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Eine illusionslose Großreportage über die rivalisierenden Gangs der zweiten Migrantengeneration, rechte und linke Skinheads und Neonazis, politisierte Autonome und unpolitische Hooligans, die Strategien von Polizei und Sozialarbeit und über die haarsträubende Hilflosigkeit der Politik. Das inzwischen zu einem modernen Klassiker gewordene Buch erschien erstmals 1991 im Rotbuch Verlag, war lange Jahre vergriffen und nur über Ebay und Antiquariate zu teils horrenden Summen zu bekommen und wird nun im Originaltext von 1991 wiederveröffentlicht - ergänzt um ein ausführliches, analytisches Nachwort "20 Jahre danach". "... ein Buch, das aneckt, das so recht in keine Schublade passen will - und das gerade deshalb so lebendig und authentisch ist. Ein schnelles, ein aggressives Buch, das die vertrauten Erklärungsansätze so mancher Pädagogen und Sozialarbeiter über den Haufen werfen will. Unbedingt lesenswert." Radio Bremen "Erstaunlicherweise können die beiden schreiben, obwohl sie Deutsche sind." ORF
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Seitenzahl: 253
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Klaus Farin
Eberhard Seidel
Jugendgangs in Deutschland
KLAUS FARIN, geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin. Nach Tätigkeiten als Schülerzeitungsredakteur und Fanzine-Macher, Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist nun freier Autor sowie Lehrbeauftragter und Vortragsreisender in Schulen, Jugendklubs, Justizvollzugsanstalten, Akademien und Unternehmen. Diverse Veröffentlichungen über Skinheads, Fußballfans, Neonazis, Gothics, Karl May und andere (zuletzt: Über die Jugend und andere Krankheiten. Archiv der Jugendkulturen 2008).
Von 1998 bis 2011 war Klaus Farin Leiter des Archiv der Jugendkulturen, das Materialien jeglicher Art (Fanzines, Flyer, Tonträger, Bücher, wissenschaftliche Studien usw.) über & aus Jugendkulturen sammelt, analysiert, archiviert und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Seit 2011 ist er Vorsitzender der Stiftung Respekt – Die Stiftung zur Förderung von jugendkultureller Vielfalt und Toleranz, Forschung und Bildung.
Kontakt:Archiv der Jugendkulturen e. V.Fidicinstraße 310965 BerlinE-Mail: [email protected]: www.klaus-farin.de
EBERHARD SEIDEL, geboren 1955 in Sommerhausen/Franken, lebt seit 1977 in Berlin. Er ist Diplomsoziologe und Journalist. Seit den frühen 80er Jahren arbeitete er als freier Journalist für Zeitungen und Rundfunkstationen. 1987 gründete er die Monatszeitschrift Vis á Vis – Kultur im Wedding, 2005 Q-rage – die Zeitung des größten Schulnetzwerkes Deutschlands „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Ab 1990 Veröffentlichung zahlreicher Bücher und Aufsätze zu den Schwerpunkten Rechtsextremismus, Islamismus, Migration und jugendliche Subkulturen. Von 1997 bis 2002 war er Redakteur der tageszeitung, zuletzt als Leiter des Ressorts Inland. Seitdem ist er Geschäftsführer von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Siehe auch: www.schule-ohne-rassismus.org. 1992 erhielt er den Journalistenpreis „Alltägliche Ausländerfeindlichkeit in Deutschland“ der Industriegewerkschaft Medien.
Kontakt:„Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“Ahornstraße 510787 BerlinE-Mail: [email protected]
© 2012 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, BerlinAlle Rechte vorbehalten1. Auflage Februar 2012
Die Erstauflage erschien 1991 im Rotbuch Verlag, Berlin
Herausgeber:Archiv der Jugendkulturen e. V.Fidicinstraße 3, D – 10965 BerlinTel.: 030 / 694 29 34; Fax: 030 / 691 30 16E-Mail: [email protected]
Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)Privatkunden, Mailorder und E-Book: www.jugendkulturen.de
Satz und Layout: Martin Gegenheimer, Conny Agel unter Verwendungeines Fotos von Metin Yilmaz/www.metinyilmaz.deDruck: werbeproduktion bucher
ISBN Buch: 978-3-940213-67-9ISBN E-Book: 978-3-940213-76-1ISBN PDF: 978-3-943612-40-4
Fokus
Irritationen
Objekt revolutionärer Begierden
Auf der Suche nach der Kriegserfahrung
Multikulturelle Streetgangs
Das Vorbeben
Auf dem Weg in den Untergrund
Die frühen 80er Jahre
Die Türkenmacher
Porträt eines „Killers“
Tatort Schule
Flucht nach Berlin
„Dann machen wir halt unsere eigenen Regeln.“
Sturmtruppen für Doitschland
Der braune Oktober
Rauben für Deutschland
Neonazis oder Desperados?
Die Nazizentrale
Skinheads: Rebel with cause
Die Anfänge
Skins ohne Head
S.H.A.R.P.: Skins gegen Rassismus
Thälmann, Lenin, Stalin
Die dritte Generation
„Die denken alle, Skins sind blöde.“
Die dritte Halbzeit
Mogadischu-Feeling
„Rechtsradikale“ Hooligans?
