Die blaue Flamme - Martina Koska - E-Book

Die blaue Flamme E-Book

Martina Koska

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Beschreibung

Über den ganzen Erdball verteilt, werden Frauen und Mädchen von einem immer wiederkehrenden Traum verfolgt: Eine Frau warnt sie vor großer Gefahr und fleht sie an, ihre Heimat zu verlassen und den Tempel Irot aufzusuchen. Dieser Tempel war einst das Heiligtum der Blauen Schwestern. Doch der Legende nach soll der Tempel im Großen Krieg von König Elag schwer beschädigt worden sein. Keine der Frauen will ihr Zuhause verlassen, doch brutale Überfälle auf ihre Höfe, Dörfer und Städte zwingen sie schließlich zur Flucht. Auf ihrer Suche nach dem Tempel Irot müssen sie viele Hindernisse überstehen. Währenddessen wollen die letzten Blauen Schwestern aus dem belagerten Tempel ausbrechen und die Schwarze Magie brechen...

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Seitenzahl: 399

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Tochtersorgen

Vatersorgen

Der Dorfrat

Der Thronfolger

Die Blaue Schwester

Der Müdafi

Der Traum

Die roten Schwestern

Das Ildat-Gebirge

Die Zwerge

Die Weißen Schwestern

Die Schwarzen Schwestern

Der Gletscher

Flucht

Die verborgene Stadt

Kriegsrat

Die Flucht der Zwergenvölker

Musin

Der Tempel in Irot

Der Feind

Gneis, der Felsenspalter – Die Quelle

Die Begegnung

Die Hexen von Nerat

Die Hauptstadt von Irot

Die Belagerung

Der Fluchtversuch – Die roten Schwestern in Nerat

Missbraucht – Das Medium

Der verlassene Tempel

Die Herrin der Wogen

Das Los der Zwerge

Maratheana

Die Drohung

Unter fremder Führung

Adda

Das erste Gespräch

Unter Tage

Mit den Augen der Liebe

Gejagt

Die Totgeglaubte

Die Schlacht an der Quelle

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903067-23-3

ISBN e-book: 978-3-903067-24-0

Lektorat: Mag. Nicole Schlaffer

Umschlagfoto: Unholyvault | Dreamstime.com

www.novumverlag.com

Tochtersorgen

Nira schwebte irgendwo zwischen Schlafen und Wachen. In ihrem Alkoven an der Rückseite des Küchenkamins war es herrlich warm und das Stroh ihrer Matratze knisterte leise. Etwas zupfte sie am Haar. Unwillig und schlaftrunken führte sie eine Hand zu ihrem Kopf. Ihr Zopf hing fest. Sie öffnete die Augen und schielte über ihre Schulter. Die Haare hatten sich an den rauen Brettern der Rückwand verfangen. Seufzend richtet sie sich auf und löste den Zopf. Am Ansatz sah ihr Haar schon wieder eigentümlich blau aus, fast wie der Himmel an einem Sommerabend. Sie würde bald zur alten Warusch gehen müssen. Die färbte ihr das Haar mit Walnussschalen schwarz. Nira hatte nie gefragt weshalb. Sie wusste, dass man es im Dorf nicht leicht hatte, wenn man irgendwie anders war. Wer besonders groß war, wie Teresse, der Schmied oder ein bisschen dicker, wie Gran, der Wirt, der wurde gehänselt. Es war vielleicht gar nicht mal böse gemeint, aber man war immer der Gegenstand gutmütigen Spotts und alberner Scherze. Blaues Haar, das war schon sehr anders. Die Dörfler waren braun oder blond, selten schwarz, die Alten grau, weiß oder kahl, aber blauhaarig war niemand. Nira wollte um keinen Preis auffallen. Sie hatte so schon genug Probleme.

Sie befestigte den fertig geflochtenen Zopf wieder mit dem Band und lauschte in die Küche hinaus.

Ein paar Füße schlurften schwerfällig über den Steinfußboden. Ein Eimer klapperte… die Köchin war allein. Sicher war Ruti, die Magd, im Gemüsegarten. Alle anderen waren wohl schon bei der Arbeit.

Sie hatte verschlafen. Die Köchin hatte sie schlafen lassen. Sie fand Nira zu klein, zu dünn und zu blass und war sich sicher, sie bräuchte mehr Schlaf und müsste mehr essen. Nira wollte nichts essen! Sie wollte jetzt schnell und unbemerkt zum Pferch, um die Schafe auf die Weide zu führen. Wenn ihr Vater bemerken würde, dass die Tiere noch immer auf dem Hof waren, würde es heftigen Ärger geben.

Sie konnte nur hoffen, dass er auf einem möglichst weit entfernten Feld bei der Arbeit war, dann würde er erst zum Abendessen wieder auf den Hof kommen.

Die Pantinen der Köchin schlurften über die hohe Schwelle zum Hof. Sie ging Wasser holen.

Nira klappte vorsichtig einen Türflügel des Alkovens auf, rutschte von ihrer Matratze, sprang in ihren Rock, streifte sich Leibchen und Jacke über und nahm ihre Pantinen in die Hand. Mit der anderen Hand griff sie sich im Vorbeigehen einen Apfel und einen Wecken und konnte unbemerkt die Küche verlassen. Sie ging nicht auf den Hof hinaus, sondern durch die Küchentür in der Seitenwand in die Diele des Hauses. Hier roch es nach dem Öl, mit dem die rohen Dielen gepflegt wurden. Es war sehr still. Nur die große Uhr erfüllte den Raum mit dem Gleichmaß ihres Tickens. Nira knöpfte hastig Leibchen und Jacke zu und schlüpfte in ihre Pantinen. Von den Wänden schauten mit strengem Blick sechs ihrer Vorfahren auf sie herab. Männer und Frauen, denen man den wachsenden Wohlstand ansah, gekleidet in gutes Tuch, wohlgenährt und die Frauen mit dem einen oder anderen goldenen Schmuckstück. Ein Mann in den besten Jahren mit auffällig geröteten Wangen hielt sogar einen mit Gold verzierten Glaspokal in die Höhe, der Vater ihres Vaters, Niras Großvater. Nira war noch nicht geboren, als er beim Holzschlagen unter einen unglücklich fallenden Baum geraten und ihm der Brustkorb zerquetscht worden war. Mit 16 Jahren musste ihr Vater die Verantwortung für den Hof übernehmen. Er war allein. Seine Mutter war schon vor Jahren im Kindbett geblieben. Auch der kleine Bruder, den sie geboren hatte, hatte ohne sie nicht überlebt. Ihr Vater hatte die Aufgabe geschultert und war, wie die Generationen vor ihm ein tüchtiger Bauer und Hofherr geworden und hatte auch in dieser Generation den Wohlstand vermehrt, den Hof vergrößert und weiteres, gutes Land erworben. Nira wusste, dass ihr Hof jetzt der größte des Dorfes mit dem meisten Land und dem größten Viehbestand war. Und wenn es nach dem Willen ihres Vaters ging, sollte es so weitergehen. Nira war jetzt 13. Unglücklicherweise sah es so aus, als wäre sie völlig ungeeignet, die Verantwortung für so einen großen Hof und die Menschen, die auf ihm lebten und arbeiteten, zu übernehmen. Sie vergaß vieles, ständig ging bei ihr etwas kaputt oder verloren und oft war sie verschwunden und wer sie fand, fand sie tief in Träume versunken.

