Die Brücke - Taylor Adams - E-Book

Die Brücke E-Book

Taylor Adams

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Beschreibung

Alle deine Straßen enden hier

Vor drei Monaten fuhr Cambry siebzig Meilen zu einer abgelegenen Brücke und stürzte sich in den Tod. Das behauptet zumindest der Polizist, der sie gefunden hat. Cambrys Zwillingsschwester Lena hat da ihre Zweifel. Was verschweigt der Beamte? Soll es tatsächlich nur Zufall sein, dass er Cambry noch kurz vor ihrem Tod angehalten hat? Mit dem Auto ihrer toten Schwester macht sich Lena auf den Weg zur Brücke, um die Wahrheit herauszufinden. Die Reise wird für sie zum Kampf um ihr eigenes Überleben.

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Seitenzahl: 414

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Das Buch

Lenas Zwillingsschwester Cambry fuhr vor drei Monaten zu einer abgelegenen Brücke weit außerhalb von Missoula, Montana und sprang in den Tod. Zumindest ist das die offizielle Version der Polizei. Doch Lena glaubt das nicht. Mit Cambrys Auto und einem Kassettenrekorder bewaffnet fährt Lena zum Ort des Geschehens, um herauszufinden, was wirklich passiert ist. Sie befragt den Polizisten, der die Leiche ihrer Schwester entdeckt haben soll. Corporal Raymond Raycevic hat sich bereit erklärt, Lena am Tatort zu treffen. Er ist sympathisch, aufrichtig und professionell. Aber seine Geschichte scheint abwegig, es gibt Ungereimtheiten. Zum einen hielt er Cambry nur eine Stunde vor ihrem angeblichen Todessprung wegen überhöhter Geschwindigkeit an. Und dann sind da noch die sechzehn vergeblich abgesetzten Notrufe von ihrem Handy – sie hatte keinen Empfang. Lenas Suche nach Antworten wird zu einem erbitterten Kampf um ihr eigenes Überleben.

Der Autor

Taylor Adams ist Filmregisseur und Autor. Sein Thriller »No Exit« war international ein großer Erfolg und wurde 2022 verfilmt. Adams lebt im Bundesstaat Washington.

TAYLOR ADAMS

DIEBRÜCKE

THRILLER

Aus dem Englischen von Norbert Brack

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe HAIRPINBRIDGE erschien erstmals 2021 bei Joffe Books LTD, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 08/2024

Copyright © 2021 by Taylor Adams

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com (Nejron Photo, Cavan Images)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30352-5V001

www.heyne.de

Für meine Eltern

TEIL 1 Vier kleine Feuer

KAPITEL 1 Lena

Sie sehen genauso aus wie sie.«

Das hatte Lena Nguyen schon oft gehört. Und es ging ihr immer noch auf die Nerven, als wandelndes und sprechendes Gespenst einer anderen Person angesehen zu werden.

»Sie waren also Zwillinge?«

Sie nickte.

»Eineiige, richtig?«

Sie nickte wieder.

Etwas im Blick des State Troopers veränderte sich, er schaute sie bedauernd an. Als würde er sich dafür schämen, dass er nicht mit dem Standardsatz begonnen hatte: »Ich bin … Es tut mir … Herzliches Beileid.«

Der übliche Singsang. Lena blieb höflich.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, eine Zwillingsschwester zu verlieren.«

Niemand konnte das.

»Versuchen Sie einfach, es Schritt für Schritt zu überwinden.«

Noch so ein lahmer Spruch.

»Sie werden vermutlich nie darüber hinwegkommen. Aber eines Tages werden Sie es hinter sich lassen.«

Das ist doch mal was Neues, dachte Lena. Sie fügte es ihrer Hitliste der dämlichen Betroffenheitssprüche hinzu.

Corporal Raymond Raycevic hatte eingewilligt, sie auf diesem Schotterparkplatz zu treffen, vor dem Magma Springs Diner und der Shell-Tankstelle, sechzig Meilen von Missoula entfernt. Auf dem Highway bewegte sich ein stetiger Strom von Autos aus einem Gebiet vorbei, das wegen eines Waldbrandes evakuiert wurde. Der Highway traf hier auf eine unübersichtlichen Kreuzung, die keine Ampel hatte.

Corporal Raycevic hatte die Statur eines Gorillas und steckte in einer leicht verblichenen braunen Uniform, die sich um seinen muskulösen Körper spannte. Er bestand vor allem aus breiten Schultern, dicken Oberarmen und einem freundlichen Lächeln. Er hatte ihr sehr ernst die Hand geschüttelt, leicht verkniffen. Unter seinen Augen hingen Tränensäcke, die wie blaue Flecken aussahen.

»Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich haben«, sagte sie.

»Selbstverständlich.«

»Ich weiß das sehr zu schätzen. Es geht schließlich von ihrer Arbeitszeit ab und …«

Er lächelte dünn. »Meine Schicht ist schon zu Ende.«

Für einen langen Augenblick musterte er sie, immer noch fasziniert, und Lena merkte, dass sie ungeduldig wurde. So fühlte sie sich immer, wenn sie mit Fremden über ihre Schwester sprach. Es war wie in einem dieser Bücher, wo man den Fortgang der Handlung selbst bestimmen konnte. Sie wusste ganz genau, was Raycevic dachte, bevor er es sagte, seine Worte kamen wie auf Abruf: »Entschuldigen Sie. Ich … ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass Sie ihr so ähnlichsehen.«

Versuchen Sie mal, Ihre Trauer um jemanden zu bewältigen, dessen Gesicht Sie jeden Morgen im Spiegel sehen, dachte sie säuerlich. Das ist schrecklich.

»Es muss schrecklich sein, jeden Morgen ihr Gesicht im Spiegel zu sehen. Wenn Sie sogar der Rückspiegel im Auto aus heiterem Himmel … überrumpeln kann.«

Sie schaute ihn überrascht an.

»Mein herzlichstes Beileid, Lena.«

Ernsthaft? Na gut, vielleicht habe ich dich unterschätzt, Ray.

Ein lautes Kreischen und Zischen ließ sie erstarren. Sie drehte sich um. Ein Sattelschlepper hatte die Abzweigung zu schnell genommen. Einen grausigen Moment lang schlitterten zehn Tonnen Stahl mit blockierten Reifen direkt auf sie zu. Dann schwenkte der Truck wieder auf die Fahrbahn, und Corporal Raycevic starrte die getönten Fenster des Führerhauses an, als erwarte er eine Entschuldigung des Fahrers.

Die kam aber nicht. Der Motor heulte auf, und der riesige Laster donnerte davon. Der Luftzug zerrte an ihren Kleidern. Lena schob sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah, wie der Schriftzug des Hängers an ihr vorbeizog: SIDEWINDER. Und schon war er verschwunden. Zurück blieben nur ein leichtes Dröhnen in ihren Ohren und ein paar Staubkörner auf ihren Zähnen.

»Idiot«, murmelte der Cop.

Ich bin wirklich hier, dachte Lena. Ich bin hier und tue es.

Der Staub auf ihren Zähnen machte es real. Nach monatelangem Warten war die vierundzwanzigjährige Lena endlich hier in Montana angekommen. Meilenweit von zu Hause entfernt. Sie machte weiter, machte Fortschritte. Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte kaum hörbar: Sei vorsichtig. Lass dich nicht einlullen.

Nicht mal eine Sekunde lang.

Sie ertappte sich dabei, wie sie eine Haarlocke um den Zeigefinger wickelte und daran zog – eine alte Angewohnheit aus der Grundschule –, und hörte sofort damit auf. Das ließ sie nur nervös wirken.