„’Ne Faust im Gesicht hat noch niemandem geschadet.“
Streetfighter gegen rechts
Irgendwas machen
Zahn um Zahn
Rassismus am Nachbartisch
„Wenn’s an meine eigenen Sachen geht, werd’ ich komisch.“
Mädchengangs und Männerrituale
Rude Girls
Streetfighterinnen
Bonus-Track: „Anmache ist Anmache.“
Jugend als Sicherheitsrisiko
Polizei – innovative Wege der Aufstandsbekämpfung
Der gläserne Jugendliche
Das Ende der Politik
Linke Ohnmacht
Hilflose Pädagogik
Medien: Zwischen Kriegsberichterstattung und Stigmatisierung
Abblende
Literatur
„Nur in Stämmen werden wir überleben!“
Der Verteilungskampf geht weiter (1991 bis 2011)
„Generation Krieg in den Städten“ und „Generation Golf“
Die Radikalisierung der Mittelschichten
Die Jugend und der Islam
Kein Ende der Gewalt? Die Angstzonen der Republik
Stammeskriege erschüttern europäische Metropolen. Ob London, Paris, Frankfurt, Leipzig oder Berlin: Überall bietet sich ein ähnliches Bild. Jugendbanden durchstreifen mit lautem Kriegsgeschrei und martialischem Outfit den Großstadtdschungel. Aufgeschreckte BürgerInnen verlangen nach Polizeischutz und verbarrikadieren sich in ihren Wohnungen. Die Rhythmen, die den multikulturellen Alltag begleiten, sind ihnen zu heiß. Die schrillsten und radikalsten Partituren werden augenblicklich im welthistorisch gebeutelten Berlin komponiert. Dort liefern sich, beschattet von deutschdeutschen Vereinigungen, multiethnische Streetgangs Straßenschlachten mit Skinheads, Neonazis und Polizisten.
Rivalisierende Gangs wandeln auf dem Kriegspfad. Sie kämpfen um Ruhm, Ehre und die Kontrolle über ihre Hoheitsgebiete. Mit Fahrradketten, nagelbespickten Baseballschlägern, Butterfly-Messern, Wurfsternen, Leuchtspurgeschossen, Molotowcocktails und asiatischen Kampfhölzern bewaffnet, ziehen sie in die Schlacht. Allein in Westberlin schlagen nach Schätzungen der Polizei mehr als 4.000 Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren brutal aufeinander ein. Zurück bleiben Blessuren, Schwerverletzte, mitunter selbst ein Toter. Verwirrend ist die Szene auch in Ostberlin, wie im Gebiet der ehemaligen DDR überhaupt. Niemand hat einen genauen Überblick, und Insider befürchten Schlimmstes für die Zukunft. Die lokalen Kriegshandlungen könnten sich zum epidemischen Flächenbrand ausweiten. Werden Riots und brennende Stadtteile – wie wir sie bereits aus Brixton, New York oder Lyon kennen – bald zum Alltag bundesrepublikanischer Großstädte gehören?
Soziologische, politologische, sozialpsychologische und ökonomische Theorieansätze werden bemüht, um den Ausbruch solcher Gewalt zu ergründen. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Auch die Freunde klarer politischer Weltbilder stoßen schnell an Grenzen. Denn die Kämpfe der multikulturellen Streetgangs lassen sich dem Links-Rechts-Schema nicht einfach zuordnen. Täglich wechseln Kämpfer die Fronten. Wie ist der 17-jährige Mesut einzuschätzen? Erst prügelte er in einer Skinheadgruppe für Deutschland. Danach schließt er sich einer von türkischen Jugendlichen dominierten Streetgang an und vertritt jetzt die Meinung: „Nur ein toter Nazi ist ein guter Nazi.“ Ist Mesut eine moderne Wiederholung der Metamorphose des Saulus zu Paulus? Oder führt er den gleichen Kampf im verwandelten ideologischen Gewand? Was ist von den Skinheadjugendlichen zu halten, die einen Polizisten, der sie für die Republikaner anwerben wollte, wegen rechtsextremistischer Propaganda bei seinem Vorgesetzten anzeigen wollten? Oder von dem jungen Antifa-Aktivisten, der während seiner Undercover-Tätigkeit in einer rechten Gang bemerkt, dass ihm der Habitus dieser Jugendlichen viel näher liegt als die Einstellungen der intellektuelleren und in seinen Augen arroganten Antifas? Oder von den beiden BFC-Hooligans, die im Frühjahr 1990 gemeinsam mit anderen die autonomen Besetzer in der Mainzer Straße überfallen und knapp sechs Monate später bei der Räumung gegen die Polizei auf deren Seite stehen? Sind die Fights zwischen Hooligans, Skins, Faschos, Autonomen und multikulturellen Streetgangs tatsächlich ein Indikator für Ausländerfeindlichkeit, nationalstaatliche Regression und Polarisierung der Gesellschaft? Oder ersetzt die stammes-ähnliche Organisation die fehlenden Familienbindungen und sozialen Kontakte im Großstadtkiez?
Politiker, von denen Antworten auf die besorgniserregenden Tendenzen der Jugendszene erwartet werden, reagieren entweder mit staatlicher Repression oder winken in entnervter Hilflosigkeit ab. Häufig wird auf das quasi evolutionäre Entstehen von Jugendkulturen verwiesen, zu deren Selbstverständnis die Anwendung von Gewalt immer gehört habe: „Wilde Cliquen“ in der Weimarer Republik, „Halbstarke“ in den 50er Jahren, „Studentenunruhen“ Ende der 60er Jahre, „Rocker“ und „Punks“ in den Siebzigern. Und jetzt eben Skins, Streetgangs, Hooligans. Nichts Neues also! Simplifizierende, historische Ableitungen wie diese verkennen jedoch die Brisanz und Sprengkraft der jüngsten Jugendbewegungen. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob Jugendliche ihre Feindbilder politisch motivieren, gegen das „Establishment“, den „autoritären Charakter“ und „die Reaktionäre“ aufbegehren oder Jagd auf „Kanaken“ machen. Erst seit Mitte der 70er Jahre bot die Immigration ausländischer ArbeitnehmerInnen erstmals wieder die Gelegenheit, Sündenböcke auch in der Bundesrepublik anhand rassistisch definierter Merkmale aufzubauen. Dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik frühzeitig von solchen Möglichkeiten Gebrauch machte, werden wir später zeigen.
