Die Bedeutung des Mythos für eine neue Wissenschaft vom Menschen - Rainer Höing - E-Book

Die Bedeutung des Mythos für eine neue Wissenschaft vom Menschen E-Book

Rainer Höing

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Beschreibung

Im Mittelpunkt des Buches steht die Auseinandersetzung um den Mythos als Gegenbegriff zum heutigen wissenschaftlichen Denken. Lassen sich in seinem Bedeutungsfeld tatsächlich Perspektiven finden, die so unvereinbar mit dem gegenwärtigen Zeitgeist sind, dass sie aus diesem "auszusteigen" und ihn "von außen" zu betrachten ermöglichen? Genau das ist dringend notwendig. Denn das scheinbar alternativlose materialistische Verfügungsdenken hat die Welt fest in seinem Griff und bisher weitgehend jedwede Kritik folgenlos vereinnahmt. Angesichts einer Entwicklung, die ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Abgründen entgegeneilt, tut eine Reflexion not, eine Radikalität der Kritik, die eine Befreiung aus den gegebenen Zwängen ermöglicht.

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Die Bedeutung des Mythos für eine neue Wissenschaft vom Menschen

Über den Autor:

Geboren 1953. Studium der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Philipps-Universität Marburg/Lahn. Studienabschluss mit Auszeichnung. Untersuchungen zur praktischen Nutzbarkeit und Relevanz „esoterischer“ Denkansätze und Traditionen. Ausbildung in Physikalischer Radiästhesie und Baubiologischer Messtechnik. 40 Jahre Geobiologische Beratungen von Menschen überwiegend mit Krebserkrankungen. Forschungen zur Erweiterung und Standardisierung Geobiologischer Beratungsstandards und zum Phänomen weltweiter Planetenlinien. Seit 2020 als Autor tätig mit dem Anliegen, sein besonderes Wissen an Laien und Fachleute weiterzugeben.

Buchbeschreibung:

Seit dem Sichtbarwerden der katastrophalen Folgen einer ökonomischen „Vernunft“, die alles der materiellen Verwertbarkeit unterordnet, nehmen Sicht - und Lebensweisen, die dem herrschenden Denken als das absolute „Außen“ diametral und befremdlich gegenüberstehen, eine Schlüsselrolle ein. Das Bemühen um eine Radikalität der Kritik, die in der Lage ist, den bis in die Dinge und Begriffe hineingetriebenen Herrschaftswahn zu durchbrechen, wird zur Grundlage der Auseinandersetzung mit dem Mythos. Dessen Vertrautheit mit der Grundlosigkeit in den Dingen und im Sein ist einer der wesentlichen Bausteine zu einer Theorie der Befreiung, die - mit einer wichtigen Modifikation – auf das Bataille’schen Konzept der „Grenzüberschreitung“ zurückgreift.

Dass die 1979 mit Auszeichnung bewertete anthropologische Abschlussarbeit an der philosophischen Fakultät der Universität Marburg, betreut durch Herrn Prof. Dietmar Kamper, nun erstmalig veröffentlicht wird, hat mehrere Gründe. Zum einen stellt sie fraglos eine Bereicherung des strukturalistischen Diskurses dar, und dies mit einer Aktualität, die der Bedrohung von Ökologie und Mensch entspricht. Der damaligen Zeit voraus, leistet sie der heutigen kritischen Bewegung Beistand.

Die Bedeutung des Mythos hat sich nicht allein in der philosophischen Reflexion erwiesen. Sie übertrifft in zukunftsweisenden Aspekten sogar die Naturerkenntnis und den gesundheitlichen Nutzen heutiger herkömmlicher Wissenschaft. Aber das ist Gegenstand anderer Forschungen des Autors, die wegen des unmittelbaren Zusammenhangs nicht unerwähnt bleiben können.

