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Ruhe. Ganzheit als Mysterium Durch die in diesem Buch erläuterten Praktiken kann die innere Ruhe zum Quell der Ganzheit und der Heilung werden. Die Praktiken wollen - unter anderem - Impulse zu gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Heilen, zum Dienen, zu universellem Mitgefühl, zur spirituellen Entwicklung anregen. Ruhe. Ganzheit als Mysterium sucht, im täglichen Leben die Ruhe als einen liebevollen "Gefährten", aber auch als einen bergenden Innenraum erfahrbar machen.
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Seitenzahl: 189
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*Originaltitel:
Silence. The Mystery of Wholeness
Copyright 2006, 2008 by Robert Sardello.
Goldenstone Press, Heaven & Earth Publishing and North Atlantic Books
P.O. Box 12327
Berkeley, California 94712
Neu bearbeitete Übersetzung aus dem Englischen von Joseph Bailey.
Die Tätigung der deutschen Übersetzung und Veröffentlichung dieses Buches erfolgten dank der freundlichen Genehmigung des Autors.
Prolog: Eintritt
Kapitel 1: Eine Meditation über die Ruhe
Kapitel 2: Die Hüter der Ruhe
Kapitel 3: Eintritt in die Ruhe
Kapitel 4: Beziehungen in der Ruhe
Kapitel 5: Die heilende Kraft der Ruhe
Kapitel 6: Die Ruhe im alltäglichen Leben
Kapitel 7: Freiraum schaffen für die Ruhe
Kapitel 8: Die Ruhe des Herzens
Kapitel 9: Ruhe, Gebet, Meditation
Alle spirituellen Traditionen wertschätzen die Ruhe. Das Daodejing spricht vom Dao als „in Ermangelung eines besseren Wortes, dem großen Weg. Es fließt, kreist, fließt und kreist. Und es hat keinen Namen“. So beschrieben ist das Dao wahrscheinlich dasselbe wie Ruhe, denn die in diesem Buch beschriebenen Strömungen der Ruhe werden in genau dieser Art vorgestellt. Von dieser Ruhe sagt Meister Eckhart sinngemäß: „Die zentrale Ruhe ist das reinste Element der Seele, der Seele erhabenster Ort, der Kern, das Wesen der Seele.“ Pythagoras sagte „Lerne, stille zu sein. Lasse deinen ruhigen Verstand lauschen und absorbiere die Ruhe.“ Ruhe ist autonom. Sie liegt jenseits von uns; unsere Aufgabe ist es, das eigene Sein mit dem größeren Sein der Ruhe in Einklang zu bringen.
Die spirituellen Traditionen haben schon immer die Autonomie der Ruhe erkannt. Ruhe ist nicht etwas, was wir tun, auch ist sie keine persönliche Fähigkeit. Wir können still werden und indem wir so tun öffnet sich die Türe zur Ruhe. Krishnamurti ist derselben Auffassung: „Diese Stille, diese Ruhe ist die höchste Form der Intelligenz, welche nie persönlich ist, nie dein Eigentum oder mein Eigentum. Anonym wie sie ist, ist sie vollkommen, ganz und unbefleckt.“ Laotsu sagt von Ruhe: „Die zehntausend Dinge steigen und fallen, das Selbst aber schaut ihrer Rückkehr zu. Sie wachsen und blühen auf und kehren dann zum Ursprung zurück. Das Zurückkehren zum Ursprung ist Ruhe, welche der Weg der Natur ist.“ Das, was hier das Selbst genannt wird, entspricht der in dieser Schrift beschriebenen Fähigkeit der Aufmerksamkeit. Diese Fähigkeit brauchen wir, um die Ruhe finden und innerhalb ihrer bewusst sein zu können. Hier eine der vielen Äußerungen, die Rumi zur Ruhe zu macht: „Sitze still und lausche auf eine Stimme, die sagen wird, Sei noch stiller.“