Raycevic hatte es nicht bemerkt. Er schaute blinzelnd in die Ferne. »Die Hairpin Bridge ist nicht weit von hier. Aber da oben gibt’s keinen Schatten. Die Sonne ist dort so grell wie ein Scheinwerfer. Saugt einem jede Energie aus dem Leib. Brauchen Sie noch was aus dem Diner, bevor wir losfahren? Wasser zum Beispiel?«

»Ich kaufe mir schnell was.«

»Alles klar.« Er deutete auf seinen Wagen. »Ich fahre dann voran.«

Sie ging eilig zurück ins klimatisierte Magma Springs Diner. Dort hatte sie heute bereits einige Stunden zugebracht, schwarzen Kaffee getrunken und gewartet, während Grüppchen von Feuerwehrmännern vor Tellern mit fetttriefendem Rührei miteinander fachsimpelten. Jetzt stand sie vor dem Kühlschrank mit den Energydrinks und Wasserflaschen und tat so, als müsste sie überlegen. Sie wartete ab, bis Raycevic in seinem Cruiser verschwunden war und sie nicht mehr durchs Schaufenster beobachten konnte. Dann ging sie in ihre Sitznische.

Dort stand ihr Laptop auf dem Tisch. Sie überprüfte erneut das Ladekabel und die Verbindung zum Router des Restaurants. Alles in Ordnung.

»Vielen Dank noch mal«, sagte sie zu der Frau hinter dem langen Tresen. »Ich bin bald zurück.«

»Laden Sie etwas für ein College-Projekt herunter?«

»So was Ähnliches.«

Sie folgte dem Streifenwagen über den Highway 200 nach Osten. Fünfzehn Minuten auf frischem Asphalt unter einem Himmel, der mit Rauchschwaden überzogen war. Dann bog Raycevic scharf nach rechts ab, holperte dabei über zwei Fahrspuren, als hätte er zu spät reagiert. Lena musste scharf bremsen und hinterließ eine Gummispur auf der Fahrbahn.

Er streckte die Hand aus dem Fenster und winkte: sorry.

Die Straße, auf der sie nun fuhren, war offenbar schon seit Jahrzehnten nicht mehr ausgebessert worden. Unkraut sprießte aus den Rissen im sonnengebleichten Beton, die Begrenzungslinien waren ebenfalls verblichen. Über einem verschlossenen Metalltor hing ein schmutziges Schild mit der Aufschrift: ZUTRITTFÜRUNBEFUGTEVERBOTEN. Corporal Raycevic kannte die Kombination auswendig. Nachdem er das Tor hinter ihnen wieder geschlossen hatte, beschleunigte er auf fünfundsiebzig Meilen pro Stunde, fünfzehn mehr als erlaubt. Sie fragte sich, ob er sie testen oder ihr einen Strafzettel anhängen wollte. Das wäre richtig fies.

Sie blieb dicht hinter ihm. Um ihn ebenfalls zu testen.

Im Auto war es still. Seit sie Seattle am Morgen verlassen hatte, hörte sie weder Musik noch Podcasts, weil sie kein passendes Kabel für die Lautsprecher hatte. Den CD-Player oder das Radio wollte sie lieber nicht benutzen, weil es nicht ihr eigenes Auto war.

Es gehörte Cambry.

Hatte Cambry gehört.

Den Wagen ihrer toten Zwillingsschwester zu fahren, war eine irritierende Erfahrung. Ihr Vater hatte Lena mit Tränen in den Augen dazu gedrängt, das Auto zu behalten, hatte darauf bestanden, weil der heruntergekommene Toyota Corolla Baujahr 2007 der einzige verbliebene Besitz ihrer Schwester war, weshalb es nicht richtig wäre, ihn zu verkaufen. Und die heutige Fahrt durch die vertrockneten Gebirgsausläufer des Howard County in Montana war die längste Fahrt, die Lena je mit diesem Wagen gemacht hatte.

Sie hatte nichts daran verändert. Alle Details waren wie eingefroren. Der leere Literflasche Limonade im Flaschenhalter hatte Cambry gehört. Das Etikett zeigte einen Superhelden, dessen Zeit im Kino schon wieder abgelaufen war. Die rote Kühlbox mit den verdorbenen Lebensmitteln. Die Ersatzbatterie, der Luftkompressor, die schmutzige Werkzeugtasche. Die minimalistische Ausrüstung auf dem Rücksitz – ein Matchbeutel mit zusammengefalteten Kleidern, die immer noch nach ihr rochen, zwei Waschtaschen mit Deodorant, Zahnpasta und Mundwasser. Im Kofferraum ein Zweipersonenzelt, ein elektrischer Grill und ein sorgsam zusammengerollter Schlafsack. Lena war es noch nie gelungen, einen Schlafsack so eng zusammenzurollen. Nie.

Ich fahre nicht nur in ihrem Auto, begriff sie irgendwann zwischen Spokane und Coeur d’Alene und spürte einen Stich im Herzen, ich fahre in ihrem Haus.

Als Stadtbewohnerin konnte Lena nicht anders, als den spartanischen Lebensstil ihrer Schwester zu bewundern. Das Klebeband am Lenkrad. Die Drähte, die aus dem Zigarettenanzünder heraushingen. Die überall verteilten Trocknertücher (um Gerüche zu vertreiben, wie Lena vermutete). Etwas an diesem intimen Arrangement zu verändern, in dem ihre Schwester über neun Monate lang gelebt hatte, wäre anmaßend gewesen.

Also blieb alles so, wie es war.

Sogar das vergammelte Essen in der Kühlbox. Sogar die Limoflasche neben ihr, die im Sonnenlicht süßlich roch. Cambrys Lippen hatten sie vor drei Monaten berührt. Vielleicht war ihre DNA noch daran.

Sie sehen genauso aus wie sie.

Es hatte sie überrascht, dass Corporal Raycevic Cambrys Auto nicht erkannte. Er hatte es zusammen mit ihrer Leiche gefunden. Hätte er sich nicht daran erinnern müssen?

Der Streifenwagen raste immer noch voran – inzwischen mit achtzig Meilen pro Stunde –, also drückte Lena aufs Gaspedal und folgte ihm die Straße entlang in die Gebirgsausläufer. Die Reifen donnerten über den rauen Beton. Die Landschaft zu ihrer Rechten verlor sich in einer beängstigenden Weite, und einen Moment lang dachte Lena, wie nahe man auf diesen Straßen doch dem Tod war. Die Stoßdämpfer waren kaum noch der Rede wert. Und hinter der nächsten Kurve könnte sich jederzeit eine Schlucht auftun. Sie schob den Gedanken beiseite.

Die Küstenkiefern wuchsen hier oben höher – über zwanzig Meter hoch. Zerfranste Äste verdorrten in der Sonne, unter ihnen dicke braune Nadelteppiche und vertrocknete Wacholderbüsche. Hunderttausende Hektar Zunderholz, das nur auf einen Funken wartete. Und dahinter, in weiter Ferne, erhob sich das Gebirge.

Sie spürte einen Kloß im Hals.

Dann erschien sie. Das Bauwerk über den Hügeln nahm Gestalt an, gezackt und wenig einladend, obwohl von Menschenhand gemacht. Ein altertümliches Fossil, das sich aus der Landschaft schälte.

O mein Gott, da ist sie.

Sie spürte, wie ihr Brustkorb sich anspannte, als die rostbraune Konstruktion deutlichere Formen annahm, je näher sie ihr auf der zerklüfteten Straße kamen. Ihre Stahlträger und Pfeiler ragten spitz in das grelle Sonnenlicht. Sie wusste, dass es jetzt kein Entrinnen mehr gab, dass ihr Schicksal und das von Corporal Raycevic miteinander verbunden waren. Sie konnte nicht mehr zurück.

Als sie näher kam, wurde die Brücke kurz von einem weiteren Gehölz vertrockneter Kiefern verdeckt, und sie versuchte, sich zu beruhigen. Kein Gefechtsplan überlebt den ersten Feindkontakt, richtig?

Trotzdem …

Sie sieht so viel größer aus als auf den Fotos.

Bevor ich mich auf den Weg mache

Gepostet am 20.09.19 von LNguyen

Es beginnt mit einer Brücke.

Ein wackliges Stahlmonster mit einer scharfen Kurve am südlichen Ende. Sie überspannt auf einer Länge von zweihundert Metern ein dunkles Tal in der Nähe eines heruntergekommenen Städtchens, das seine Existenz den längst ausgebeuteten Silberminen verdankt. Die Interstate liegt weit entfernt, bis Missoula sind es siebzig Meilen. Was die Brücke betrifft, so ist sie total im Arsch, und das weiß sie auch.

