No Mercy - Diese Fahrt überlebst du nicht - Taylor Adams - E-Book

No Mercy - Diese Fahrt überlebst du nicht E-Book

Taylor Adams

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Beschreibung

Die Fahrt in ein neues Leben wird für sie zum Albtraum

Mit einem vollgepackten Auto sind James und Elle auf dem Weg in ein neues Leben. Doch ihre geplante Route durch einen Abschnitt der Mojave-Wüste ist von einem Steinschlag blockiert. Das Paar muss auf eine schlecht ausgebaute Straße ausweichen. Kurz darauf bleibt ihr Wagen liegen. Sie sitzen fest – mitten im Nirgendwo, mit nur einer Flasche Wasser und ohne Handyempfang. Was die beiden noch nicht wissen: Sie sind nicht allein in der Wüste. Eine Meile entfernt hat ein Scharfschütze Position bezogen. Bis auf das Auto gibt es weit und breit nichts, was ihm die Sicht verstellt. Der Himmel ist klar. Es ist der perfekte Tag für ein paar Zielübungen …

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Seitenzahl: 429

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Das Buch

»James fiel auf, dass er die Landschaft jenseits des Umleitungsschilds überhaupt nicht beachtet hatte. Hinter der orangefarbenen Straßensperre hatte sich die Straße einfach weitergeschlängelt. Ihm kam ein verrückter Gedanke … was wäre, wenn es hinter der Sperre überhaupt keinen Erdrutsch gegeben hatte? Was wäre, wenn diese Umleitung nur eine Finte gewesen war, um sie hierher zu locken, genau wie den armen Glen Floyd?

Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinauf und blieb zwischen den Schulterblättern kleben. Wenn das hier eine Finte war, dann hatte sie bestens funktioniert. Zwei linksliberale Kalifornier einsam in der Wildnis zwischen roten Felsen mitten in der endlosen Prärie unter einer gnadenlosen Sonne. Um sie herum nur dorniges Gestrüpp und Tiere mit scharfen Krallen und Stacheln. Wenn hier jetzt ein weiteres Fahrzeug auftauchen würde, wäre das sehr wahrscheinlich ein ganz schlechtes Zeichen. Denn wenn man der eigenwilligen Logik von Deputy Doogie Howser folgte, dann konnte es sich bei dem Insassen nur um denjenigen handeln, der Glen Floyd ein Loch in den Kopf geschossen hatte.«

Der Autor

Taylor Adams ist Filmregisseur und Autor. Nach seinem Abschluss an der Eastern Washington University sorgte Adams für erstes Aufsehen, als sein Debütfilm auf dem Seattle True Independent Film Festival gezeigt wurde. Mit dem Thriller »No Exit« gelang ihm sein erster internationaler Erfolg als Autor, die Verfilmung ist in Vorbereitung. Adams lebt im Bundesstaat Washington.

Lieferbare Titel

NO EXIT

TAYLOR ADAMS

NOMERCY

DIESE FAHRT ÜBERLEBST DU NICHT

THRILLER

Aus dem Englischenvon Robert Brack

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel EYESHOT.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 01/2021

Copyright © 2014 by Taylor Adams

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Viktor Birkus, Ysbrand Cosijn, Sascha Burkard, Runrun2, Thorsten Nieder, Fiore, Dinga, piyaphong, Jared Quentin, saiko3p, Oleg Golovnev)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26758-2V001

www.heyne.de

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Für Mom, Dad, Riley und Jaclyn. Vielen Dank für alles.

1

Für einen Killer machte William Tapp im Moment einen ziemlich lächerlichen Eindruck.

Rein äußerlich betrachtet, bestand er aus abstehenden Zweigen und verdorrtem Gras. Sah aus wie das Ding aus dem Sumpf, das jemand in der glühenden Sonne der Mojave-Wüste zum Trocknen ausgelegt hat. Jetzt kroch und kletterte er über eine Halde aus Geröll am Rand eines Berghangs. Er keuchte laut. Seine Knie schmerzten höllisch. Sein völlig überfordertes Herz pumpte verzweifelt das Blut in die danach lechzenden Körperteile.

Sein Outfit war auch nicht gerade hilfreich. Er trug einen selbst gebastelten Tarnanzug, unter anderem bestehend aus einem Volleyballnetz, in das er Jutestücke und Wüstengestrüpp als Camouflage eingefügt hatte. Es war ungefähr so komfortabel, als würde er ein verdammtes Treibhaus tragen. Hinhocken war kaum möglich, laufen ziemlich schwierig, und zwischendurch kurz mal zu pinkeln hatte sich als Desaster erwiesen.

Endlich erreichte er den Bergkamm. Über ihm dehnte sich der harsche blaue Himmel. Er setzte den Rucksack ab, in dem sich Cheetos, Weingummis und ein Sixpack Energydrinks befanden, und breitete seine Ausrüstung vor sich aus. Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Unter ihm erstreckte sich die Steppe von Nevada, aus der lavendelfarbene Berge ragten, die den Pulitzerpreis verdient hätten. Tapp nahm nichts davon zur Kenntnis.

Er zog die Kapuze seiner Tarnjacke tief ins Gesicht, spürte das Kitzeln des getrockneten Grases an den Lippen und verwandelte sich in einen kaum sichtbaren Schatten, der mit der Prärie verschmolz.

Jetzt machte William Tapp überhaupt keinen Eindruck mehr.

* * *

»Vorsicht!«

James Eversman trat auf die Bremse, und der Toyota RAV4 geriet ins Schlingern, wie ein Schnellboot, das während der Fahrt den Anker auswirft. Er wurde nach vorn geschleudert, dann rastete der Sicherheitsgurt ein und zerrte ihn zurück. Er spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Ob er mit den Lippen gegen das Lenkrad geknallt war oder sich bloß auf die Zunge gebissen hatte, war ihm nicht ganz klar.

Seine Frau Elle reagierte besser, weil ihre Reflexe von drei Tassen Kaffee am Tag geschärft waren. Es gelang ihr, sich mit den Händen am Armaturenbrett abzustützen. Die braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie zischte etwas, das in seinen Ohren wie »Arsch-Idiot« klang. Sie fluchte gelegentlich auf sehr eigenwillige Art.

Es war kein Unfall, aber es fühlte sich so an. Der geparkte Streifenwagen – ein braun-weißer Ford mit verstaubten Scheiben – war direkt hinter der S-Kurve vor ihnen aufgetaucht, die sie mit mehr als siebzig Meilen pro Stunde genommen hatten. Der Highway war hier praktisch tiefer gelegt und wurde seitlich von Granitwänden begrenzt, die die Sicht verdeckten. Wenn James nur einen winzigen Moment zu spät gebremst hätte, abgelenkt gewesen oder zu schnell gefahren wäre … Er schob diese Gedanken beiseite, weil sie völlig nutzlos waren. Dank des Anschauungsmaterials beim Erste-Hilfe-Kurs in der Firma wusste er, wie Autobahnunfälle aussahen – ein Kollege hatte das Opfer auf dem Schaubild als »tomatenähnliches Etwas« bezeichnet. Als das Blut wieder in sein Gehirn strömte und der beißende Geruch von verbrannten Bremsbelägen durchs Fenster drang, starrte er auf den Streifenwagen der Paiute County Police, der knapp sechs Schritte vor seiner Stoßstange stand, und dachte nur: Wahnsinn.

»Puh.« Elle schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Das wäre beinahe schiefgegangen.«

»Allerdings.«

»Wieso steht der hier mitten auf der Straße?«

»Keine Ahnung …« James’ Stimme klang heiser. »Na, da kommt er ja auch schon.«

Er war ein schmächtiger Deputy Sheriff, der nun auf sie zu trottete. Sein linker Arm hing seitlich herab, die rechte Hand hatte er an seinen gigantischen Stetson-Hut gelegt. Es war schon fast ein Sombrero. Er kam vom rechten Fahrbahnrand, wo James jetzt ein weiteres Fahrzeug bemerkte, das ganz dicht vor der Granitwand parkte. Ein nagelneuer weißer Pick-up-Truck. Er schien nicht beschädigt zu sein, war aber leer. James fragte sich, wo der Fahrer abgeblieben war.