Rainer Höing

Die Bedeutung des Mythos für eine neue Wissenschaft vom Menschen

© 2023 Rainer Höing - all rights reserved

Überarbeitete Version, Juni 2023

Autor: Rainer Höing

Umschlaggestaltung, Illustration: Rainer Höing

ISBN Softcover: 978-3-347-84408-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-84409-4

ISBN E-Book: 978-3-347-84410-0

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ /dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Von der fehlgeschlagenen Aufklärung zum Herrschaftswahn moderner Vernunft

1.1 Der Druck der Geschichte

1.2 Das Versagen der Aufklärung

1.3 Der Übergang zur Moderne

1.4 Die Aktualität des mythischen Erbes

1.5 Die Entwicklung der Fragestellungen

2. Vier Grundrichtungen der Mythenanalyse

2.1 Die symbolorientierte Mythendeutung

2.2 Das historisch-materialistische Konzept

2.3 Das psychologische Erklärungsmodell

2.3.1 Sigmund Freud

2.3.2 Carl Gustav Jung

2.4 Die strukturalistische Mythenanalyse

3. Diskussion der vorgestellten Ansätze

3.1 Ideologie und Mythos

3.2 Die Rolle der Symbolik

3.3 Die offen gebliebene Fragestellung

4. Der Raum der mythischen Erfahrung

4.1 Sinnlichkeit und Tod

4.2 Die Eingrenzung des Mythos-Begriffs

4.3 Schweigen und Wahrnehmung

4.4 Beiträge der Wahrnehmungspsychologie

5. Der Vergleich von mythischem und strukturalistischem Denkmodell

5.1 Der Rekurs auf die Grundlosigkeit des Menschen

5.2 Die paradoxe Logik und die “nichtpositive Affirmation”

5.3 Das Konzept der Überschreitung

5.4 Zusammenfassung

Schluss

Literaturverzeichnis

Vorwort

Seit dem Sichtbarwerden der katastrophalen Folgen einer ökonomischen Vernunft, die alles der materiellen Verwertbarkeit unterordnet, steigt das Interesse an weit zurückliegenden Zeiten der Geschichte, in denen sich ein gegenteiliges Bild einer Gesellschaft vermuten lässt, das oft nur spärlich durch archäologische, ethnologische oder historische Daten erfasst ist.

Im Zentrum steht das Bemühen um eine Radikalität der Kritik, die in der Lage ist, den bis in die Dinge und Begriffe hineingetriebenen Herrschaftswahn zu durchbrechen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass jeder Versuch, unter dem total gewordenen Zugriff gegenwärtigen Verfügungsdenkens einen Lösungsweg zu ersinnen, im Ansatz bereits behindert wird. Denn die Sprache und die Begriffe selbst sind durchdrungen von dem allgegenwärtigen Haben, dem es zu entrinnen gilt.

In dieser Lage nehmen Sicht- und Lebensweisen, die dem herrschenden Denken als das absolute “Außen” diametral und befremdlich gegenüberstehen, eine Schlüsselrolle ein. Die Erforschung völlig anderer Kulturen kann so zu einem wirksamen Hebel werden, der es erlaubt, den geschlossenen Kreis der Totalisierung in geeigneter Weise “von außen” aufzubrechen. Dies erklärt die Brisanz einer Untersuchung, die die Welt des mythischen Denkens auslotet.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Auseinandersetzung um den Mythos-Begriff. Lassen sich in seinem Bedeutungsfeld tatsächlich Perspektiven finden, die so unvereinbar mit dem gegenwärtigen Zeitgeist sind, dass sie aus diesem “auszusteigen” und ihn “von außen” zu betrachten ermöglichen?

Der Teil 1 beleuchtet die Geschichte des Denkens, angefangen beim Mythos und weiter über die Entstehung der Wissenschaften bis zum Herrschaftswahn moderner Vernunft. Die Ausführungen verdeutlichen den Standort der Arbeit und bereiten den Hintergrund für die Ableitung der entscheidenden Fragestellungen.

Nach der kritischen Darstellung der vier wesentlichen Richtungen der Mythenanalyse im Teil 2 gibt das 3. Kapitel einer Diskussion Raum, in der die hier vertretene Auffassung vom Mythos Gestalt annimmt.