Trotz des provokativen Rückgriffs auf nationalsozialistische Symbole bei rechten Jugendgangs ist weder Rassismus noch Nationalismus das Kernproblem rivalisierender Banden. In Wahrheit sind Hakenkreuze und SS-Runen allenfalls Anleihen, eher hilflose Orientierungsversuche gegenüber einer gesellschaftlichen Erfahrungswelt, die immer unübersichtlicher und befremdender geworden ist. Hinter den spektakulären Auftritten vermeintlicher Neonazis steckt daher nicht notwendigerweise ein neuer Faschismus. Sie sind vielmehr das Anzeichen eines ganzen Bündels von Problemen.
Freilich sind die Platzhirschrituale der Gangs ein Gradmesser für den aktuellen Entwicklungsstand der multikulturellen Gesellschaft. Die blutigen Gruppenkämpfe machen deutlich, wie konzeptionslos die Einwanderungspolitik der Bundesrepublik verfahren ist. Anders als die Generation der Erwachsenen können sich die Heranwachsenden der 80er und 90er Jahre um eindeutige Stellungnahmen zur Zukunft eines neuen, multiethnischen Deutschlands nicht mehr herumdrücken. Diese Jugendlichen spüren, dass der unangefochtenen Dominanz der Mehrheitsgesellschaft in Wirklichkeit die Stunde geschlagen hat. Und ihre „ausländischen“ AltersgenossInnen fordern die Bürgerrechte ein. Sie revoltieren gegen die eingewanderten Eltern, sind nicht mehr bereit, die Ausgrenzung aus der zweiten Heimat widerspruchslos hinzunehmen. Ihnen stinkt die gefügige Schicksalsergebenheit der gastarbeitenden Väter.
In der Zwickmühle stecken vor allem deutsche und türkische Jugendliche, die in Einwanderungsbezirken wie beispielsweise Wedding und Kreuzberg leben. Dort bildet keine der beiden gesellschaftlichen Gruppen eine Mehrheit innerhalb der Altersstufen der 15-20-Jährigen. Tragfähige Vorbilder und Modelle für ein Zusammenleben ohne Konflikte existieren nicht. Einerseits prallen die jeweiligen Wertvorstellungen und Weltanschauungen aufeinander, andererseits überschneiden und durchdringen sie sich bereits. So stellen sich den Jugendlichen tagtäglich sehr konkrete und praktische Fragen: Welche Umgangsformen sollen eigentlich zwischen uns gelten? Gibt es Verkehrsformen, bei denen abend- wie morgenländische Traditionen gleichberechtigt nebeneinander stehen? Wenn nicht, wer hat dieses Jugendzentrum in der Hand? Wer kontrolliert jenen Park? Um wen kümmern sich welche SozialarbeiterInnen? Folglich bestimmen tief greifende Konkurrenzen das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Straßenkämpfe sind auch Entscheidungsschlachten um die Frage, wie das Verhältnis von Orient und Okzident auszubalancieren ist. Sie sind ein Streit, der die Grundlage zukünftiger Ausgestaltungen der multikulturellen Gesellschaft betrifft.
In den 90er Jahren rächt sich das Versäumnis der VertreterInnen einzelner ethnischer communities, denen es in den vergangenen 30 Jahren nicht gelungen ist, eine solidarische und konstruktive Streitkultur aufzubauen. Die Konsequenz des Versagens schildert Bruno Bettelheim unter psychologischem Gesichtspunkt: „Da sie es aufgegeben haben, nach Alternativlösungen zu suchen, oder besser gesagt, da sie überzeugt sind, dass es für sie keine andere Alternative gibt, sehen diese jungen Leute in der Gewaltanwendung einen raschen, beinahe magischen Weg zu Macht und Ansehen. Mit einem einzigen Akt von nicht vorausberechneter Intensität, der keinen anderen Zweck hat als den, sich selbst und anderen zu beweisen, dass man zu verbrecherischem Handeln fähig ist, versuchen Bandenmitglieder, sich von ihrer eigenen Existenz und damit andere von ihrer Macht und Stärke zu überzeugen.“
Die multikulturellen Streetgangs sind allerdings auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. In ihnen wird der Aufstand gegen den devoten Untertanengeist der Eltern organisiert. Mit Vehemenz kündigen die Kinder ihren Vätern die Gefolgschaft auf. Das Denkmal des allmächtigen Patriarchen gerät in türkischen und arabischen Familien kräftig ins Wanken. Die Straßenkämpfe sind Fingerübungen für ein fälliges Zerstörungswerk. Der kollektive Vatermord, den die bundesrepublikanischen Jugendlichen in den Jahren nach 1968 begangen haben, steht den EinwanderInnen aus den islamischen Ländern noch bevor. Diskutiert wird er bereits in aller Offenheit. Mehmed, 20 Jahre alt, Mitglied der Alis, über die nächsten Aktionsziele seiner Gang: „Im Moment denken wir darüber nach, die Teehäuser unserer Alten platt zu machen.“ Mehmed und seine Freunde kochen vor Wut über Väter, „die den ganzen Tag im Teehaus rumhängen, sich alles von den Deutschen gefallen lassen und den Arsch nicht hochkriegen“. Allerdings ist die Zeit für den „Vatermord“ noch nicht reif. Vorerst werden die Attacken gegen den tyrannischen, autoritär-patriarchalen und nationalistischen Vater, der sich der ungetrübten Teilhabe am german way of life nicht selten in den Weg stellt, noch umgeleitet und die Baseballschläger treffen den Skin.
