kinder- und Jugendreferates 50 Jugendliche im Rahmen einer Zukunftswerkstatt im Dezember 2013 zusammen: Das sind weitere Sportangebote jenseits von Fußball, informelle Treffmöglichkeiten im Freien, vielleicht Grillplätze, mehr, unterschiedliche und für ihren Geldbeutel erreichbare Einkaufsmöglichkeiten („ein H&M wäre toll“), Musikveranstaltungen für Jüngere und Treffpunkte ohne erwachsene Kontrolle oder pädagogische Aufwartung. Eine Jugendbar wäre gut. Am Ende des Tages wurden Initiativen und Maßnahmen vorgeschlagen, wie diese Wünsche verwirklicht werden könnten.
Nicht weniger, sondern mehr muss auch für Jugendliche getan werden, wenn sie weniger werden. Immer schwieriger wird es für sie, ihre Interessen zu organisieren. Sie finden zunehmend weniger Gleichgesinnte, besonders im ländlichen Raum. Verschiedene jugendliche Initiativen zur Einrichtung eines Jugendgemeinderats in Waldshut-Tiengen in den letzten Jahren sind neben anderem auch daran gescheitert. Zum anderen haben Jugendliche immer weniger freie, unverplante Zeit. Engagieren können sie sich fast nur noch in „vorbereiteten“ Bereichen in Verein oder Jugendarbeit, in pädagogisierten Lern- und Bildungsräumen. Andererseits äußerten Jugendliche ihre Überraschung angesichts der Verwirklichung eines Parkour-Trainingsplatzes den Interviewern der Jugendstudie gegenüber: „… Sozusagen aus´m Nix ist es entstanden, obwohl das unser Traum eigentlich schon früher war, einen Parkour-Park zu haben. Und dann haben wir das halt gemacht und dann lief das eigentlich und Stefan [Stefan Maßmann im Jugendzentrum Tiengen] unterstützt uns auch immer und alles. Ja, das macht Spaß mit denen zu arbeiten … Also, wenn man `ne Idee hat, man ist bei denen immer willkommen.“ Tatsächlich wird im öffentlichen Raum wenig jugendliche Initiative sichtbar. Mehr wäre möglich. Die Bemerkung anderer Jugendlicher in der Jugendstudie illustriert das: „… Was aber echt cool ist, dadurch dass es so wenig Jugendliche sind in den Vereinen und überall, wenn man was macht, rennt man echt offene Türen ein bei den Erwachsenen.“ Und nun, folgerichtig, steht die Jugendbar auf der Wunschliste. Auf die Frage, was denn als erstes zu tun sei, wenn sie einen solchen Treffpunkt verwirklichen wollten, lautet die Antwort: Dann gehen wir zum Oberbürgermeister einen Kaffee trinken. In ihre Erfahrung offener Türen werden offenbar alle Entscheidungsebenen mit einbezogen.
Dabei entsteht ein Widerspruch: Angesichts der wenigen, frei planbaren Zeit und den geringer werdenden gestaltbaren Räumen erscheint der Wunsch nach „Zonen zum Chillen“, Bereiche, in denen Erwachsene nicht vorkommen, vielleicht eine Jugendbar, konsequent. Solche weniger kontrollierten Bereiche müssten aber von den Erwachsenen ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden. Oder sollten Erwachsene einfach manche Zeiten und Orte frei lassen – frei von Einrichtungen und Nutzung, frei von Erwartungen?