Der Teil 4 widmet sich den spekulativen oder esoterischen Seiten der Mythen, ohne deren Einbeziehung das Verstehen der Leistungen und Möglichkeiten mythischer Sinnlichkeit unmöglich ist. Im Anschluss an die einleitende Untersuchung des grundlegenden Verhältnisses von Sinnlichkeit und Tod, wird der Mythos-Begriff präzisiert, ergänzt durch eine Betrachtung des erstaunlichen Vermögens mythischer Sinnlichkeit, einen Exkurs über Schweigen und Wahrnehmung und ergänzenden Erläuterungen der Wahnehmungspsychologie.

Das letzte Kapitel führt zu dem Verstehen, dass es vor allem die Grundlosigkeit in den Dingen und im Sein ist, in der sich die Bedeutung des Mythos entfaltet, und dass es das Konzept der “Grenzüberschreitung” ist, das den Weg zur Erfahrung bahnt und eine Theorie der Befreiung begründet.

Erstes Kapitel

Von der fehlgeschlagenen Aufklärung zum Herrschaftswahn moderner Vernunft

 

1.1 Der Druck der Geschichte

Heben wir die langen Zeiträume der menschlichen Geschichte in die Betrachtung, so lassen sich in äußerster Vereinfachung zwei wesentliche Perioden abgrenzen: das im Zeichen des mythisch-magischen Denkens stehende Zeitalter und, mit dem Beginn der Aufklärung, das der modernen Wissenschaften.

Um einer größeren Genauigkeit Genüge zu tun, kann man einen ersten Einschnitt ansetzen mit der neolithischen Periode, der Phase des Sesshaftwerdens der altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlerkulturen, in der sich die grundlegenden Erfindungen und Fertigkeiten der Zivilisation herausgebildet haben: Landwirtschaft, Tierzucht, Töpferei, Weberei. Die Gesellschaftsform scheint matriarchalischer Prägung, relativ egalitär, ohne Hierarchie, Ausbeutung und nenneswerte Aggression gewesen zu sein.1 Sind auch die sozialen Formationen in der nachfolgenden Entwicklung in beträchtlichem Umfang den vielgestaltigsten Mutationen ausgesetzt gewesen, unter dem Aspekt einer Geschichte des Denkens ergibt sich ein Phänomen, das man zu Reche als „neolithisches Paradox“2 bezeichnen kann - ein über mehrere Jahrtausende sich hinziehender Stillstand von dem ersten gewaltigen Aufschwung eines Grades der Naturbeherrschung bis zur Entstehung der heutigen Wissenschaft. Wie massig der Überhang der alten Geschichte noch nahezu über der gesamten Neuzeit ruht, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, mit welcher Beharrlichkeit der Volksglauben - trotz Christianisierung - an den animistischen, magischen oder schamanischen Bruchstücken der mythischen Tradition festgehalten hat, jenem Dämonenglauben, der den vom 15. bis 18. Jahrhundert praktizerten Hexenprozessen Boden geliehen hat. Will man den von Foucault auf diese Epoche geprägten Begriff vom „Raum der Zeichen“3, das heißt, einer von der Ähnlichkeit oder Analogie durchherrschten „Logik“, verdeutlichen, so bieten die Praktiken der Indizien- und Urteilsfindungen in den Hexenprozessen ein gleichermaßen makabres wie reichhaltiges Anschauungsmaterial.4

Die erstaunliche Resistenz des alten Volksglaubens gegenüber der sich bereits im 16./17. Jahrhundert formierenden aufklärerischen Kritik lässt fragen, inwieweit das überkommene Erklärungsmodell „zu Recht“ bestand, insoweit jede in sich geschlossene Theorie ihre eigene Bestätigung hervorbringt. Ferner ließe sich vermuten, dass es der jungen Gegenbewegung nicht etwas an Vernünftigkeit, vielmehr an einem anderen Glauben mangelte, den sie dem alten wirkungsvoll hätte entgegensetzen können.5 Dass dem konkurrierenden wissenschaftlichen Denken schließlich doch zum Triumph verholfen wurde, verweist nicht nur auf die neue Dimension einer Glaubwürdigkeit kraft der empirischen Bestätigung - diese kam durchaus auch den alten Kosmologien zugute - oder auf seine größere Effektivität, sondern wirft ebenso ein Licht darauf, wie eng sich Glaubwürdigkeit und Gläubigkeit stets miteinander verbunden haben. Vom Götter- und Dämonenkult bis zum Altar der Wissenschaft - immer ist die Menscheit vor ihren Machtobjekten zurückgefallen in die Kniehaltung der Anbetung und unterwürfigen Gläubigkeit.