Dort ist meine Schwester ums Leben gekommen.

Angeblich.

Tut mir leid, dass ich so heftig werde, liebe Leserinnen und Leser. Ich weiß, dass dieser Blog anders als meine üblichen Texte für Lights and Sounds ist, und das könnte einige von euch verstören. Ich möchte mich für die freundliche Anteilnahme und die guten Wünsche auf FB und Insta bedanken, die während meiner Abwesenheit in den letzten Monaten gepostet wurden (ich hatte gute Gründe dafür). Ja, ich bin wieder zurück im Sattel, aber nicht so, wie ihr es vielleicht erwartet. Das hier wird ein Wahnsinnspost, also schnallt euch an.

Aber bevor ihr weiterlest:

Dies ist nicht mein normaler Blog. Dies ist keine Buch-, Film- oder Game-Besprechung. Dies ist kein politisches Statement (auch wenn es in diesem Jahr gute Gründe dafür gäbe). Es geht auch nicht um Gedichte, Humor, Fotografie oder den lang erwarteten elften Teil von JustRetailThings. Dies hier – was immer DIES ist – ist etwas, das ich auf Lights and Sounds für meine bescheidene, aber enthusiastische Leserschaft (also euch) posten muss, und zwar aus Gründen, die ihr bald verstehen werdet. Wenn ihr alles zu Ende gelesen habt, werde ich – abhängig von der Zeitzone, in der ihr lebt – vielleicht schon in den landesweiten Nachrichten auftauchen. Ich möchte mich deshalb vorab dafür entschuldigen, falls ich euch den Tag ruiniere. Alles klar? Gut.

Jetzt geht’s los.

Ich verbringe den Samstag an der Hairpin Bridge. Morgen, in aller Frühe, werde ich in Cambrys Auto sieben Stunden Richtung Osten nach Magma Springs in Montana fahren, um dort den Highway Patrolman Raymond R. Raycevic zu treffen. Ja, er heißt wirklich so (anscheinend war der Buchstabe R gerade im Angebot, als seine Eltern ihn tauften). Per E-Mail hat er freundlicherweise zugestimmt, mir, der trauernden Schwester, den Ort zu zeigen, wo er vor drei Monaten die Leiche von Cambry gefunden hat.

Was die Hairpin Bridge betrifft … nun, liebe Leserinnen und Leser, kommt euch der Name bekannt vor? Vielleicht habt ihr schon davon gehört. Wegen ihrer eigenartigen Form ist die Brücke eine Art architektonische Anomalie (die Ränder des Tals verlangen, dass die Straße am südlichen Brückenende eine eigenartige Haarnadelkurve beschreibt, bevor sie weiter oben über sich selbst hinwegführt, wie bei einem riesigen stählernen Korkenzieher). Sie hat auch noch einen anderen Namen, den ich hier nicht nennen möchte, weil ich, ehrlich gesagt, die Assoziation in Bezug auf Cambry nicht mag, und ich mag es auch nicht, dass ihr Name von den Suchmaschinen damit in Verbindung gebracht wird. Deshalb benutze ich ihn nicht.

Auf der Hairpin Bridge lastet ein Fluch.

Angeblich (an dieses Wort müsst ihr euch gewöhnen).

Sie ist ein Hotspot übernatürlicher Vorkommnisse. Es heißt, Raum und Zeit seien am geheiligten Gerippe der Hairpin Bridge dehnbar, und wenn man sie überquert, würden Vergangenheit und Gegenwart sich miteinander verschränken. So wie Licht, wenn es durch eine verschmutzte Linse fällt.

Ich weiß. Ich will hier nicht ernsthaft behaupten, meine Schwester sei von Geistern ermordet worden. Aber ich hatte eine Phase im vergangenen Juli, als ich genau das in Erwägung zog. Eine Zeit lang verschlang ich alle möglichen Infos über verlorene Zeit und unheimliche Erscheinungen, die mir zugetragen wurden. Ich hörte mir Tonbandaufnahmen an, die angeblich unerklärliche körperlose Stimmen beinhalteten: Helft mir oder Verlasst diesen Ort. Ich las sogar das Selfpublishing-Book von diesem Rupley, der eine ganze Nacht im Wald unter der Brücke gezeltet hat. (Spoiler: Er hat’s überlebt.)

Das ist natürlich lächerlich, aber nach dem Tod meiner Schwester bin ich mental in ein tiefes Loch gefallen. Und wenn man sich im freien Fall befindet, dann ist man eine Weile lang nicht mehr man selbst. Man sucht nach Erklärungen, egal wie weit hergeholt sie sind. Seien es nun Mythen oder kriminelle Verschwörungen, einfach alles, was einem sinnlosen Geschehen Sinn verleiht. Jede Antwort ist besser als keine.

Und nun, glaube ich, habe ich eine gefunden.

(Nein, sie hat nichts mit Geistern zu tun.)

Das ist der Grund, warum das Großstadtmädchen aus Seattle sich auf den Weg zum Arsch der Welt machen wird. Das ist der Grund, warum ich dies hier schreibe. Und das ist der Grund, warum ich nichts anderes als die Wahrheit von Corporal Raycevic akzeptieren werde.

Ich werde jeden Preis dafür bezahlen.

Ich muss es wissen.

Was ist mit dir passiert, Cambry?

Er wartete auf der Brücke auf sie. Er hatte seinen schwarzen Cruiser am rechten Straßenrand geparkt, vor einem niedrigen Geländer, von dem die Farbe abblätterte, aber Lena wusste, dass es egal war, wo man hier parkte. Die Hairpin Bridge führte zu einer gesperrten Straße. Hier gab es keinen Verkehr, den man behindern konnte.

An der südlichen Rampe, gleich hinter der namensgebenden Haarnadelkurve, erklärte ein von der Sonne gebleichtes Schild mit kaum noch lesbarer Schrift, dass die Brücke unsicher sei und nicht mehr gewartet würde. Das hatte eine Menge Hobbygeisterjäger nicht davon abgehalten, hier ihr Glück zu versuchen. Erst kürzlich hatte jemand in schwarzen Buchstaben darauf gesprayt: ALLEDEINEWEGEFÜHRENHIERHER.

Merkwürdig passend, fand Lena.

Sie parkte ein paar Meter vor dem Streifenwagen, um sich freie Bahn für eine Flucht zu sichern. Sie ließ den Motor des Corolla einen Moment lang im Leerlauf tuckern und holte tief Luft. Die Fahrt von Magma Springs bis hierher hatte nicht annähernd so lange gedauert wie gedacht. Jetzt war sie da. Und fühlte sich unvorbereitet.

Ich bin hier, Cambry.

Sie betrachtete die verbogene Brille ihrer Schwester auf dem Armaturenbrett. Die feinen Kratzer auf dem Glas.

O Gott, ich bin wirklich hier.

Im Seitenspiegel sah sie Corporal Raycevic neben seinem Wagen stehen. Er tat so, als würde er sich etwas Schorf vom Handgelenk kratzen und nicht etwa auf sie warten. Sehr einfühlsam. Mit seiner erstaunlichen Sensibilität hatte er sie überrascht. Natürlich gehörte das zu seinem Job – er hatte bestimmt schon jede Menge schlechter Nachrichten an Familien überbracht –, aber Lena vermutete, dass mehr dahintersteckte. Auch er hatte jemanden verloren. Man merkte es ihm an, er war ein Mitglied dieses schrecklichen Clubs. Seine Frau? Ein Kind?

Ihre Lunge schmerzte. Sie hatte die ganze Zeit die Luft angehalten.

Sie schaltete den Motor aus und bereute es sofort. Sie hätte es noch länger hinauszögern können und wünschte, sie hätte es getan. Raycevic hätte nichts dagegen gehabt. Nun schaute er sie durch seine nachtschwarzen Brillengläser an und erkannte, dass sie mit Cambrys Toyota Corolla gekommen war. Die Zwillingsschwester des Opfers fuhr das Auto des Opfers. Tauchte am Ort auf, wo das Opfer umgekommen war, wie eine gespenstische Doppelgängerin.

