Die Befreiung der Seele von der Angst - Robert Sardello - E-Book

Die Befreiung der Seele von der Angst E-Book

Robert Sardello

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Beschreibung

Die Angst ist unsere dunkle Gefährtin, sie begleitet uns vom Moment des Erwachens bis in die Tiefen des Traums... Es mag vielleicht so scheinen, als würde die Freiheit von der Angst darin bestehen, diese dunkle Gefährtin ein für alle Mal loszuwerden. So verbringen wir unsere Zeit mit der Suche nach mehr und mehr Komfort. Wir suchen Ablenkung beim Shopping, in der Unterhaltung oder im Urlaub... aber solche Maßnahmen betäuben die Präsenz der Angst nur vorübergehend. Da die Welt voller Situationen ist, die unweigerlich Angst hervorrufen, gibt es kein Entrinnen... Wohl können wir aber innere Ressourcen entwickeln, die uns helfen, der Angst zu begegnen. Wie wir das tun können, steht im Mittelpunkt dieses Buches.

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*Originaltitel der ursprünglichen englischsprachigen Ausgabe von 2001:

Freeing the Soul from Fear

RIVERHEAD BOOKS

The Berkley Publishing Group

A division of Penguin Putnam Inc.

Übersetzung aus dem Englischen von Joseph Bailey.

Die Tätigung der deutschen Übersetzung und der Veröffentlichung dieses Buches erfolgten dank der freundlichen Genehmigung des Autors.

Inhalt

Einleitung

Kapitel I: Eintritt in die Gefahren der Angst

Vom Selbst zur Person

Das Erwerben seelischer Fähigkeiten, um Angst auszugleichen

Kapitel II: Der Körper im Zustand der Angst

Die Berührung der Angst

Wie die Angst im Lebenssinn wirkt

Die Angst in der Bewegung und im Gleichgewicht

Wie man körperliche Angst verringern kann

Kapitel III: Terrorismus, Zeitkollaps und Wut: Neue Erscheinungsformen der Angst

Terrorismus

Die Beschleunigung der Zeit

Gewalt

Kapitel IV. Immerwährende Ängste mit neuem Stachel: Geld, Beziehungen, Leiden und Tod

Ängste wegen Geldangelegenheiten

Angstgeladene Beziehungen

Angst vor Leiden und Tod

Kapitel V. Die Ökologie der Angst

Angst in der physisch/materiellen Welt

Angst in den Lebensprozessen

Angst in der Gefühlswelt

Kapitel VI. Der Doppelgänger

Der individuelle Doppelgänger

Institutionelle Doppelgänger

Wie man sich des Doppelgängers bewusst wird

Kapitel VII. Liebe vertreibt die Angst

Sexuelle Liebe

Emotionelle Liebe

Spirituelle Liebe

Schöpferische Liebe

Kapitel VIII. Künstlerisch leben

Durch Liebe zur Schönheit

Ein Weg zum künstlerischen Leben

Tanz und Gleichgewicht

Pantomime und Bewegung

Malerei und das Sehen

Dichtung und Sprache

Musik und Gehör

Literarische Prosa und die Einheitlichkeit des Wahrnehmens

Das Wahrnehmen und die Lebensprozesse

Kapitel IX. Angst und Bewusstsein

Eindimensionale Angst

Zur Förderung einer heilsamen Entwicklung des Ego-Bewusstseins

Angst und der Intellekt

Das Denken als eine selbständige Wirklichkeit

Die Notwendigkeit, die Kräfte der Aufmerksamkeit zu steigern

Anmerkungen

Einleitung

Dieses Buch handelt von der Liebe. Zwar heißt es im Titel, dass es um Angst gehe, aber dessen Sinn und Zweck ist die Liebe. Denn Angst kann uns belehren, in ganz neuer Art und Weise zu lieben und das ist, denke ich, letzten Endes das Geheimnis der Angst. Wenn wir vor der Angst nicht fliehen oder uns darum bemühen, sie auszumerzen, so entdecken wir uns neu. Wir entdecken uns als Wesenheiten der Liebe.

Bevor es aber zu dieser Entdeckung kommt, gilt es einen unerlässlichen Zwischenschritt zu machen, und der Ort, an dem dieser Schritt zu vollziehen ist, ist die Imagination, die Fantasie, die Fähigkeit, aus eigener Kraft innere Bilder zu schaffen. Die Angst lässt zwar die Imagination zunächst auf Hochtouren laufen; aber je länger der Mensch unter ständiger Bedrohung lebt – ob physischer, emotionaler oder psychologischer Bedrohung – desto mehr macht die Fantasie dicht. Dieses Sich-Zusammenziehen der Fantasie ist zugleich auch ein Sich-Zusammenziehen der Seele. – Unter solchen Umständen können wir es nie schaffen, zu einem Ort des Liebens hinzukommen. Wir müssen mit dem Leben der Seele und mit der Imagination viel Arbeit leisten, bevor wir die Tiefen der Liebe finden können; auch bevor wir lernen können, wie man sie an anderen Menschen und an der Welt überhaupt ausführt. Woran liegt das? Das liegt daran, dass Liebe eine Handlung der Seele ist – eine Erfahrung, durch die ein anderer Mensch – oder ein geistiges Wesen oder Gott – in uns lebt.

Mit der Angst zu arbeiten ist zentralste spirituelle Aufgabe unserer Zeit. Freilich muss in einer ganz bestimmten Weise an diese Arbeit herangegangen werden. Wenn wir nämlich versuchen, uns von der Angst abzuschotten, so werden die Stärken, die wir brauchen, um ganz Mensch zu bleiben – körperliche Vitalität, Tiefe und Fülle des inneren Selbst, Aufgeschlossenheit gegenüber den spirituellen Dimensionen des Lebens – verkümmern und absterben. Wir werden voneinander noch abgetrennter, misstrauisch, um Absicherungen jeglicher Art besorgt – und schließlich unfähig, eigentlich zu lieben.

Die Mächte in der modernen Welt, welche die Angst verursachen, sind oft so groß, dass wir in uns keine Kraft empfinden, sie aufzuhalten. Die meisten von uns können wenig oder nichts ausrichten gegen das Ozonloch, die Krise in der Ukraine, Selbstmordbomber, Stellenabbau ganzer Konzerne, verrückt gewordene Börsenmärkte, Bedrohungen durch weltweites Computerversagen, gegen Erdbeben, Orkane, Tornados und den Klimawandel, gegen Gewalt im Straßenverkehr, neue Viren, Massenmorde und was es sonst noch alles gibt.