»Ich …« Elle konnte ein Lachen kaum unterdrücken. »Ich glaub, der hat Smokey Bear seinen Hut geklaut.«

»Hör auf zu lachen.«

»Wie war das noch mal mit den zehn Regeln zur Unfallvermeidung?«

»Bitte Elle, reiß dich zusammen.« Er drückte auf den Knopf für das Seitenfenster und hatte das Gefühl, eine Luftschleuse zu öffnen. Stickige heiße Luft schwappte herein, und Kalkstaub drang in seine Nase.

Die Schritte des Sheriffs klatschten auf dem Untergrund, als hätte die Sonne den Asphalt zum Schmelzen gebracht. James atmete vorsichtig ein und hoffte, keinen Hustenanfall zu bekommen – er war nervös, und das war ihm ziemlich peinlich. Zugegeben, das hier war eine neue Erfahrung. Er war bisher noch nie von der Polizei angehalten worden, was er seinem auffällig unauffälligen Fahrstil zuschrieb. Elle hatte ihn mal mit einem dieser Staubsauger-Roboter verglichen, die reiche Leute sich anschaffen. Wie nannte man die noch mal?

»Es tut mir leid.« Der Cop atmete tief durch, als er eine Hand gegen die Tür legte. »Ich hätte das Blinklicht einschalten sollen.«

»Ist nicht so schlimm«, sagte James, obwohl er gegenteiliger Ansicht war. Er wunderte sich darüber, wie jung dieser Polizist war. Als käme er frisch von der Highschool. Er war ziemlich schmal und hatte Akne im Gesicht. Offensichtlich versuchte er gerade, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, mit mäßigem Erfolg.

»Ich wollte nur … Hier auf der Straße sind normalerweise höchstens drei Fahrzeuge pro Tag unterwegs. So ein Mist! Entschuldigung.« Der Junge räusperte sich und deutete auf den verlassenen weißen Pick-up am Straßenrand. »Da steht ein … so ein verlassener Truck einfach so herum. Die Türen sind nicht abgeschlossen. Der Motor läuft. Vierzig Dollar in einer Geldscheinklammer in der Mittelkonsole. Als wäre der Fahrer ausgestiegen, um sich zu erleichtern, und nicht mehr zurückgekommen. Das Ding steht da einfach so auf der Standspur, wie bestellt und nicht abgeholt.«

»Tja, er hat da wohl geparkt.« Elle schaute ihn fragend an. »Vielleicht hatte er ja was vor?«

James verstärkte sein falsches Lächeln.

Deputy Doogie Howser merkte es gar nicht. Er hatte eine eigenartige Art zu sprechen, betonte seine Satzanfänge, als wären sie Bullet Points in einer Präsentation. Vielleicht wollte er einen Akzent verbergen. Er entschuldigte sich noch mal (und noch mal) und fragte, ob sie jemanden am Straßenrand bemerkt hätten. Natürlich hatten sie das nicht. Die nächste Stadt war Mosby, ein Kaff mit einer Silbermine, das laut Aussage des Deputy »elf Ka-Emm in östlicher Richtung« lag. (Wieso rechnet der in Kilometern?, wunderte sich James.) Also war es eine eigenartige Idee, mitten in dieser Mondlandschaft ein funktionstüchtiges Fahrzeug stehen zu lassen. Und gefährlich.

Der Deputy sagte noch etwas, das James beunruhigte: »Sind Sie auch Polizist?«

»Nein.« Die Frage hatte ihn verblüfft. »Wieso?«

»Feuerwehr? Rettungssanitäter? Sicherheitsdienst?« Der Junge schaute ihn mit verkniffener Neugier an, als hätte er da einen Verdacht. »Ich schwöre Ihnen, ich kann einen Rettungshelfer auf Anhieb erkennen. Hat was mit den Augen zu tun. Sie haben so einen forschenden Blick.«

James zuckte mit den Schultern. »Nein, tut mir leid.«

»Er hat mal Medizin studiert«, sagte Elle. »Aber das ist lange her.«

»Nee«, sagte der Deputy seufzend. »Das zählt nicht.«

Sagt der Sheriff mit dem Sombrero, dachte James. Wahrscheinlich hatte Elle gerade eine noch witzigere Bemerkung auf der Zunge, die sie hoffentlich für sich behalten würde. Er ließ den peinlichen Moment so würdevoll wie möglich verstreichen und sagte dann: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Sheriff Doogie Howser kniff erneut die Augen zusammen. »Wenn Sie jemanden sehen, der allein am Straßenrand herumläuft, eine ältere oder verwirrte Person, dann rufen Sie mich bitte an. Hier in der Wüste gehen immer wieder Leute verloren. Es ist ein weites Land, und unsere Polizeistation ist ziemlich klein.«

»Wie klein denn?«

»Sie sprechen gerade mit fünfzig Prozent davon.«

Dann nickte er knapp zum Abschied, drehte sich um und ging zurück zu seinem Streifenwagen. Seine kleinen Stiefel schlurften über den Asphalt.

»Und er besteht zu dreißig Prozent aus Hut«, flüsterte Elle.

James nickte zerstreut und blieb wachsam.

Hier in der Wüste gehen immer wieder Leute verloren.

Der Deputy knallte die Tür zu, und es klang, als würde ein Schuss abgefeuert. Die Bremsleuchten flammten auf, als er den Streifenwagen zur Seite fuhr und sie mit der Hand durchwinkte. James ließ das Fenster wieder hoch und fuhr los, mit einem letzten verwunderten Seitenblick auf den verlassenen weißen Pick-up. Der Wagen sah völlig unscheinbar aus. Die Fenster reflektierten das grelle Sonnenlicht, sodass man nicht ins Innere schauen konnte. Er bemerkte einen Aufkleber mit den Buchstaben MPR an der Stoßstange, und dann waren sie vorbei, und das Fahrzeug verschwand hinter ihnen. Eine Weile überlegte er noch, wofür MPR stehen könnte – Mexican Public Radio?

Der Highway wurde kurvenreicher, und die Granitfelsen, die in der Wüste aufragten, sahen aus wie bloß gelegte Knochen. James schaute sich jeden Schatten genauer an, suchte die weite Fläche nach Anzeichen für einen herumirrenden Menschen ab, nur für alle Fälle. Er war kein Rettungssanitäter – nicht mal ansatzweise –, aber er wusste genug, um in einem Notfall nützlich zu sein. Tatsächlich war er bloß Vertreter.

Elle stieß hörbar die Luft aus. »Wie gut, dass du fährst wie ein Roomba.«

Er nickte. Ja genau, Roomba. So heißen diese Saugroboter.

Unangenehmes Schweigen brach aus, als die Eintönigkeit der Fahrt erneut Besitz von ihnen ergriff. In wenigen Minuten würden sie sich wieder in das unglückliche Paar verwandeln, das sie vor dem kleinen Zwischenfall gewesen waren. Würden in dieser eisigen Atmosphäre nebeneinandersitzen, während die Reifen über den Asphalt surrten. Der kleine Adrenalinstoß war ganz angenehm gewesen, dachte er. Sie könnten mehr davon gebrauchen, um das, was zwischen ihnen stand, zu überdecken.

»Möchtest du darüber sprechen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Gut. Er wollte nämlich auch nicht darüber sprechen.

* * *

Bis Tulsa war es noch weit. Sie hatten nicht mal die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Sechs Meilen später hielten James und Elle Eversman vor dem Mojave Fuel-N-Food an, um zu tanken – eine verschlafene Raststätte mit Zapfsäulen aus den Siebzigern und einem ebenso antiken Hotdog-Grill. Über zwei Picknicktischen aus Beton und einem geparkten Jeep stand ein verblichenes weißes Schild, das die Stadtgrenze von Mosby markierte (Einwohner: 88). Darunter stand in dicken Blockbuchstaben geschrieben: ALIENSSTÜRZTENBEIMVERSUCH, MOSBYZUFINDEN, INROSWELLAB!!!!!

Fünf Ausrufezeichen, dachte James. Vier haben wohl nicht genügt.