Falls ihn das verstörte, sah man es ihm jedenfalls nicht an. Er nickte ihr freundlich zu: Hier ist es passiert.

Offensichtlich.

Sie stieg aus. Die Sonne brannte heißer hier oben. Über der Betonfahrbahn der Brücke flimmerte die Luft. Es war windstill.

»Von hier aus können Sie das Feuer sehen.« Raycevic deutete nach Norden. »Knapp zweitausend Hektar rund um den Black Lake, und es breitet sich weiter aus. Noch immer nicht unter Kontrolle …«

»Kommt es hierher?«

»Nur wenn der Wind sich dreht.«

Lena war es egal, fürs Erste. Sie hatte andere Dinge im Kopf. Aber die gigantische Rauchwolke war beeindruckend. Dort am Horizont schien die Welt unterzugehen, eine Apokalypse in Zeitlupe.

»Wissen Sie, ich habe nie verstanden, wieso man die Brücke Hairpin Bridge nennt«, sagte er nachdenklich. »Klar, ich sehe die scharfe Kurve da drüben, aber sie erinnert mich eher an diese Kugelbahnen, mit denen Kinder spielen. Wissen Sie, was ich meine?«

»Ja.«

»Das gerade Stück mit dem gebogenen Haken am Ende.« Er deutete darauf. »Nicht wahr? Danach sieht das für mich aus. Nicht nach einer Haarnadel.«

Kugelbahnbrücke. Das klang nicht annähernd so mysteriös.

»Spielen Sie oft mit Kugelbahnen?«

»Jeder hat doch ein Hobby.«

Einen Moment lang war er ein normaler Mensch. Das war nett. Es war auch absolut falsch.

Schließlich sagte er: »Sie sind … in ihrem Wagen gekommen.«

»Ja.«

Er schaute das Auto an. »Ich erkenne ihn wieder.«

»Stört es Sie, wenn ich Aufnahmen mache?«

»Wie bitte?«

Sie hatte mit der Frage bis jetzt gewartet, weil es am Ort des Geschehens schwieriger für ihn war, Nein zu sagen. Sie deutete auf ihr Auto. »Ich habe ein Tonbandgerät dabei. Ein altes klobiges Ding, Sie werden mich deswegen auslachen. Aber mein Therapeut hat mir empfohlen, alles … aufzuzeichnen, was von Bedeutung sein könnte.«

Er antwortete nicht. Dachte nach.

»Nicht nur das hier.« Sie lächelte schmerzlich. »Ich habe ihre Beerdigung gefilmt.«

»Haben Sie es sich angeschaut?«

»Mehrmals.«

Er verzog das Gesicht.

»Man stirbt nicht wirklich, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Man stirbt, wenn man vergessen wird. Meine Schwester ist keine Person mehr, sie ist jetzt eine Idee. Ich trage sie bei mir. Deshalb muss jede Spur, jedes Wort und jeder Geruch und Ton, der etwas mit ihr zu tun hat, bewahrt werden.«

»Sogar die negativen Dinge?«

»Ja.«

»Sogar ihre Beerdigung?«

»Ich fühle mich ihr nahe. Als wäre sie gerade erst gegangen.« Es ist, als würde man an einer Wunde kratzen, wollte sie hinzufügen. Sonst spürt man irgendwann nichts mehr, und das ist schrecklich. Der Schmerz bringt sie zurück.

Er hält sie am Leben.

Raycevic seufzte. Dann nickte er knapp. »Meinetwegen.«

Sie ging zum Corolla zurück, beugte sich ins Auto ihrer Schwester und holte das Ding heraus – einen klobigen schwarzen Kassettenrekorder.

Sie schob eine Kassette hinein. Drückte den Aufnahmeknopf. »Test.«

»Werden die immer noch hergestellt?«

»Der gehörte Cambry. Als wir noch klein waren.«

Das brachte ihn zum Schweigen. Er schaute zu, wie sie das Teil auf die Motorhaube des Corolla stellte. »Danke«, sagte sie. Und dann lauter fürs Mikrofon: »Corporal Raycevic.«

»Sie können mich Ray nennen.«

»Vielen Dank, Ray.« Sie sah ihn an. »Erzählen Sie mir doch als Erstes, wie Sie ihre Leiche gefunden haben.«

»Ich hatte eine Meldung reinbekommen. Jemand hatte die Kette am Tor, durch das wir gefahren sind, mit einem Bolzenschneider zerschnitten.«

»Passiert das oft?«

»Ein paarmal im Jahr. Fernfahrer benutzen diese Route manchmal als Abkürzung. Es war abends, am 7. Juni. Gegen 23 Uhr. Als ich dort um die Kurve kam und auf die Brücke zufuhr, bemerkte ich einen blauen Toyota, der hier parkte.«

»Wo genau? Können Sie mir das sagen?«

»Tatsächlich …« Er hielt inne. »Genau da, wo Sie ihn jetzt geparkt haben.«

Sie spürte ein Ziehen in der Magengrube, schenkte dem aber nicht weiter Beachtung. Reiner Zufall.

»Ich wäre beinahe mit dem Wagen zusammengestoßen«, sagte der Cop. »Ich musste ordentlich auf die Bremse treten, hab meinen Kaffee auf dem Funkgerät verschüttet. Man kann die Bremsspur immer noch sehen.«

Er zeigte auf die verblichenen Streifen am Boden. Schmierig und dunkel wie Lakritz.

»Um 23:44 Uhr stieg ich aus und näherte mich Cambrys Toyota – Ihrem Toyota – zu Fuß. Niemand saß drin. Keine Anzeichen für eine Panne. Die Fahrertür stand weit offen. Die Batterie war leer. Der Tank auch.« Raycevic machte eine Geste, als käme er sich lächerlich vor. »Aber das wissen Sie alles längst …«

»Sämtliche Details, bitte.«

»Ich habe die Brücke überprüft und den Waldrand nach Lagerfeuern oder Lichtern von Taschenlampen abgesucht. Dann setzte ich mich wieder in den Wagen und gab das Kennzeichen durch. Da war es 23:51 Uhr.«

Er erinnert sich zu genau an die Zeiten, stellte Lena fest. Er hat sie auswendig gelernt.

»Ich weiß noch, dass ich dastand und wartete, während die Zentrale die Nummer prüfte. Ich dachte nach. Wischte mit einem Taschentuch den Kaffee von meiner Hose und schaute in den Sternenhimmel. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Als würde man eine Hand in den Müllzerkleinerer schieben und mit der anderen nach dem Einschaltknopf tasten. Verstehen Sie, was ich meine?«

Nein – aber Lena nickte trotzdem.

Nicht nur Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich im Prisma der Hairpin Bridge, hatte sie irgendwo gelesen, sondern auch Leben und Tod.

»Letztlich war es wohl …« Er nagte an seiner Lippe. »Berufliche Intuition, schätze ich. Irgendwas sagte mir, ich solle mich noch einmal durch die kalte Luft bewegen – es war zu kalt für Juni – und über das Geländer schauen. Weil die Frau, die den Corolla hier geparkt hatte … da unten sein würde.«

»Die Selbstmörderbrücke«, flüsterte Lena.

»Was?«

»So wird die Hairpin Bridge auch genannt.«

»Verstehe ich nicht.«

»In den Geistergeschichten, meine ich.« Sie spielte wieder mit einer Haarlocke vor lauter Verlegenheit, weil sie das Wort Geister benutzt hatte. »Leute im Internet, Leute, die an Übernatürliches glauben … behaupten, Autofahrer würden hier anhalten und in den Tod springen. Fünf oder sechs Selbstmorde hat es in den Achtzigern gegeben. Das genügt, um so eine Brücke berühmt zu machen. Als Ort, der einsame und verzweifelte Menschen anzieht, die ihrem Leben ein Ende setzen möchten.«

»So?« Der Cop zuckte mit den Schultern. »Nie davon gehört.«

»Wie dieser Wald in Japan.«

»Davon hab ich auch noch nie gehört.« Er ging zum Geländer, und Lena folgte ihm. Er legte beide Hände darauf. Breite Hände mit Schwielen. »Ich stand genau hier«, sagte er, »als ich Cambry entdeckte.«

Ein kalter Schauer lief Lena über den Rücken.