Was können wir in dieser Schrift über die Ruhe sagen, was neu wäre? Wäre es nicht sinnvoller, sich zurückzuziehen, ein Kloster aufzusuchen, die Meister der religiösen Traditionen zu lesen? Irgendeines dieser Dinge zu tun wäre längst nicht so kompliziert wie der Versuch den Fäden dieses Buches zu folgen, geschweige denn die vorgeschlagenen Praktiken aufzunehmen. Diesen komplexeren Weg legen wir deshalb nahe weil, so schön und wahr alles ist, was die religiösen und spirituellen Traditionen über die Ruhe sagen, es so nicht mehr möglich ist zur Ruhe zu kommen; nicht so, dass die Kluft zwischen der Ruhe und der lärmenden Welt zu überbrücken wäre. Wenn wir die lärmende Welt hinter uns lassen und ein Mönch werden würden, so wäre es eventuell möglich, durch die religiösen Traditionen in die Ruhe hineinzufinden. Auch ist es durchaus möglich, im Rahmen einer Klausur oder eines religiösen Kultus tief in die Ruhe zu dringen. Aber sowie wir diesen geschützten Kontext verlassen, lassen wir auch die Ruhe hinter uns, außer höchstens als süße Erinnerung. Diese Schrift bietet einen neuen Modus an, sich die Ruhe zu denken. Sie bietet auch praktische, realistische Wege zu einem fühlenden Begreifen der subtilen Tätigkeit dar, die im Reich der Ruhe vor sich geht. Dort drin können wir es zu einem volleren Erleben dieser höchsten Form der Intelligenz bringen, in der „die zehntausend Dinge steigen und fallen, indem das Selbst ihrer Rückkehr zuschaut.“
Es gibt eine nachvollziehbare Tendenz, die Reiche der Ruhe verbal zu huldigen, ihnen aber faktisch fern zu bleiben. Das Vorteil dieses Ansatzes ist eine von ihm erzeugte emotionale Identifikation mit der Ruhe, die aber ein falsches Gefühl der Teilhabe an ihr ist, da es die sorgfältige meditative Arbeit entbehrt, ohne die kein Mitschwingen des eigenen Lebens mit der Ruhe und in ihr möglich ist. Gerade um dieses falsche Gefühl der Teilhabe geht es aber im Großteil von dem, was über die ruhe geschrieben wird. Man zitiert die religiösen Traditionen und preist die persönlichen Vorteile der Zurückgezogenheit. Die Zurückgezogenheit ist aber noch lange keine Begegnung mit den Welten der Ruhe. Diese Schrift durchschaut solche Tendenzen. Ihr geht es darum, die Arbeit mit der Ruhe deutlich zu beschreiben. Denn das braucht es, wenn man für sich selbst entdecken soll, zu was die Ruhe imstande ist, oder wenn man anhand einer solchen Arbeit gar einen neuen Lebensansatz finden will. Eines der Dinge, die man beim Arbeiten mit der Ruhe findet, ist der Ausweg aus den beklemmenden Fesseln unseres Egoismus, der ja zahllose Formen annimmt. Eine besonders beachtliche Ausdrucksform des Egoismus liegt bei solchen Menschen vor, die so tun, als würde ihre bloß angelesene, durch Lektüre über mystische Erfahrungen oder theoretische Abhandlungen erworbene religiöse Haltung sie zu Wertschätzenden der Ruhe qualifizieren.
Heute braucht es eine eher deskriptive, phänomenologische Herangehensweise an die Ruhe, denn wir müssen nicht nur verlorene Bereiche neu entdecken, sondern auch mit dem tief sitzenden Wunsch aufräumen, lieber nach dem zu leben, was andere gesagt haben als innere Wahrheiten selbständig zu entdecken. Diese Annäherungsweise an das innere Leben pflege ich gemäß der anthroposophischen Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Hier muss ich aber darauf hinweisen, dass diese Schrift allerdings anthroposophisch funktioniert; das heißt, sie erforscht vorsichtig Aspekte des inneren Lebens und stellt diese so dar, dass jeder Leser das Mitgeteilte selbst bestätigen kann – aber nur so fern als er die beschriebene innere Arbeit selbst in Angriff nimmt. Tut er dies nicht, so kommt er in die Lage, von den Gedankenfrüchten anderer Menschen zu leben. Diese Schrift ist also kein Werk der Anthroposophie, das lediglich das vom Meister bereits Behauptete darbietet.