Er war viel zu locker drauf, um wirklich als Grammatik-Nazi durchzugehen, aber so was fiel ihm ständig ins Auge. Zu Hause in Kalifornien hatte er in der Abteilung für Werbekundenakquise bei einem lokalen Radiosender gearbeitet, auch wenn seine zarten Hände ihm dabei manchmal peinlich waren. Niemand vertraute jemandem, der nicht mit den Händen arbeitete. Er hatte oft darüber nachgedacht, seine Handflächen mit Stahlwolle zu präparieren.

»Glaubst du, er beobachtet uns?«, fragte Elle verstohlen, während James ausstieg und in den Schatten der Tankspurüberdachung trat. Die Hitze war hier halbwegs erträglich, aber die Luft war trotzdem dick wie Gelatine.

»Wer denn?«

»Der Typ im Jeep.« Sie machte eine Kopfbewegung. »In dem schwarzen Jeep da drüben.«

James spähte über das Dach des Toyota. Der Jeep war höher gelegt, mit Staub bedeckt und parkte parallel zur Raststätte, ohne Rücksicht auf die weiße Parkplatzkennzeichnung. Die Sonne schien durch die getönten Scheiben und hob die Umrisse von zwei Kopfstützen und einem asymmetrisch geformten Gesicht hervor, das sie unverhohlen anstarrte. Der Kopf war so grotesk missgebildet (und würde wahrscheinlich unter keinen Hut passen), dass man zweimal hinschauen musste, um in ihm etwas Menschliches zu erkennen. Er war absolut bewegungslos.

James lief ein Schauer über den Rücken.

»Ich kann seine Blicke in meinem Nacken spüren.« Sie verriegelte ihre Tür und legte den Ellbogen vors Gesicht. »Sie kriechen hoch und runter. Ich hasse es, wenn man mich so anstarrt.«

»Noch zwei Minuten, dann sind wir weg.«

»Kein Wunder, dass hier Atombomben getestet wurden. Dieser Staat ist echt die Pest.«

Er nickte. »Man fragt sich wirklich, wieso die Mexikaner ihn zurückhaben wollten.« Er bezahlte das Benzin mit der Kreditkarte. Der altmodische Zapfhahn war verkantet und klemmte. Als er ihn endlich herausgezogen hatte, bemerkte er eine leichte Unruhe am Rand seines Sehfelds. Der Mann im schwarzen Jeep bewegte sich hinter der getönten Scheibe. Der merkwürdig asymmetrische Teil der Silhouette entpuppte sich als Walkie-Talkie, das er sich mit seinen breiten Händen ans Ohr hielt. Dann legte er das Funkgerät beiseite und schob die Tür auf, die ein metallisches Quietschen von sich gab.

Elle versank tiefer in ihrem Sitz.

James zapfte Benzin und bemühte sich, lässig zu erscheinen, was ihm nicht gelang.

Ein Mann von der Statur eines Bären stieg aus dem Jeep. Er trug einen langen Mantel aus Öltuch, der bei jedem Schritt ein schleifendes Geräusch machte. Wirkte ein bisschen wie der Marlboro-Mann, aber irgendwas an ihm war eigenartig. Er sah aus wie die Art Arschloch, die James Bond auf dem Weg in die geheime sowjetische Militärbasis aus dem Weg räumen muss. Sein schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sein langer Bart war grau meliert. Er schob die Tür mit dem Fuß wieder zu und lief eilig auf das Fuel-N-Food zu, in der Hand ein silberner Thermobecher mit einem bunten Sticker, den James auf die Entfernung nicht genau erkennen konnte.

»Hello Kitty«, flüsterte Elle.

»Was?«

»Das ist ein Hello-Kitty-Aufkleber. Auf seinem Becher.«

»Oh.« James’ Magen rebellierte. »Oh, gut.«

Der Sowjet-Cowboy ging an der Flügeltür der Raststätte vorbei, setzte sich an einen der Betontische unter dem Mosby-Schild und sah nun genau in ihre Richtung. Er war kaum zehn Meter von ihnen entfernt. Hinter ihm erstreckte sich die unwirtliche Landschaft. Er nippte schweigend an seinem Thermobecher und starrte Elle an.

Sie schaute durch die Windschutzscheibe zu ihm hin und seufzte.

Die Tankuhr tickte gleichmäßig wie ein Metronom. Irgendwas in der Säule klapperte laut, also schaute James auf die Anzeige. Er hatte gerade mal vier Liter getankt. Er rüttelte am Zapfhahn und wartete darauf, dass Elle etwas sagte, zum Beispiel: Stell ihn nicht zur Rede, James. Lass es auf sich beruhen. Spiel nicht den Helden. Das macht alles nur noch schlimmer. Er wartete ein paar Sekunden lang, die Hand auf dem Zapfhahn, aber sie sagte nichts dergleichen. Sie wusste, dass er Pazifist war. Er konnte nicht mal von einer Kellnerin verlangen, ein verbranntes Steak wieder in die Küche zurückzubringen, ohne rot zu werden. Er hoffte trotzdem, dass sie es sagen würde, einfach aus Nettigkeit, wie sie es manchmal tat.

»Ich habe mich entschieden«, sagte sie.

Er schaute sie begriffsstutzig an. Sie saß auf dem Beifahrersitz, die Hände unter den Oberschenkeln, die Augen gesenkt, die Lippen geschürzt. Da wurde ihm klar, dass sie jetzt wieder bei diesem Thema angekommen waren. Und diesmal gab es keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. »Wozu hast du dich entschieden?«, fragte er und behielt dabei den Sowjet-Cowboy im Auge.

»Ich möchte nicht noch einmal schwanger werden.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

James spürte, wie die Wunde an seiner Lippe wieder aufsprang. Sie hatte kaum noch geblutet, aber jetzt brach sie auf, und es fühlte sich an wie bei diesen Fruchtgummis, deren weiche Füllung austritt, wenn man draufbeißt. Der metallische Geschmack setzte seinem Magen zu, aber er war froh über die Ablenkung, denn alles war besser als eine Unterhaltung über dieses Thema ausgerechnet in einer solchen Situation. Er würde glatt dem Sowjet-Cowboy da drüben eins in die Fresse geben, wenn er sich damit ein paar Minuten ohne dieses Thema erkaufen könnte.

»Tut mir leid, James.« Ihre Lippen bebten. »Ich kann das nicht mehr.«

Er spuckte in den Staub. Knallrot.

Der Sowjet-Cowboy nahm einen Schluck aus seinem Hello-Kitty-Thermosbecher, schlug den Mantel auseinander und warf ein Stück vergilbtes Papier auf den Tisch. Dann zog er drei kurze Stifte hervor, wischte kurz mit der Hand über jeden einzelnen davon und suchte sich dann den mittleren aus.

»Was macht er da?«, fragte Elle.

»Spielt keine Rolle.« James legte die Hände auf das heiße Wagendach und beugte sich zu ihr hinunter. »Wir fahren gleich weiter.«

Ein schabendes Geräusch war zu hören. Als würden Schlangen sich durch trockenes Gebüsch bewegen. Kohle auf Papier, ein Morsecode von kurzen und langen Strichen. Der Sowjet-Cowboy machte eine Skizze, so konzentriert, dass ihm die Zunge aus dem Mund hing. Er zeichnet ein Bild von uns, begriff James. Vielleicht auch nur von Elle.

»Die Hoffnung würde mich fertigmachen, glaube ich«, sagte sie.

»Wieso?«

Sie seufzte.

»Wieso, Elle?«

»Ich habe Angst vor einem positiven Testergebnis. Ich verabscheue diese beiden rosa Markierungen. Weil man erst glücklich sein muss, um richtig enttäuscht zu werden, und alles, was ich da sehe, ist eine weitere Fehlgeburt in drei Monaten. Und im Gegensatz zu dir, James, setzt es mir schwer zu, jedes Einzelne von ihnen als eine menschliche Seele zu betrachten.«

Er fuhr sich mit der Hand durch die sandigen Haare, die schon langsam grau wurden, denn er näherte sich seinem dreißigsten Geburtstag. Er hatte Wert darauf gelegt, jedem ihrer ungeborenen Kinder einen Namen zu geben, und er konnte sie der Reihe nach aufsagen. Es hatte im Januar vor drei Jahren angefangen, nachdem sie geheiratet hatten – zuerst kam Darby, dann Jason, dann Adelaide (die beinahe das zweite Trimester geschafft hätte und Elle mit Hoffnung vergiftete), dann Ross … Mit dem letzten waren sie vor sechs Wochen gescheitert, und das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Da hatte die erschöpfte Elle entschieden, die alten Namen erneut zu benutzen, was James sehr verärgert hatte. Es war ihm unglaublich gefühlskalt erschienen. Selbst wenn es auch nur eine minimale Chance gab, dass ein menschliches Leben existierte, musste man ihm doch einen Namen geben. Und nicht einen gebrauchten noch mal benutzen.