Er deutete direkt nach unten auf eine Ansammlung ausgebleichter Felsbrocken im Flussbett des Silver Creek. Der Fluss führte im März sehr viel Wasser und trocknete im Juli vollständig aus.

»Wo?«

»Genau da.«

Sie trat neben ihn ans Geländer und versuchte sich Cambrys Körper zwischen den Steinen vorzustellen. Zerquetscht, schlaff, puppenartig, nach einem Sturz aus über sechzig Metern Höhe. Seit Monaten schon hatte sie versucht, es sich auszumalen. Aber sie brauchte, sie wollte mehr Details. »Lag sie auf dem Rücken? Oder auf dem Bauch?«

»Auf der Seite.«

»Die rechte oder die linke?«

»Die linke.«

»War Blut zu sehen?«

Er drehte sich zu ihr. »Entschuldigung?«

»Haben Sie Blut bei ihr bemerkt?«

»Was soll das denn bringen?«

»Ich will alles wissen.« Lena versuchte, so neutral wie möglich zu klingen. »All die hässlichen, grauenhaften Details. Wenn ich keine Details bekomme, ist das, was ich mir in meinen schlaflosen Nächten ausmale, noch viel schlimmer. Die Sache ist für mich noch nicht beendet, und ich hasse so etwas. Das ist mein Problem. Mein Gehirn arbeitet ununterbrochen daran, die Leerstellen auszufüllen.«

Sie war sich nicht sicher, ob er ihr das abnahm.

»Es ist …« Sie versuchte es anders: »Es ist wie das Monster in einem Film. Solange man es nicht gesehen hat, ist es grauenerregend. Aber sobald man es schließlich bei Tageslicht und in voller Größe sieht, verliert es seine Macht. Weil man es nun kennt.«

»Hängt vom Monster ab«, sagte er.

»Ich habe eine ziemlich rege Fantasie, Ray.«

»Und Ihr …« Er kniff die Augen zusammen. »Und Ihr Therapeut findet das okay, was Sie hier machen?«

»Ich weiß, was ich wissen will.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

»Hundertprozentig?«

»Eine Million.«

Er seufzte und schaute weg. »Das behagt mir nicht.«

»Sie fühlen sich unbehaglich?«

»Cambry wurde durch den Aufprall getötet«, sagte er brüsk. Seine Stimme klang scharf, und Lena machte instinktiv einen Schritt zurück. Männer, die plötzlich laut wurden, hatten ihr immer schon Angst eingejagt. »Ich kann Ihnen keine blutigen Details über den Zustand ihres Körpers nach dem Selbstmord schildern, weil ich der Meinung bin, dass es sich nicht gehört. Verstehen Sie?«

Sie hatte das Gefühl, ausgeschimpft zu werden. Tränen schossen ihr in die Augen, obwohl sie es verhindern wollte.

Reiß dich zusammen.

»Nachdem ich die Leiche Ihrer Schwester entdeckt hatte, rief ich den Rettungsdienst und kletterte nach unten, um Erste Hilfe zu leisten, falls es noch möglich sein sollte. Aber wie erwartet, hatte sie keinen Puls mehr. Atmete nicht. Ihr Körper hatte schon seit mindestens einem Tag dort gelegen.«

Nicht weinen. Sie biss sich auf die Lippe.

»Auf diese Art zu sterben … geht schnell. Schneller als das Gehirn den Schmerz registrieren kann. Es ist, als würde man innerhalb einer Mikrosekunde den Ausschaltknopf betätigen. Was sie auch für Probleme gehabt haben mag an diesem 6. Juni …« Er seufzte und schaute sie wieder an. »Ihre Schwester musste nicht leiden, Lena.«

Sie versteifte sich, als hätte ein kalter Finger sie zwischen den Schulterblättern berührt. Das war das erste Mal, dass Corporal Raycevic ihren Vornamen ausgesprochen hatte. Sie wünschte, er hätte es nicht getan.

Sie musste nicht leiden. Das war mal was Neues. Denn wenn jemand sich entschließt, von einer Brücke zu springen, dann sollte niemand so dreist sein zu behaupten, die betreffende Person hätte nicht gelitten.

Sie versuchte, sich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Auf sich selbst und Raycevic. Aber genau an der Stelle zu stehen, wo es passiert war, fühlte sich an, als würde man in ein seltsames Energiefeld hineingezogen. Ihr unruhiger Verstand zwang sie dazu, die Einzelheiten noch einmal zu rekonstruieren.

Es ist der 6. Juni. Nach Einbruch der Dunkelheit. Die Luft ist aufgeladen mit Elektrizität. Cambry Lynne Nguyen fährt allein auf dieser gesperrten Straße. Nachdem sie eine unbekannte Distanz zurückgelegt hat, von einem unbekannten Ort kommend, erreicht sie diese Brücke. Und hält an.

Genau da, wo Lena heute unwissentlich geparkt hatte, was ein eigenartiger Zufall war.

Sie steigt aus in die kühle Nacht, es ist jetzt neun Uhr abends, sie lässt den Motor laufen, die Tür offen stehen. Sie geht bis zum Rand der Brücke, genau bis hierher.

Lena umklammerte das Geländer mit beiden Händen, vielleicht an derselben Stelle wie Cambry vor drei Monaten.

Und meine Schwester schwingt sich über das Geländer, zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Bein. Sie beugt sich nach vorn, hält sich vielleicht noch mit den Händen fest, bevor sie loslässt, vielleicht stürzt sie sich auch mit einem kühnen Sprung in die Tiefe, so direkt, wie sie die meisten Dinge anging.

Sie stürzt sechzig Meter in die Tiefe.

Unten schlägt sie auf den Felsen auf, mit einer Geschwindigkeit von …

»Scheiße«, flüsterte Lena.

Was sollte man auch sonst sagen? Raycevic hatte ein paar Schritte zurück gemacht, um ihr mehr Raum zu lassen.

Jetzt kamen die Fragen. Zahllose Fragen rasten durch Lenas Gehirn, kratzend, klammernd, darum bettelnd, freigelassen zu werden: Was hast du hier draußen gesucht? Wohin wolltest du fahren? Warum hast du angehalten? Warum bist du ausgerechnet hier bei dieser abgelegenen Brücke aus dem Auto gestiegen?

Und dann natürlich der alte Klassiker: Wieso hast du Selbstmord begangen?

Warum wolltest du dich umbringen?

»Es tut mir leid«, flüsterte Raycevic hinter ihr. Doch seine Stimme klang merkwürdig blechern, als würde sie durch eine Telefonleitung kommen. Lena schaute in den Abgrund, der sich vor ihren Füßen auftat, die Leere, das breite, ausgetrocknete Flussbett des Silver Creek, in dem überall verstreut umgekippte weiße Bäume lagen.

Cambry …

Was ist dir in deinen letzten Stunden durch den Kopf gegangen?

KAPITEL 2 Cambrys Geschichte

Ich schwöre bei Gott, denkt Cambry, heute ist kein guter Tag zum Sterben.

Eine Eule bei Tageslicht zu sehen, ist ein böses Omen. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das zum ersten Mal gehört hat.

Das Tier hockt zwischen den Zweigen wie ein brauner Gartenzwerg. Ein großer Uhu mit fedrigen Ohren, dessen Umriss sich wie der eines Teufels vor dem blauen Himmel abzeichnet. Die Ohren sind sehr schwierig zu malen, man übertreibt es leicht. Sie benutzt Tusche, keinen Bleistift, und hat es schon verpfuscht – der arme Kerl sieht aus wie Batman. Am liebsten würde sie die Seite ausreißen und von vorn anfangen.