Ihre einzige Möglichkeit wäre es, einen tüchtigen Mann zu heiraten, meinte der Vater. Aber welcher tüchtige, strebsame Mann wollte eine solch unnütze Frau an seiner Seite?

Nira befreite sich aus den unangenehmen Grübeleien, die die Reihe der alten Porträts in ihr ausgelöst hatten, öffnete einen Flügel der großen Haustür zum Hof und spähte vorsichtig hinaus. Der Hof war leer. Die Köchin musste mit dem Wasser schon wieder in die Küche zurückgekehrt sein. Nira huschte über den Hof, durchquerte den Kuhstall und rannte bis zum Pferch der Schafe. Sie blökten schon unruhig. Der Hütehund kam ihr freudig entgegengerannt und sprang an ihr hoch. Nira öffnete das Gatter und die Masse wolliger Leiber quoll heraus. Jetzt musste sie den Hof überqueren, aber die Herde war ein guter Grund, sich nicht aufhalten zu lassen.

Nira hatte Glück. Niemand zeigte sich, als die vielen kleinen Hufe über das Pflaster des Hofes trappelten.

Es war ein schöner Morgen. Der Nebel hing nur noch dünn auf den Wiesen und Feldern und die Sonne würde ihn bald vertrieben haben. Die Linde am Hoftor ließ einzelne Blätter, goldgelb wie Dukaten, zu Boden segeln.

Nira trieb die Schafe durch das Tor. Der Hund umsprang die Herde. Er würde ihr helfen. Sie würde wachsam sein und keines der Tiere verlieren. Noch schmerzte ihre Kehrseite von der letzten Tracht Prügel, die sie erhalten hatte, weil sie das Gatter an der Kuhkoppel offengelassen hatte. Die Strafe steckte sie weg, aber die Demütigung war ihr verhasst. Ihr Vater sagte es ihr immer wieder, auf sie war kein Verlass. Sie war die Dumme, die Ungeschickte, die, die alles vergaß. Jeder im Dorf wusste das. Sie wollte alles richtig machen. Aber irgendwie ging immer irgendetwas schief. Sie konnte das niemandem erklären. Sie war sich sicher, niemand hätte es verstanden. Sie verstand es ja selbst nicht.

Aufmerksam musterte sie den Waldrand. Nichts durfte die Schafe so erschrecken, dass sie panisch davonrannten. War die Herde erst mal auf der Flucht, war sie nur schwer zusammenzuhalten und zu stoppen. Es konnte Stunden dauern, alle Tiere wiederzufinden.

Aber heute würde ihr nicht schon wieder so ein Missgeschick passieren. Doch Niras Hoffnung war vergeblich. Hinter dicken Eichenstämmen sprangen zwei halbwüchsige Jungen hervor, rannten in die Herde hinein, schwenkten ihre Hemden in der Luft, vollführten wilde Bocksprünge und schrien schrill und laut. Die Schafe stürzten voller Panik davon, der Hund jagte den Schafen nach und Nira stand ihren Peinigern allein gegenüber. Sie wollte sich umdrehen und den Tieren folgen. Hatte man sie erst aus den Augen verloren, waren sie nur noch schwer zu finden. „Na, da hast du wohl wieder Mist gebaut, du kleiner Hohlkopf.“ Torok, der Sohn des Webers, weidete sich an ihrer Verzweiflung, die sie vergeblich hinter einer hochmütigen Miene zu verbergen versuchte. „Alle Schafe weg, das wird wohl wieder Prügel geben, was?“, sagte er und griff nach ihrem Gesäß. Nira versuchte zur Seite auszuweichen, geriet aber nur in die Fänge seines kleineren Bruders Torall. Er zog ihr die Arme auf den Rücken und zwinkerte seinem Bruder aufmunternd zu. Der trat näher und begann ihre kleinen Brüste zu befingern. Nira versuchte zurückzuweichen und trat Torall vors Schienbein. Aber der lachte nur. Sie war ihm körperlich weit unterlegen. „Dich dumme Kuh heiratet sowieso keiner, also stell dich nicht so an und lass meinen Bruder machen.“ Als Torok sich bückte, um ihren Rocksaum zu heben, trat sie ihm ins Gesicht. Er taumelte zurück und hielt sich die blutende Nase. „Du Miststück, das wagst du? Na warte! Das zahl ich dir doppelt und dreifach heim!“

Sie wollten sie zu Boden drücken. Als sie strampelnd auf dem Boden lag, kam der Hund zurück. Er zögerte keinen Moment und sprang Torok ins Genick. Knurrend grub er ihm seine Zähne ins Fleisch. Der Junge schrie und sprang auf, in der Hoffnung, seinen Peiniger abzuschütteln. Torall verschwand bereits eilig zwischen den Bäumen. Der Hund ließ Torok frei, verfolgte ihn aber bellend, bis auch er nicht mehr zu sehen war. Nira setzte sich auf. Ihre rechte Hüfte schmerzte. Sie umschlang ihren Körper mit den Armen und rieb sich die Oberarme. Langsam kehrte das Gefühl für ihren Körper zurück. Die Haut an ihren Armen brannte von Toralls groben Händen. Nira versuchte wieder zu Atem zu kommen. Der erste tiefe Atemzug wurde ein Schluchzer, der ihren ganzen Körper erschütterte, aber es kamen keine Tränen. Ihr Herz hämmerte. Sie stand auf und bemühte sich, den Schmutz von ihrem Rock zu klopfen, der Rocksaum war eingerissen. Sie hörte schon die Stimme von Ruti, der Magd: „Wie schaffst du es immer, alles zu zerreißen? Ständig muss ich dir helfen, deine Sachen zu flicken“, und diese Litanei würde dann noch endlos so weitergehen. Nira konnte es nicht ändern. Sie rappelte sich auf und schaute sich um. Von den Schafen war keines zu entdecken. Sie folgte den Spuren eine Anhöhe hinauf. Das Feld hier war bereits abgeerntet. Die Erde war feucht und klebte an ihren Holzpantinen fest. Mit jedem Schritt wurden sie schwerer. Die Stoppeln stachen in ihre Knöchel, aber Nira stapfte zügig bergauf. Schließlich gab die Landschaft den Blick in eine Senke frei und hier fand sie die ganze Herde. Friedlich grasend standen sie da, vom Hund brav wieder zusammengetrieben. Niras Beine zitterten und mit der Erleichterung kamen auch die Tränen. Als der Hund zu ihr kam, fiel sie vor ihm auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.