Dieses Buch wird als eine Erfahrung dargeboten, die die Beziehung des Lesers zur Welt vertieft. Es wird aber als Erlebnis der Ruhe dargeboten und nicht als Informationsquell. Und das Aufnehmen dieses Erlebnisses erfordert vom Leser, dass er während des Lesens auf das eigene innere Fühlen aufmerkt. Wer dieses Buch nur der Informationen halber liest und vorhat, die in ihm vorkommende Bildhaftigkeit später zu sehen, die Bewegung der Ruhe später zu erleben, „wenn er die Zeit dazu findet“, der wird die Gelegenheit zur Entfaltung der entsprechenden Fähigkeiten verpass-en. Diese Schrift handelt nicht nur von Ruhe; sie ist vielmehr ein Sprechen, das aus der Ruhe hervorklingt. Um den Text in der förderlichsten Weise zu lesen, muss man den Willen haben, von der Uhr aufgestellte Barrieren wegzuschieben und über von der allgemeinen Kultur aufoktroyierte Barrieren hinwegzuschreiten. So schlage ich Ihnen vor, sich beim Lesen Zeit zu lassen, nach Art einer meditativen Praktik. Sie werden dann die Feinheiten der Ruhe dazu einladen, sich in Ihnen so zu entfalten, dass Sie nach und nach auch in der Welt draußen diese Qualitäten bemerken werden.
Es ist weniger hilfreich, über die Ruhe zu lesen, als Zugänge zu ihr, oder vielmehr Eingänge in sie hinein zu finden. In diesem Buch finden sich eine Reihe von Praktiken, die dem Leser zum Erleben der Ruhe verhelfen sollen, und zwar sowohl als Ganzes wie auch als eine Vielheit diverser Dimensionen. Nahezu alle diese Praktiken stammen aus einem Kurs in Sacred Service [= ‘Sakrale Dienstleistung‘], die von der School of Spiritual Psychology angeboten werden. Seit fünf Jahren unterrichten Cheryl Sanders Sardello und ich mit anderen helfenden Menschen zusammen diesen Kurs; so sind die Praktiken erprobt, verfeinert. Sie sind zugleich gänzlich unbedenklich und Leben verändernd. Diese Praktiken sind mehr als bloß technische Anweisungen zum Zusammensein mit der Ruhe. Es ist sachgemäßer, sie als spirituelle Manieren zu betrachten, als Verhaltens-weisen, welche die spirituelle Anwesenheit der Ruhe in unser Leben einladen und unser Leben so umorientieren, dass es zum Dienen der geistigen Welt wird.
Eine Praktik unterscheidet sich wesentlich von einer Übung oder einer Technik. Das Anliegen einer Praktik ist, neue Fähigkeiten zur Entwicklung zu bringen dadurch, dass man Dimensionen und Gegenstände der Aufmerksamkeit zur Entfaltung bringt, welche über die landläufigen Formen des Bewusstseins hinausgehen. Eine Übung, wie zum Beispiel das Arbeiten in Gruppen, mag unter bestimmten Bedingungen die momentane Erfahrung einer neuen Dimension erzeugen; aber es wird nicht so viel Willenskraft vorhanden sein, dass man diese Dimension fortgesetzt erleben kann. Und was Techniken betrifft: diese neigen dazu, manipulativ zu sein, da sie oft etwas bewirken wollen, anstatt dass sie anderen helfen wollen das zu entdecken, was innerhalb der eigenen Fähigkeiten liegt. Dieses ganze Buch ist eine Praktik. Schon wer sorgfältig und besinnlich liest und auf die Jagd nach Informationen verzichtet, befindet sich auf bestem Wege zur Bildung der neuen Fähigkeit. Es wird eine bedeutende Veränderung des Bewusstseins stattfinden. Eine jede der oben erwähnten Praktiken ist weiter nichts als die hilfreich sein wollende Hervorhebung eines jeweils besonderen Aspektes, damit der Übende den eigenen Schritt verlangsamt und in dem Prozess darinnen bleibt, durch das diese Schrift hindurch führen möchte.