1.2 Das Versagen der Aufklärung

Die radikale Wendung der Aufklärung richtete sich gegen die unheilvolle Allianz von Feudaladel und Klerus mit dem Ziel, dem aufstrebenden Bürgertum die notwendige Selbständigkeit zu sichern. Um auf dem Felde der öffentlichen Rede und damit der Wissenschaften der Artikulation des erwachenden Selbstbehauptungswillens des bürgerlichen Subjekts den Boden zu gewinnen, musste die rigide Vorrangstellung der Theologie als alleingültigem Interpretationsmodus von Welt gebrochen werden. Den Menschen aus der Knechtschaft zur Mündigkeit zu befreien, bedeutete die Entmythologisierung der Welt. Die zahlreichen mythischen Gestalten wurden mit dem Begriff des Anthropormophismus erklärt, zurückgeführt auf das Subjekt. „Die Antworten des Ödipus auf das Rätsel der Sphinx: ‘Es ist der Mensch’ wird als stereotype Auskunft der Aufklärung unterschiedslos wiederholt, gleichgültig ob dieser ein Stück objektiven Sinnes, die Umrisse einer Ordnung, die Angst vor bösen Mächten oder die Hoffnung auf Erlösung vor Augen steht.“6 Den Begriff des Menschen zum zentralen Punkt der Philosophie zu machen, war die revolutionäre Drehung gegenüber der theologisch geordneten Welt und die Theorie somit „im Kern Anthropologie“7.

Doch der Schlag, der ursprünglich im Namen des Menschen der Irrationalität schlechthin gegolten hatte, ob den mythischen Wahngebilden, der klerikalen Ideologie oder der feudalen Herrschaft selbst, er richtete sich letztlich gegen das zurück, was ihn legitimierte - der Ruf nach der Freiheit und der Würde des Menschen. Denn mit der Verbannung all dessen, was sich unter dem Zugriff der objektivierenden Vernunft nicht auf quantitative Größen abziehen und in Kategorien der Berechenbarkeit und Nützlichkeit auflösen ließ, reüssierte eine Moral der Verstümmelung, der rücksichtslosen Destruktion nahezu aller menschlichen Qualitäten und Werte. In der kalten Verwertungslogik eines auf Technik zielenden Wissens war kein Raum mehr für Bilder und Begriffe der Einsicht und des Sinns. Was dieser Prozess zurückgelassen hat, ist das sich selbst nicht mehr erkennende Individuum, eine abstrakte Fiktion.

1.3 Der Übergang zur Moderne

Die herausragende Bedeutung der Aufklärung als einer Zeit des Umbruchs und der Wende verleitet ein wenig dazu, sie mit dem Übergang zur Moderne ineinszusetzen, und es bei dieser vagen und undifferenzierten Betrachtung zu belassen. Man sollte beachten, dass der Beginn der Aufklärung bereits mit dem Ende des 17. Jahrhunderts angesetzt wird. Sind in ihren Anfängen die verheerenden Folgen des zeitgenössischen Produktionswahns auch schon vorweggenommen, der Umschlagpunkt zur Moderne lässt sich genauer bestimmen.