Ob diese Ereignisse uns direkt ereilen oder mit uns scheinbar gar nichts zu tun haben: die Seele wird durch sie stark mitgenommen. Solcher Art ist ihre Subtilität, ihre Sensibilität. Berühren sie uns in welcher Weise auch immer, auch wenn wir nur davon erfahren oder mit anderen Menschen darüber reden, im Fernsehen die Nachrichten sehen oder eine Zeitung oder Zeitschrift lesen – die Angst auslösenden Eigenschaften des Ereignisses klingen im Seelenleben weiter nach. Die Angst braucht nicht als bewusste Erinnerung weiterzuleben. Die Wirkung solcher Ereignisse besteht mehr in einem Sich-Zusammenziehen, in einem Dichtmachen der emotionalen Tiefe in unserem Leben. Allmählich und unwahrnehmbar beginnt sich unser Leben fade anzufühlen. Während wir uns an alle die Dinge heranbegeben, die wir schon immer getan haben, nehmen unsere Gefühle dabei ab; ja selbst wenn wir mitten in reger Tätigkeit begriffen sind, erleben wir eine Art Isolation. Wir wissen nicht, was mit uns los ist, wissen auch nicht, wieso es so ist. Es setzt eine milde Depression ein, und im eher selten zu erwartenden Fall, dass wir den Blick nach innen wenden, entdecken wir eine große Menge Angst. Wahrscheinlicher ist es, dass wir uns nicht die Mühe machen, nach innen zu schauen. An der Oberfläche scheint alles in Ordnung zu sein. Das Leiden der Seele bleibt unbemerkt.

Menschen, deren Seele für die Angst ausgesprochen empfindlich ist, verfallen manchmal in eine Zwangsneurose. Der Welt der Medizin und der Psychologie ist der Ursprung dieses Syndroms ein Rätsel. Es wird spekuliert, dass es mit Streptokokken zu tun habe die, wenn sie einen Menschen in der frühen Kindheit infizieren, sich womöglich auf die Region des Gehirns auswirken, die das Reagieren auf die Angst steuert.

Egal, ob nun diese Spekulation sich irgendwann einmal als wahr erweist oder nicht: sie erklärt in keiner Weise das Ausmaß, bis zu welchem die Zwangserkrankung sich der Seele bemächtigen kann. Die von dieser Krankheit Befallenen haben eine totale Angst vor der Welt. Es kann zum Beispiel bei einem in dieser Weise Erkrankten vorkommen, dass er Monate lang sich weigert, die eigene Wohnung zu verlassen. Oder er erfindet komplizierte, ausgedehnte Ritualen, um den Eintritt dessen vorzubeugen, was ihn mit Ängsten quält – das Anfassen einer Türklinke; das Einatmen der Luft; das Essen. Die Möglichkeiten sind unerschöpflich. Es ist deutlich: diese Menschen fürchten sich vor der Angst selbst. Sie mögen sagen, dass sie eine Todesangst haben vor Keimen oder vor einem Virus, aber das heißt weiter nichts, als dass der Grund ihres Schreckens etwas Unsichtbares ist. Wenn wir aber solche Menschen mehr als Kulturanzeiger betrachten würden, denn als Sonderlinge, die mit seltsamen psychologischen Symptomen behaftet sind, so könnten wir vielleicht eine Menge lernen.

In diesem Buch gehe ich auf alle Arten der Angst ein – nicht nur auf die Art, an der die Opfer der Zwangsneurose leiden. Anstatt dass ich Menschen, Gegenstände und Geschehnisse um uns herum als die Ursachen der Angst ansehe, betrachte ich sie vielmehr als die Träger der Angst – als die Boten, nicht als die Botschaft. Das, was wir gewöhnlich für Angst halten, ist lediglich unsere Antwort auf die Gegenwart von Angst, welche in der Welt eine von uns autonome Existenz führt.

Die Angst so zu betrachten – als etwas ganz Reales an sich und somit als mehr denn bloß unsere Reaktion auf eine Bedrohung unseres Wohlseins, – ist eine unübliche Ansichtsweise dieses Phänomens. Wir denken gewöhnlich nach Ursache und Wirkung. Wir haben die etwas einfältige Auffassung, dass wenn sich nur die Auslöser der Angst finden und beseitigen ließe, dann auch die Angst selbst ausgeschaltet wäre. Was es während der Lektüre dieses Buches im Sinne zu behalten gilt, das ist, dass ich beim Sprechen über die Angst stets auf der Ebene der Seele spreche. Die Seele folgt nicht der Logik von Ursache und Wirkung so, wie wir uns diese in der physischen Welt vorstellen.

Von der Art, wie Menschen mit einer Zwangsneurose therapiert werden, kann man einiges lernen über die sonderbare Macht, welche die Angst über uns haben kann. Der konventionelle Therapieansatz für dieses Syndrom ist die Konditionierung. Wenn zum Beispiel ein Mensch davor Angst hat, eine Türklinke anzufassen, und zwar nicht wegen irgendetwas, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwartet, sondern wegen der Gefahr, durch Berührung derselben von irgendeiner Krankheit befallen zu werden, so besteht die Therapie darin, den Kranken dazu zu ermutigen, sich schrittchenweise der Tür zu nähern, die Klinke zu berühren und schließlieh die Tür zu öffnen. Diese Behandlung kann Monate dauern. Ferner empfindet der so Erkrankte normalerweise dieselbe Ängstlichkeit gegenüber vielem; so mag ein Mensch mit Zwangsvorstellungen dieser Art eine zehnseitige Liste von Dingen haben, vor denen er sich fürchtet, und in der Regel muss jedes Ding auf der Liste einzeln behandelt werden. Die Logik dieser Behandlungsweise ist die, dass wenn der Auslöser der Angst ein materieller Gegenstand ist, man das Problem bei der Wurzel packen könne, indem man durch Konditionierung den Gegenstand angeht. Bei dieser linearen Denkart aber ist es erforderlich, jedes einzelne Objekt zu behandeln, das mit Angst verbunden ist.

Aus der Perspektive der Seele geht etwas anderes vor sich. Die Angst bewirkt, dass die Seele sich zusammenzieht. Dieses Sich-Zusammenziehen äußert sich als Unfähigkeit des Menschen, sich auf andere Menschen und auf die Welt einzulassen. Die eigene Welt nimmt beständig ab. Die Anregung des Therapeuten, sich wieder in die Welt hinauszubegeben, ist eine Handlung der Liebe, die es ermöglicht, eine Vorstellung dessen zu bilden, was wirklich ist. Die Rolle des Therapeuten ist es, die Empfänglichkeit des Patienten wiederzuerwecken für die Art, wie er sich die Realität vorstellt. Das wiederum ermöglicht es ihm, die eigene Angst anzunehmen: Eine Türklinke ist vornehmlich etwas, womit man eine Tür öffnet, und keine Bringerin tödlicher Infekte. Eine solche Umgestaltung der Vorstellungen ist eigentlich ein Weg, die Angst an ihren rechten Platz zurückzuverweisen. Es mag tatsächlich der Fall sein, dass auf der Türklinke Keime lagern, und es ist allerdings denkbar, dass wenn wir sie berühren, wir sterben werden. Es geht darum, dass Angst in der Welt stets vorhanden ist und auch darum, dass man im Leben nicht darum herumkommt, den zu einer Begegnung mit der Welt nötigen Mut aufzubringen. Die sorgende und liebevolle Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem leidenden Menschen ermöglicht eine Weitung der Seele und eine Wiederherstellung des Vorstellungslebens, was zu einem gesunden Verhältnis zur weiteren Welt führt.