Der Lebensaufgaben ungeheures Ausmaß wiegt herab und drückt auf den Tag… sie fordern – bestehen unerbittlich auf – unsere unterbrochene Zuwendung. Ah… aber wir sind so glücklich, den Trost der Nacht teilhaftig zu sein – in der vom Dunkel erschaffenen Stille.
Nacht… jene schwermütige Zeit, in der uns die Sterne an die Ruhe Gottes erinnern. Hier können wir der Zukunft gedenken und uns ins Unbekannte hineinlehnen. Hier können wir beiseitelegen die bedrückende Schwere der sorgfältig konstruierten Version des Menschen, als der wir uns gelten. Hier, jenseits des Reservoirs können wir loslassen.
Wir können uns erinnern, wie man im Dunkeln sieht… mit eigenen Ohren… indem wir die Ruhe in ihrem heiligen Widerhall und Nachklang wahrnehmen, indem sie eine Erkenntnis hervorruft, die der Seele entstammt.
Diese Ruhe entsendet uns auf eine andersartige Pilgerschaft. Sie hütet des Herzens Feuer, lehrt uns von innen her und mit einer vom Heiligen durchglühten Sprache zu sprechen. Worte, in dieser heiligen Ruhe so genährt, fliegen mit Freudenflügeln hervor, kehren zurück, um uns zur Ruhe zurückzubringen, aus der sie geboren.
Cheryl Sanders-Sardello
Jeden von uns begleitet die Präsenz eines ewigtreuen Gefährten. Etwas, was immer bei uns ist. Etwas, was uns hilft, mit innerer Integrität und Tiefgang zu leben, durch die äußere Hülle anderer Menschen und der Welt bis auf den Sinn ihres Daseins und ihren Wesenskern hindurchzusehen und darüber hinwegzukommen, uns selbst ständig zum Mittelpunkt von allem zu machen. Diese begleitende Präsenz ist die Ruhe. Sie verlässt uns nie. Vielmehr sind wir es, die sie verlassen, indem wir zerstreut und vergesslich werden und den angemessenen Umgang verlieren, durch den allein die Gemeinschaft mit ihr ernährt werden kann. Wir wenden uns von der Ruhe ab und der Welt des Lärms wie einem ungeheuren Insektengesumme zu. Als würden wir dazu förmlich getrieben, in der pausenlos aufreibenden Dissonanz zu leben.
Unsere Wahl, im Krach unserer Gedanken und Emotionen zu leben (und das innerhalb des beständigen Lärmens um uns herum) geschieht von uns fast unbemerkt. Uns wird im Beisein der Ruhe einmal unbehaglich. Sie passt nicht zu unserem hektischen Leben, zu dem tagtäglich zu Erledigenden und auch nicht zu dem empfundenen Bedürfnis, etwas leisten zu müssen. Augenblicke der Ruhe erinnern uns daran, dass wir den Kern unseres Wesens vernachlässigt haben, wir mögen den Folgen dieser Vernachlässigung nicht ins Auge sehen; da kommt Angst auf. Lieber weiterhin vor ihr wegrennen.
Wovor rennen wir aber weg? Wir neigen stark Neigung dazu, uns die Ruhe als Nichtvorhandensein von Schall vorzustellen. Diese Vorstellung aber entzieht der ein Sein für sich überhaupt, macht sie zu einem bloßen Hohlraum, zu einem Vakuum in dem, was als normal gelten sollte. Die Ruhe ist aber allem anderen vorausgegangen, und alles andere wird von ihr umhüllt. Sie ist das Urphänomen des Daseins, ist sowohl greifbar ein Etwas als auch scheinbar ein Nichts. Ruhe ist vor dem Hörbaren, nicht das Aufhören des Schalls. Es gibt sie schon, sie ist bereits vorhanden. Wenn wir uns auch nur einen Augenblick in die Stille hineinfallen lassen, fühlen wir die Anwesenheit der Ruhe als eine Einladung.