Foucault ist der Anschauung, „…dass der Mensch im klassischen Raum der Repräsentation nicht existiert und nicht existieren kann. Hier dreht es sich stets um den Platz des Königs…“8 Die Geburt des Menschen datiert später: „Der Mensch existiert erst von dem Augenblick an im Raum des Wissens, wo die ‘klassische’ Welt der Repräsentation unter den heftigen Einwirkungen nicht-repräsentierbarer und nichtrepräsentativer Instanzen zusammenbricht.“9 Es ist der Zeitpunkt, in dem die Vorherrschaft des Identischen in der Repräsentation sich auflöst, das zentrierte Denken seines Mittelpunktes beraubt wird. So alt der Begriff der Struktur in der Geschichte des Denkens auch ist, stets war er an die Vorstellung eines absoluten Zentrums gebunden, den Punkt einer Präsenz, den festen Ursprung.10 „Das Ereignis eines Bruches, der Riss … hat sich vielleicht in dem Augenblick vollzogen, als man damit beginnen musste, die Strukturalität zu denken, das heißt zu wiederholen.“11

Von diesem Augenblick an datiert ein Diskurs, der an Radikalität alles vorherige übertraf, Nun war es der absolute Mittelpunkt selbst im Raum des Denkens, der Garant einer Illusion von Sicherheit und Geborgenheit, dem sich die ätzende Kritik zuwandte. Dass das heiliggesprochene Zentrum niemals es selbst war, sondern stets schon Substitut, dass es weder in der Gestalt einer Person gedacht werden konnte, noch einen festen Ort hatte, dass es vielmehr das absolut Unbestimmbare schlechthin darstellt, machte das befreiende Gelächter der neuen Philosophie aus.12 Nietzsches und Heideggers Kritik an der Metapysik folgte Freuds Destruktion der liebgewordenen Vorstellung eines souveränden Bewusstseins. Was dieser Zersetzungsprozess der zentralen Begriffe zurückließ, war eine aller Gewissheiten und Sicherheiten entleerte Welt. Um in ihr zu leben, hätte es der Mündigkeit des Menschen bedurft, der Befähigung zur vollen Eigenverantwortlichkeit. Genau dies war zweifelsohne das Ziel des demontierenden Diskurses, doch ließ die fehlende Reife des Menschen den Anblick der aller traditionellen Werte beraubten Welt, gerade wegen der in ihr aufscheinenden Möglichkeit zur Freiheit, zum Alptraum des Schreckens geraten. Der Appell, die Unsicherheit nicht nur auszuhalten, sondern sie als den einzigen Grund einer Sicherheit zu begreifen, stieß auf die Überforderung des Menschen, und die Furcht holte wieder ein, was mit dem mutigen Vorstoß des von Nietzsche eingeleiteten Denkens so hoffnungsvoll begonnen hatte. Der zentrale Signifikant, aus seinen exponierten Positionen verdrängt, stellte sich heimtückisch durch die Hintertür des Denkens wieder ein, so beispielsweise in der Freudschen Theorie im Begriff des Ödipus.13

Die seit Nietzsche durchgebrochene Intensität des Denkens und der Unsicherheit, in der Tat ein Einschnitt in der Geschichte, führte nun um so sicherer zu einer Verstärkung der seit der Frühaufklärung anhebenden Tendenz der Ökonomisierung des Wissens. Insofern die Krise der Philosophie des Identischen vom Ort der Geisteswissenschaften ausging, musste das Ringen um die verlorene Sicherheit freilich zu einer doppelten Aufwertung der naturwissenschaftlich-technischen Vernunft führen, in der die Welt noch „in Ordnung“ war, und die so geradezu Vorbildcharakter für die gesamten Humanwissenschaften annahm.