Die militante Entschlossenheit, mit der sich Straßenbanden türkischer Jugendlicher den „Nazis“ entgegen werfen, nötigt der radikalen Linken Bewunderung ab. Endlich scheint die jahrelange Forderung der Autonomen – „Bildet Banden!“ – auf offene Ohren zu stoßen. So stellen sich Antifas schützend vor die multikulturellen Streetgangs und unterstreichen deren emanzipatorischen und antifaschistischen Charakter. „Gangs, Banden, Cliquen usw. waren für uns schon immer eine Möglichkeit, uns ohne Kontrolle und unabhängig zu organisieren, um so zu leben, wie wir wollen“, heißt es in ihrem Jugendinfo. Berichten selbst fortschrittliche Zeitungen einmal über die Opfer der Gangs, wird dies schnell als Verrat verunglimpft: „Ziel dieser Kampagnen ist, die Abwehrmechanismen der Jugendlichen zu sprengen, die sich (auch wenn mit fehlendem Bewusstsein und fehlerhaften Vorstellungen) organisieren, um ihr Leben gegen Neonazis zu schützen.“
Mit einfühlender Geduld und pädagogischem Verständnis umwirbt die Antifa-Jugend die Gangs, „um gemeinsame Strategien des Kampfes zu entwickeln“. Doch bei so viel revolutionärem Eifer werden kleine Schönheitsfehler gerne übersehen. Kein Wort der Trauer, keine moralische Entrüstung, als am 27. Juli 1990 der 18-jährige Berlin-Besucher aus Dresden Jens Zimmermann von Mitgliedern einer Streetgang mit Baseballkeulen zusammengeschlagen und ausgeraubt wird. Zwei Tage später erliegt er seinen Verletzungen. Einige türkische und deutsche Jugendliche waren auf den Teenager aus Sachsen losgegangen, weil sie ihn für einen „Skinhead“ gehalten hatten.
Mehr Glück hatte ein Ostberliner Glatzkopf, der auf dem Heimweg plötzlich von einem VW-Bus überholt wurde. Der Wagen stoppte und mehrere, mit Knüppeln gut ausgerüstete, vermummte Schwarzgekleidete sprangen heraus. In letzter Sekunde entdeckten sie auf der Bomberjacke des „Faschos“ einen schwarz-weißen Aufnäher: „Skinheads Against Racial Prejudice“. Skins gegen Rassismus. Frustriert zog das autonome Prügelkommando von dannen.
Mit kleinen, militanten Coups versucht die Antifaist Genclik (antifaschistische Jugend) bei den anderen Gangs Eindruck zu schinden. Noch vor Beginn der „Deutschlandhalt’s-Maul“-Demo durchbricht sie Knüppel schwingend eine Polizeikette, die Taschenkontrollen durchführt. Gleichzeitig ruft ein Agitator die Black Pantheler, Gianteler, Street Fighteler durch das Megaphon auf, sich unter der Fahne der erfahrenen Führung der Antifaist Genclik zu sammeln. Niemand jedoch fühlte sich angesprochen. Ähnliche Erfahrungen musste bereits Kreuzbergs vereinigte autonome und revolutionäre Linke am 1. Mai 1990 machen. Die Reihen fest geschlossen, Lederjacke an Lederjacke, brüllen die Jungs und Mädels der in die Jahre gekommenen Streetfighter-Front brav ihr „Schwarz-Rot-Gold ist das System – Morgen wird es untergeh’n“. Bewegung bringen allerdings die türkischen Kids in das ritualisierte und erstarrte „Zerschlagtdas-Schweinesystem“-Spiel. Zu Hunderten durchstreifen sie den Demo-Zug, tauchen unvermutet an der Spitze und dann wieder am Ende des Zuges auf. „Reiht euch in den Demo-Zug ein! Bildet Ketten! Bleibt dicht zusammen, damit euch die Bullen nicht provozieren können!“ – Die Ermahnungen und Belehrungen aus dem Lautsprecherwagen des kampferprobten „Schwarzen Blocks“ lassen die Streetgangs kalt. Ihnen dienen die zehntausend Gegner des vereinten Deutschlands als Laufsteg. Die Scottis, Mehmets, Jacksons aus den innerstädtischen Hinterhöfen und den seelenlosen Betonsilos der Trabantenstädte wissen, was das Publikum erwartet. Breitschultrig, die Augen zusammengekniffen, suchen sie das Weiße in den Pupillen der Polizisten. Dem abgeschlafften, durch jahrelangen Alkohol- und Nikotingenuss gezeichneten Autonomen, der sich mit wattierter Lederjacke und obligatorischer Lederhose noch einigermaßen in Form hält, stehlen sie die Show. Ein triumphaler Einstieg für ein neues Subjekt revolutionärer Begierden und Sehnsüchte.