Das Zentrum unseres leiblichen Seins ist das Organ zum Empfangen dieser Einladung. Wenn wir ihr Mysterium betreten, durchklingt ihre Gegenwart die Fasern unseres Fleisches bis jenseits des Fleisches nach innen in die Seele hinein, nach außen in den Kosmos hinaus. Das Zentrum unseres Leibes ist der notwendige Treffpunkt, wo die innerliche Ruhe der Abgeschiedenheit und die große Ruhe der kosmischen Weisheit zusammenkommen. Wenn wir diesen Treffpunkt nicht in rechter Weise pflegen, verlieren wir den Zugang zu unserer Seele, zur Präsenz der Ruhe und zu unserem individuellen Platz innerhalb der Weisheit der Welt. Ohne Ruhe sind wir verloren und können nicht stille genug werden, um den Weg zum Zentrum zurück zu finden.
Ruhe birgt in sich die Ganzheitlichkeit, die wir suchen. Ohne dass wir genau wissen, wonach wir suchen. Sie ist um uns herum und innerhalb unser. Sie geht bis in die tiefsten Tiefen der Seele und bis zu den äußersten Entfernungen des Kosmos und eint die beiden fortwährend am zentrierenden Ort unseres Herzens. Hier entdecken wir die Kraft der Re-Kreation. Hier wird alles wieder lebendig wie im Anbeginn. So revolutionär sind dieses Geheimnis und dieses Mysterium, dass alle diejenigen, die die Welt kommerzialisieren möchten, darauf eingeschworen sind, sie unter dem Lärm der Welt zu begraben. Und weil wir ahnen, wie gewaltig dieses Mysterium ist ergreifen wir (wenn auch unbewusst) die Flucht vor ihm, jagen dem Lärm nach und rennen ihm dabei voll in die Arme.
Solange Verwirrung um dieses Phänomen der Ruhe herrscht, so lange wird auch großes Befremden herrschen um den Impuls, unsere Seele und unseren Platz in der Welt zu finden. Mächte gibt es ja, die mit ihren ganzen Ressourcen diese Verwirrung schüren; so ist Ruhe keine Selbstverständlichkeit mehr. Glück und Ruhe gehören ebenso zusammen, wie Profit und Lärm. Solange wir in einer kommerzialisierten Welt leben, wird Lärm herrschen. Alle die Zerstreuungen, die uns den Zugang zum Zentrum unseres Wesens verwehren, wo Seelenruhe und die Große Ruhe zusammenklingen können, gehören der Welt des Profits an.
Für gewöhnlich glaubt man, dass man draußen in der Natur von dieser „unaufgedeckten Verschwörung“ gegen die heilende Kraft der Ruhe verschont bliebe; dahin gehen wir ja als erstes auf die Suche nach Stille. Es besteht durchaus eine Anziehungskraft zwischen der natürlichen Welt und der Ruhe. Ruhe umschließt die Natur und zieht sie an sich als an einen gesegneten Ort der Intensität heran. Und doch ist das, was die Natur bietet, überall zu haben; wir müssen nur lernen, es in der rechten Weise anzuziehen. Alle religiösen Traditionen, alle Formen der Meditation, alle Rituale ziehen die Ruhe an. Doch merkwürdigerweise wird die Ruhe von den Anhängern dieser Traditionen höchstens als einen Ausgangspunkt gepflegt, von dem aus sie sich in das hinein lancieren, was wie erreichen wollen. Auf ihre jeweiligen Ziele hin rasend (solcher Ziele gibt es viele) merken sie nicht, dass sie sie mit ihrem allerersten Schritt schon erreicht haben. Sie bräuchten sich nicht aufzumachen, um irgend woanders etwas zu suchen. Aber sie wissen nicht, dass sie weiter nichts tun müssen als zu lernen das zu enthüllen, was schon vorhanden ist.