Auf dem Felde der Vernunft ereignete sich nun eine qualitative Veränderung. Im Zuge der Nachahmung und Anbetung der Modelle der positiven Wissenschaften war die zentrale, herrscherliche Rolle vom souveränen Repräsentanten „klassischen“ Denkens, „dem Platz des Königs“, auf die Vernunft selber übergewechselt. Als formale Logik der Abstraktion besorgt sie nun gründlicher als je zuvor das Geschäft der Vereinheitlichung, der Totalisierung, und das mit der kalten Gleichgültigkeit einer selbsttätig laufenden Maschine, die ihren Ingenieur unter sich begraben hat. Nich „…Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern dass für sie der Prozess von vorneherein entschieden ist.“14 Was ihr Denken in Gesetzmäßigkeiten nur hervorbringen kann, ist die Wiederholung, das Immergleiche. Die Totalisierung täuscht indessen nur eine Allheit vor, „…denn ihre Bewegung, die durch alles hindurchgeht, stellt in jedem Schritt zugleich eine Reduktion dar.“15 Was sich der Verwertungslogik nicht einfügen will, wird weggeschnitten. Die Sinne des Menschen werden reduziert auf den einen des Habens, die Dinge identifiziert als Substrat von Macht. Auf Seiten des Menschen bezeugt sich diese Katastrophe in den manigfaltigen Symptomen einer psychischen Verelendung, auf Seiten der Dinge manifestiert sich die „Insubordination der materiellen Tatsachen“16 in dem verheerenden Ausmaß der Umweltverschutzung.

1.4 Die Aktualität des mythischen Erbes

Es ist der Ausschluss des exakt nicht Definierbaren, der Sphäre der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft überhaupt, der der Aufklärung die Feststellung eingebracht hat, sie sei „radikal gewordene, mythische Angst“17. Ist die mythische Tradition aber nun zur Gänze an der Zensur der Angst und ihrer Rationalisierung, das Denkbare mit dem Sagbaren zusammenfallen zu lassen, gescheitert? Oder sollte es nicht eher der Fall sein, dass bestimmte Teile des alten Erbes durchaus verträglich genug waren, um Eingang in das moderne Bewusstsein zu finden, und andere wiederum so unverdaulich, dass sie ausgegrenzt und so zur Ursache für das Dilemma des aktuellen Denkens wurden? Wie wären diese differenten Anteile dann auszumachen und bestimmbar?

Dass zumindest die Frühaufklärung dem Spekulativen durchaus Raum gewährt hat, lässt sich am Beispiel der Mystik verdeutlichen. In ihrer antiautoritären Haltung gegenüber der kirchlichen Orthodoxie war sie als geschätzter Bündnisparnter in gewissem Sinne mit der revolutionären Bewegung identisch. Im Rückgang auf eine unvermittelte Instanz der Erfahrung, auf ein mystisches „inneres Licht“, sucht sie „… die moderne Subjektivität der Alternative zwischen Emanzipation als Rückfall in bloße Natur einerseits und heteronomer Selbstaufgabe andererseits zu entheben.“18 Was die solidarische Verbundenheit auseinanderbrechen ließ, kann der Unbestechlichkeit ihres emanzipatorischen Bemühens zugeschrieben werden. Der Boden der Gemeinsamkeiten war erschöpft, als die französische Mystik des 17. Jahrhunderts in der Abkehr vom Erleuchtungsbegriff aller individuellen Besonderheit absagte, eingeschlossen der Selbstbehauptungsmanie des bürgerlichen Subjekts.19