»Wir schaffen das schon«, sagte er.

»Das weißt du doch gar nicht.«

Er imitierte den Suaheli-Akzent ihrer Ärztin: »Iiist nicht unmöglich. Iiist nur unwahrscheinlich.«

»Ja, genau. Ein Kind kriegen ist etwas Unwahrscheinliches.« Sie rollte demonstrativ mit den Augen, lächelte aber dabei. »Unwahrscheinlich ist es, dass sich unser Auto in einen sprechenden Roboter verwandelt. Obwohl es sich um ein japanisches Auto handelt, würde ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen.«

»Nein, das ist unmöglich«, sagte James. »Ein Lotteriegewinn, das ist unwahrscheinlich.«

»Dafür würde ich meine Hand auch nicht ins Feuer legen.«

»Es gibt aber immer wieder Gewinner.«

»Dann beweise es doch. Kauf dir eine Million Lose.«

»Klar.« James hielt kurz inne. »Sprechen wir jetzt von einer Lotterie oder von Sex?«

Sie lachte nicht. Der Witz blieb in der Luft hängen. Sie schaute nach unten, also gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und roch das billige Apfelshampoo, das sie im Motel in Fairview benutzt hatte. Er sah die Sommersprossen um ihre Augen und die Tränen, die an den Wimpern hingen wie kleine Tautropfen.

Die Tankanzeige tickte – vierzig Liter.

Der Sowjet-Cowboy wechselte den Stift und machte jetzt kürzere Striche. Offenbar war er bei den letzten Feinheiten angelangt. Ab und zu legte er eine Pause ein und wischte mit dem Daumen über das Papier. Dann schaute er auf und starrte James finster an, als wolle er sagen: Geh aus dem Weg.

James stellte sich breitbeinig hin und spuckte blutigen Rotz aus. Er hätte sich nur zu gern mit diesem Kerl angelegt, auch wenn das eine völlig blöde Idee war. Aber es wäre zumindest etwas. Vielleicht würde sein großes Problem zusammenschrumpfen, wenn er dieses kleine Problem hier an der Tankstelle ordentlich aufbauschte. Er hatte mal gehört, die Krise des modernen Mannes hinge damit zusammen, dass in unserer Welt zu viele Probleme existierten, die sich nicht ganz einfach mit einem Faustschlag ins Gesicht lösen ließen. Da Faustschläge ins Gesicht nicht gerade zu seinen Stärken zählten, hatte James sich ausgerechnet, dass er wahrscheinlich ganz gut an die Erfordernisse der modernen Welt angepasst war. Er war einfühlsam, intelligent und konnte gut zuhören – aber nichts davon nützte etwas, wenn das Thema auf Elles Fehlgeburten kam. Jetzt, in diesem Moment, hätte er liebend gern jemandem einen Schlag ins Gesicht verpasst. In seinem Kopf hörte er die düstere und befremdlich klingende Stimme seines Vaters: Sei immer höflich und zuvorkommend, aber sei auch immer bereit, alle zu töten, die dir in die Quere kommen.

Der Zapfhahn klickte. Das war’s.

Elles Lächeln verschwand. »Glaubst du wirklich an diesen ganzen optimistischen Blödsinn, denn du da redest?«

»Ja, tu ich«, log er.

Er zerknüllte die Quittung und schlug die Tür so fest zu, dass die Scheiben klirrten. Sie rieb sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Er drückte das Gaspedal seines Toyota durch und fuhr mit Vollgas zurück auf den Highway. Dann ließ er das Fenster herunter (»James, was machst du denn da?«), betätigte die Hupe und verabschiedete sich von dem Sowjet-Cowboy mit einem keck erhobenen Mittelfinger.

»Jawoll«, stieß er heiser hervor. »Das musste einfach sein.«

Sie schnappte nach Luft. »Bitte, fahr ganz schnell weiter.«

Das heruntergeschluckte Blut rumorte in seinem Magen, während er zusah, wie der Mann im Rückspiegel immer kleiner wurde. Der Kerl hatte sich extra umgedreht, um ihnen nachzuschauen, und hielt jetzt wieder dieses mysteriöse Funkgerät in der Hand (Mist, dachte James, das hatte ich ganz vergessen). Sie waren schon zu weit entfernt, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber James stellte sich vor, wie der Bursche selbstgefällig vor sich hin grinste. Er hoffte nur, dass er eben nicht den größten Fehler seines Lebens begangen hatte, hier in dieser abgelegenen Gegend, in der es gerade mal zwei Polizisten gab.

Warum habe ich das getan?

»Liebling …«

Der Tacho zeigte bereits über hundert Meilen pro Stunde an. James nahm den Fuß vom Gas und bremste ab. »Und so … beginnt die Geschichte von unserer Ermordung.«

»Wenn er uns folgt, schlage ich dich«, sagte sie.

Der Sowjet-Cowboy folgte ihnen nicht, was sich sogar als noch schlechter erweisen sollte. Sie waren bereits zwei Meilen durch unwirtliches Gelände gefahren, als das Radio des Toyota sich zurückmeldete. Die letzten vierzig Meilen hatte es nur statisches Rauschen von sich gegeben, aber jetzt war dahinter eine menschliche Stimme zu hören.

2

William Tapps Funkgerät zischelte, als es eine Verbindung herstellte.

Er trug das Headset und aß die Cheetos mithilfe einer medizinischen Pinzette, um zu vermeiden, dass seine Finger sich orange verfärbten. Gerade war er bei Nummer achtzehn angelangt (er hatte die Angewohnheit, immer alles zu zählen). Früher hatten sich in einer Tüte rund hundertdreißig Cheetos befunden, aber in der letzten Zeit waren es durchschnittlich nur noch hundertfünfzehn, und im letzten Jahr hatte er sogar mal eine mit nur hundertvier Exemplaren gehabt. Wahrscheinlich hing das mit der Wirtschaftskrise zusammen.

Ein Urteil über das Ehepaar aus Kalifornien in dem gelben Toyota?

Hatte er sich noch nicht abschließend gebildet.

Bevor er antwortete, balancierte er den neunzehnten Cheeto auf seiner Zunge, damit er sich langsam mit Feuchtigkeit vollsaugte, um dann als weiches Ganzes geschluckt zu werden.

* * *

James und Elle hörten nur zwei Bruchstücke einer Unterhaltung, abgehackt und verrauscht wie bei der Kanalsuche eines analogen Fernsehers. Das erste klang wie »nur noch vier Stunden«. Das zweite wie »Blackeye«. Dann wurde das Rauschen lauter, bis es auf seinem Höhepunkt abbrach und anschließend völlige Stille herrschte.

Elle drehte am Lautstärkeregler. »War das …?«

»Nein.« James war sicher, dass es nicht die Stimme des Sowjet-Cowboys gewesen war. Sie passte einfach nicht. Zu dünn und kratzig, das Produkt angegriffener Stimmbänder und eines kleinen Brustkorbs. Sie klang, als hätte der Sprecher etwas im Mund gehabt, weshalb er die Zunge nicht richtig bewegen konnte, ein Bonbon zum Beispiel. Er musste daran denken, dass Abraham Lincoln eine dünne kratzige Stimme gehabt hatte, die in seltsamem Missverhältnis zu seiner imposanten Erscheinung stand. Und genau so hatte die Stimme im Radio geklungen. Wie Abraham Lincoln. Auf der Radiofrequenz FM 92,7 hatte sich gerade der Geist des berühmtesten amerikanischen Republikaners manifestiert und ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt.

»Vielleicht eine Radio-Talkshow«, sagte James wenig überzeugt.