Wenn du noch nicht der Vorbote meines Todes warst, denkt sie, dann bist du es spätestens jetzt.

Unten auf dem Campingplatz ist es ruhig.

Oder es war ruhig – bis vor dreißig Sekunden, als dieses Pärchen im Ford Explorer ankam. Jetzt hört sie das Knittergeräusch von Nylon, das Ratschen von Reißverschlüssen, das Öffnen und Schließen von Autotüren, murmelnde Stimmen. Sie versucht, sich auf ihre Zeichnung zu konzentrieren. Der Uhu legt den Kopf zur Seite, ist wahrscheinlich genauso angewidert.

Das Paar streitet sich. Von Cambrys Standort aus, fünfzig Meter bergauf, sind die Worte nicht zu verstehen, aber sie hört, dass schnell gesprochen wird. Worte, die lauter und leiser werden, zischelndes Flüstern, Unterbrechungen, Widerspruch. Eine Konfliktsonate. Sie kennt jede Note davon.

Der Mann zieht eine Kühlbox aus dem Explorer und lässt sie absichtlich laut auf den Boden fallen.

Cambry schiebt die Zunge aus dem Mund, wenn sie zeichnet – eine Angewohnheit, seit sie fünf ist –, und schattiert nun die Umrisse des Uhus mit seinen Batman-Ohren. Manchmal kann man eine Zeichnung noch retten. Mit Kreuzschraffur schafft sie es, dass die übertrieben großen Ohren gewollt wirken. Ihr Modell hat das Interesse an dem streitenden Paar verloren und seine gelben Augen wieder auf sie gerichtet. Seine wachsame Art wirkt einschüchternd.

Die Heckklappe des Explorers wird zugeschlagen. Das Pärchen geht zu seinem Zeltplatz. Ihre Stimmen werden von den Bäumen gedämpft.

Jetzt erinnert sie sich wieder – an den Museumsbesuch in der achten Klasse, als ein Kurator den Schülern erklärte, dass die amerikanischen Ureinwohner Eulen als Überbringer von Todesbotschaften angesehen haben. Als Wächter über das Leben nach dem Tod, die bei Tageslicht losziehen, um die Seelen der bald Sterbenden zu finden. Und diese Eule hier schaut sie die ganze Zeit auf eine merkwürdig wachsame Weise mit seinen Brillenaugen an.

Wieder Stille. Das Paar ist verschwunden.

Endlich.

Cambry klappt ihr Skizzenbuch zusammen und eilt hastig, aber leise nach unten zur Straße. Neben dem Explorer angekommen, nimmt sie ihren Rucksack ab, holt einen Benzinkanister heraus und schraubt den Tankdeckel des Autos ab, damit sie den Plastikschlauch hineinschieben kann.

Die Eule schaut ihr dabei zu.

Als wir noch klein waren, habe ich Cambry immer versprochen, ich würde mal ein Buch über ihre Abenteuer schreiben. Dies hier – was ihr jetzt lest – ist nicht das, was ich dabei im Sinn hatte.

Natürlich nicht.

Aber es hat etwas Kathartisches, die Geschichte meiner Schwester zu erzählen. Die genauen Umstände ihrer letzten Stunden zu rekonstruieren, fühlt sich an, als würde man eine Million zerbrochene Knochen wieder zusammensetzen. Jedes Wort tut weh, aber meine Eltern sollen erfahren, was an diesem 6. Juni wirklich mit ihrer Tochter geschehen ist. Ich will ehrlich sein: Ich habe mir die Freiheit genommen, bestimmte Details zu erfinden, denn niemand kann die Gedanken einer toten Frau kennen.

Aber wer wäre besser dazu geeignet, sich genau diese Gedanken vorzustellen, als ihre Zwillingsschwester?

Bevor wir fortfahren, noch ein spezieller Hinweis für Cambry: Hier ist dein Buch, Schwester. Hat lange gedauert. Es tut mir sehr, sehr leid, dass es fünfzehn Jahre zu spät kommt.

Und dass du am Ende stirbst.

Cambrys Skizzenbücher enthalten die gezeichnete Geschichte ihrer letzten neun Monate.

September in Oregon. Durch die Betonschluchten von Portland zu den immergrünen Wäldern um den Crater Lake. Dann Medford, mit selbst gebrautem Bier und Couchsurfing bei einem Freund ihres Freunds Blake – ein lockerer Typ, der ihr ein paar von seinen starken Halluzinogenen spendierte, die er in einem Schuhkarton gezogen hatte. In den darauffolgenden drei Stunden fielen haarige Vogelspinnen auf sie herab wie Fallschirmspringer. Irgendwann hatte sie keine Angst mehr vor ihnen, sondern schob sie einfach nur beiseite.

Oktober in Kalifornien. Über den Highway 101 durch Eureka bis zum Glass Beach. Die Bewohner von Fort Bragg warfen jahrzehntelang ihren Müll ins Meer und erzeugten auf diese Weise das weltweit größte Vorkommen von Meerglas. Blaue und grüne Scherben glänzten feucht zwischen den dunklen Steinen. Mit Bleistift und Tusche konnte man das nicht gut festhalten. Sie nahm eine Handvoll davon mit und bewahrte sie im Handschuhfach auf.

Den November verbrachte sie an nebligen Küsten, mit feuchten Hafenanlagen und Brücken. Die größte davon: Golden Gate.

Dezember und Januar in New Mexico, Arizona, Texas. Zwischen ihr und Blake war noch alles in Ordnung, das Geld reichte noch eine Weile. Sie spielten Frisbee in einer apokalyptisch wirkenden ausgebleichten Wüste namens White Sands. Blasse Dünen, zwanzig Meter hoch. Eines Nachts, unter den Sternen, fragte Blake sie, was sie tun wolle, wenn sie diese große Pilgerreise beendet hätten und wieder zurück in Seattle wären.

Ihre Antwort: Mich umbringen.

Er lachte nervös.

Februar und März in Louisiana, Georgia, Florida. Sie zeichnete weiße Herrenhäuser mit langen Zufahrten, Lichterketten in Bäumen und schuppige Alligatorenköpfe. Sie stritt sich jetzt häufiger mit Blake, ihre Konflikte brachen rasch und heftig aus wie Orkane. In der Nähe von Fort Myers knallten Hagelkörner auf die Windschutzscheibe des Corolla wie Maschinengewehrfeuer. Die Stimmung ging den Bach runter. In der Werkstatt erklärte Blake ihr genervt, er würde zur Tankstelle gehen und sich Zigaretten holen. Sie wartete eine halbe Stunde, dann ging sie ihm nach – und im Supermarkt erklärte ihr der Verkäufer, ein Mann, der wie Blake aussah, hätte einen Freund getroffen und sei mit ihm davongefahren. Er nahm viertausend Dollar und die kleine Pistole Kaliber .25 mit. Cambry hatte jetzt noch siebzehn Dollar in ihrer Umhängetasche und der Corolla eine frisch reparierte Windschutzscheibe.

Sie machte weiter.

Warum nicht?

Sie würde auch ohne ihn nach Seattle zurückfinden. Die einjährige Reise war ihre Idee gewesen, nicht die von Blake. Sie würde zurückfahren – falls sie das überhaupt wollte –, wenn es Zeit dafür war.

April in Virginia, und dann durch die tiefgrünen Ozark Mountains, im modrigen Rauch verrosteter Papiermühlen und Fabriken, dann nach Norden bis Dakota. Sie machte immer mehr Zeichnungen, weil Blake nun nicht mehr wie ein ungeduldiges Kind neben ihr saß und ihr den Stift aus der Hand nahm. Ohne ihn brauchte sie den Wohnwagen nicht mehr, also verkaufte sie ihn. Die Meilenanzeige des Corolla stieg rasant an. Sie übernahm langweilige Jobs, um Geld zu verdienen. Sie mochte nicht stehlen, tat es aber gelegentlich. Zumeist Nahrungsmittel.

Im Juni dann Montana.