In diesem Buch konzentriere ich mich nicht direkt auf die therapeutische Behandlung der Zwangskrankheit, auch nicht auf irgendeinen der gängigen psychologischen Ansätze zur Analyse der Angst – wie etwa der Angst, der Phobien oder der posttraumatischen Belastungsstörung. Meine Prämisse ist die, dass Angst in der Welt zunimmt, und zwar rasant. Neben dem Umstand, dass sie in Form von individuellen psychologischen Störungen auftritt, sehen wir uns jetzt mit dieser zerstörerischen Macht auch als mit einem kulturellen Phänomen konfrontiert, das uns alle in tieferer und bedeutungsvollerer Weise berührt, als wir je ahnen würden. Das Seelenleben der Menschheit ist bedroht.

Auch im Zunehmen begriffen sind populäre Schriften zum Thema der Seele. Diese legen von unserer kollektiven misslichen Lage Zeugnis ab. Sie ermutigen die Menschen zur Arbeit am Leben der Seele und gehen davon aus, dass wenn wir für dasselbe nicht die Verantwortung ergreifen, die Seele sich selbst zersetzen werde. Zugleich aber behandeln die meisten dieser Schriften in nur sehr geringem Maße, wie man an die Stärkung des seelischen Lebens herangeht. Und gar keine von ihnen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Angst als schreckliches Hindernis zum Erleben und Pflegen der Seele.

Unsere gegenwärtige Haltung gegenüber der Seele ist die, dass sie ein fest bestehendes Dauerelement des Menschen sei. Der landläufigen Auffassung zufolge können wir unsere Verbindung mit der Seele verlieren, diese Verbindung aber auf verschiedener Weise wiederherstellen, wie etwa dadurch, dass wir das eigene Leiden ehren; dass wir uns dem Zauber der Welt öffnen, dass wir die eigenen kleinen Marotten als Charakterstärke anstatt als Schwäche ansehen; dass wir auf das Traumleben Acht geben; dass wir eine künstlerische Tätigkeit aufnehmen; dass wir die Imagination wertschätzen.

So wichtig auch solche Tätigkeiten sein mögen: in der Gegenwart so vieler Arten starker Angst ist ein direktes Sich-Hinwenden zur Seele nicht immer wirksam. Und so distanziere ich mich von dieser Denkart und mache spezifische Vorschläge dazu, wie man sich um das Seelenleben kümmern und dessen Kraft stärken kann. In den folgenden Kapiteln ist eine folgerichtige Methode zu finden, um der Gegenwart verschiedener Arten von Angst entgegenzuwirken. Diese Methode lässt sich so zusammenfassen:

Als Erstes müssen wir uns ein Bewusstsein dafür erarbeiten, wie verschiedene Arten von Angst jeweils auf die Seele wirken. Mit jeder Art von Angst wird eine ihr entsprechende natürliche Kapazität der Seele geschwächt. Zweitens müssen wir Wege finden, durch bewusste Tätigkeit die so geschwundene Seelenkapazität wiederherzustellen. In jedem einzelnen Fall geht es darum, eine imaginative Übung zu ergreifen, welche die jeweils taub gewordene Qualität der Seele wiedererweckt. Drittens müssen wir, zuzüglich zum bloßen Ausführen der Übungen, auch auf unser eigenes Seelenleben reflektieren und für uns selbst das beschreiben, was in uns vorgeht.

Auf einen unmittelbaren Ertrag der Übungen kommt es nicht so sehr an; ja es passiert gar nichts Spektakuläres, während wir mit ihnen umgehen. Die Auswirkungen ereignen sich allmählich, im Lauf der Zeit. Machen wir uns aber mit der Art bekannt, wie sich unser Innenleben durch die Übungen verändert, so beginnen wir zu entdecken, wie die so erweckte Seelenfähigkeit in unser Alltagsleben integriert werden kann. Indem unsere seelischen Kapazitäten erwachen, erwacht in uns auch die Fähigkeit, liebevoller zu werden und Liebe hervorzubringen als wirksames Mittel gegen die Ausbreitung von Angst.

Eine Frage, die Ihnen beim Arbeiten mit diesem Buch kommen könnte, ist die, ob es wohl erforderlich ist, alle die vorgeschlagenen Übungen auszuführen. Die Antwort lautet: Es ist wohl besser, bloß eine davon vorzunehmen – diejenige, die für Sie im gegenwärtigen Lebensaugenblick am sinnvollsten erscheint – und eine Zeitlang mit ihr arbeiten. Es braucht nicht lange. Von Meditationsübungen pflegen wir zu denken, dass sie eine halbe Stunde und länger dauern. Die Seele spricht aber besser auf eine Übung an, wenn sie regelmäßig – täglich, wenn möglich – aber für nicht länger als etwa fünf Minuten ausgeführt wird. Solche kurzen Sitzungen scheinen vielleicht geringfügig. Man bedenke aber, dass die Zeit der Seele eine ganz andere ist als die nach der Uhr gemessene Zeit. Diese Übungen sind nicht solche, wie wenn man zum Fitness-Studio trainieren geht. Ihre positiven Auswirkungen nehmen nicht zu, wenn sie bis zur Erschöpfung wiederholt werden.

Die imaginativen Übungen in diesem Buch wurden schon landesweit von verschiedenen Menschen ausgeführt, und zwar in Seminaren, die von der School of Spiritual Psychology (eine von mir und Cheryl Sanders Sardello seinerzeit gegründete und betriebene Organisation) veranstaltet wurden. Mit der Zeit wurden es insgesamt mehr als 300 Individuen, die sie aufnahmen. Diese Menschen stammten aus allen Lebensbereichen. Keiner von ihnen war mit irgendwelchen spezifischen Phobien diagnostiziert worden, aber alle hatten tiefe Sorge zum Ausdruck gebracht über die Art, wie verschiedene Formen der Angst in ihr tägliches Leben eintreten. Wer die von der Schule angebotenen Seminare besuchte, wollte gern ein seelisches Bewusstsein und spirituelle Kapazitäten entfalten, die im praktischen Leben anzuwenden sind. Die im Lauf dieser Seminare von den Teilnehmern gewonnenen Erfahrungen bilden einen Teil dieses Buches. Die Herangehensweise an die für die Seminare entwickelten Übungen hatte eine lange Tradition. Viele der Übungen wurden aus der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners abgewandelt, eines begabten österreichischen Hellsehers, der zeitgleich mit Freud und Jung wirkte. Der Umgang mit inneren Bildern in der angegebenen Weise ist gänzlich ungefährlich. Wer sie übt, bleibt während des Ausführens vollbewusst; es tritt kein veränderter Bewusstseinszustand, keine leibfreie Erfahrung ein. Ja der ganze Ansatz dieser spirituellen Psychologie fußt auf das Bilden eines bewussten, lebendigen seelischen Erlebens, das für die Reiche des Geistes empfänglich ist.