»Nur noch vier Stunden bis …«, sagte Elle. »Bis was denn?«

»Keine Ahnung.«

»Wo werden wir in vier Stunden sein?«

»In Arizona.« Er schaute auf das GPS-Gerät, das am Armaturenbrett klemmte. »Dann wird es schon dunkel sein. Wir sind eine halbe Stunde von der Interstate entfernt, und von dort aus geht es in gerader Linie über die Rockies. Dann haben wir diese Albtraumlandschaft endlich hinter uns. Zufrieden?«

Sie nickte. Ihre Wangen waren blass.

Er gab Gas. »Alles in Ordnung?«

»Wer … wer lässt denn ein funktionstüchtiges Fahrzeug in dieser Gegend einfach am Straßenrand stehen?« Sie sprach mit dumpfer Stimme, wie ein Zombie. »Mit vierzig Dollar in der Geldscheinklammer, zehn Meilen von der nächsten Stadt entfernt und bei sechsunddreißig Grad im Schatten?«

James hatte diesen kleinen Zwischenfall schon vergessen. Es gab eine Menge möglicher Erklärungen, aber alle klangen nicht wirklich überzeugend. Anstatt darüber nachzudenken, konzentrierte er sich lieber auf die Straße, die sich jetzt abwechselnd hob und senkte. Die Landschaft wurde rauer, sah aus wie zerknülltes Papier. Sie erreichten eine Hügelkette, die sich in treppenartigen Plateaus schichtweise auftürmte. Das einzige Anzeichen dafür, dass sie sich nicht auf dem Mars befanden, waren die Yuccapalmen, die hier und da aufragten wie Vogelscheuchen. Wenn man lange genug hinsah, wirkte es, als würden einige von ihnen herumlaufen.

Elle schaute nach draußen. Sie war wieder in Trance verfallen und starrte vor sich hin, mit diesem Blick, den er ihren Weitwinkel-Fotografenblick nannte. Das Sacramento Journal hatte sie mal in einer Liste der zwanzig wichtigsten neuen Künstler aus ihrer Gegend auf Platz zwei gesetzt. James hatte den Artikel ausgeschnitten, eingerahmt und im Esszimmer ihres Hauses in Kalifornien an die Wand gehängt. Jetzt lag das Ding in einer der Umzugskisten, die im Heck des Wagens standen und leise vor sich hin klapperten. Der Artikel war vor vier Jahren erschienen. Inzwischen hatte sie ihre Kameras auf eBay versteigert.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte James. »Ich hab eine Menge Horrorfilme gesehen. In so einer Wüste passiert nie etwas Schlimmes.«

Sie lachte leise.

Er drückte auf den Knopf des Radios, um sich zu versichern, dass es wirklich ausgeschaltet war. Solche Störsignale kamen üblicherweise von lokalen Fernsehsendern. Vielleicht war das ja schon die ganze Lösung. Eigentlich hätte er gern noch ein bisschen weitergesucht, nach mehr spannenden Hinweisen auf den Ursprung der seltsamen Worte. Aber diese Ablenkung gönnte er sich nicht. Es ging jetzt einzig und allein darum, weiterzufahren und nicht anzuhalten, bis sie in Flagstaff, Arizona angekommen waren. Sie hätten längst dort sein können, dachte er grimmig, wenn sie nicht einen Umweg von hundert Meilen durch diese nukleare Wüste gemacht hätten, weil Elle unbedingt eine Touristenfalle namens Gore Museum besichtigen wollte.

»O verdammt«, sagte sie.

Er sah es auch. Eine halbe Meile vor ihnen, hinter einem Vorhang aus flirrender heißer Luft, tauchte eine rote Straßensperre auf wie eine Fata Morgana. Das unscharfe Trugbild wurde deutlicher, und sie konnten die Aufschrift auf dem großen Schild neben der Barriere erkennen: UMLEITUNGERDRUTSCH. Er hätte beinahe auf das Lenkrad eingeprügelt, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Er musste ruhig bleiben, damit Elle nicht noch mehr durchdrehte. Sie hatte sich heute schon genug aufgeregt.

»Damit ist die Sache offiziell«, stellte sie fest und verschränkte die Arme. »Ich hasse diese Gegend.«

»Immerhin ist eine Umleitungsstrecke ausgeschildert«, sagte er. »Sonst müssten wir umkehren und uns mit diesem Kerl auseinandersetzen, dem ich den Finger gezeigt habe.«

»Bloß das nicht.«

»Ich weiß sogar noch was Besseres.« Er bremste ab, als sie sich der Straßensperre näherten. »Ich werde mir in jeder Stadt, durch die wir kommen, den finstersten Kerl aussuchen und mich mit ihm anlegen. Wenn wir dann in unserem neuen Zuhause ankommen, haben wir jede Menge mordgieriger Gesellen im Schlepptau.«

»Unser neues Zuhause«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. »Ehrlich, das klingt wirklich schön.«

Er streichelte ihre Hand.

Das neue Zuhause gehörte ihnen noch gar nicht. Und neue Jobs hatten sie ebenso wenig.

Er drehte am Lenkrad und folgte der angegebenen Umleitung. Nach stundenlangem Fahren auf aalglattem Asphalt war diese Schotterpiste ein echter Schock. Die Straße war an sich nicht schlecht – eine gewundene Landstraße, flankiert von Sandsteinerhebungen und Geröllhalden –, aber die Vorstellung, dass der Toyota ausgerechnet hier seinen Geist aufgeben könnte, gefiel ihm gar nicht. Doch sie hatten keine andere Wahl, denn die Hauptstrecke war durch einen Erdrutsch blockiert. Trotzdem hatte er das Gefühl, der Protagonist eines Horrorfilms zu sein. Dies hier wäre dann der Moment, wo das Publikum zwischen zwei Händen voll Popcorn laut stöhnt: »Nein, geht da nicht rein, ihr Dummköpfe!«

Er trat entschlossen aufs Gaspedal.

Elle reckte sich, um in den Rückspiegel zu schauen, als befürchtete sie, der schwarze Jeep könnte hinter ihnen auftauchen. »Noch vier Stunden bis …«, flüsterte sie geheimnisvoll wie eine Wahrsagerin. »Blackeye.«

Er gab noch mehr Gas.

* * *

Nach zehn Minuten auf kurvenreicher Strecke erreichten sie eine Ebene, die sich endlos in alle Richtungen ausdehnte. Sie befanden sich am Rand einer Senke, die in weiter Ferne entweder von erodierenden Berghängen oder dem Horizont begrenzt wurde, wie auf einem Präsentierteller. Es sah aus wie das Kulissengemälde einer urzeitlichen Landschaft. Die Umleitungsstrecke führte direkt in diese Szenerie hinein wie ein dünner Haarriss, der das Tal zerteilte und über ein dunkles Flussbett führte, um am gegenüberliegenden Rand nach oben zu verlaufen. Tolle Umleitung, dachte er. Bis die wieder in die richtige Richtung führt, sind wir in Mexiko.

Elle schnellte nach vorn, als hätte sie einen Stromschlag bekommen, und zeigte immer wieder aufgeregt mit ihrem Finger in die Fahrtrichtung. James bremste scharf ab. »Was ist denn?«

»Siehst du ihn?«

»Wen denn?«

»Sag mir, dass ich nicht verrückt geworden bin. Kannst du ihn wirklich nicht sehen?« Ihre Stimme überschlug sich.

Er kniff die Augen zusammen und spähte durch das gleißende Sonnenlicht. Der Toyota stand jetzt still, was ihn beunruhigte – vielleicht war ihnen der Sowjet-Cowboy in seinem hässlichen schwarzen Jeep ja dicht auf den Fersen. Jeden Augenblick konnte dieser Finsterling hinter ihnen auftauchen und den Motor seines Monstertrucks aufheulen lassen, hier draußen im Niemandsland, wo es weit und breit keine Zeugen gab.

Er seufzte. »Ich sehe nur Wüste, Liebling.«

»Schau genau hin. Dann siehst du ihn.« Ihr Flüstern wurde von dem Geräusch des Motors im Leerlauf beinahe übertönt. Er sah, dass ihr Finger zitterte. Und der Tonfall ihrer Stimme beunruhigte ihn ebenfalls. Sie klang, als würde sie vom Teufel höchstpersönlich sprechen. Die Fenster des Toyota knackten, als ob draußen der Luftdruck sank. Und jetzt war auch dieser Geruch wieder da. Während der letzten hundert Meilen war ihm aufgefallen, dass dieses Ödland sein eigenes Aroma hatte – trockenes, mineralisches Schießpulver vermischt mit dem fauligen Dunst des Meeresufers bei Ebbe. Ein Hauch davon wehte durch die Klimaanlage herein, sodass ihm übel wurde.