Nach einer Weile stand sie auf, ging zu einer Erle hinüber, setzte sich an den Fuß des Baumstamms und genoss nach dem anstrengenden Marsch die Kühle des Schattens. Der Wind bewegte die Blätter und tupfte ihren Rock mit umherhuschenden Sonnenflecken. Die Schafe verströmten ihren tröstlichen Geruch nach Wolle und rupften in beruhigender Monotonie Gras. Nira war erschöpft. Sie lehnte sich gegen die raue Rinde der Erle und blickte auf in die Krone flatternder Blätter. Ganz von selbst löste sich ihr Geist wie so oft von der Gegenwart. Wie ein Schmetterling schwang er sich empor in die helle Weite. Das Moor und die Schafe verschwanden. Ruhe und Zufriedenheit begannen Nira zu erfüllen. Vor ihr erschien das Gesicht einer Frau. Sie hatte hellblaues, fast weißes Haar. Einige wenige Strähnen waren noch kräftig blau, andere glänzten in reinem Silber. Ihre Augen waren strahlend blau und voller Freundlichkeit. Blassblaue Augenbrauen schwangen sich über den Augen in einem eleganten Bogen empor wie Falkenflügel. Die Nase war kurz und gerade, der Mund vielleicht ein bisschen groß. Nira war sich sicher, dass diese Frau sehr alt war, aber ihre Haut war glatt und ihr Gesicht strahlte Willensstärke und Tatkraft aus. Ihre Erscheinung erfüllte Nira mit Freude, erlöste diese Gegenwart sie doch aus ihrer Einsamkeit und Verzweiflung. „Sei mir gegrüßt.“ Die Stimme war kraftvoll und klar, aber voller Freundlichkeit und Wärme für das Mädchen, an das sich die Worte richteten. „Ich bin froh, dich gesund und unversehrt zu finden. Höre nun genau zu, Kind. Ich muss dich warnen. Folge mir und du wirst sehen.“ Nira war beglückt. Die weise Frau war besorgt um sie und wollte ihr etwas anvertrauen. Nira blickte aufmerksam auf das sich wandelnde Bild.

Sie sah einen schwächlich wirkenden, kleinen Mann, der einen schimmernden Brustharnisch trug und auf dem Helm eine große goldene Krone. Fast wirkte ihre Größe lächerlich im Verhältnis zu seiner geringen Körpergröße. Neben ihm stand ein kahlköpfiger, feister Mann in einer schwarzen Robe.

Saum, Kragen und Ärmel waren üppig mit Gold und Silberfäden bestickt. Doch die Schönheit des Gewandes konnte nicht davon ablenken, dass dieser Mann einen schwammigen, formlosen Körper hatte und seine gelblich schimmernde Haut ölig glänzte.

Fast glaubte Nira einen fauligen Geruch wahrzunehmen, der von dem Mann auszugehen schien. Der Kahlköpfige schien den Kleinen zu beherrschen. Nira konnte nicht verstehen, was sie sprachen, aber sie führten eine heftige Diskussion und der Gekrönte schien sich zu fügen.

Vor beiden war aus schwarzem Pulver ein großer Kreis auf den Boden gestreut worden. Vielleicht Kohlenstaub. Zwei Diener schleppten einen Soldaten in voller Rüstung vor die beiden. Er schien betäubt. Seine Augen rollten und seine Lippen bewegten sich.

Der Mann wurde vorsichtig in den Kreis gelegt und ihm die Hand- an die Fußgelenke gefesselt. Die Diener schienen sehr bemüht, den Ring aus schwarzem Staub nicht zu berühren. Sie verließen den Raum und kehrten mit einem jungen Bären zurück. Er war mit den Pfoten an eine Stange gebunden, die sie auf ihren Schultern trugen. Das Maul des Tieres stand offen und Speichel tropfte auf den Boden. Sie legten das Tier neben den Mann in den Kreis und waren schnell verschwunden. Der Kahlköpfige lächelte sehr zufrieden. Dann wies er mit einer erstaunlich eleganten Handbewegung auf eine Truhe. Der Gekrönte folgte seiner Aufforderung, schlug den gewölbten Deckel hoch und fuhr panisch zurück, wobei er fast über die Sporen an seinen Stiefeln stolperte.

Der Kahle kippte die Truhe mit einem lässigen Fußtritt um. Auf den Boden fiel ein Wolf. Der größte Wolf, den Nira je gesehen hatte und in ihrer Heimat gab es jeden Winter Wölfe zu sehen. Das Tier hatte gelbe Augen und sein graues Fell glänzte seidig wie der Stamm einer Buche. Das Tier war nicht betäubt. Es war wütend und sein Körper kämpfte und zuckte, aber es war in ein Netz eingeschnürt worden und hatte keine Chance.

Widerstrebend fasste der Kleine mit an und gemeinsam legten die Männer den Wolf auf den Mann und den Bären in den Kreis. Eine hilflose, zuckende Masse gequälter Kreaturen. Der Mann in der schwarzen Robe hob eine Schale und schien Verse zu sprechen.

Als er ein gelbes Pulver aus der Schale über Mann und Tiere streute, flammte der Ring mit großer Kraft auf, meterhoch standen die Flammen im Raum. Nira wurde übel. Der Mann, der Bär und der Wolf wurden lebendig verbrannt! Der Gekrönte und der Kahle betrachteten das Toben der Flammen gänzlich unbewegt.

Dann begann der Kahle den Kreis zu umschreiten, und als er ihn umrundet hatte, fielen die Flammen in sich zusammen. Nira hatte erwartet, im Inneren des Kreises nur noch ein Häufchen Asche zu sehen, umso erstaunter war sie, als dort eine große Gestalt aufragte, größer und breiter als jeder Mensch, aber doch mit menschenähnlicher Gestalt.

Das Geschöpf drehte sich um und zeigte eine Schnauze voller fingerlanger Reißzähne unter kleinen, schwarzen Bärenaugen. Der Blick dieser Augen ließ Niras Atem stocken. Sie war froh, als das Bild verschwand und wieder das vertraute Gesicht der fremden, ihr aber doch so lieben Frau auftauchte.

„Kind, was du dort gesehen hast, ist ein Urgal. Man nennt sie auch die Schergen König Elags. Wir beide, du und ich, wir sind von gleicher Art und wir haben einen gefährlichen Feind.

Unser Leben wurde geschaffen, alles Lebende zu schützen und zu erhalten, ihr Leben wurde nur geschaffen, um uns zu töten. Sei darauf gefasst, dass sie versuchen werden, auch dich zu töten. Du bist jetzt alt genug, sodass sie dich wahrnehmen können. Für sie bist du eine neue Bedrohung. Verbirg dich und versuche nicht aufzufallen. Wenn sie dich finden, musst du fliehen. Suche Schutz, wo immer es geht. Mein Geist wird dich begleiten. Ich werde dir beibringen, wie du mich rufen kannst und welche…“

Das Bild wurde blass und verschwamm, die Stimme verstummte.

Nira fröstelte. Der Wind hatte ihr Erlenzapfen und Blätter auf die Kleider geweht. Kräftige Böen ließen die Zweige rauschen. Der Hund stupste sie mit der Nase an.

Die Sonne stand im Südwesten. Es war bereits später Nachmittag. Nira sah keines der Schafe mehr, sprang hastig auf und brach in die Knie. Das lange Sitzen hatte ihre Beine gefühllos werden lassen. Sie strampelte und wackelte mit den Beinen um die Durchblutung in Schwung zu bringen und humpelte dann hektisch vorwärts. Mit einer Handbewegung schickte sie den Hund voraus, um die Tiere zu suchen. Das Land senkte sich hier in Stufen immer weiter ab und an seinem tiefsten Punkt begann das Pandagar-Moor. Vor langer Zeit, in einem der großen Kriege soll hier ein ganzes Heer der Pandagar versunken sein. Sie kamen aus dem Süden und wussten nichts von der Gefahr. So hat das Moor das Dorf von Gamar und seine Menschen vor einem Überfall und der sicheren Zerstörung bewahrt. Die Alten erzählten abends am Feuer diese Geschichte immer wieder gern. Jetzt machte das Moor Nira Angst.