Eine der großen Herausforderungen beim Schreiben über die Angst besteht darin, nicht noch zusätzlich Angst dabei zu erzeugen. Ich erhielt zum Beispiel einmal von einem Freund einen Brief, in dem er eine Tagung beschrieb, bei der es um das sogenannte Jahr-2000-Problem ging. Die Tagung sei in einer großen Kirche gehalten worden und es seien Redner aus dem ganzen Land dabei gewesen. Es sei gewarnt worden, Lebensmittel zu horten, für alle Fälle. Die Redner hätten gesägt, sie seien nur dazu da, um Informationen zu vermitteln, damit die Anwesenden eigene Entscheidungen treffen können. Der Kirchenleiter sei aufgestanden und habe gesagt, wie wichtig es sei, die Grenzen einer rein materialistischen Herangehensweise an das Computerproblem zu durchschauen und eine mystische Perspektive auf diese Problematik zu haben. Gott sei größer als das Jahr-2000-Problem und gewiss auch in dieser Angelegenheit nicht ohnmächtig. Als mein Freund diese Tagung verließ, habe er eine Menge Angst gefühlt. Seine Angst sei nicht einem größeren Verständnis der möglichen Folgen des Computerproblems entsprungen, sondern seinem Empfinden der ganzen Angst, die gerade unter der Oberfläche des Gespräches gewirkt habe. Über die Angst selbst wurde gar nicht gesprochen, über die Liebe auch nicht. Den Anwesenden wurden technische Informationen mitgeteilt und dann gesagt, Gott werde eine Lösung bieten.

Die Alternative dazu, sich vor der Angst zu verstecken oder darauf zu hoffen, dass Gott alles in Ordnung bringen wird, ist die, offen und im Körper zentriert zu bleiben, sich der Schönheit der Welt zu verpflichten und zu erkennen, dass auch wenn die Angst nicht vollständig beseitigt werden kann, wir wohl daran arbeiten können zu verhindern, dass sie uns überwältigt. Um in gesunder Weise mit der Angst zu arbeiten, muss man in enger, bewusster Verbindung mit dem Leben der Seele leben und eine Spiritualität in sich ausbilden, die zu einem selbstverständlichen Aspekt des alltäglichen Lebens wird.

Oben heißt es, Liebe sei das Gegengift zur Angst. Angst kann uns aber sehr viel über die Liebe lehren. Angst kann unsere Wachheit schärfen, und wir können diese Erquickung des Bewusstseins dazu verwenden, unser Auffassungsvermögen für die verschiedenen Arten der Liebe zu stärken. In einem späteren Kapitel erkunde ich die Modi der Liebe; das habe ich aus vielen Begegnungen mit der Angst gelernt. In den Kapiteln bis dahin wird Liebe zwar erwähnt, aber noch nicht zur Hauptthematik gemacht. Das liegt daran, weil es so leicht vorkommt, dass Liebe in egoistischer Weise verstanden wird. Sentimentale Vorstellungen der Liebe, allein schon der Gebrauch des Wortes, ohne innerlich zu verstehen, was es bedeutet; auch ein pauschales Zusammenbegreifen allerlei verschiedener Sorten der Liebe – das alles ist zum Abwenden der Angst unwirksam. Die Auffassung, die Angst könne keinen Schaden anrichten, wenn ich nur umso intensiver und anhaltender liebe, ist ziemlich selbstherrlich, wenn nicht gar naiv. Liebe haben wir sehr wenig unter unserer Kontrolle. Bestenfalls können wir daran arbeiten, uns selbst zu einem adäquaten Gefäß der Liebe zu machen, damit sie durch uns hindurch und letztlich in die weitere Welt hinausfließen kann.

Mit am tückischsten bei der Angst ist der Umstand, dass sie sich unser bemächtigen kann, ohne dass wir es wissen. Es ist nämlich nicht so, dass Menschen, die ständig unter dem Schatten der Angst leben, pausenlos beben und zagen; wohl aber leben sie so, wie wenn sie sich ständig in einem Traumzustand befänden. Nach einer Weile vergessen diese Menschen, dass dieser ihr eigentümlicher Seinszustand nicht reell ist. Dieses Phänomen ist in der Psychologie wohl dokumentiert. Menschen, die ein einschneidendes Trauma erlebt haben, leben jahrelang in einer Art leisen Trance-Zustandes und vermögen es nicht, in der Welt richtig Fuß zu fassen. Solche Menschen haben es oft schwer, intime Beziehungen zu gründen. Auch neigen sie dazu, die eine oder die andere Sucht zu entwickeln und haben häufig eine grausame Seite, die sie gelegentlich an den Tag legen.

Es gibt auch größere, Kultur umfassende Vorkommnisse von Trauma: das Aufkommen des Nationalsozialismus unter Hitler ist ein deutliches Beispiel hiervon. Hitlers Missbräuche traumatisierten ein ganzes Volk und führten unfassbare Gräueltaten aus dem einfachen Grund herbei, weil er in der ständigen Gegenwart der Angst lebte. Die neuerliche Forschungsarbeit von Robert Jay Lifton ließ mich Erkennen, dass die Betäubung, die durch die Angst verursacht wird, mehr als ein Sich-Ausschalten der körperlichen Sensibilität und der seelischen Aufmerksamkeit ist. Betäubung entspricht vollends einem Auswechseln des Selbst oder der Seele mit einem falschen Selbst, und solche „Doppelung“ tritt ein, ohne dass wir durchschauen, dass sie sich ereignet hat. Die kulturellen Implikationen der Angst sind ungeheuer. Ferner findet dieses Ersetzen unseres zentralen Wesensaspektes nicht ausschließlich im Angesicht offener Feindseligkeit statt. Es lässt sich durch weit subtilere Einflüsse hervorrufen. In einem späteren Kapitel befasse ich mich mit dieser Sache, indem ich die Art und Weise aufzeige, wie „Doppelung“ in unserer Kultur vorkommt, und dann das Mittel anbiete, durch das man dem sich daraus ergebenden Verlust der Seele entgegenwirken kann.