»Du brauchst eine Brille«, sagte sie, womit sie nicht ganz unrecht hatte.

Er oder sie (oder es) war eine menschenähnliche Gestalt ein paar Hundert Meter vor ihnen, weiter unten in der Senke. Die Gestalt ging langsam die Straße hinab, wandte ihnen den Rücken zu, hielt den Kopf gesenkt und die Arme nach vorn gestreckt. In dieser endlosen Weite sah sie aus wie ein Zwerg. Vielleicht ein Tramper, obwohl James sich nicht vorstellen konnte, dass jemand so dämlich war, hier auf gut Glück den Daumen rauszuhalten. Innerhalb einer Stunde wäre jede Feuchtigkeit aus seinem Mund verpufft, nach zwei Stunden würden sich seine Augenlider wie Sandpapier anfühlen, und nach drei Stunden wäre er dann dement und kurz vor dem Abkratzen. James leckte sich über die aufgesprungene Lippe. Könnte das vielleicht der vermisste Fahrer des Pick-ups sein?

»Shady Slope Road«, sagte Elle.

»Was?«

Sie deutete auf ein Stück ausgebleichtes Holz am Straßenrand. Die Buchstaben darauf waren mit einem heißen Eisen oder einem Schürhaken eingebrannt worden. Die Schrift wirkte seltsam kindisch, mit eigenartigen Schnörkeln und schmalen Buchstaben auf der Seite, wo das Holzstück sich verjüngte.

Sie schnaubte abfällig. »Das wirkt überhaupt nicht bedrohlich.«

»Auf keinen Fall.«

Tja, dachte er. Eins ist klar: Wir können auf keinen Fall umkehren.

Also trat er aufs Gaspedal und fuhr weiter über die Schotterpiste, die irgendjemand Shady Slope Road getauft hatte. Dabei war sie alles andere als schattig, und als Straße konnte man diesen Feldweg auch nicht bezeichnen. Der Mann vor ihnen wurde allmählich größer, je weiter sie über den Rand des Kraters nach unten in den Talkessel rollten. James musste an eine Achterbahn denken, an diesen Moment der Ruhe, wenn man die erste Steigung geschafft hat, kurz bevor man nach unten kippt und es kein Zurück mehr gibt. Der Wagen neigte sich nach vorn, und die Schotterpiste wurde noch steiniger. Lose Erdbrocken flogen hoch, die Radaufhängung ächzte, das Pedal unter seinem Fuß vibrierte. Steine prasselten gegen das Chassis. Das Bücherregal auf dem Rücksitz rappelte.

James merkte, dass er den Mann in der Ferne anstarrte, anstatt auf die Straße zu achten. Er spürte, wie sein Herz heftig pochte. Was, wenn der Mann da vorne Hilfe brauchte? Vielleicht hatte er sich verlaufen? Es wäre moralisch nicht zu rechtfertigen, einfach an ihm vorbeizufahren, ohne Hilfe anzubieten, oder? Er erinnerte sich an die Worte des Deputy Sheriffs und musste ein nervöses Lachen unterdrücken. Ganz schön weiter Weg, um zu pinkeln, Kumpel.

»Mount-St.-Helens-mäßig«, sagte Elle.

Er reagierte nicht.

»Du lachst ja gar nicht«, sagte sie. »Sonst lachst du immer.« Zu Hause in Sacramento hatten sie keine Ahnung gehabt, dass ihr Nachbar eine Crystal-Meth-Küche betrieb (ein Chef du cristal sozusagen), bis sie eines Tages aufwachten, weil Rauch unter ihrer Schlafzimmertür hervorquoll. Das Labor war explodiert und hatte eine Stichflamme direkt in ihr Wohnzimmer geschickt, die der Einsatzleiter der Feuerwehr später mit dem berühmten Vulkanausbruch von 1980 im Staat Washington verglich. Eigentlich war daran nichts Lustiges. Der alte Mann mit dem Schnurrbart hatte nach seiner Untersuchung des Geschehens lediglich erklärt, die Explosion sei »Mount-St.-Helens-mäßig« gewesen – und James hatte lachen müssen, bis ihm die Tränen kamen. Ihr war es genauso gegangen. Sie hatten sich die Bäuche gehalten vor Lachen. Das hatte wahrscheinlich sehr merkwürdig ausgesehen: Zwei Mittzwanziger lachten sich kaputt über die Tatsache, dass eine Explosion ihre Wohnung zerstört und ihren Nachbarn getötet hatte. Manchmal ist das Leben einfach grausam und wahnsinnig komisch zugleich. Er grinste und ging schließlich doch noch darauf ein: »Die Explosion scheint mir … geradezu Mount-St.-Helens-mäßig gewesen zu sein.«

Sie prustete.

Der Wagen rumpelte durch ein weiteres Schlagloch. Der Motor knackte laut, und es klang, als würde ein Kabel zerreißen. Die Kisten und Möbelstücke auf den Rücksitzen stießen krachend gegeneinander. Er bremste ab und hoffte, dass die Reifen das aushielten. Bloß keine Panne, nicht hier und nicht jetzt.

Sie fuhren im Abstand von fünfzig Metern hinter dem Kerl her, der ihnen immer noch den Rücken zukehrte. Er trug Jeans und eine blassgelbe Jacke. Dann bemerkte James die weißen Buchstaben auf seinem Rücken – und er schauderte.

»MPR«, sagte Elle. »Was soll das bedeuten?«

Sie hatte den Aufkleber auf der Stoßstange des Trucks neben dem Highway früher am Tag nicht bemerkt. Normalerweise verschwieg er ihr nichts, aber in diesem Moment brachte er es einfach nicht über die Lippen.

MPR.

Seltsam war auch, dass Deputy Doogie Howsers mysteriöser Mann sich nicht umdrehte, um nachzuschauen, was für ein Fahrzeug sich hinter ihm näherte. Er musste sie doch gehört haben. Er musste doch das Tuckern des Motors und das Rumpeln der Reifen bemerkt haben. Bei so vielen Schlaglöchern, so viel Schotter und Dreck verursachte man unweigerlich alle möglichen Geräusche. Aber der Kerl stapfte stur die Shady Slope Road entlang, in starrer Haltung mit gesenktem Kopf und verdecktem Gesicht. In der Hand, die leicht zitterte, hielt er einen kleinen Gegenstand. James konnte nicht erkennen, worum es sich handelte.

»Was hat er denn da?«

»Ein Handy.« Sie konnte ihn vom Beifahrersitz aus besser sehen. »Er scheint darauf zu warten, dass der Empfang besser wird.« Sie zog ihr eigenes Telefon aus der Handtasche, ein ramponiertes altes Samsung-Teil, und klappte es auf.

»Kein Empfang?«

Sie schüttelte den Kopf.

Also auch kein Notruf. Na großartig.

James wurde ungeduldig und hupte zweimal kurz und einmal lang. Als der Mann immer noch nicht reagierte, hob sich sein Magen auf diese typisch flattrige Art, wie es beim Start im Flugzeug der Fall ist.

Elle stellte erneut ihren Sinn für das Offensichtliche unter Beweis: »Irgendwas stimmt hier nicht.«

Er trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, biss die Zähne zusammen und atmete angestrengt aus. Dieser Typ versuchte also sein Handy in Gang zu bringen, aber er ignorierte, dass hinter ihm ein Auto hupte? Das ergab überhaupt keinen Sinn. Aber es ergab auch keinen Sinn, einen funktionstüchtigen Pick-up-Truck am Straßenrand stehen zu lassen, irgendwo in der Wildnis außerhalb von Mosby, Nevada. James war klar, dass er diesen Mann seinem sicheren Tod überließ, wenn er jetzt einfach um ihn herumfuhr und dann Gas gab, um das Weite zu suchen. Zu Hause in Sacramento hatte er mal davon gehört, dass alte Menschen auf ihren Sitzplätzen im Bus gestorben waren, ohne dass es jemand bemerkt hätte, während der Bus den ganzen Tag lang seine Strecke hin und her gefahren war. Er fragte sich, ob er mal neben einem von ihnen gesessen hatte.