Die persönlichen Vorteile der Ruhe lassen sich ohne Weiteres aufzählen: eine neue Empfindung der Freiheit sowie die Fähigkeit, wieder wir selbst zu sein. Vielleicht stellen wir schockiert fest, dass wir gar nicht bemerkt haben, dass wir uns verloren hatten. Wir spüren eine neue Einstimmung auf den Geist; als eine direkt empfundene Realität. Wir erlangen die Fähigkeit zu reflektieren, die Dinge und die anderen Menschen in uns spiegeln zu lassen, anstatt unaufhörlich von einer Tätigkeit zur nächsten zu gehen. Wir werden gewahr, dass die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen, zur Sucht geworden sind. Wir bekommen wieder Anschluss an die Kreativität. Es fallen uns Dinge wieder ein, neue Ideen, neue Sichtweisen. Alle diese Ergebnisse sind aber bloße Nebenprodukte der Ruhe, sie sind kein Grund an sich, von ihr eingenommen zu sein. Wenn wir uns vorschnell auf ihre Gaben konzentrieren, wenn wir fragen, „was diese Erfahrung für mich tun wird“, schränkt das unsere Fähigkeit, in die Ruhe einzutauchen, stark ein und macht uns selbstgefällig und zufrieden mit bloßen Imitationen der eigentlichen Sache.
Die Ruhe versteht es, sich zu verstecken. Sie gibt ein wenig und wartet ab, was wir wohl machen. Wenn wir das von ihr Gebotene zu unseren eigen-en Zwecken einsetzen, zieht sie sich zurück. Manche von uns sind mit dem Bisschen zufrieden, das wir bekommen und treffen alle möglichen Einrichtungen, durch die wir zu dieser einfachen ersten Darbietung zurückkehren können: einen Tag im Wald. Angeln, Musik. Am Strand spazieren gehen. Eine Bergwanderung. Ferienfahrten. Auch dieses erste Angebot ist unerschöpflich, denn schon diese beschränkte Art kennt keine Schranken. Weil wir aber die wahre Ruhe damit verwechseln, dass wir eine Zeit lang die Welt des Chaos hinter uns lassen, deshalb gibt es eine Kluft zwischen der Welt des Lärms von der Welt der Ruhe. Es fühlt sich so an, als ließe sich diese Kluft nicht überbrücken. Wir meinen, es gebe für uns nur eins von beiden: entweder wir werden durch das Getöse der Welt verschlungen, oder wir werden für Augenblicke von den Armen der Ruhe innigst umfangen. Die beiden bleiben getrennt und das Getöse bekommt den Großteil der Aufmerksamkeit. Es geht sogar so weit, dass wir das Getöse brauchen und die Ruhe nur in geringsten Dosierungen vertragen. Diese Situation ist eine schlimme Verkehrung dessen, was wir zum Führen eines gesunden Lebens brauchen.
Wir bilden uns ein, wir könnten die Ruhe dadurch finden, dass wir eine Weile der Stille pflegen, nach innen gehen, mit uns selbst wieder in Kontakt treten, von allen Bedrängnissen und Spannungen des Lebens für eine Weile abspannen. Diese beschränkte Sichtweise gleicht der Situation, in der ein Mensch bis an die Türe einer Kathedrale gelangt und meint, das wäre das ganze Erlebnis. Wir fühlen uns unter Umständen auch wirklich wohler, denn wir werden uns selber wiedergegeben, und das ist eine notwendige Vorbedingung zum Empfangen dieses Mysteriums. Der vollere Teil des Erlebnisses aber ist das, was wir im uns umgebenden Umkreis empfinden und was uns berührt. Wir nehmen leiblich wahr, wie wir in der Unermesslichkeit und Fruchtbarkeit der Ruhe willkommen geheißen werden, und die Welt scheint sich radikal zu ändern, indem sie diesem Willkommen-Heißen beiwohnt. Wenn wir den Eingang in diese Stille finden, wird unser Leben unwiderruflich verändert, weil in dem Moment eine monumentale Verwandlung stattfindet: Wir erleben, wie das Zentrum unserer Welt von unseren Eigeninteressen weg und zur größeren Welt, ja zum Kosmos hin verlagert wird, den wir ab jetzt als spirituelle Realität wahrzunehmen beginnen.