Es werden so viele Bücher aus so vielen verschiedenen Perspektiven veröffentlicht, deren Titel das Wort „Seele“ enthält, dass ich es für unerlässlich halte, so klar wie möglich zu machen, was ich unter „Seele“ verstehe, oder zumindest einen Kontext zu bieten für die Art und Weise, wie ich das Wort verwende. Im 20. Jahrhundert gewann das Wort wegen der hochoriginellen Tiefenpsychologie C. G. Jungs einen über religiöse Zusammenhänge hinausgehenden Sinngehalt. Ich für meinen Teil wurde von Jung beeinflusst, und noch mehr von denjenigen, die seine Arbeit hinsichtlich der individuellen Psychotherapie auf kulturelle Angelegenheiten übertragen haben, insbesondere von James Hillman und Thomas Moore. Ich hatte das große Glück, in den 1980er-Jahren für über fünf Jahre am Dallas Institute of the Humanities mit Hillman und Moore eng zusammen zu arbeiten. Gemeinsam erzielten wir bedeutende Fortschritte darin, „Seele“ aus dem Therapieraum hinaus und in die weitere Welt hineinzubringen. Diese wichtige Richtung war im Wesentlichen auf die Schwungkraft und die Genialität von Gail Thomas, der Hauptgründerin des Institutes in Dallas, zurückzuführen. Sie regte uns alle mit Nachdruck dazu an, die Welt anzuschauen – die Städte, die Institutionen, die Architektur, die Medien, die moderne Kultur – und sie als Verkörperung der Urbild-Imagination zu sehen. Sie brachte uns dazu, zu sehen, dass Arbeit mit und an der Seele praktische Implikationen hat für das Kulturleben der Gegenwart.

Jung war so weise, „Seele“ nicht zu definieren; seine Charakterisierung derselben ist einfach und elegant: Seele, sagt er, ist Bild. Damit meint er, dass das spontane innere Erscheinen von Bildern – manchmal in bewusster, manchmal in unbewusster Weise – das Funktionieren der Seele kennzeichnet. Ferner versteht er unter „Bild“ nicht Vorstellungen bzw. Gebilde, die durch das innere Auge beobachtet werden. Mit „Bild“ meint Jung die unsichtbaren, orientierenden Muster, durch die wir die Empfindung der eigenen Persönlichkeit erfahren und mit ihr auch einen tieferen Sinn der Welt. Die Seele erstehe, so Jung, aus diesen anhaltenden Mustern, den Urbildern. Unser Verhalten auf Urbild-Mustern zurückzuverfolgen helfe uns, die Muster unserer eigenen Erfahrungen zu verstehen. So seien Bilder nicht das, was wir „sehen“, sondern vielmehr das, „wodurch wir sehen“. Diese tieferen Muster wirken laut Jung durch unser Wahrnehmen, unser Denken, Fühlen und Handeln hindurch, was eine Empfindung der Seele ist.

Ganz gewiss interessierte sich Jung für die weitere Welt. Er stellte eine Menge Spekulationen an über die Seele in der zeitgenössischen Kultur an und bereiste die Welt, um das aktive Seelenleben anderer Völker zu erleben. Auch berichtete er über Phänomene von kulturellem Interesse, wie zum Beispiel Kunst, mythische Geschichten, ja sogar UFOs. Aber er brachte es nicht ganz bis zu einer Auffassung der Weltseele als an einem von der einzelnen menschlichen Seele autonomen Wesen. Ich erwähne deshalb diese Einschränkung, weil wann immer ich unter Berufung auf Jungs Auffassung der Seele versuchte, die Angst als etwas mehr denn ein bloßes Problem der individuellen Psyche zu betrachten, eine Bestimmung der Seele der zeitgenössischen Kultur schwierig war. Zum Glück fand ich Hilfe in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners.

Steiner, der weniger bekannt ist als Jung, wirkte ja wie oben gesagt zur gleichen Zeit wie dieser und war sich des Beitrags von ihm wohl bewusst. Steiner war Philosoph, Gelehrter, Wissenschaftler und Pädagoge sowie der Begründer der Anthroposophie, einer modernen Wissenschaft des Geistes. Er inspirierte eine Erneuerung vieler kultureller Tätigkeiten, darunter der Pädagogik (die Waldorfschulen), der Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaftsweise), der Medizin (anthroposophische Medizin), der Heilpädagogik (etwa die Camphill-Bewegung), der Kunst, der Wirtschaftswissenschaft, der Philosophie und der Religion. Er spricht über den Beitrag sowie die Grenzen des Ansatzes von Jung etwa im Vortrag „Psychoanalyse und Psychosophie“. Seine Auffassung der Seele, auf die ich mich in erheblichem Maße beziehe, stellt er im Vortragszyklus Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie dar. Steiners Beschreibung der Seele enthält nur bis zu einem bestimmten Grade Parallelen zur Auffassung Jungs. Er spricht vom inneren Leben der Seele als aus einer fortdauernden, dramatischen Spannung zwischen Liebe und Hass bestehend. Weder „Liebe“ noch „Hass“ soll hier im alltäglichen Sinne aufgefasst werden, denn in diesem Zusammenhang meinen sie Kräfte der Anziehung und des Abstoßens. Die Spannung, die aus dem Zusammenwirken solcher Kräfte entsteht, drückt sich in der Entstehung von Bildern aus. Ferner wird die Seele von allem beeinflusst, was in der uns umgebenden Welt geschieht. Solche Einflüsse sind etwa unsere Beziehungen zu anderen Menschen oder die kollektiven Kräfte der Kultur. Das alles lebt noch lange in der Seele fort, nachdem das Ereignis vorbei ist, das den Eindruck ursprünglich machte. Erstaunlicherweise fehlt in der Psychologie Jungs eine Auseinandersetzung mit den langfristigen Wirkungen dessen, was um uns herum sich ereignet, auf das Seelenleben. Das ist der Grund, weshalb die Beiträge Steiners so unentbehrlich sind.

Im Gegensatz zur Psychologie Freuds, die behauptet, dass unbewusste Erinnerungen der Quell unserer Krankheiten seien, legt Steiner nahe, dass das, was in der Seele weiterlebe, nicht nur die Inhalte der Erinnerung, sondern eine generelle Ausdehnung (sofern es sich um gesunde Erfahrungen handelt) bzw. Zusammenziehung der Seele seien (sofern es sich um Ängste handelt). Solche Veränderungen, so Steiner, wirken sich nicht nur auf die Weise aus, wie wir mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt umgehen, sondern auch auf die Weise, wie wir uns selbst, andere Menschen und die Welt verstehen. Die in diesem Buch vorkommenden Beschreibungen der Angst stehen letzterer (Steiners) Auffassung des Lebens der Seele näher. Steiner behauptet keine umfassende Theorie der Seele. Er beginnt vielmehr mit der Frage: Was lässt sich rein durch Beobachtung über dieses Leben der Seele erkennen? Von hier aus schreitet er zu seinen Beschreibungen fort. Der in diesem Buche beschriebene Umgang mit der Angst besteht darin, nicht nur Steiners Ergebnisse zu adoptieren, sondern so zu tun, wie Steiner tut – nämlich detaillierte Beobachtungen zu machen.