In der Ferne grollte ein Donner. Schafe waren ängstliche Tiere und leicht zu erschrecken. Nira sah sie schon kopflos vor Blitz und Donner davonrennen und in Moorlöchern versinken. Sie beschleunigte ihren Schritt, sprang durch Pfützen und über Riedgrasbüschel, rutschte aus und rappelte sich wieder auf. Der Wind riss Haarsträhnen aus ihrem Zopf und peitschte sie ihr ins Gesicht. Eine Holzpantine blieb im Schlamm stecken. Als sie sich bückte, um den Schuh herauszuziehen, kam der Hund angesprungen und leckte ihr begeistert über das Wiedersehen das Gesicht. Nira holte gerade Luft, um mit ihm zu schimpfen, als sie hinter ihm die ganze Herde stehen sah. Er hatte sie geholt. Sie standen ruhig beieinander und keines fehlte. Nira seufzte vor Erleichterung.

Sie nickte dem Hund zu und er begann die Herde zu treiben.

Sie machten sich auf den Heimweg.

Es war kein Donner mehr zu hören. Das Unwetter hatte sie verschont.

Ob auch die Bedrohung aus dem Traum sie verschonen würde? Gewiss, es war nur einer ihrer Träume und wie sagte ihr Vater immer, „deine Hirngespinste interessieren niemanden. Es sind Hirngespinste, die dich davon abhalten, deine Arbeit ordentlich zu machen. Du tust gut daran, sie nicht zu beachten und niemandem weiter davon zu erzählen. Du giltst jetzt schon als wunderlich.“

Sicher gab es keine bärenartigen Zauberwesen. Und warum sollte jemand sie, Nira, als Bedrohung empfinden? Die Idee war wirklich lächerlich. Aber ein Gedanke war schön: „Du und ich sind von derselben Art.“ Auch, wenn es nur Hirngespinste waren, Nira fühlte sich nicht mehr ganz so allein.

Vatersorgen

Die beiden Männer saßen neben der Tür des alten Bauernhauses, das die Mitte des dreiseitigen Hofes bildete, auf einer geschnitzten Bank. Die Fenster des Ostflügels glänzten in der Abendsonne. Aus dem Küchenkamin stieg Rauch wie eine Säule in den Abendhimmel.

Der Abend war mild, kein Lüftchen regte sich. Aus der Krone der Linde, die den Hofeingang beschirmte, klang der Gesang einer Drossel.

„Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Kind tun soll, Gran. Ich habe es ihr erklärt, ich habe sie verprügelt, ich habe sie eingesperrt. Nichts. Es scheint gar nicht zu ihr durchzudringen. Sie schaut mich nur an und sagt kein Wort. Sie hat keine Erklärung, sie versucht nicht sich zu verteidigen, nichts! Vorgestern hat sie das Gatter am Wald offengelassen und die Kühe sind mir ins Feld gelaufen und haben die halbe Ernte gefressen oder zertrampelt. Es kann nicht sein, dass wir alle auf dem Hof im Frühjahr hungern müssen, weil sie einen Teil der Ernte auf dem Gewissen hat. Alle verdienen sich ihren Platz auf dem Hof durch gute Arbeit, jeder Knecht und jede Magd, nur meine Tochter nicht!“ Der Redner sprang auf und lief auf und ab. „Ich würde sie als Magd auf einen anderen Hof schicken, wenn ich nicht Angst vor den Folgen hätte. Ich müsste die Schäden ersetzen, die sie anrichtet, und“, er hielt inne und strich sich das sonnengebleichte Haar aus der Stirn, „ich hätte Angst, dass andere sie halb zu Tode prügeln würden, bei dem was sie sich zuschulden kommen lässt.“ Er seufzte und schob die Hände in seine Hosentaschen. „Sie ist im Dorf schon zum Gespött der Leute geworden: ‚Die Tochter vom reichen Wrana taugt zu nichts, sie ist nicht ganz richtig im Kopf‘“, sagte er leise. „Ich will nicht, dass die Leute über mein Kind spotten.“ Sein Freund Gran, so wie er, klein, stämmig und blond, aber deutlich rundlicher, erhob sich und trat neben ihn. „Schick sie zu mir als Hilfe in den Gasthof. Garan und ich sind immer da, um sie zu erinnern, wenn sie etwas vergisst und die anderen aus dem Dorf werden sich besser an sie gewöhnen. „Wrana hob den Kopf und ein kleiner Funke Hoffnung zeigte sich in seinen Augen. „Das willst du auf dich nehmen, Freund Gran? Es wird Ärger mit angetrunkenen Gästen geben, wenn sie etwas vergisst. Im schlimmsten Fall kommt es zu Prügeleien in deiner Gaststube.“ „Glaub mir, das ist mein täglich Brot, ich kann Raufbolde ganz schnell zur Ruhe bringen. Deiner Tochter wird in meinem Hause nichts geschehen und mir auch nicht mehr als sonst. Willst du sie mir morgen früh bringen?“ Wrana nickte und ein Lächeln erhellte sein Gesicht: „Ich danke dir, Freund.“ Gran erhob sich. Die Männer umarmten sich, klopften sich freundschaftlich auf die Schultern und wünschten sich eine gute Nacht.

Wrana trat ins Haus, schloss die untere Hälfte der Haustür, lehnte sich darauf und blickte hinaus. Er sah seinen Freund vor dem noch immer hellen Himmel am Feldrain entlanggehen. Bei den drei Birken bog er auf den Weg ins Dorf ab und war nicht mehr zu sehen.

In einer solchen Nacht war auch seine Tochter geboren worden.

Wie jetzt hatte er an der Tür gestanden und in die Nacht geschaut, während er verzweifelt versucht hatte, ein Geräusch aus der Schlafstube zu erhaschen.

Es gab nicht viel zu hören. Seine Frau war leise und klaglos gestorben. Das Kind war zart und klein und maunzte kaum wie ein Kätzchen. Die Weiber aus dem Dorf, die bei der Geburt geholfen hatten, rieten ihm, das Kind an den Feldrain zu legen. Sicher würde die Kornfrau es holen und ihm dafür eine reiche Ernte schenken. Wrana hatte sie unter Flüchen aus dem Haus gejagt und ihnen noch den großen Wasserkrug hinterher geworfen. Der Tod seiner Frau erfüllte ihn mit Wut und Bitterkeit und er war nicht bereit, dem Tod auch noch sein Kind zu überlassen. Er wusste aber aus Erfahrung, dass das Kind sterben würde. Nur selten überlebte ein Säugling ohne Mutter. Er erinnerte sich an seinen winzigen Bruder. Man hatte den toten Säugling zu seiner Mutter in den Sarg gelegt und beide gemeinsam bestattet. 8 Jahre war er alt gewesen, obwohl der Kummer über den Verlust seiner Mutter ihn fast zerriss, empfand er es auch als Verlust, dass dieses winzige Wesen, das sein Bruder hätte sein sollen, ihn so schnell wieder verließ.

Jetzt nahm er das winzige Bündel in den Arm, das seine Tochter war, und setzte sich an das Totenbett seiner Frau. Das blaue Licht der Mondnacht hüllte ihn ein und Sterne tanzten vor seinen Augen. Er erwachte, als ihm jemand das Kind abnahm. Vor ihm stand die alte Warusch, die Stiefel voller Erde und den Rocksaum voller Kiefernnadeln. „Es ist noch warm für die Jahreszeit“, sagte sie. „Sorg dafür, dass deine Frau anständig unter die Erde kommt. Ich nehme das Kind.“ Völlig erschöpft von all den Gefühlen, die in der Nacht in ihm getobt hatten, hatte Wrana keine Einwände erhoben.