Unsere neu entdeckte aktive Verbindung mit der größeren Welt ist von Dauer. Sie geht nicht flüchtig vorüber, denn dieses Erlebnis kommt über uns mit erstaunlicher Intimität; sie fühlt sich so an, wie wenn wir eine/n lange verlorene/n Geliebte/n wiedergefunden hätten. Bevor wir unserem Eingang in die Stille nicht gefunden haben, gibt es keine Zärtlichkeit zwischen unserer Seele und der Welt, unserer Seele und dem Göttlichen, unserer Seele und anderen Menschen. Wir hatten implizit angenommen, die Welt sei harsch, furchterfüllt, ein beständiger Kampf. Wir lebten in einem Krankheitszustand und hatten dies nicht durchschaut. Das einzige Symptom war ein ständiges inneres Verlangen nach irgend-etwas; wir wussten aber nicht, was es ist.
Ruhe ist quasi-haptisch spürbar. Sie ist eine Art sublimierter Substanz, die wir mit Händen beinahe anfassen können. Und doch ist sie nicht da und um uns herum, es sei denn sie befindet sich auch in uns drinnen. Sie hat ihre Lieblings-Versammlungsorte, wie z. B. die Naturwelt, einen Wald, die Berge, die offene Ebene; das Outback wimmelt von ihr. Andere Orte, an denen sie sich in dieser subtilen Art ansammelt, sind Kathedrale, Höhlen, heilige Stätten und Friedhöfe. Im Meditieren treffen wir dann auf sie, wenn unser Innenraum zu einem unermesslichen Außenraum wird und wir nicht mehr wissen, ob wir uns drinnen oder draußen befinden. Sie versammelt sich manchmal zwischen Menschen. Sie zeigt sich bei Geburten wie bei Todesfällen und bei den meisten religiösen Feiern. Hin und wieder erscheint sie beim Beten. Die Religion der Quäker ist auf ihr gegründet. Damit sie aber manifestieren kann, muss man den Gang bis zum äußersten Rand der Selbstlosigkeit auf sich nehmen; die bloße Religion ist kein Garant für ihr Erscheinen.
Solche Orte sind rasch im Verschwinden begriffen. Ein in Japan lebender Bekannter von mir erzählte einmal, wie er eines Sonntags mit dem Zug in die Berg fuhr, um dem Gedränge des Stadtlebens zu entkommen. Während er im Wald spazieren ging hörte er plötzlich ein lautes Hupen. Er schaute hinauf und sah einen an einem Baum befestigten Lautsprecher, aus dem plötzlich eine lange Ansage plärrte. Die Ruhe war sofort weg. Ganz so weit ist es bei uns wohl noch nicht; hierzulande ist es noch immer möglich, in der Natur die Ruhe aufzusuchen. Allerdings sind Kathedralen weniger ruhig als in der Vergangenheit; religiöse Zeremonien sind komplett vorgefertigt, um sicher zu stellen, dass das Erhabene fernbleibt; und wir erlauben uns nur mehr eine Schweigeminute, um der Verstorbenen zu gedenken. Ob Höhlen, heilige Stätten oder Kunstmuseen: Alle werden durch Führungen, die mit Informations-Lärm gefüllt sind, vor dem Mysterium der Ruhe abgeschirmt. Inzwischen ist es so weit, dass wir lernen müssen, die Ruhe einzuladen. Und wenn wir sie einmal einladen können, müssen wir lernen sie zu betreten.
Im gewöhnlichen Wahrnehmen, Empfinden und Denken existiert alles um uns herum Befindliche als „da draußen“ und „dort drüben“. Wir nehmen sowohl uns als auch die Welt aus der Zuschauer-Perspektive wahr. Aber in der Ruhe zeigt alles seine Tiefe und wir entdecken, dass wir ein Teil der Tiefe von allem sind, was uns umgibt. Wir stülpen der Welt nicht unsere eigene Subjektivität über, sondern wir entdecken, dass die Trennung zwischen uns selbst und der Welt eine Illusion ist, die wir uns selbst auferlegt haben. In der Ruhe werden weder wir in die Welt aufgelöst, noch sie in uns; sondern wir und die Welt spiegeln uns gegenseitig in den Tiefen der Seele. Wir entdecken, dass jeder einzelne Gegenstand der Welt tief in uns darinnen lebt. Noch wichtiger: wir entdecken, dass im Seelischen jeder von uns tief in der Seele der Welt lebt, und dass der Schnittpunkt das zentrierende Herz ist.