Er hielt an und schob den Ganghebel in die Parkposition.

Elle schaute ihn alarmiert an. »James …«

»Ich muss wissen, ob mit ihm alles okay ist.«

»Ernsthaft?«

Er löste den Sicherheitsgurt. »Ernsthaft.«

»Ich bin wirklich froh, dass ich den letzten Menschenfreund auf diesem Planeten geheiratet habe«, murmelte sie.

»Es gab mal viel mehr Menschenfreunde auf diesem Planeten«, sagte er. »Sie sind leider alle gestorben, weil sie gestrandeten Autofahrern helfen wollten, die sich dann als Serienkiller entpuppten.«

»Bitte zeig ihm nicht den Stinkefinger, ja?«

»Hast du dein Pfefferspray zur Hand?«

Sie holte es aus der Handtasche – eine schmale schwarze Dose mit einem roten Knopf.

»Okay, Elle. Ich gehe jetzt hin und rede mit ihm, aber ich lasse den Motor laufen.« Er musterte den Mann durch die mit Fliegendreck übersäte Windschutzscheibe und entschied, dass es moralisch falsch wäre, ihn einfach links liegen zu lassen. In Wahrheit war ihm das Schicksal dieses Menschen ziemlich egal. Er war einfach nur neugierig, auf eine ganz egoistische Art. An diesem Tag waren schon einige merkwürdige Dinge geschehen, und er wollte wissen, was hier draußen vor sich ging.

Er schob die Tür auf. »Falls … falls mir irgendwas passiert, dann warte nicht auf mich. Fahr einfach los.«

»Warte«, sagte sie.

Er stand jetzt halb drinnen, halb draußen. »Ja?«

»Ich muss das einfach loswerden, für den Fall, dass du gleich stirbst.«

»Was denn?«

»James, ich bin … dir sehr oft untreu gewesen …«

Er schlug die Tür zu.

Das kannte er schon. Es war ein deutlicher Hinweis darauf, dass Elle ängstlich wurde – wenn sie ihre alten Witze aufwärmte.

Er ging los. Seine Schritte auf dem Schotterweg klangen, als würde er Eierschalen zermalmen. In der heißen Luft fiel ihm das Atmen schwer. Sie fühlte sich seltsam verdichtet an, als wäre der Druck ungewöhnlich hoch. Dabei konnte sich dieses Tal hier nicht sehr weit unter dem Meeresspiegel befinden, wenn überhaupt. Sein rechtes Trommelfell knackte schmatzend, und er spürte die Blicke seiner Frau im Rücken. Ein paar Schritte vor ihm bemerkte der Mann offenbar seine Anwesenheit, hielt an und blieb auf krummen Beinen stehen.

Schweigen.

James fand es merkwürdig spannend, dass sie jetzt beide von der Anwesenheit des jeweils anderen wussten. Das war ein echter Durchbruch. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Mann senkte den Kopf. Auf seinem Schädel war eine kahle Stelle von der Größe eines Pokerchips zu sehen, umgeben von borstigen grauen Haaren. Die Haut dort war knallrot vom Sonnenbrand. Er schwankte, als wollte er sich umdrehen, tat es dann aber nicht.

Stand einfach da wie eine Schaufensterpuppe und starrte sinnlos vor sich hin.

Großartige Idee, James.

Er bemerkte eine kleine Ausbuchtung an der rechten Hüfte des Mannes und fragte sich, ob er dort eine Waffe trug. Bei seinem Glück war das wirklich der Fall. James hasste Waffen. Er hasste alles, was damit zu tun hatte. Die mechanische Effizienz, die sich im Design widerspiegelte, Abzug, Hahn, Schaft, Kolben, das Klicken, Schnappen und Einrasten, sogar die eleganten Porsche-Linien – das alles hasste er, weil diese Waffen überdeutlich bewiesen, mit welcher kurzsichtigen Genialität der Mensch den Tod in eine Ingenieurleistung verwandelt hatte. Seiner Ansicht nach war sein Vater von einer Schusswaffe getötet worden und von nichts anderem.

Er war jetzt eineinhalb Meter von dem Mann entfernt, der lautstark durch den Mund atmete.

James hatte jeden inneren Antrieb verloren. Er wusste, er konnte immer noch umkehren, in seinen Wagen steigen und mit seiner geliebten Frau und seinen wenigen Habseligkeiten an diesem wandelnden Rätsel vorbeifahren, um in Tulsa ein neues Leben zu beginnen. Das alles hier wäre dann bloß eine Ablenkung auf ihrem Weg, ein paar vergeudete Minuten, sonst nichts. Genauso nutzlos wie der Besuch in diesem dämlichen Gore Museum, für das sie heute Vormittag von der Interstate abgefahren waren, weil Elle ihn mit großen Augen angebettelt hatte. Es war … na ja … genau das gewesen, was die Broschüre versprochen hatte. Starre Wachsfiguren in altertümlichen Schaukästen, arrangiert in einem mittelalterlichen Todesreigen – Schlachtszenen mit blitzenden Klingen, Folterbänke. Elle war begeistert von einer blutrünstigen Szene zur nächsten geschlendert. James hatte die meiste Zeit im Eingangsbereich verbracht, in einer alten Ausgabe von People geblättert und an einer Cola light für vier Dollar genippt.

Jetzt wünschte er sich, selbst ein schlechter Mensch zu sein. Dann könnte er einfach weggehen und diesen MPR-Mann sich selbst überlassen. Oder ein weniger neugieriger Mensch. Aber so oder so, es ging nicht.

Er machte einen weiteren Schritt nach vorn. Wieder knirschte es unter seinen Sohlen, so laut, als hätte jemand eine Tür zugeschlagen. Dann spürte er wieder die drückende Last der Umgebung – die heiße, flirrende Luft, das trockene Gras, den Sand und den Wind, der darüber strich. Er hörte das Zirpen von Grillen, und es klang, als würde ein Schwarm Fliegen sich über ein Stück verdorbenes Fleisch hermachen. Hinter ihm im Toyota sagte Elle etwas, aber das Glasfenster und die dicke Luft verhinderten, dass es bis zu ihm durchdrang.

Der Mann stand einfach nur da und wandte ihm den Rücken zu. James stellte schockiert fest, dass sein Nacken genauso rot leuchtete wie der kahle Fleck auf seinem Schädel. Das war ein sehr schlimmer Sonnenbrand, und bald schon würde sich die Haut in Fetzen ablösen. Der alte Mann war zweifellos schon eine ganze Weile in der Wüste unterwegs und überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen. Wieso hat er seinen Pick-up stehen gelassen?

James räusperte sich. Seine Kehle war rau wie Sandpapier. »Geht’s Ihnen gut?«

Keine Reaktion.

»Brauchen Sie Wasser?«

Nichts.

»Hallo?«

Wieder nichts.

James stieß einen lauten Pfiff aus. Vielleicht ist er taub.

Plötzlich setzte sich der Mann in Bewegung, wie eine Marionette an schlaffen Fäden. Sein Kopf neigte sich zur Seite, erst zur einen, dann zur anderen. Seine Gelenke knackten wie trockenes Holz. Er seufzte laut, und seine linke Hand fiel schlaff herunter. Ein rotes Smartphone sprang James ins Auge – das Gerät, das der Mann die ganze Zeit angestarrt hatte. Das Display war schwarz.

James spürte einen Windstoß, der erschreckend frisch war. Der Schweiß auf seiner Haut fühlte sich eiskalt an.

Der alte Mann sagte: »Ich hab’s verloren.«

»Was denn?«

»Ich hab’s verloren.«

James merkte, wie sein Trommelfell knackte. Es klang, als würde eine Weintraube zerdrückt.

Ich hab’s verloren?

»Beinahe … hätte ich es gehabt. Aber dann hab ich es verloren.« Der Mann betonte jede einzelne Silbe, als wollte er den Sinn der Worte ergründen, die aus seinem Mund kamen. Endlich drehte er sich um.