Die alte Warusch lebte allein in einer Kate am Rand des Dorfes. Sie hatte schon dort gelebt, als Wrana noch ein kleiner Junge war. Im Sommer sammelte sie, was die Natur hergab. Wovon sie im Winter lebte, war vielen Dörflern ein Rätsel. Viele beschimpften sie als Hexe, aber alle kamen zu ihr, wenn es um Krankheit oder Unfruchtbarkeit ging, oder das Vieh nicht gedeihen wollte. Meist hatte die alte Warusch ein Mittel, das half. Wunderbarerweise überlebte auch der schwächliche Säugling unter der Fürsorge der Alten. Als das Kind drei Monde alt war, brachte die Alte sie ihm zurück. Sie fischte das Kind aus ihrer Kiepe, wo es zwischen Kräutern und Pilzen schlief. „Hol dir eine zuverlässige Magd für die Kleine. Wenn sie länger bei mir bleibt, beschimpfen sie sie im Dorf bloß alle als Hexenbrut.“ Nach dieser barschen Anweisung verließ sie grußlos das Haus und hatte es seitdem nie wieder betreten.

Wrana nannte das Mädchen Nira. Er versuchte immer wieder der alten Warusch zu danken, bot ihr Geschenke an, Dörrobst, Mehl und Schinken, aber sie hatte ihn jedes Mal weggescheucht. „Merks dir, Jungchen, ich mache nur, was ich für richtig halte, also bist du mir nichts schuldig.“ Schließlich hatte er eine trächtige Ziege an ihre Hütte gebunden und nun sah man die alte Warusch oft begleitet von zwei Zicklein auf ihrer Suche nach Beeren und Kräutern.

Wranas Frau stammte aus einem fernen Land. Reisende hatten sie heftig fiebernd und dem Tod näher als dem Leben mit etwas Silber im Dorf zurückgelassen. Grans Vater, damals noch der Wirt, hatte sie in ein Zimmer im Gasthaus legen lassen. Aber die Gäste im Schankraum begannen zu murren.

Was, wenn das Fieber der Fremden auch sie befallen würde? Vielleicht würde die schreckliche Krankheit sie alle dahinraffen, wenn sie weiter ihr Bier in der Goldenen Gans trinken würden. Bevor der alte Wirt sich zwischen dem Silber der Fremden und den vielen Kupfermünzen seiner allabendlichen Zecher entscheiden konnte, erschien die alte Warusch. „Behalt dein Silber“, hatte sie ihn angeschnauzt, sich die Kranke mühelos über die Schulter gelegt und in ihre Hütte getragen. Und siehe da, im Frühjahr gab es im Dorf eine weitere junge Frau, noch dazu eine sehr schöne, mit nachtschwarzem Haar und perlweißer Haut. Sie hatte bereits Ternisch gelernt, nur waren ihre Sätze von einem eigenartigen Klang. Doch die fremdartige Melodie ihrer Sprache hatte einen eigenen Zauber.

Das war nicht zur Freude aller, denn die Zahl der ordentlichen Junggesellen, die weder soffen, noch Frauen hart anfassten, war nicht groß. Wrana war so einer, noch dazu mit einem schönen Hof, Rindern, Schweinen und Ziegen, viel Geflügel, guten Feldern mit fetter Erde und sogar einem kleinen Weinberg.

Auf dem Fest, das vor der Saat gefeiert wird, hatten die beiden Gefallen aneinander gefunden. Sie hieß Nerani. Sie kam aus einem Land, das Wrana sehr eigenartig erschien. Dort sollte es Berge geben, so hoch, dass sie bisweilen in den Wolken verschwanden und Flüsse, deren Wasser senkrecht zu Boden stürzte. Wrana kannte nur die Wiesen und Felder seiner Heimat, eine flache Weite, durchzogen von ruhigen Flüssen, die nur im Frühjahr anschwollen und die Wiesen und Felder überschwemmten. In Neranis Heimat war die Krankheit ausgebrochen, an der auch sie fast gestorben wäre. Sie war noch jetzt verwundert, dass sie überlebt hatte, denn in ihrer Heimat war jeder gestorben, bei dem die Krankheit sich gezeigt hatte.

Der Rat ihres Dorfes hatte die Gesunden versammelt und das Los bestimmen lassen, wer sich auf die Reise machen sollte, um Hilfe zu suchen. Nerani gehörte dazu. In der Überlieferung ihres Volkes hieß es, dass sie in allergrößter Not Rettung am Ufer des Meeres finden würden.

So sollte die Gruppe versuchen, eine Küste zu erreichen, von der doch niemand wusste, in welcher Richtung sie zu finden wäre. Sie waren schon einen vollen Mond unterwegs, als Nerani das Bewusstsein verlor. Als sie wieder erwachte, war sie ohne Heimat, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Vorräte und zuerst sogar ohne Sprache. Als dann der warmherzige und zupackende Wrana sich ihr zuwandte, hatte sie das Gefühl, vielleicht eine neue Heimat gefunden zu haben.

Nach der Ernte hatten sie geheiratet. Zum ersten Mal in seinem Leben war Wrana froh, dass seine Eltern schon tot waren. Möglicherweise wären sie mit der Hochzeit mit der Fremden nicht einverstanden gewesen.

Nun aber hatte er nur noch seine Tochter. Bisweilen war sie seine brave und tüchtige Tochter, half in der Küche und auf dem Hof, brachte ihre Arbeiten ordentlich zu Ende, und versorgte die Wunden, wenn ein Knecht oder eine Magd sich verletzt hatten. Alle kamen voller Vertrauen zu ihr, denn in all den Jahren, hatte niemand durch Wundbrand Arm oder Bein verloren, wenn Nira die Wunde versorgt hatte. Von Zeit zu Zeit aber war sie abwesend, brachte nichts zu Ende, vergaß das Vieh abends in den Stall zubringen und das Geflügel zu füttern, ja sogar selbst zu essen und zu trinken. So fand Wrana sie manchmal nach langem Suchen im Wald, an den Stamm einer alten Buche gelehnt oder am Bach unter den Weiden, tief in Träume versunken und abwesend. Selbst wenn er sie ganz leise und vorsichtig ansprach und nur zart berührte, erschrak sie heftig und ihr Geist schien von weither zurückzukehren. Manchmal saß sie irgendwo auf dem Hof, meist vor einer liegen gelassenen Arbeit, und sang. Die Mägde und Knechte liebten ihren Gesang so sehr, dass sie lieber Niras Arbeit zusätzlich übernahmen, als sie beim Singen zu stören. Sie durften sich dabei nur nicht von Wrana erwischen lassen. Dann wurde nicht nur Nira bestraft, weil sie ihre Arbeit nicht gemacht hatte, sondern auch alle, die das geduldet hatten.

Wrana hatte die alte Warusch um Rat gefragt. Ungewohnt freundlich hatte die sonst so barsche Alte ihm gesagt. Niras Geist sei von anderer Art als der anderer Menschen und ihm geraten, sie gewähren zu lassen. Wie stellte die Alte sich das vor? Was sollte aus ihr werden, wenn sie so blieb, unzuverlässig und unberechenbar? Und die Alte hatte ihn geradezu gebeten, Nira von allem Hässlichem und Gefährlichem fernzuhalten.