Ihr letztes Skizzenbuch ist fast voll. Von Magma Springs schafft man es mit ein oder zwei Tankfüllungen bis Seattle. Ihr altes Leben lockt sie an, außerdem vermisst sie die Bequemlichkeiten von früher. Fließendes Wasser. Strom aus der Steckdose. Ihre Zahnschmerzen werden seit einem Monat immer schlimmer. Es blutet beim Zähneputzen.

Aber sie wird es heute noch bis Coeur d’Alene schaffen, rechnet sie sich aus. Wenn sie sofort losfährt.

Auf dem Fußweg vom Dog’s Head Campingplatz zurück zu ihrem Wagen geht sie zuerst den offiziellen Pfad entlang, biegt dann aber ab und schlägt sich durch den dichten Wald. Ihr Rucksack ist schwer wegen des Kanisters, in dem das Benzin schwappt. Sie möchte niemandem begegnen.

Die Temperatur ist jetzt am Abend erträglicher. Die Sonne geht orangefarben hinter den Kiefern unter, der Himmel ist tiefrot. Keine streitenden Stimmen mehr – nur das Zirpen der Grillen und das knisternde trockene Gras unter ihren Schuhsohlen. Sie liebt die Ruhe und den Duft nach Tannennadeln und Beeren. Sie hat die letzte Etappe ihres Marsches erreicht, ist nur noch fünf Minuten vom Highway entfernt, als sie die Rauchschwaden bemerkt.

Mein Auto brennt, denkt sie.

Ihr Verstand ist seit einiger Zeit in Unordnung geraten. Seit Florida ist sie ihren Ängsten ausgeliefert – ihren Furien, wie es die Psychologin nannte. Eine Eule bedeutet den nahen Tod. Zahnschmerzen kündigen Krebs an. Rauch bedeutet, dass ihr Corolla in Flammen steht.

Der Rauch, so stellt sich heraus, hat seinen Ursprung nicht weit von ihrem Pfad entfernt. Er steigt in mehreren dicken schmutzigen Säulen vor den weißen Gipfeln der Rocky Mountains auf. Sie ist neugierig, bleibt stehen und späht durch die Äste.

Brennendes Gras vielleicht?

Eine Viertelmeile bergab erkennt sie etwas: ein nacktes Betonfundament, so weiß wie verblichene Knochen. Ein Gebäude, das nie fertiggestellt und von Unkraut überwuchert wurde. Ein Trailer und ein verrosteter Truck. Ein ausgetrockneter Brunnen. Aufgestapelte Baumstämme und Schotterhaufen. Frisch aufgewühltes Erdreich.

Die Rauchsäulen stammen von vier Feuern. Sie sind auf dem kahlen Betonboden exakt nebeneinander arrangiert. Jedes Feuer brennt in der Mitte einer sorgfältig errichteten Steinpyramide. Sie sehen aus wie kleine Ofenfeuer. Die Flammen brennen kontrolliert und leuchten tieforange.

Ein Mann geht zwischen den Feuerstellen hin und her.

Der Anblick eines weiteren menschlichen Wesens versetzt Cambry einen Schlag. Feuer oder nicht, sie war sicher gewesen, ganz allein hier zu sein. Vorsichtig geht sie weiter, um keine Steine loszutreten. Auf diese Entfernung ist der Fremde nur ein kleiner beweglicher Fleck. Offenbar trägt er kein Hemd. Bei jedem Feuer hockt er sich hin, als würde er es mit einem Stock oder Eisen schüren. Als er das Ende der Reihe erreicht hat, macht er kehrt und beginnt von vorn.

Langsam, ruhig, methodisch.

Sie hätte besser ihr Fernglas mitgenommen. Sie traut sich nicht, näher zu gehen. Sogar eine Viertelmeile ist ihr noch zu nah.

Die einfachste Erklärung wäre, dass er Büsche verbrennt, was viele Landbesitzer tun, bevor das Feuerverbot im Sommer in Kraft tritt. Aber diese Feuer sind zu klein, und die Steinpyramiden zu absichtsvoll errichtet.

Vielleicht räuchert er etwas. Wild? Lachs?

Ihre Furien flüstern: Menschenfleisch?

Sie fragt sich, ob sie sich auf privatem Gelände befindet. Cambry hat immer darauf geachtet, nichts von Privatgrundstücken zu stehlen, weil da auf sie geschossen werden kann. Es ist sicherer, seinen Diebstählen im öffentlichen Raum nachzugehen, auch wenn es schwieriger ist. Sie kann sich nicht erinnern, einen Zaun oder ein Warnschild passiert zu haben, trotzdem schaut sie hinter sich, um sicherzugehen. Als sie wieder zu ihm hinsieht, stellt sie fest, dass der Mann aufgehört hat, herumzulaufen. Er steht jetzt ruhig da wie eine Vogelscheuche, genau zwischen zwei Feuerstellen.

Er blickt nach oben. Zu ihr.

Cambrys Blut wird zu Eiswasser. Ihr Magen krampft sich zusammen. Sie bewegt sich nicht, genau wie er. Sie sind zu weit voneinander entfernt, um sich etwas zuzurufen. Sie könnte winken. Aber das tut sie nicht.

Der Mann schaut immer noch zu ihr.

Der Wind dreht sich, eine Böe fegt durch die Bäume, und die vier Rauchsäulen bewegen sich nach links, wirbeln dem Mann ins Gesicht. Er scheint nicht darauf zu reagieren.

Eine surreale Pattsituation. Cambry kneift die Augen zusammen. Dies ist nicht das erste Mal in den neun Monaten, die sie jetzt wie eine Flüchtige lebt, dass jemand sie anstarrt. Sie wurde von mehr Park- und Campingplätzen vertrieben, als sie zählen kann. Sie versucht, mehr Details zu erkennen: die Umrisse eines ärmellosen Unterhemds, braune Khaki-Hosen. Seine Hände greifen nach etwas in Hüfthöhe (Eine Waffe, eine Waffe, flüstern ihre Furien, aber das Ding sieht nicht so aus.) Er hebt es mit beiden Händen vors Gesicht.

Zeit zu verschwinden.

Er starrt sie durch etwas in seinen Händen hindurch an. Ein Lichtblitz bestätigt es ihr – ja, er mustert sie durch sein Fernglas.

Lauf, Cambry. Jetzt.

Aber dieser surreale Moment scheint ewig anzuhalten, die Luft verdichtet sich, und sie hat das seltsame Gefühl, sie sollte winken. Sie tut es beinahe. Sie fühlt sich ertappt, beobachtet, spürt wie die Augen in der Ferne ihren Körper abtasten.

Ihr Herz rast. Pocht vehement gegen ihren Brustkorb.

Lauf-lauf-lauf-jetzt-sofort …

Sie dreht sich um und verlässt ganz ruhig den grasbewachsenen Hügel, langsam und gemessen, verfolgt von dem fernen Blick des Fremden.

Als sie aus seinem Blickfeld ist, rennt sie los.

Als ihr Auto in Sichtweite kommt, hält sie an und wirft einen Blick zurück.

Zu ihrem großen Schrecken steht er jetzt genau an der Stelle, wo sie eben noch stand. Noch sieht er sie nicht. Er geht auf dem grasbewachsenen Hügel hin und her, die Hände in die Hüften gestemmt, stößt mit den Füßen Steine um und sucht auf dem staubigen Boden nach Spuren von ihr.

Hinter dem nächstgelegenen Baum fällt sie auf die Knie und ringt nach Atem.

Jetzt, etwas näher, kann sie ihn besser erkennen. Er ist sehr groß. Kräftige Oberarmmuskeln. Stoppelfrisur. In seinen Dreißigern oder Vierzigern, und er sieht irgendwie militärisch aus. Auch er muss gerannt sein, um so schnell zu dieser Stelle zu gelangen. Er sucht den umliegenden Wald ab, schützt die Augen mit einer Hand vor der Sonne.

Erschrocken stellt sie fest, dass jemand hinter ihr her ist.

Sie nimmt den Rucksack herunter und legt sich ganz flach auf den Erdboden. Die Kiefer bietet nur schwachen Schutz. Aus seiner Perspektive ist von ihr nichts weiter als ein Auge und ein Wangenknochen hinter einem Baumstamm zu sehen. So gut können seine Augen doch nicht sein, oder?