Als sich der Demonstrationszug auf dem Festplatz verkrümelt und seine TeilnehmerInnen sich langsam zudröhnen, drehen die Kids auf. Knapp zweihundert versammeln sich im Schatten der Emmaus-Kirche, um Kriegsrat zu halten. „Glatzenjagen“ im Süden Berlins ist angesagt, so die offizielle Begründung der Jugendlichen. Der wirkliche Verlauf des Feldzuges gewährt Einblick in die Vielschichtigkeit ihrer Kämpfe. Akin von den Ramones lässt Dampf ab: „Der 1. Mai ist Freiheit, Arbeitertag. Für uns bedeutet er jetzt auch Demonstration gegen das neue Ausländergesetz. Dagegen sind wir. Wir werden wie die Tiere behandelt. Das ist nicht gut, Kollege. Wir bezahlen genauso Steuern wie ihr, also haben wir das Recht, hier zu leben. Deine Mutter lebt vielleicht im Altersheim von meinen Steuern.“
Ein anderer liefert die religiöse Variante: „Also die Nazis hier haben am letzten Freitag in Kreuzberg eine Moschee überfallen und den Frauen die Tücher vom Kopf gerissen.“ Sein Kumpel überzeugt die letzten Zweifler und packt sie am nationalen Ehrgefühl: „In Lichtenrade gibt es einen türkischen Kollegen, der musste sein Geschäft zwei Monate schließen und dann an einen Deutschen verkaufen, weil er von Skinheads mit dem Messer bedroht wurde.“ Die Nachricht kommt vor allem bei jenen an, die das Eröffnungsgebet türkischer Schulen noch im Ohr haben: „Ich bin Türke, ich bin aufrichtig, ich bin fleißig. Mein Gesetz ist: die Kleinen zu beschützen, die Großen zu achten, mein Vaterland, meine Nation aus meinem Innersten zu lieben. (…) Welches Glück, ‚ich bin Türke‘ sagen zu können!“
Unter „Nazis-raus!“- und „Türkiye, Türkiye“-Rufen machen sich die angeheizten Youngster auf den Weg. Angeführt wird die Truppe von einem Zwanzigjährigen, der mit allen Insignien der Macht ausgestattet ist: malerisch-rotes Militärbarett auf dem Kopf, den türkischen Halbmond in Form eines Amuletts am Hals, einen deutschen Schäferhund an der Leine und einen 14-jährigen Lakaien zur Verfügung. Beide folgen ihrem Herrn bei Fuß. Kurz bevor die vereinigten Gangs einen Bus kapern, der sie zum Einsatzort bringen soll, hält der Boss eine feurige Rede: „Also Jungs. Wir ficken zurück. Wir machen sie alle. Wenn schon, denn schon. Wir machen sie klein, so wie sie uns klein gemacht haben.“ Nach dem flammenden Plädoyer reicht der Adjutant seinem Führer untertänigst die Hundeleine.
Endstation Nahariyastraße, Ecke Skarbinastraße. Knüppel schwingend stürmen die Jugendlichen aus dem Wagen und suchen Skinheads. Angst und Schrecken bricht unversehens in die Feiertagsidylle ein. Mütter rennen auf den Spielplatz, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Ungläubig starren Bewohner des Viertels von den Balkonen. Zuerst werden die Scheiben einer Edeka-Filiale entglast. Molotowcocktails fliegen hinterher, zünden aber nicht. Die Gangs verteilen sich auf das ganze Viertel, verschwinden zwischen den Hochhäusern. Skinheads sind nirgends zu sehen. Dafür nimmt eine mit Eisenstangen, Gaspistolen und Holzprügeln bewaffnete Bürgerwehr die Verfolgung der überwiegend türkischen Kids auf. Die BewohnerInnen des Blocks, von denen bei der Abgeordnetenhauswahl im Januar 1989 jede/r siebte die Republikaner gewählt hatte, waren auf den Besuch der Jugendlichen vorbereitet. Viele empören sich über das Verhalten der Polizei. „Es ist eine Sauerei. Die Polizei hat uns vor zwei Stunden entwaffnet und behauptet, die Kanaken würden nicht kommen. Wir wollen keine Ausländer hier. Unsere Straße bleibt sauber. Wir leben seit 14 Jahren hier. Nun kommen die Türken und machen alles kaputt.“
Bei diesem Geländespiel hat die Polizei von Beginn an die Lage im Griff. Unter dem Beifall einer aufgeputschten, schaulustigen Menge werden zwölf Jugendliche festgenommen und vor den ramponierten Supermarkt geführt. Kids aus der Gegend geben ihre Darstellung der Auseinandersetzungen. Ein Mädchen: „Der Ärger fing damit an, dass die Beate ihren Kanakenfreund hier angeschleppt hat. Seitdem gibt es Zoff mit den Türken.“ Andere Jungs, die mit den Gangs im Clinch liegen und um die „Bräute“ aus dem nahen Jugendzentrum balzen, versuchen dennoch die festgenommenen Jugendlichen freizuboxen. Der Hass gegeneinander ist noch nicht derart grenzenlos, dass man seinen „Todfeinden“ den Knast wünscht. Treuherzig versichern sie der Polizei, dass dieser und jener an der Action nicht beteiligt waren, sondern die ganze Zeit mit ihnen zusammengestanden haben. Offizieller Polizeikommentar zu den Hintergründen der Randale: Ein türkischer Jugendlicher wurde von Jugendlichen in eine Mülltonne geworfen, nachdem es Streit um Mädchen gegeben hatte. Auch das beleuchtet eine Komponente der Bandenkriege: In den Einwandererbezirken und -städten ist die Sexualökonomie innerhalb der Jugendszenen im Ungleichgewicht. Die Mehrheit der Mädchen aus Immigrantenfamilien wird bis zu ihrer Heirat aus dem Verkehr gezogen. Damit kommt es für die Jungs zu empfindlichen Einschränkungen des Angebots auf dem Beziehungsmarkt, was den Konkurrenzkampf drastisch verschärft.