In dem, was folgt, werden Sie etwas von dem Verhalten der Angst lernen und davon, wie man mit der Imagination arbeitet und wie man in Richtung einer umfassenden Liebe zur Welt hin sich bewegt. Auch werden Sie von der Notwendigkeit erfahren, eine Schönheit zu entwickeln, die Biss hat; womit ich die Notwendigkeit meine, unser Leben schön zu gestalten, zumal als Ausdruck von Liebe in der Welt. Alle diese Vorschläge tun weiter nichts als in unterschiedlicher Weise dieses zum Ausdruck zu bringen: Es braucht Zeit, „Seele“ zu machen, „Seele“ zu leben, „Seele“ zu erfahren. Die heute vorherrschenden Arten der Angst rauben uns die Zeit, die wir brauchen, um an der Seele zu arbeiten. Die Seele wird zwar seit Jahrhunderten zusammengedrängt; nichtsdestoweniger passiert das ärgste Sich-Zusammenziehen des Seelenlebens erst seit Neuem, seit dem Zweiten Weltkrieg. Man bedenke nur alles, was in der kurzen Zeitspanne seit dem Krieg geschehen ist. Einige der Bereiche, in denen wir drastische Umwälzungen erlebt haben: Raumfahrt, Informatik, medizinische Technologie, Transport, Wirtschaftswerte, Genetik, sittliche Werte, Geschlechterrollen, Familienleben, religiöse Werte, das Gestalten von Konzernen, Globalisierung. Angst kommt in der Seele dann auf, wenn Änderungen schneller eintreten, als unsere seelischen Kapazitäten mit denselben schritthalten können. Viele der Ängste, die wir heute erleiden, haben damit zu tun, dass die Zukunft vor ihrer Zeit eintrifft. Wir werden emotional und psychisch weit über uns selbst hinausgedrängt, und das Ergebnis dieses fundamentalen Zerwürfnisses ist ein enormer Stress. Vor Kurzem las ich die Einleitung zu einer Produktlinie von Tier-Pharmazeutika: „Doggy-Prozac“.1 Die Prämisse hinter dieser Behandlung ist die, dass unsere Haustiere den Stress des modernen Lebens verinnerlicht haben und allerlei Symptome hiervon an den Tag legen, wie etwa Heulen, Beißen, an der Tür Kratzen, sogar Selbstverletzung. Nun, das alles ist unser Stress, unsere Angst. Wir tun vielleicht gut daran, uns unsere Tiere anzuschauen, um ein Bild für die Lage unseres eigenen Seelenlebens zu gewinnen.

Für jeden von uns bedurfte es als Kind einer ungeheuren Anstrengung, das Lesen zu lernen, das Rechnen zu beherrschen, denken zu können. Keine dieser Fähigkeiten hat sich naturgemäß entwickelt. Einen Umgang mit der Seele in bewusster Weise zu erlernen ist eine Aufgabe für Erwachsene, aber die damit verbundene Mühe ist der Anstrengung unseres Lernens in der Kindheit analog. Es braucht eine harte Arbeit, um einen Sinn für die Seele auszubilden. Wer sich für „Seele“ überhaupt interessiert, neigt dazu, sich im Sich-Erzählen-Lassen von ihr zu sonnen. Ein solches bloßes Erzählen-Hören wiederum erzeugt ein Mitklingen in der eigenen Seele, das uns betrügt: uns ist, als hätten wir eine Erfahrung der Seele tatsächlich gehabt. Es könnte aber sein, dass wir uns die Flügel der Imagination erst verdienen müssen.

1 „Doggy Prozac“ ist ein in den USA für Hunde hergestelltes Fluoxetin-Präparat.

Kapitel I: Eintritt in die Gefahren der Angst

Die Angst ist unser finsterer Geselle, der begleitet uns vom Moment des Aufwachens bis in die Tiefen der nächtlichen Träume. Hier eine kleine Kostprobe der landläufigsten Ängste: den Job zu verlieren; dass ein Kind stirbt; alt zu werden; körperliche Gewalt zugefügt zu werden; krebskrank zu werden; eine Beziehung zu verlieren; nicht gut genug zu sein; nicht für seine Familie sorgen zu können. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Sich von der Angst zu befreien, scheint zunächst zu bedeuten, diesen dunklen Begleiter ein für alle Mal loszuwerden. So verbringen wir unsere Zeit damit, mehr und mehr Komfort zu suchen. Wir suchen Ablenkung beim Einkaufen, bei der Unterhaltung oder im Urlaub. Wir kaufen teure Autos, gehen häufig essen, verbringen zu viel Zeit vor dem Fernseher oder ziehen in eine bewachte Wohnsiedlung, wo es "sicher" ist. Wir gehen in Therapie oder schließen uns einer Selbsthilfegruppe an, nehmen Prozac, tragen eine Waffe bei uns, leben in Verleugnung und Isolation. Aber solche Maßnahmen dämpfen die Angst nur vorübergehend, so dass sie darunter noch intensiver wird und das Bedürfnis nach mehr Komfort noch größer wird.

Da die Welt voller Situationen ist, die unweigerlich Angst auslösen, gibt es kein Entkommen. Frei von Angst zu werden kann also nicht bedeuten, die Angst abzuschaffen. Das wäre so, als würde man sagen, dass die einzige Möglichkeit, sich in einer Ehe frei zu fühlen, darin besteht, die Ehe aufzulösen. Wir können jedoch innere Ressourcen entwickeln, die uns helfen, uns der Angst zu stellen. Wie wir das tun können, ist das Thema dieses Buches.

Das Evangelium behauptet zu Recht, dass vollkommene Liebe die Angst vertreibt. Da es aber nur wenige unter uns gibt, die in der Lage sind, vollkommene Liebe zu erlangen, scheint eine Abschaffung der Angst unerreichbar zu sein. Und dennoch, wenn wir uns ihr nicht stellen, nährt sie sich von selbst, nagt an der Substanz unseres Wesens und kann uns völlig überwältigen. Über längere Zeit kann uns die Angst unsere Menschlichkeit rauben. Wenn wir ihr jedoch mit den Ressourcen eines bewussteren Seelenlebens begegnen, so bemächtigt sie sich unser nicht mehr, sondern sie fordert uns heraus, immer mehr von unserer Menschlichkeit zu entdecken.

Angst rührt viele Reaktionen auf, die die Seele auslaugen und verwirren können. Um das Bewusstsein wahrhaft vertiefen zu können, müssen wir uns ein umfassenderes Bild von der Seele im menschlichen Leben machen. Für die gewöhnliche Auffassung kommt die Seele einer Ansammlung innerer Erlebnisqualitäten gleich: der Fantasie; Gefühlen, die eine reflektierende Komponente in sich tragen, dem, was jenseits der bewussten Erfahrung liegt. So verstanden bestimmt die Seele die Art und Weise, wie wir sowohl auf äußere Ereignisse zugehen als auch auf sie reagieren. Meine Auffassung der Seele ist insofern eine etwas weiter gefasste, als dass sie die Einflüsse mit einschließt, die aus der äußeren Welt auf uns einwirken. Solche Ereignisse in der Welt leben in der Seele weiter, und zwar nicht nur als Erinnerungen, sondern als Ballungen oder Spreizungen im Feld der Seele. Angst zieht die Seele zusammen. Wenn wir uns Fürchten, fühlen wir uns einsamer, isolierter, weniger mit der weiteren Welt verbunden und mehr von den Reichtümern unseres inneren Lebens abgeschnitten. Weitet sich die Seele jedoch, so bietet sie uns einen Weg, mit den in jedem von uns befindlichen zerstörerischen Kräften konstruktiv zu arbeiten. Die Seele lebt auf an Eigenschaften wie Freude, Mitgefühl, Wahrheit, Lust, Schenken, Dienen, Schönheit und sogar inneres Kämpfen. Am stärksten aber drückt sich die Seele in einer Vielzahl von Taten der Liebe aus – im Knüpfen tiefer Beziehungen mit anderen, Im Bilden des Vermögens zu dienen, im Öffnen unseres Herzens für die spirituellen Reiche. Wenn wir lernen, diese Qualitäten bewusst beizubehalten und auf neue Art und Weise weiterzuentwickeln, kann uns das sehr weit bringen in der Heilung der Angst in der Welt.1