Aber sein Fernglas vielleicht schon.

Immerhin ist er unbewaffnet, stellt Cambry erleichtert fest. Sie hatte sich ausgemalt, dass er ein Scharfschützengewehr über der Schulter trägt oder eine Axt in der Hand hält. Aber er hat nichts bei sich bis auf sein Fernglas. Seine muskulösen Arme sind knallrot. Er hat einen schlimmen Sonnenbrand. Er trägt eine förmlich aussehende Hose. War er dabei, seine Kleider zu wechseln? Was hatte er vor?

Er sucht immer noch zwischen den Bäumen nach ihr. Dann schaut er in ihre Richtung, lässt den Blick von links nach rechts schweifen – ihr Magen krampft sich zusammen. Kurz hält er bei ihrem Baum inne, dann sucht er weiter. Gott sei Dank.

Sie liegt stocksteif im gelblichen Gras und schiebt die Hand in ihre Gesäßtasche, wo sie nach dem KA-BAR tastet, ihrem Klappmesser mit der acht Zentimeter langen Klinge. Sie bedauert, dass Blake ihre Pistole mitgenommen hat. Eine Schusswaffe – selbst im Kleinformat – wäre jetzt sehr beruhigend. Der schwere Rucksack ist auch keine Hilfe. Das Ding macht sie nur langsamer.

Erst jetzt, als sie hinter dem Baum liegt und leise atmend nach Luft ringt, erkennt Cambry den Ernst der Lage. Dieser Fremde ist eine Viertelmeile zwischen den Bäumen hindurch den Berg hinaufgerannt, um zu ihr zu gelangen. Ganz plötzlich. Ohne zu zögern. Er hat sogar seine vier brennenden Feuerstellen hinter sich gelassen. Wie gern hätte sie gewusst, welchem Zweck sie dienen.

Sie spürt die elektrische Spannung in ihren Nerven. Ein Flüstern in ihrem Kopf drängt sie, den Rucksack zu nehmen und loszurennen. Die Seite herauszureißen und neu anzufangen. Cambry Nguyen zu sein, die dämonische Vagabundin, das Mädchen, das alle Brücken hinter sich abbrannte, das von Freund zu Freund zog, von Stadt zu Stadt, von Affäre zu Affäre und nie lange blieb wie ein Schwarm Heuschrecken, der über ein Getreidefeld herfällt und dann weiterzieht. Die Frau, die an allem Guten etwas auszusetzen hatte und ihre Probleme dadurch löste, dass sie sie im Rückspiegel verschwinden ließ, von der Westküste nach Osten und fast wieder zurück.

Ihr Mund ist trocken. Seit Januar hat sie keine Zigarette mehr geraucht. Jetzt könnte sie eine gebrauchen.

Wahrscheinlich ist es ein Missverständnis, sagt sie sich. Vielleicht sollte sie sich einem Problem mal stellen, als vor ihm davonzulaufen. Ist doch keine große Sache – die Grundstücksgrenzen sind nicht exakt gezogen in dieser Gegend. Könnte sein, dass sie auf dem Rückweg vom Campingplatz ein rostiges Warnschild übersehen hat und auf das Privatgelände von jemandem geraten ist, der keine andere Wahl hatte, als ihr zu folgen, um herauszufinden, wer sie ist …

Der Kopf des sonnenverbrannten Mannes macht eine ruckartige Bewegung. Er sieht sie.

Er winkt nicht. Er schaut nicht durchs Fernglas. Er sprintet los, still, mechanisch, nimmt die Verfolgung auf.

Cambry rennt so schnell sie kann.

Als sie die Stelle erreicht, wo ihr Corolla am Straßenrand steht, dröhnt der Puls in ihren Ohren, und sie schnappt hechelnd nach Luft. Sie ist gut in Form – letztes Jahr hat sie einen Halbmarathon gelaufen – aber ihr Rucksack liegt schwer auf ihrem Rücken, und die Riemen scheuern ihre Haut wund. Sie kann nicht sagen, ob der sonnenverbrannte Mann ihr noch folgt oder wie nahe er ist.

Sie reißt die Tür auf und schaut nicht mal zurück – damit würde sie nur kostbare Zeit verschwenden. Sie springt hinein, dreht den Zündschlüssel, gibt Gas. Der Motor heult auf, die Reifen drehen durch, sie rast los und hinterlässt eine Staubwolke.

Sie atmet tief durch, während sie fährt. Zahlreiche Fragen tauchen in ihrem Kopf auf, schneller als sie denken kann. Wer war das? Was hat er da gemacht? Was hätte er mit ihr gemacht, wenn er sie erwischt hätte? Und noch drängender: Solltest du nicht die Polizei alarmieren?

Hier draußen gibt es keinen Empfang, das weiß sie längst.

Aber wenn du die Stadt erreichst … solltest du dann nicht dort anrufen?

Ein lauter Knall. Sie zuckt zusammen.

Ein Schlagloch. Nur das Chassis, das auf die Fahrbahn geschlagen hat. Sie reibt sich die Arme, spürt die Gänsehaut. Selbst wenn sie die Polizei erreichen könnte, was genau würde sie sagen? Hallo, ich habe einen Mann beobachtet, der vier Lagerfeuer angezündet hat.

Das klingt schräg, ja. Aber ist es auch illegal?

Hängt ganz davon ab, was dort verbrannt wurde, erklärt ihr eine nicht sehr hilfreiche Stimme.

Es ist eine wilde Fahrt. Sie rast meilenweit durchs Hinterland, das womöglich sein Grundbesitz ist, von dem er sie gerade verjagt hat. Wieder setzt die Karosserie des Wagens auf. Sie nimmt das Gas weg. Das Allerletzte, was sie jetzt braucht, ist ein platter Reifen.

Die Sonne ist untergegangen. Die blaue Stunde, wie die Fotografen es nennen, wenn das Zwielicht alles wirken lässt wie ein bläulich getöntes Gemälde. Und da ist noch was anderes – Cambry hat immer behauptet, sie könne es spüren, obwohl Lena stets skeptisch war. Sie kann spüren, wenn Elektrizität sich in der Luft sammelt. Wenn die Spannung zwischen dem Positiven und dem Negativen wächst. Bevor es blitzt.

Sie passiert die bekannte Hinweistafel für das Magma Springs Diner, dann den Hasch-Laden – mit dem Slogan »It’s Surprisingly Easy Being Green« – und fühlt sich besser. Sie ist noch mal davongekommen. Die Straße schlängelt sich zwischen Bäumen hindurch, und am Horizont bemerkt sie rotes Blinklicht. Funktürme. Die Zivilisation ist nicht mehr weit entfernt. Menschen. Autos. Geschwindigkeitsbegrenzung. Versicherungen. Miete. Zahnärzte.

Sie atmet aus – sie hat gar nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie nähert sich dem Highway 200. An der Kreuzung bremst sie ab, und da hört sie den schneidenden Ton einer Sirene.

Sie schaut in den Rückspiegel.

Oh, Gott sei Dank.

Ein staubbedeckter Polizeiwagen folgt ihr mit eingeschaltetem Blinklicht. Sie hält am Straßenrand wie eine gehorsame Bürgerin, und der Polizist stoppt direkt hinter ihr. Das Schwarz-Gold der Montana Highway Patrol. Die Sirene bricht ab, aber das rote und blaue Blinklicht flackert weiter und wird von ihren Spiegeln reflektiert.

Cambry hasst Cops. Mehr noch hasst sie es, dass sie erleichtert ist, einen zu sehen.

Trotz der überraschenden Situation legt sie sich rasch eine Geschichte zurecht. Sie schaut nach, ob der Kanister in ihrem Rucksack gut versteckt ist. Sie hat eine Wanderung durch die Natur gemacht, wird sie sagen. Sie ist nur eine Wildcamperin mit jeder Menge psychologischem Ballast in ihrem Wagen, die einen Nervenzusammenbruch auskuriert. Sonst nichts.