Unverzichtbar ist die Polizei auch bei den allwöchentlichen Prügelorgien der Hooligans. Kaum eine militante Gruppierung fordert die Staatsräson derzeit so stark heraus wie die Fußballrowdies. Ein Traum aller linken Streetfighter scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Tausende von PolizistInnen sind an jedem Bundesligawochenende von Flensburg bis München damit beschäftigt, die jungen Herren mit den schicken Designerklamotten davon abzuhalten, aufeinander einzuprügeln. Hooligans zerstören eines der letzten Tabus dieser Gesellschaft – die physische Gewalt, die pure Lust auf Randale. Sie machen die hinter den Kulissen bürgerlicher Familieneintracht gewöhnlich versteckte Gewalt öffentlich, tragen sie auf die Straße und in die Fußgängerzonen der Städte zurück. All dies without cause. Denn weder von Arbeitslosigkeit noch von anderen Benachteiligungen sind die Hooligans besonders betroffen. Sie gröhlen „Sieg Heil!“ und verprügeln Neonazis. Sie begehren gegen eine Spießerwelt auf, der sie fünf Tage in der Woche gerne angehören. Ihr Lieblingssatz lautet doch: „Wir sind unpolitisch.“
Wenn sie aus dem Gefängnis kamen,zogen sie in den Bars stolz Zeitungsausschnitte hervor:Berichte über ihre Festnahmen und die Gerichtsverhandlungen.Die Jungs trugen sie sehr sorgfältig zusammengefaltetin Umschlägen bei sich wie Schauspieler Kritiken.Publicity bedeutet alles. Wenn der Name in der Zeitung stand, existierte man.Und ein Foto bedeutete Unsterblichkeit.Arthur Miller, Zeitkurven
1953 studierte Arthur Miller das Leben der Streetgangs in Brooklyn. In Bay Ridge, einem weißen Slum, in dem EinwanderInnen aus Irland und Italien, norwegischer und deutscher Herkunft lebten, wurden sie zum öffentlichen Ärgernis. Krawalle beunruhigten die BürgerInnen. Die Gangs lieferten sich Straßenschlachten, legten Feuer in Fluren, Fahrstühle wurden zerstört, Fenster eingeschlagen, Fäkalien in Treppenhäuser geschüttet.
In der Nähe des weißen Slums befand sich das schwarze Ghetto – Bedford Stuyvesant. „Rassenkonflikte“ waren allerdings noch nicht das Problem: „Hin und wieder kamen sogar junge Schwarze mit der U-Bahn, um sich an einer Schlägerei zwischen den Weißen zu beteiligen, weil es bei ihnen zu Hause zu ruhig war. Natürlich bekriegten sich die schwarzen Jugendbanden ebenso wie die weißen und aus keinen besseren Gründen. Der Kampf war teilweise deshalb so verwirrend, weil es dabei überhaupt nichts zu gewinnen gab. Die Sinnlosigkeit ihrer Kriege gab den Jugendlichen ein gewisses perverses Gefühl von Würde, so als setzten sie sich stolz über die gesellschaftliche Bilanz von Gewinn und Verlust hinweg.“ Die New Yorker Streetgangs jener Zeit hatten, vergleichbar den Gangs der 80er und 90er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, wenig mit den Jugendbanden gemeinsam, die wir heute aus Neapel, Kolumbien, Los Angeles oder Brasilien kennen. Weder hatten sie einen hohen Organisationsgrad noch war ihr Handeln gezielt auf kriminelle Aktionen ausgerichtet.
Zwanzig Jahre später, 1973, wiederholt sich die von Arthur Miller beschriebene Szene im Berliner Norden. Wieder sind es die Kinder von EinwanderInnen, die sich zu Streetgangs zusammenschließen. Dieses Mal kommen sie aus der Türkei. Ihr Kiez, Wedding-Gesundbrunnen, ist das größte innerstädtische Sanierungsgebiet in Europa. Ein heruntergekommener, für den Abriss bestimmter Slum. Auf der Suche nach billigem Wohnraum ziehen immer mehr ImmigrantInnen zum „Wohnen auf Abriss“ in Bruchbuden, die ihnen die deutschen Familien gerne überlassen. Alteingesessene Facharbeiter, kleine Angestellte und aufstrebende Beamtenfamilien kehren dem Stadtteil den Rücken. Ihre proletarische Vergangenheit lassen sie in den feuchten und verkommenen Weddinger Wohnungen zurück. Vor ihnen liegt eine scheinbar glänzende Zukunft. Es sind die Jahre, in denen die SPD „mehr Demokratie“ verspricht. Sozialer und ökonomischer Aufstieg scheinen machbar. Als vermeintliche Gewinner des Wirtschaftswunders ziehen sie in die Schlafstädte des Märkischen Viertels und der Gropiusstadt – Sinnbilder des „sozialdemokratischen Rationalismus“. Zehn Jahre später erwachen die kleinbürgerlichen „Aufsteiger“ ernüchtert aus ihrem Traum. Wenige der in den 70er Jahren geweckten Hoffnungen haben sich erfüllt. Im Gegenteil. Massenarbeitslosigkeit, überhöhte Mieten und Unsicherheiten über die berufliche Zukunft ihrer Kinder bestimmen das Lebensgefühl. Immer häufiger stehen sie nun mit den EinwanderInnen in Konkurrenz um Arbeitsplätze und Wohnraum. Die Gesellschaft polarisiert sich. Auf den ersten Blick nicht mehr entlang traditioneller Klassenschranken, sondern entlang ethnischer Grenzziehungen. 1989 verschaffen die „Enttäuschten“ ihrem Ärger schließlich politischen Ausdruck. Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 29. Januar 1989 geben etwa 20 Prozent von ihnen ihre Stimme den Republikanern.