Dies erwies sich zunehmend als seine größte Sorge.

Nira war jetzt 13 und versprach eine Schönheit zu werden. Sie war zierlich und anmutig, ganz anders als die meist kräftigen Mädchen im Dorf. Sie hatte das dicke, blauschwarze Haar ihrer Mutter und veilchenblaue Augen, noch leuchtender als die ihres Vaters. Auch schienen ihre, wenn man genauer hinschaute, ein wenig schräg zu stehen.

Viele im Dorf behandelten sie freundlich, schon wegen ihres geachteten und wohlhabenden Vaters. Manche hielten sich von ihr fern, weil sie sie für verhext oder besessen hielten. Andere hielten sie nur für leichte Beute für ein kurzes Vergnügen.

Es gab da ein paar junge Kerle, die sich von ihren Eltern nichts mehr sagen ließen und nicht wussten wohin mit ihrer Kraft und ihrer gerade erwachten Männlichkeit. Wrana fürchtete sie.

Er konnte seine Tochter nicht ständig beschützen. Seine Pflichten hielten ihn auf dem Hof oder dem Feld fest und ihre träumerischen Wanderungen führten sie an stille, einsame Plätze außerhalb des Dorfes.

Wrana riss sich aus seinen Gedanken, schloss die Tür und ging in seine Schlafkammer. Er wusste, dass seine Grübeleien über mögliches Unheil den Schlaf wohl verscheuchen würden.

Unheil war bereits auf dem Weg zu ihnen, aber es war viel größer als Wranas schlimmste Befürchtungen.

Als Wrana aus seinem unruhigen Schlaf erwachte, war es noch schwarze Nacht.

Die Hunde des Dorfes bellten unaufhörlich in höchster Aufregung.

Wölfe, dachte Wrana, aber nein, es war Spätsommer. Jetzt fanden sie genug Nahrung und setzten sich nicht der Gefahr aus, mit Armbrust und Sauspieß angegriffen zu werden.

Er eilte ans Fenster und blickte vorsichtig durch den Spalt in den Fensterladen.

Es war eine mondlose Nacht und es gelang Wrana nicht, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. Konturlose Schwärze füllte sein Blickfeld.

Dann glaubte er am Waldrand eine Bewegung wahrzunehmen. Was sich dort bewegte, war riesig, größer als ein Hirsch. Wrana wusste, dass es weit entfernt von Ternia, im waldreichen Tarun, Bären gab, aber hier im Flachland lebten sie nicht. Es gab hier keine Höhlen, keine Wälder und ausreichenden Verstecke für so große Tiere und nicht genug Beute.

Der Schatten richtete sich auf seine Hinterbeine auf. Etwas blinkte metallisch im schwachen Licht. Das war kein Tier! Ein Mensch? Ein riesiger Mensch? Das Geschöpf wandte den Kopf und Wrana blickte in zwei kleine Augen über einem gewaltigen Fang. Ihm brach der kalte Schweiß aus. Es konnte ihn sehen! Und es würde seinen Schweiß riechen. Dieses Wesen würde ihn töten. Die Bedrohung ließ ihn erstarren. Sein Herz raste, aber sein Körper war zu keiner Bewegung fähig. Das Geschöpf wandte den Kopf, ein kurzes Rascheln und Wrana konnte es nicht mehr sehen. Regungslos blieb er hocken und versuchte durchzuatmen. Er musste allen Mut zusammennehmen, um sich zu bewegen. Vorsichtig änderte er seinen Blickwinkel und spähte hinaus. Nichts. Was auch immer dort draußen gelauert hatte, es war fort. Nur die Hunde bellten noch immer in hysterischer Aufregung. Erst nach und nach wurde es still.

Wrana holte seine Armbrust aus dem Schrank und kleidete sich an. Er wollte für alle Fälle gewappnet sein.

Der Dorfrat

Wrana war froh, dass es schon hell war, als er zum Melken auf die Weide an der Ostseite des Hofes ging. Die Milchmägde waren bereits da, Nira unter ihnen, alle verschlafen und wortkarg. Die Kühe warteten als ruhiger und geduldiger Haufen, dass sie eine nach der anderen gemolken würden. Ihre Wärme und ihr dumpfes Muhen erfüllten die Morgenluft. Keine fehlte. Wrana fragte sich, ob ihn ein Albtraum genarrt hatte

Nach dem Melken ging er ins Dorf zu Gran in die Schänke. Gran war nicht nur sein bester Freund und der Wirt von Gamar, sondern auch der Dorfschulze. Wrana brauchte Grans Rat, als Freund, aber auch als Bürgermeister.

Die Schankstube war zu dieser frühen Stunde leer und still, Sonnenlicht erhellte sie und durch die geöffneten Fensterläden drang das Zwitschern der Vögel. Es roch nach Bier und kaltem Rauch. Garan, Grans Sohn, rollte gerade ein leeres Fass zur Kellerluke neben der Tür. „Guten Morgen, Pate, was treibt dich zu so früher Stunde ins Wirtshaus, solltest du jetzt schon Sehnsucht nach Wein haben?“, fragte er Wrana und grinste breit.“ „Nimm dich in Acht, dein Pate darf dich auch züchtigen, wenn es zu deinem Besten ist! Wo finde ich deinen Vater?“ Garan wies mit dem Kopf zum Schanktisch und rollte lachend sein Fass weiter. Gran war gerade dabei, das neue, volle Fass auf den Fassschemel zu wuchten. Krachend stellte er es ab und blickte seinem Freund entgegen: „Guten Morgen Wrana, warum hast du Nira nicht mitgebracht. Hast du es dir anders überlegt?“ „Dazu später, Gran, wie war die Nacht?“ „Dunkel, wie soll sie schon gewesen sein? Das heißt, die Hunde haben heute gegen morgen einen irren Lärm gemacht. Haben wir wieder ein heimliches Liebespärchen im Dorf, das im Dunkeln um die Häuser schleicht?“

Die Erleichterung war Wrana offensichtlich anzusehen. „Was ist los mein Junge, warst du der heimliche Freier und hattest Angst um deine Hosen?“ Gran wusste, dass Wrana seit dem Tod seiner Frau keiner anderen Frau hinterhergesehen hatte. Aber es hätte ihn gefreut, wenn sein Freund wieder eine Frau an seiner Seite gewollt hätte.