James sah sein Gesicht, und in seiner Kehle stieg etwas hoch, das nach rohen Austern schmeckte.

* * *

»James!«

Sie rief dreimal seinen Namen, während er zum Auto zurückkam. Aber ihr Mann sagte überhaupt nichts – seine Augen irrten ruhelos umher. Er biss die Zähne zusammen und war bleich geworden. Sie kannte diesen Ausdruck. Sie hatte ihn in den letzten neun Jahren nur ein- oder zweimal gesehen, aber sie erinnerte sich deutlich daran.

Er kam aus dem Tritt und stolperte.

»James, was hat er denn gesagt?« Sie schaute zu dem seltsamen Mann, der immer noch an der gleichen Stelle stand. Er starrte hinab auf sein Handy und schwankte leicht, wie eine Vogelscheuche, die an einem wackligen Pfosten hängt. Dann bemerkte ihr Fotografinnenblick etwas … etwas Dunkles, einen Schatten, der dort nicht sein durfte und sich irgendwie unnatürlich auf seinem Schädel abzeichnete.

Die Fahrertür ging quietschend auf. James beugte sich herein, mit Schweißperlen auf der Stirn. »Wir müssen ihn sofort in ein Krankenhaus bringen. Los, starte den Wagen.«

»Was ist denn passiert?«

»Mach den verdammten Motor an.«

War der Motor nicht eben gerade noch gelaufen?

Sie rutschte auf den Fahrersitz und griff nach dem klappernden Schlüsselbund, aber dann überkam sie eine morbide Neugier, und sie wagte einen weiteren Blick über das Armaturenbrett durch die mit toten Insekten übersäte Windschutzscheibe. Und genau in diesem Moment drehte der Mann sich noch weiter um und starrte sie an.

Zuerst war ihr gar nicht klar, was sie so sehr beunruhigte. Dann spürte sie, wie ihr Magen sich zusammenzog und ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Was sie da sah, war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Aber gleichzeitig konnte sie sich nicht erklären, warum es so falsch wirkte. Dann erkannte sie, worum es sich handelte. Mit der Kopfform des Mannes stimmte etwas nicht. Ein kleines V-förmiges Stück von seinem Schädel fehlte, war ihm an der Schläfe direkt über seinem rechten Ohr abhandengekommen. Es war erstaunlich wenig Blut zu sehen, nur ein dünnes Stück Haut hing herab wie ein Fetzen Tapete, der sich von der Wand gelöst hat. Und darunter fehlte etwas, tat sich eine Leere auf, ein schwarzer Schatten, der in dem grellen Sonnenlicht ganz besonders befremdlich wirkte.

Sie riss den Mund auf.

»Nicht schreien«, flüsterte James eindringlich.

Es kam nur ein ersticktes Quieken über ihre Lippen.

»Nicht hinstarren.«

Der Mann hatte ein großväterliches Gesicht, teigige Wangen wie J. Edgar Hoover und einen Flaum aus silbrigen Bartstoppeln. Er erinnerte sie an jemanden, den sie mal gekannt hatte, aber ihr fiel nicht ein, wer das gewesen war. Er bemerkte ihren erschrockenen Blick – Jetzt starrt er mir direkt ins Gesicht! – und kniff die Augen zusammen. Er schaute hinter sich, dann wieder zu ihr hin, und seine Lippen bewegten sich, als wollte er fragen: »Stimmt was nicht?«

O Gott.

Sie nickte freundlich und versuchte zu lächeln.

O Gott, er weiß nicht, dass er verletzt ist.

»Wir müssen verhindern, dass er sein Spiegelbild sieht. Wir müssen die Spiegel abdecken.« James ergriff ihre Hand und drückte sie. Dann drehte er den Zündschlüssel um. Der Toyota keuchte, etwas klapperte lose unter der Motorhaube. Es klang wie ein Rasentrimmer, der gegen einen Zaun stößt. Ihre Hand rutschte langsam aus seiner Umklammerung. Er versuchte es noch ein paarmal, aber der Motor gab keinen Ton mehr von sich, nur ein leises elektrisches Klicken.

»Elle«, sagte er ausdruckslos. »Ich glaube, wir haben ein Riesenproblem.«

3

James Eversman beherrschte manche Dinge ganz gut und einige sogar außergewöhnlich gut. Er konnte Texte querlesen und sich erstaunlich viel von ihrem Inhalt merken. Er konnte mit einem Segelbootruder umgehen. Er wusste, wie man Sushirollen herstellt, und hatte sich kurz als Barkeeper betätigt. Er sprach fließend Spanisch und konnte sogar ein bisschen Deutsch.

Nur mit Autos kannte er sich überhaupt nicht aus.

Allerdings lernte er ziemlich schnell, und darauf baute er jetzt. Er entriegelte die Motorhaube, hastete zur Vorderseite des Toyota und versuchte, das Pochen in seiner Halsschlagader zu ignorieren. Seine Beine fühlten sich taub an, seine Knie zitterten. Vor lauter Nervosität stolperte er über einen Stein und hoffte, dass Elle es nicht bemerkt hatte.

Sie hockte auf ihrem Sitz und hatte die Beine unters Knie gezogen. »Was ist denn mit ihm passiert?«

»Weiß ich nicht.«

»Und er hat keine Ahnung, was er …«

»Er weiß gar nicht, dass ihm was fehlt.« James zuckte wegen des unbeabsichtigten Wortspiels zusammen und hob die Motorhaube an. Er sah sofort, dass der Antriebsriemen des Ventilators zerrissen war und sich in Fetzen verknotet hatte. Es sah aus wie vertrocknete Schlangenhaut. Doch es kam noch schlimmer: Der gesamte Motor war vom Kühler bis zum Rand des Armaturenbretts total feucht. Feucht und dunkel und schmierig und überzogen mit einem Film aus sandigem Wüstenstaub, den die Räder aufgewirbelt hatten. Er fuhr mit dem Finger über die Oberfläche des Riemens. Es war Öl. »Du hast keinen Empfang«, sagte er mutlos. »Stimmt’s?«

Sie schaute noch mal auf ihr Handy. »Überhaupt nichts.«

Scheiße.

»Versuch trotzdem 911«, sagte er. »Vielleicht fängt eine Notrufsäule das Signal auf.« Er schnalzte mit den Fingern, um das daran klebende Öl gegen die Unterseite der Motorhaube zu schnippen, und sah, dass sie bereits mit Spritzern übersät war. Es sah aus wie ein Gemälde von Jackson Pollock zum Thema Insektengedärme. Gelb, orange, grün, schwarz, und alles mit diesem Staub verklebt. Sie hatten nicht bloß ein Leck. Das Wort »Leck« war in diesem Zusammenhang einfach zu niedlich.

»Das hier sieht aus, als wäre der Motor explodiert«, sagte er.

Sie warf die Fahrertür zu und trat neben ihn, das Telefon am Ohr. »Explodiert?«

»Explodiert.«

»Das ist doch unmöglich.« Sie nahm das Handy herunter. »Nichts zu machen.«

»Versuch mal eine SMS an die 911 zu schicken. Das braucht weniger Bandbreite.« Seine Stimme klang nicht besonders optimistisch. Er kniete sich neben den linken Vorderreifen und verzog das Gesicht, als eine Migräneattacke durch seinen Kopf zuckte. Unter dem Wagen war eine dunkle Pfütze zu sehen, die sich auf der rötlichen Erde weiter ausbreitete. Im Licht der Sonnenstrahlen sah er Regenbogenfarben aufschimmern. Sein Mut sank ins Bodenlose. »Benzin, Öl. Und das da ist die Kühlflüssigkeit.«

»Alles ausgelaufen?«

»Ja.«

»Jemand hat sich an unserem Wagen zu schaffen gemacht.« Sie rieb sich die Augen und fummelte nervös an ihrem Schlüsselbund herum. »Dieser Typ, der gezeichnet hat, der mit dem Hello-Kitty-Thermosbecher. Der hat das gemacht. Damit wir hier draußen liegen bleiben, ohne Hilfe und ohne Verbindung zur Außenwelt. Vielleicht … vielleicht haben wir etwas gesehen, das wir nicht sehen sollten, und …«

Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Wir haben das Auto doch keine Sekunde unbeaufsichtigt gelassen.«