1973 ist diese Entwicklung nicht abzusehen. Die Lebensplanungen der deutschen und türkischen Familien tangieren einander kaum. Der klassische, türkische Familienverband scheint noch in Ordnung und ein Hort sozialer Stabilität zu sein. Ausländerfeindlichkeit, Konkurrenz um Arbeitsplätze und Wohnraum prägen das Klima in der Stadt noch nicht.
Dennoch ist das Jahr 1973 eine geschichtliche Zäsur für die Bundesrepublik Deutschland. Angesichts der Krise auf dem Weltmarkt verhängt die Bundesregierung einen bis heute gültigen Anwerbestopp. Auch die „Gastarbeiter“ – vor allem aus der ökonomisch darniederliegenden Türkei – reagieren auf die ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Zu Hunderttausenden lassen sie ihre Frauen und Kinder im Zuge der „Familienzusammenführung“ nachkommen und machen die Bundesrepublik unwiderruflich zum Einwanderungsland.
Einer von ihnen ist der damals 16-jährige Enver. Ohne Vorbereitung wird er von einem Tag auf den anderen aus der autoritär-patriarchalen Welt Anatoliens in die hochentwickelte Industriegesellschaft versetzt, in der die Jugend gegen die Konventionen und Werte der Elterngeneration rebelliert. Kaum in Wedding-Gesundbrunnen angekommen, gründet Enver mit Jugendlichen, die in der gleichen Lage sind wie er, eine Gang. Nur mit ihr, so scheint es, lässt sich ein letztes Stück der alten Identität bewahren.
„Vieles von der deutschen Kultur konnten wir überhaupt nicht verstehen. Vor allem die Beziehungen zwischen Männern und Frauen waren für uns schlimm. Wir hatten zwar auch deutsche Freundinnen, aber wir verstanden nicht, dass Frauen die Möglichkeit hatten, mit verschiedenen Männern zu schlafen. Da wir kaum Deutsch sprachen, konnten wir nicht über unsere Probleme reden, also machten wir unserem Unmut in Schlägereien Luft.“ Schon bald kontrolliert die Bande die Jugendszene im Kiez. „Jeder, der uns schräg anguckte oder beleidigte, bekam Schläge.“ Die Gang terrorisiert türkische und deutsche Geschäftsleute in der Nachbarschaft, bedient sich kostenlos und spart nicht mit Drohungen. Niemand, der sich um die desorientierten Jugendlichen gekümmert hätte. Als sich die Stadtteilinitiative „Putte“ um Kontakte zu den aggressiven Jugendlichen bemüht und für die Arbeit mit ihnen ein Haus besetzt, reagieren provinzielle Bezirkspolitiker mit der Ignoranz der Mächtigen. Im April 1974 wird das Haus von einem riesigen Polizeiaufgebot geräumt und abgerissen.
Die Streetgang versucht ihren Einflussbereich auf die Discotheken der Innenstadt auszudehnen. Schutzgelderpressungen gehen schief. „Wir hatten uns übernommen. Andere, besser organisierte Gruppen aus der Unterwelt machten uns unsere Grenzen schnell klar.“ Nach ein paar Jahren löst sich die Bande auf. „Wir waren älter geworden, gründeten Familien und dachten über viele Dinge anders.“ Es war eine relativ harmlose und vorübergehende Episode, die sich 1973 im Berliner Norden abspielte. Ein Vorbeben.
Die Mehrheit von Envers „Kampfgefährten“ schottet sich von den Deutschen ab. Sie meiden die Deutschen, die sie als „Gavur“, als Ungläubige, sehen und nicht selten verachten. Sie bleiben auf Distanz zum „german way of life“ und versuchen, ihre Kinder so gut es geht vor dem verderblichen Einfluss zu schützen. Ihre Kontakte beschränken sich auf die Familie, nähere Bekannte und Verwandte. Türkischer Chauvinismus, Religion und Nationalismus stehen für Enver zwischen seinen Landsleuten und den Deutschen. „Nur eine Minderheit schaffte es im Laufe der Jahre, mit der deutschen Gesellschaft klarzukommen.“
In diesem von Restberlin abgeschotteten Milieu werden 1973 Boyraz, Rocky und Ego geboren. In ihrem Kiez rund um den Nauener Platz wohnen nur wenige Deutsche. Die drei hängen fest in einem dichten Verwandtschaftsnetz. Viele Einwandererfamilien verpflanzen ihr Beziehungsgeflecht direkt aus Anatolien in den Wedding. So ist es kein Zufall, dass die Eltern von Boyraz, Rocky und Ego alle aus Kayseri kommen, einer rechtskonservativen, inneranatolischen Provinzstadt. 1987 gründen die Jungs die Black Panther. Im Januar 1990 tritt die Streetgang aus ihrem Schattendasein und wird über Nacht berühmt. Sie liefern sich einen erbitterten Bandenkrieg mit den 36-Boys, der einflussreichsten Gang türkischer Jugendlicher in Kreuzberg, die sich ihren Gruppennamen nach dem Postzustellbezirk gab. Am 13. Januar kommt es zum großen Showdown. Mitglieder der 36-Boys stechen zwei Black Panther nieder. Hintergrund der Auseinandersetzung: der Kampf um die Vorherrschaft in ein paar Discotheken am Kurfürstendamm. Auf der Strecke bleibt Ömer, der mit aufgeschlitzter Wange und schweren Stichverletzungen in die Intensivstation eingeliefert wird. Mühelos mobilisiert die 70-köpfige Gang 150 Jugendliche. Brüder, Onkels, Cousins und Nachbarn schließen sich dem Rachefeldzug an. Blutzoll wird gefordert. Mit Messern und Gaspistolen bewaffnet ziehen sie aus dem Berliner Norden Richtung Kudamm, um sich mit den Kreuzbergern eine Entscheidungsschlacht zu liefern. Nur ein massives Polizeiaufgebot verhindert an diesem Tag Schwerverletzte und Tote.