„Nein, natürlich nicht, aber ich bin froh, dass du die Hunde gehört hast. Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht doch nur geträumt habe“, erwiderte er und schilderte Gran seine Beobachtung und auch das Grauen, das diese eigenartig halb menschlich, halb tierische Erscheinung in ihm ausgelöst hatte. Gran zapfte aus einem zweiten Fass zwei Krüge, stellte sie auf einen Tisch, drückte Wrana auf einen Stuhl und setzte sich neben ihn. „Komm Junge, trink einen Schluck und dann erzähl mir das Ganze noch mal“, sprach er, verschränkte die Arme und lehnte sich auf den Tisch. Als Wrana geendet hatte, stand er auf und ging auf und ab. „Es klingt schrecklich bedrohlich, aber auch völlig verrückt. Was willst du machen? Wenn wir den Rat einberufen, um das Dorf zu warnen, musst du damit rechnen, dass einige dir nicht glauben werden. Du musst damit rechnen, beleidigt und angegriffen zu werden. Willst du das?“ „Gran, ich habe keine Wahl. Was auch immer da am Waldrand auf der Lauer lag, es war gefährlich, gefährlich für Menschen und Vieh.“

„Gut, ich schicke die Kinder los, um den Dorfrat einzuberufen. Nach dem Abendmelken setzen wir uns zusammen.“

Als Wrana am Abend die Schankstube betrat, war es schon sehr voll. Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Die Luft war heiß und verbraucht und Rauchschwaden schwebten durch den Raum. Die langen Holztische waren voll besetzt und die beiden Schankmädchen hatten viel zu tun. Der Lärm ließ vermuten, dass viele hier bereits länger saßen und schon den einen oder anderen Krug geleert hatten. Wrana drängte sich durch die Sitzenden zu Gran an den Schanktisch und erwiderte Grüße nach rechts und links. Gran stand mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen am Schanktisch. „Wird Zeit, dass du kommst, einige können sonst gar nicht mehr klar denken. Es wird eh turbulent werden, bei dem, was du zu sagen hast! Wollen wir anfangen?“ Wrana nickte, und Gran schlug mit dem Hammer, der sonst zum Anstechen der Fässer diente auf den Tresen.

„Ruhe Leute, wir wollen anfangen. Sicher möchtet ihr wissen, warum ich euch zum Rat zusammengerufen habe. Wenn ihr endlich ruhig seid, werdet ihr es erfahren.“ Schemelrücken und Füßescharren, um besser sehen zu können, dann herrschte aufmerksame Stille. „In der letzten Nacht haben bestimmt einige von euch gehört, dass die Hunde angeschlagen haben.“ Zustimmendes Gemurmel. „Ihr werdet euch gefragt haben, weshalb. Auch wir wissen nicht genau, was die Ursache war, aber möglicherweise gibt es eine Gefahr für unser Dorf, von der ihr alle wissen solltet.“ In der Schankstube wurde es unruhig. „Wrana hat in der letzten Nacht etwas beobachtet, das er für sehr gefährlich hält und er möchte, dass ihr davon erfährt und selbst entscheiden könnt, was ihr davon haltet.“ Wrana trat vor und schilderte, was er gesehen hatte. Er gab zu, selber nicht genau zu wissen, was er da gesehen hatte, betonte aber, dass er es für sehr gefährlich hielt, allein schon aufgrund seiner gewaltigen Größe und seines heimlichen Anschleichens in der Dunkelheit. Über die Panik, die das raubtierartige Wesen in ihm ausgelöst hatte, schwieg er.

Wildes Stimmengewirr brach los, als Wrana geendet hatte.

Zurufe wie „Wohl einen über den Durst getrunken?“ bis hin zu „Wer hat denn den Schmied nachts rausgelassen?“ schwirrten durch den Raum. Teresse, der Schmied, war der größte Mann des Dorfes. Er überragte fast alle Männer um einen Kopf oder mehr und seine Schultern waren so breit, dass es in der Stube dunkel wurde, wenn er in der Tür stand. Gelächter war zu hören.

Gran schwang erneut den Hammer. „Leute, es ist unser Dorf, es sind unsere Familien, um die es hier geht! Die Frage ist doch, wollen wir Vorkehrungen treffen, um mögliches Unheil zu verhüten?“

Pikor stand auf, wie immer leicht schwankend: „Vielleicht gilt das Unheil gar nicht uns. Vielleicht gilt es nur dem, der es gesehen hat. Seine Frau hat ja auch die fremde Krankheit ins Dorf gebracht und ihm ein Kind geboren, das nicht ganz richtig im Kopf ist. Wrana zieht das Unglück doch an.“

Empörung wallte durch den Raum.

Teresse, der Schmied, stand auf. „Niemand hat sich an der Krankheit angesteckt und auch Nerani ist wieder gesund geworden. Und Nira ist ein liebes Mädchen. Wenn du jetzt nicht dein Schandmaul hältst, solltest du dich vorsehen, dass du mir nicht mal nachts begegnest. Es könnte dir nicht bekommen.“ Teresse setzte sich wieder: „Verdammter Säufer, bringt nichts zustande, aber hetzen kann er.“

Doch ein Teil der Saat ging auf. Viele der jungen Männer, die wegen ihres Benehmens Nira gegenüber mit Wrana schon Ärger gehabt hatten, sahen hier eine gute Gelegenheit, es ihm heimzuzahlen. Sie verhöhnten ihn als Angsthasen und Verrückten und verließen fluchend und grölend den Raum.

Die Zurückgebliebenen schwiegen betreten.

Gran ergriff als erster wieder das Wort: „Ihr kennt Wrana. Er hat es auf sich genommen beschimpft und verlacht zu werden, um euch zu warnen, weil er davon überzeugt ist, dass eine ernste Gefahr für uns besteht. Glaubt ihr ihm?“ Zustimmendes Gemurmel und allgemeines Kopfnicken. „Dann lasst uns Wachen aufstellen, zumindest in den nächsten Nächten. An jeder Seite des Dorfes drei Männer?“ Bevor jemand etwas zu dem Vorschlag sagen konnte, ging die Tür auf und ein kühler Windstoß fegte durch den Raum. Tinni, die Magd vom Nordhof trat in die Schankstube. „Entschuldigt, wenn ich die Beratung störe, Dorfschulze“, wandte sie sich an Gran, „aber wir suchen Trim, hat ihn jemand von euch heute Nachmittag gesehen?“ Trim war ein kleiner blonder Wicht von sechs Jahren und unsäglichem Temperament, grundsätzlich dort zu finden, wo er nicht sein sollte und furchtlos seine Nase in alles steckend, wo sie nicht hingehörte. Allgemeines Kopfschütteln. „Ich habe ihn heute Morgen zum Moorhof geschickt“, sagte Gran. „Ist jemand vom Moorhof hier?“ Alle blickten sich suchend um. Der Moorbauer und seine Frau fehlten.

Betretene Gesichter. „Jemand sollte zum Moorhof reiten“, sagte Gran, „aber nicht allein.“

Nira saß bei den Mägden am Herdfeuer, sie stippten Brot in ihre Abendsuppe, aßen und schwatzten. Noch waren die Fensterläden offen und mit dem lauen Abendwind kamen Nachtfalter herein, angezogen von der Helligkeit des Feuers. Die Stimmen klangen freundlich und träge durch den Raum. Im Hintergrund summte ein Spinnrad. Nira genoss die Wärme und das Essen. Sie hoffte, eine der Frauen würde noch eine Geschichte erzählen, von alten Zeiten, von Kaisern und Zauberinnen, von Liebe, Sehnsucht und Hinterlist. Alle im Dorf liebten eine gute Geschichte, so standen Niras Chancen nicht schlecht. Über den Rand ihrer Suppenschüssel hinweg blickte sie sich aufmerksam im Raum um. Da bemerkte sie die Elster. Sie saß auf der Fensterbank und flog sofort auf, als Niras Blick sie traf. Nira seufzte. Sie war so wunderbar warm und träge und hätte sich gerne nach und nach dem Schlaf überlassen, aber sie musste aufstehen. Sie stellte ihre Schüssel ab und ging hinaus. Der Hof war leer, die Stalltüren und das große Tor bereits geschlossen. Sie lief durch den Küchengarten und öffnete das kleine Tor im Palisadenzaun. Obwohl Nira müde war und jetzt fror, freute sie sich, denn auf dem Weg stand die alte Warusch, die Elster saß auf ihrer Schulter.