Der demografische Wandel ist die derzeit am meisten unterschätzte Herausforderung für die Kommunen im Land, ist in Politikerreden und öffentlichen Statements zu hören. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung stellte fest: „Das Statistische Bundesamt erwartet …, dass in Deutschland 2050 mindestens zwölf Millionen Menschen weniger leben als heute. Gleichzeitig schafft der wirtschaftliche Strukturwandel zwar neue Arbeitsplätze – aber sie entstehen vor allem in den Metropolregionen, zu denen auch das ländliche Umland der Großstädte gehört. In ländlich-peripheren Gebieten geht dagegen Beschäftigung verloren. Besonders junge Menschen, und damit potenzielle Eltern, folgen dem Ruf der Zentren. Beide Prozesse sorgen dafür, dass der entlegene ländliche Raum überproportional von Alterung und Abwanderung betroffen ist. Und anders als früher wird die Landflucht nicht mehr durch hohe Kinderzahlen ausgeglichen. … Die geografische Lage der Orte, die Siedlungsstruktur sowie die Möglichkeit, wichtige Infrastrukturen wie Schulen, Ämter oder städtische Zentren in kurzer Fahrzeit zu erreichen, wirken sich auf die Bevölkerungsentwicklung aus. Aber auch die Frage, wie aktiv sich die Bürger um ihre Belange kümmern, hat einen Einfluss auf die demografische Stabilität.“ Waldshut-Tiengen ist weder entlegener ländlicher Raum noch ländliches Umland einer Großstadt. Die Befunde treffen aber trotzdem zu. Was heißt das folglich?
„Ich bleib erst mal hier nach dem Abi“, kündigte ein Jugendlicher aus der Parkour-Gruppe an. Er hatte durch die Einrichtung des Parkour-Trainingsplatzes erlebt, dass man tatsächlich etwas bewegen und gestalten kann, wenn man zusammen mit anderen aktiv wird. Und dass sich das lohnt.
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin 2011, S. 6f.
Blinkert, Baldo: Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Eine Untersuchung im Auftrag der Stadt Freiburg, Pfaffenweiler: Centaurus 1996 (FIFAS-Schriftenreihe). Demografie-Bericht der Bertelsmann-Stiftung: Online-Abfrage Mai 2014. Haushaltsplan der Stadt Waldshut-Tiengen
Landkreis Waldshut: Daten und Informationen zur Kreistagswahl 2014, S. 113.
Landkreis Waldshut: Tourismus in Zahlen – Statistik des Landkreises Waldshut 2012.
FIFAS/Schings, Christine: Aktionsraumqualität von Kindern und Jugendlichen in Waldshut- Tiengen. Freiburg 2007. Kostenloser Download: www.fifas.de/all/pdf/Bericht_Aktionsraumqualitaet_Waldshut_Tiengen_2007.pdf.
Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Zensus 2011 – Bevölkerung Waldshut-Tiengen, Stuttgart 201
Von Stefan Maßmann
Ausgangspunkt für den Entschluss, eine umfassende Jugendstudie für die Stadt Waldshut-Tiengen erstellen zu lassen, war die Feststellung, dass Jugendarbeit, geleistet in Vereinen, Verbänden oder als städtische, häufig vor der Problematik stand, Jugendliche zu erreichen, zu begeistern und dauerhaft an sich zu binden. Die Erfahrung war, dass man die jungen Menschen oftmals nur für einzelne, überschaubare Projekte gewinnen konnte und man sie nach Abschluss, häufig auch schon während des Ablaufs, wieder verlor. Wichtige Aspekte der Jugendarbeit wie eine Vereins-/Verbandsidentifikation, Beziehungskultur, Teilhabe an öffentlichem Leben über Institutionen, wurden erschwert.
Die Analyse dieser Situation, die sich über einige Jahre entwickelte, war für alle Beteiligten ausgesprochen schwierig und es fanden sich letztendlich auch keine umfassenden Situationsbeschreibungen beziehungsweise greifbare Lösungsansätze. Beschreibungen wie „Generation online“, „Generation Spaß“, „Generation Suff“ „Generation Praktikum“ und so weiter deuteten mit erhobenen Zeigefinger auf einzelne Aspekte, die dann pars pro toto eingesetzt wurden und die Jugend pauschal disqualifizierten – oftmals entgegen besseren Wissens und der Kenntnis aktueller Zahlen. Hilfreich hingegen war die Lektüre bekannter Jugendstudien wie beispielsweise der Shell-Studie oder der SINUS-Jugendstudie. Die vor Ort erkannten Probleme folgten demnach einem bundesweiten Trend, der sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen speist; ein Zusammenspiel aus Faktoren, wie
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