Wir beginnen mit der einfachen Definition von Angst als das, was die unmittelbare Erfahrung unserer wahren menschlichen Identität abstumpft – die Erfahrung dessen, was wir als Individuen sind. Um ganz Mensch zu sein, müssen wir das Geheimnis unseres Körpers im Verhältnis zur Größe der Welt und des Kosmos erkennen. Menschliche Identität erfordert auch ein Eingehen unsererseits auf die inneren Qualitäten des Erlebens – wie Gefühle, Emotionen, schöpferisches Denken, Erinnerung, einen Sinn für das Schicksal, und alle die zarten Eigenschaften –, die das Leben als sinn- und bedeutungsvoll werden lässt, und nicht bloß als eine zufällige Aneinanderreihung von Ereignissen. Unsere wahre Menschlichkeit besteht ferner darin, dass wir uns an der Wirklichkeit von etwas orientieren, das größer ist als wir selbst, und solche Wirklichkeit auch zu erleben: das Mysterium des Andersseins, die Realität des Sakralen, ein Vermögen, das Heilige zu empfinden.

Wenn uns die Angst überkommt, wird unser Gefühl, ganz Mensch zu sein, angegriffen. Hier ist ein Beispiel für einen solchen Fall von Angst, geschrieben von einer Teilnehmerin unserer Workshops. Der Fall ist lehrreich, weil er nicht besonders ungewöhnlich ist und zugleich auch die Elemente enthält, die allen Erfahrungen mit Angst gemeinsam sind:

Es war ein Spätsommertag irgendwo auf einer Straße in Colorado. Es war Nachmittag. Mein Freund und ich waren auf dem Rückweg von Denver. Ein schöner Urlaub war zu Ende. Wir sprachen über seine Eltern, die wir zwei Tage lang besucht hatten. Wir waren erst zwei Stunden zuvor losgefahren. Ich war am Steuer. Es war schon spät am Tag, als wir auf die Autobahn fuhren. Mein Freund redete. Ich erinnere mich, dass ich über etwas gelacht habe. Wir befanden uns auf der Auffahrtsspur. Ich gab Gas. Ich schaute in den Außenspiegel – die Fahrspur hinter uns war frei. Ich drehte meinen Kopf und schaute über meine Schulter – alles klar. Ich setzte meine Blinker, schaute wieder in den Rückspiegel und wechselte nach links. Ich setzte mich wieder aufrecht hin und schaute nach vorne auf die Spur vor uns – direkt auf die Stoßstange eines riesigen Lkw. Unser Auto schien ihn bereits zu berühren. Alles andere verschwand. Es gab kein Geräusch, kein Licht, keine Umgebung mehr. Es gab nur den Lkw, die Kupplung, die Bremse, das Lenkrad, die Gangschaltung und mich. Mein Herz raste nicht, sondern hörte auf zu schlagen. Ich schwitzte nicht; mir war eiskalt. Meine Hände, mein Mund und meine Augen waren trocken wie eine Wüste. Mein Körper war nicht wirklich steif; er funktionierte vollkommen richtig. Aber er tat nur das, was nötig war, sonst nichts. Eine endlos erscheinende Zeit lang war ich allein mit dem Lastwagen und versuchte, ihm zu entkommen. Als er schließlich etwa fünf Meter vor mir war, schien die Welt zu mir zurückzukehren. Mit den Geräuschen, der Umgebung und dem Licht kehrten auch die Zeit und mein Bewusstsein zurück. Die Zeit zeigte mir, dass ich immer noch ziemlich schnell unterwegs war, etwa fünfzig Meilen pro Stunde. Mein Bewusstsein sagte mir, dass wir gerade dem sicheren Tod entkommen waren. Meine körperlichen Reaktionen veränderten sich. Ich begann zu zittern. Mir war eiskalt und ich schwitzte gleichzeitig. Ich hatte Schwierigkeiten, das Auto auf der Straße zu halten. An der nächsten Raststätte hielt ich das Auto an und saß einfach ein paar Minuten lang zitternd und weinend da und ließ mich von meinem Freund trösten. Die Situation hatte sich so spontan ergeben, dass ich keine Chance hatte, Angst zu empfinden, bis sie vorbei war. Die gefährliche Situation dauerte nicht länger als eine Minute; aber ich brauchte etwa eine Stunde, um wieder in einen Zustand zu kommen, in dem mein Körper und mein Geist einigermaßen funktionierten.2

Selbst bei dieser momentanen Erfahrung ist es leicht zu erkennen, wie die Angst die Seele einengt. Unsere Sinne sind verengt. Die Zeit verändert sich. Wir sind plötzlich isoliert. Die Breite und Weite des Bewusstseins verschwindet. Die Angst rast durch den Körper und verursacht Wellen des Zitterns, einen kurzzeitigen Zusammenbruch. In dieser Beschreibung hilft die liebevolle Anwesenheit eines Freundes, die Person wieder in einen normalen Zustand zu versetzen, aber die Auswirkungen der Angst hallen im Körper weiter nach. Man stelle sich vor, was die Angst anrichtet, wenn sie nicht nur ein vorübergehendes Ereignis wie hier ist, sondern ein ständiger Begleiter im Leben. Die gleichen Faktoren wirken wie in dieser Beschreibung, wenn auch auf einer subtileren Ebene, und haben schlimme Auswirkungen auf den Körper, die Seele und den Geist. Wie die Frau im Auto sind wir nur noch auf das Überleben ausgerichtet. Unser Körper wird gepanzert. Wir verlieren den Kontakt zu unserem Innenleben, und unsere Verbindung zu anderen und der Welt schwindet.

Als Gesellschaft haben wir auf viele Arten von anhaltender Angst so reagiert, dass wir sie überdecken, anstatt mit ihnen auf eine Weise zu arbeiten, die unsere seelischen Fähigkeiten wiederherstellen und erweitern könnte.

So viele Dinge in der Welt beeinträchtigen unsere Fähigkeit, der Angst zu begegnen. Unsere Sinne zum Beispiel sind durch Reizüberflutung und Übermaß bereits eingeschränkt. Unsere Kultur ist so sehr darauf ausgerichtet, Massen von Menschen zu beeinflussen, und bewegt sich so schnell und effizient, dass wenig Zeit und Raum für das innere Leben bleiben. Selbst unsere wertvollsten kulturellen Institutionen wie Bildung, Religion und Politik verdunkeln unsere innere Entwicklung, wenn sie von der Angst beherrscht werden. Ich vertrete die Ansicht, dass die Angst die Bereiche der Sinne, der Kultur und des Heiligen umschafft, indem sie diese Bereiche aushöhlt.