„Wie schön dich zu sehen, Kleines, du bist sicher müde, aber ich muss dich um Hilfe bitten.“ Nira strahlte. Die alte Warusch verstand immer, wie ihr zumute war, und mochten sie auch alle anderen für eine völlige Idiotin halten, sie hatte das noch nie getan. Sie wollte ihre Hilfe. Nira war zu allem bereit, Holz schleppen, Ziegenstall ausmisten, aber die Alte wollte ganz etwas anderes. „Erzähl mir deine letzten Träume, Kleines.“

Nira hatte den Traum vom Nachmittag völlig vergessen. Fast hätte sie durch die verfluchte Träumerei Schafe verloren! – Das Monster aus dem Traum war ekelhaft und furchterregend, aber ihre größte Furcht war es, den Zorn und die Enttäuschung ihres Vaters ertragen zu müssen, weil sie wieder versagt hatte. Sie liebte ihren Vater und wäre gerne eine andere gewesen, eine Tochter, auf die er stolz sein konnte. Nur gelang es ihr nie.

Ihre Träume erschienen ihr so deutlich wie die Wirklichkeit, so konnte sie der Alten noch jede Einzelheit berichten. „Die Frau mit dem blauen Haar ist wunderschön, ich habe mich immer gefreut, sie zu sehen, aber sie erzählt nur Geschichten. Es wird sich sicher niemand die Mühe machen, mich umzubringen. Warum auch. Mein Vater hat Recht. Das Träumen ist schlecht für mich. Es lässt mich alles vergessen und falsch machen.“

„Dein Vater ist ein Bauer und macht sich Sorgen um dich. Er hat keine Ahnung von der Bedeutung von Träumen. Ich weiß, dass der Unhold aus deinem Traum heute Nacht vor eurem Hof gelauert hat. Dein Vater kann es dir bestätigen. Er hat ihn gesehen.“

Nira war völlig verwirrt. Erst langsam begann sie zu begreifen: Ihre Träume waren wahr. Sie waren wichtig. Sie war nicht dumm und verrückt. Ihre Träume zeigten ihr Dinge, die anderen verborgen blieben. Glück begann sie zu erfüllen wie goldener, süßer Honig. Doch das Gefühl erstarb sofort wieder. Würde ihr Vater eine Tochter haben wollen, die sehen konnte? Wäre sie ihm nicht unheimlich? Würde er ihr nicht die Schuld geben, wenn ihre Traumgesichte Wirklichkeit würden?

War sie vielleicht Schuld an dem Auftauchen dieses Monstrums?

Im Durcheinander ihrer Gedanken und Gefühle hatte sie nicht mehr auf die alte Warusch geachtet. Die war bereits ein Stück Richtung Dorf gelaufen. Nira rannte ihr hinterher.

„Gut, dass du dich entschlossen hast mitzukommen. Ich denke, wir beide werden heute Nacht gebraucht.“

Zu siebt brachen sie zum Moorhof auf, Gran, der Dorfschulze, Teresse, der Schmied, Pero vom Nordhof, Trims Vater und sein Bruder Olmar sowie Trims Onkel. Gran hatte Garan mehrfach streng auf seine Pflichten im Wirtshaus hinweisen müssen, um ihn am Mitreiten zu hindern.

Wrana stieß am Dorfrand zu ihnen. Neben ihm ritt auf dem schweren Zugpferd, das Wrana sonst zum Holzrücken benutzte, die alte Warusch. Hinter ihrem Rücken schaute Nira hervor.

Die Männer protestierten.

„Warum hast du die Frauen mitgebracht“, fragte Gran verärgert, „wir wissen nicht, was wir auf dem Moorhof finden werden und werden schon genug damit zu tun haben auf uns aufzupassen!“ „Hör zu, mein Junge“, wandte sich die alte Warusch an Gran, „er hat uns nicht mitgebracht. Zumindest ich entscheide allein, wohin ich gehe. Das Mädel wird uns nützlich sein, wenn Verwundete zu versorgen sind und vielleicht begegnen wir Dingen, von denen ich mehr verstehe als ihr.“

Nach dieser Entgegnung gab es keine Einwände mehr und die Gruppe bog im leichten Galopp in den Weg zum Moorhof ein. Die Dämmerung wurde zunehmend dichter. Am Wegrand lagen zwei dunkle Klumpen. Es roch nach Aas. Wrana stieg ab. Da lagen zwei Schafskadaver, stark angefressen. „Hier hat ein Tier zwei Schafe gerissen.“ Niemand sagte etwas zu seiner Feststellung. Es gab hier im Sommer keine Wölfe! Er stieg wieder auf und sie ritten weiter. Gruppen von Erlen und Kopfweiden tauchten auf. Sie boten Deckung, verstellten aber auch die Sicht auf den Hof.

Gran ließ anhalten. „Riecht jemand Rauch?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Das Küchenfeuer scheint ausgegangen zu sein.“ Niemand von ihnen ließ sein Küchenfeuer ausgehen, solange er auch nur noch einen Schritt tun konnte. Es wurde zum Kochen gebraucht, spendete Licht, trocknete bei Regen die Kleidung, vertrieb all die fliegenden Plagegeister und räucherte und trocknete in seinem beständigen Luftstrom die Würste und Schinken, die in der Esse hingen. Es war das Herz eines jeden Hauses.

Vom Moorhof aber drang kein Rauchwölkchen, kein Lichtschimmer und kein Laut zu ihnen hinüber.

Sie ließen die Pferde im Schutz einer Baumgruppe zurück und schlichen jede Deckung nutzend zum Kuhstall. Er war leer. Gran öffnete vorsichtig die Verbindungstür zur Küche.

Gestank schlug ihnen entgegen. Zuerst sahen sie den Moorbauern. Er lag bäuchlings in der Feuerstelle. Man hatte ihm alle Finger und dann den Kopf abgeschlagen. Sein Leib und sein Blut hatten die Flammen erstickt. Wrana beugte sich über den Toten und hob die verstümmelte Hand. Sie war kalt, der Arm starr. Er blickte zu Gran. „Wahrscheinlich war er schon tot, als Trim heute Vormittag deine Nachricht überbringen sollte.“

Riesige Abdrücke blutiger Füße zogen sich über den Lehmboden der Küche. Sie hatten die Form sehr großer nackter menschlicher Füße, waren aber an Zehen und Ferse deutlich sichtbar mit Klauen bewehrt. „Habt ihr so etwas schon mal gesehen?“, fragte Olmar fassungslos. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und man sah ihm an, dass er den Ort gern fluchtartig verlassen hätte. Pero legte ihm den Arm um die Schultern und schüttelte ihn leicht. „Komm, lass uns den Jungen suchen.“ „Lasst uns die Türen zu den Stuben nacheinander öffnen“, sagte Teresse und stellte sich an der ersten Tür mit dem erhobenen Schmiedehammer in Position. Auf einen Wink von ihm öffnete Wrana die Tür. Hier lag die Moorbäuerin. Das Leinen war braun von getrocknetem Blut. Ihr Körper war mit einem unvorstellbaren Streich glatt in der Mitte geteilt worden. Die alte Warusch schloss die Tür energisch, um sie von dem Anblick zu befreien und wies mit dem Kopf auf die letzte Tür.