Auf die Frage, welche Elemente der mythischen Tradition nun mit der Aufklärung vereinbar waren bzw. welche als unannehmbar abgewiesen wurden, antworten Horkheimer und Adorno mit einer historischen Differenzierung der Mythen.20 Demnach ist es der jüngere, solare Mythos, der in die Aufklärung eingeflossen ist und der ihr in gewisser Weise den Boden bereitet hat. Der Stoff, den die Tragiker vorfanden, handelte schon nicht mehr von den lokalen Geistern und Dämonen des Animismus, sondern setzte bereits den Himmel voraus mit seiner Hierarchie olympischer Gottheiten. Dieser in aller Strenge patriarchalische Geist der jüngeren Mythen vertrug sich glänzend mit der herrscherlichen Vernunft der Aufklärung. „Als sprachlich entfaltete Totalität, deren Wahrheitsanspruch den älteren mythischen Glauben, die Volksreligion, herabdrückt, ist der solare, patriarchale Mythos selbst Aufklärung, mit der die philosophische auf einer Ebene sich messen kann.“21 Der totalitären Machthülle beider Systeme entsprach auf der einen Seite der alles umfassende Begriff des Schicksals, der göttlichen Notwendigkeit, auf der anderen Seite die Rolle der formalen Logik.22 In beiden Fällen sind sie die krönenden Begriffe eines Vereinheitlichungsprozesses von Realität, der die Vielheit der Elemente qua Wiedererkennung des Identischen in Form hierarchisierter Strukturen zusammenschließt und so nichts Neues unter der Sonne mehr gelten lässt; jeweils wird das Nicht-Identifizierbare weggeschnitten bzw. in aufwändigen Operationen dem vorgegebenen Interpretationsmodus angepasst. Der Schnittpunkt, in dem beide Systems sich treffen, liegt in der monotonen Drehung um das Immergleiche, in der für das Prinzip der Immanenz bzw. des Denkens in Gesetzmäßigkeiten wie für die Riten und Mythen gleichermaßen charakteristischen Wiederholung. Eine solche Entwicklung auf der Ebene des Denkens bleibt indessen nicht ohne gesellschaftliche Folgen. So kann man in beiden Fällen feststellen, dass diese Homogenisierung des Wissens auf der sozialen Ebene mit einer Konformisierung der Menschen einherging, die stets von Repressionen begleitet war.23

Mit dem Geist der Aufklärung gänzlich unvereinbar war hingegen die magisch-animistische Vorstellungwelt der älteren Mythen. Sie war das eigentliche, angstbesetzte „Draußen vor der Tür“, weshalb sich ihr gegenüber freilich eine Phalanx von Rationalisierungen und Vorurteilen aufbaute, von der Ignoranz bis zum gängigen Klischee, ihr fehle es an Rationalität. Im magischen Denken wurden die Dinge noch nicht alleine an ihrem Nutzen gemessen, als Mittel zur Macht, sie standen dem Menschen, insofern sie beseelt gedacht wurden, gleichberechtigt zur Seite. Das galt auch für die Stellung der Geister und Dämonen. Nie war es Unterwürfigkeit, die die Haltung des Schamanen ausmachte. Vielmehr bestand sein Handwerk gerade darin, sich der Geister zu bedienen.24 Sein Wissen kursierte nicht um eine hierarchisch geordnete Welt und ihren absoluten Mittelpunkt, sondern war fragmentarisch, die Vielheit der Dinge widerspiegelnd, anarchisch, wie sie da waren. Im Gegensatz zur Wissenschaft und dem Begriff des Äquivalents bzw. der universellen Fungibilität, gab es in der Magie noch „… spezifische Vertretbarkeit. Was dem Speer des Feindes, seinem Haar, seinem Namen geschieht, werde zugleich der Person angetan …“25 Zeichen und Bild waren noch nicht endgültig voneinander getrennt. Ähnlich wurden die Gegensatzpaare selbst, wie Himmel und Hölle, noch nicht unversöhnlich, antagonistisch, gedacht, sondern eher homolog, sich gegenseitig entsprechend, ineinander übergreifend.26

Spiegeln sich die Grundzüge des jüngeren patriarchalen Mythos durchaus im modernen Denken wider, und sind sie in ihm noch inbegriffen, so konstituiert sich die Aktualität der älteren Mythen nebst der Mystik gerade in ihrem Ausschluss aus dem nämlichen Denken. Die ängstliche Geste, die sie wie Schattenbilder verjagen will, ist jene, die sie unablässig restituiert. Indem der Standort des mythisch-magischen Denkens sich um das Sein und nicht um das Haben dreht, ist er Konkurrenz, und indem er bekämpft wird, bleibt er aktuell. Es ist also hervorzuheben, dass man es in der Beschäftigung mit den Mythen nicht mit versteinerten Fossilien der Urzeit zu tun hat, die als totes Arsenal dem Vergessen überantwortet werden könnten, sondern mit Formen des Denkens und Empfindens, die in einem weitgehend unbestimmten Maße die moderne Subjektivität mitbestimmen.

1.5 Die Entwicklung der Fragestellungen