Es ist eine verwirrende Szenerie, die da die nächtlichen Straßen Berlins unsicher zu machen beginnt. Eine aufgeregte Journaille, auf der ständigen Suche nach dem Neuen und Spektakulären, fliegt in die Stadt ein und geht den Jungs kräftig auf den Leim. So überrascht die Illustrierte Quick im Mai 1990 ihre Leser mit der Reportage „Am Sonntag machen wir die Skinheads platt“. Ein Foto zeigt das vernarbte Gesicht Ömers. Bildunterschrift: „Es waren Skinheads, die ihn mit Messern quälten.“ Ömers Kommentar: „Wie wirkt denn das in der Öffentlichkeit, wenn da stünde, Türke sticht Türken ab.“
Als Boyraz, Rocky und Ego 1987 die Black Panther gründeten, stand die Abwehr von Skinheads tatsächlich im Vordergrund. Noch heute hält Rocky an dieser Legende fest: „Die Rivalitäten mit anderen Gangs sind Kleinigkeiten. Eigentlich sind wir gegen Skinheads.“ Abwehr von Übergriffen deutscher Rassisten und Nationalisten sowie eigene Rassismen und Nationalismen ergeben eine brisante Mischung an Gefühlen. „Die Türken haben einmal halb Europa beherrscht. Ich wünsche mir eine große und starke Türkei zurück. Wir wollen zeigen, dass wir keine Feiglinge sind. Also bin ich stolz, ein Türke zu sein“, erklärt Boyraz.
Viele der Black Panther tragen den türkischen Halbmond an Halskettchen oder als Aufnäher auf ihren Bomberjacken. Für xenophile Beobachter der Szene ein Beweis, dass die in Berlin geborenen Jugendlichen aufgrund der Diskriminierung ihr Heil in einem übersteigerten Nationalgefühl suchen. Die schnelle Schuldzuweisung an die Mehrheitsgesellschaft beschreibt allerdings nur einen Teil der Wahrheit. Sie verleugnet das Eigenleben und den Anteil rechtsextremer Dispositionen der türkischen EinwanderInnen, die sie über die Jahre der Migration in die Diaspora hinübergerettet haben. Kadir Kaynak, Mitarbeiter des jugendpsychiatrischen Dienstes in Kreuzberg, schätzt den Anteil der türkischen Bevölkerung mit rechtsextremer Einstellung in Berlin auf „etwa 50 Prozent.“
Als die „Arbeitsgruppe Vorbeugung“ der Westberliner Polizei ein Treffen zwischen Vertretern der rechtsradikalen Nationalen Alternative aus Ostberlin und einigen Black Panthern organisiert, entdeckten die Todfeinde viele Gemeinsamkeiten. Andreas, Skinhead, Hausbesetzer und Mitglied der NA: „Dann haben wir noch entdeckt, dass Deutsche und Türken im ersten Weltkrieg Waffenbrüder waren. Also, das war wunderbar.“ Auch Rocky fand die Leute der NA in Ordnung: „Die haben uns gesagt, dass sie eigentlich nichts gegen Türken haben, sondern nur gegen Linke und Schlitzaugen.“
Trotz scheinbar unüberbrückbarer Gegensätze haben die Black Panther viele Verwandtschaften zu Skinheads und Rechtsradikalen: Männlichkeitswahn, rassistische Sichtweisen, die die moralische Überlegenheit des eigenen Volkes unterstreichen, Betonung des Rechts des Stärkeren, extreme Ehrsucht, eine hohe Gewaltbereitschaft und der Hass auf alles Fremde und Unbekannte. Anders als ihre Väter und Mütter, die sich im Laufe der Jahre daran gewöhnten, mit gesenktem Blick durch das Sündenbabel Berlin zu laufen, sind die Jungtürken nicht mehr bereit, in ihren Augen normabweichendes Verhalten hinzunehmen. Mangels Skinheads in ihrem Kiez haben die Black Panther nun die Schwulen im Visier. Boyraz: „Schwule sind anormale Menschen. Ich hasse so etwas. Auf der Erde soll kein Schwuler sein. Sie haben mich auch schon angemacht. Deshalb kriegen sie eins auf die Fresse.“ Ego bläst ins gleiche Horn: „Es ist schlecht, wenn zwei Schwule Hand in Hand durch die Straßen laufen und sich vielleicht auch noch abknutschen. Stell dir vor, da kommt eine Mutter mit ihrem kleinen Kind vorbei und sieht das. Wo kommen wir da hin, wenn das jeder macht.“