Jede menschliche Handlung verändert die Welt. Alles, was wir im Laufe des Tages tun, geht in die Welt ein und wird Teil von ihr. Wenn wir aus Angst handeln, wird die Angst in die Welt eingeschrieben. Wenn wir aus Liebe und Schönheit handeln, prägt sich auch das ein. Es entsteht eine Art Kreislauf, durch den uns die Ergebnisse unseres Handelns ersichtlich werden; und wir wiederum haben die Möglichkeit zu lernen, anders zu handeln. Wir müssen nicht groß hinschauen, um zu sehen, dass die Angst in der Welt enorme Fortschritte gemacht hat; sie infiziert uns auf sonderbare Weise und beherrscht uns, oft ohne dass wir es wissen.

Nachdem wir diese Vorbemerkungen gemacht haben, müssen wir nun unsere Hauptfigur vorstellen. Soll er eine Skimaske tragen und sich einer Frau aufzwingen, als sie ihre Wohnung betritt? Soll er ein Arzt sein, der einem ahnungslosen Patienten sagt, dass er ein unheilbares Lymphom hat und in einigen Wochen sterben wird? Soll er ein IS-Soldat sein, der mit einem Maschinengewehr in die Mitte eines Spielplatzes schießt? Soll er ein Unternehmensleiter sein, der den Personalbestand seiner Firma verringert? Soll er als Abgeordneter einen Gesetzentwurf zur Verringerung der Altersrente einbringen? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt.

Und jetzt versuche, dir deine größte Angst vorzustellen. Halte dich nicht lange damit auf, sondern schau einfach, was dir in den Sinn kommt, wenn du dich einen Moment lang auf deine größte Angst konzentrierst. Diese kleine Übung ist kein Experiment zur Visualisierung. Sie soll uns nur dabei helfen, eine anfängliche Verbindung zu der Kraft der Angst zu finden und zu sehen, was sie bewirkt. Was auftaucht, kann sich von einem Tag zum anderen ändern.

Man bemerke, dass bei den ganzen oben angeführten Beispielen der Angst kein Zusammenhang gegeben ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dein eigenes Bild ebenfalls eines Zusammenhangs ermangelt. Wenn jemand eine Angst vor das eigene innere Auge ruft, ist weder von der eigenen persönlichen Vergangenheit, der eigenen Persönlichkeit, inneren Entwicklungsstufe, spirituellen Ausrichtung, noch sind alle die Menschen mit dabei, die einen lieben und unterstützen. In der obigen Liste der Ängste wissen wir nichts über die beteiligten Menschen, haben keine Ahnung, wo und wie sie leben oder was sie glauben. Und ohne den Kontext ist die Möglichkeit ausgeschlossen, vorherzusagen, wie verschiedene Menschen diese Umstände durchstehen würden. Dennoch ist die imaginäre Übung lehrreich. Erstens zeigt die Übung, dass die Angst, wenn sie aufkommt, den konkreten Zusammenhang wegfegt. Wenn immer mehr von unserem Lebenskontext wegfällt, nutzen wir künstliche Barrieren, um uns zu schützen. Solche Barrieren – verstärkte Polizeipräsenz, Alarmanlagen, das Recht, verdeckte Waffen zu tragen, Medikamente, die die meisten Krankheiten zu heilen versprechen, politische Versprechen – steigern oft die Angst, die sie beseitigen sollen.

Wenn wir uns vor Verbrechen fürchten, könnte eine Antwort darin bestehen, mehr Polizisten mit immer stärkeren Waffen auf die Straße zu schicken. Wenn wir uns vor Krankheiten fürchten, suchen wir vielleicht einen Arzt auf, der uns durch aufwendige Tests und Verfahren als kerngesund bescheinigt. In all solchen Fällen träumen wir von etwas außerhalb unser, das sich um das Problem der Angst kümmert; aber diese äußeren Kontrollen bringen nur noch mehr Angst in die Welt. So gesehen ist die Angst ein Gestaltwandler: Wenn wir denken, dass wir uns von der Angst befreit haben, taucht sie in genau dem Mittel auf, das wir zu ihrer Kontrolle einsetzen.

Was viele angstgeladene Situationen ausmacht, ist die plötzliche Feststellung, dass wir nicht mehr wir selbst sind. Wenn mich ein Räuber mit vorgehaltener Waffe überfällt, hat er keine Ahnung, wer ich bin. Es kümmert ihn nicht. Er behandelt mich nicht als Individuum, nicht als menschliches Wesen, sondern als Geldquelle. Und mit einer Waffe in der Hand hat er die Macht, mich von einer Sekunde auf die nächste auszulöschen und mich zu genau dem zu machen, was er aus mir machen will – eine kauernde, gefügige, zitternde, machtlose Hülle, nichts weiter als eine Spenderin von Geld und Schmuck. In diesem Moment bin ich kein Psychologe, Schriftsteller, Redner, Vater, Ehemann oder Lehrer mehr. Was den Räuber angeht, habe ich nicht einmal einen Namen. Eine bestimmte Ebene des Selbst verschwindet. Wenn ich im Leben nicht tiefer in mich hineingegangen bin als bis zu diesen Äußerlichkeiten, trägt eine Situation der Angst meine Empfindung der eigenen Identität ab.

Das abstrakte Wort „Opfer“ versucht, diesen Umstand zu erfassen, aber in diesem Moment weiß ich nicht, dass ich ein Opfer bin. Vielmehr erlebe ich, dass ich von der Vorstellung eines anderen beherrscht werde, wer ich für ihn bin. Der Räuber sieht mich als seinen Geldlieferanten. Der Chef im Büro sieht mich vielleicht als bloße Funktionärin. Der Feind in einem internationalen Konflikt sieht uns vielleicht alle als ein Übel, das es zu vernichten gilt.

Sowohl die körperlichen Begleiterscheinungen zur Angst – Pupillenerweiterung, Blässe, erhöhter Herzschlag, erhöhte Tätigkeit des sympathischen Nervensystems – als auch solche psychischen Reaktionen wie Furcht, Schrecken, Erschaudern, Kampf-oder-Flucht, Panik, sind bloße Wirkungen und sollten nicht mit der Angst selbst verwechselt werden. Auch geistige Reaktionen wie Zweifel, Zögern, Isolation und Vertrauensverlust sind nur Auswirkungen. Die primäre Wirkung der Angst ist die Fragmentierung. Sobald wir in Teile zerlegt sind, setzt Verwirrung ein. Wir identifizieren unsere Angst als Teil eines oder mehrerer dieser Fragmente und behandeln sie als körperliches, psychologisches oder spirituelles Problem.