No Exit - Taylor Adams - E-Book
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No Exit E-Book

Taylor Adams

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Beschreibung

In den Bergen von Colorado gerät die junge Darby Thorne in einen Schneesturm und sucht Zuflucht in einer Raststätte. Dort trifft sie auf eine Gruppe von Schutzsuchenden. Darby scheint in Sicherheit zu sein. Doch auf dem Parkplatz macht sie eine schreckliche Entdeckung: Im Fond eines Vans sieht sie ein gefesseltes Mädchen. Wie Eiswasser schießt die Erkenntnis durch Darby: Der brutale Täter muss unter den Anwesenden sein. Aber es gibt keine Verbindung nach außen, keine Fluchtmöglichkeit. Darby muss das Mädchen retten – und die Nacht überleben …

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TAYLOR ADAMS

NOEXIT

THRILLER

Aus dem Englischenvon Angelika Naujokat

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Das Buch

In den Bergen von Colorado gerät die junge Darby Thorne in einen Schneesturm und sucht Zuflucht in einem Motel. Dort trifft sie auf eine Gruppe von Schutzsuchenden. Darby scheint in Sicherheit zu sein. Doch auf dem Parkplatz macht sie eine schreckliche Entdeckung: Im Fond eines Vans sieht sie ein gefesseltes Mädchen. Wie Eiswasser schießt die Erkenntnis durch Darby: Der brutale Täter muss unter den Anwesenden sein. Aber es gibt keine Verbindung nach außen, keine Fluchtmöglichkeit. Darby muss das Mädchen retten – und die Nacht überleben …

Der Autor

Taylor Adams ist Filmregisseur und Autor. Nach seinem Abschluss an der Eastern Washington University sorgte Adams für erstes Aufsehen, als sein Debütfilm auf dem Seattle True Independent Film Festival gezeigt wurde. Neben seiner Tätigkeit im Film- und Fernsehbusiness arbeitet der Thrillerfan Adams an seiner Karriere als Autor. Mit »No Exit« gelang ihm sein erster internationaler Erfolg, die Verfilmung ist in Vorbereitung. Adams lebt im Bundesstaat Washington.

Die Originalausgabe NO EXIT erschien erstmals 2017 bei Joffe Books, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2019

Copyright © 2017 by Taylor Adams

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung der Motive von

Shutterstock.com (rustamxakim, Take Photo, Guas, John Arehart, Viatkins, Fiore, Dinga, piyaphong)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24206-0V001

www.heyne.de

Für Riley

Gesendet: 23.12.2017, 18:52 UhrAn: [email protected]: [email protected]

Ziehen die Sache heute Nacht durch. Tauchen dann ein paar Wochen unter. Muss aber absolut sicher sein, dass du Wort hältst. Also schick mir unsere Abmachung zur Bestätigung. Und lösch diese Mail. Ich lösche deine auch.

Hänge in Colorado fest. Raststätte am Arsch der Welt. Schneesturm wird schlimmer, und ich werde etwas tun, was sich nicht mehr ungeschehen machen lässt.

In dem Sinne: Frohe Weihnachten.

DÄMMERUNG

19:39 Uhr

23. Dezember

»Leck mich, Bing Crosby.«

Darby Thorne war gerade mal zehn Kilometer auf dem Weg zum Backbone Pass, als ihr Scheibenwischer den Geist aufgab, und der Kerl stimmte mit dieser samtweichen Stimme zum zweiten Mal den Refrain an. Dabei war es ohnehin schon klar, dass er seine weiße Weihnacht bekommen würde. Also, warum hielt er nicht endlich die Klappe?

Sie drehte am Knopf des Radios (nur weißes Rauschen) und betrachtete den linken Scheibenwischer, der wie ein gebrochenes Handgelenk schlackerte. Sollte sie ranfahren und ihn mit Klebeband umwickeln? Aber die Straße hatte nicht mal einen Seitenstreifen – nur Wälle aus dreckigem Eis links und rechts. Als sie vor anderthalb Stunden durch Gypsum gefahren war, waren die Schneeflocken noch groß und klatschnass gewesen, aber je höher sie kam, desto kleiner und körniger wurden sie. Sie hatten etwas Hypnotisches im dahinrasenden Scheinwerferlicht, eine Windschutzscheibe aus Sternen, in Lichtgeschwindigkeit verschmiert.

Laut dem letzten Verkehrsschild, das sie gesehen hatte, bestand auf dieser Straße Schneekettenpflicht.

Aber sie besaß keine Schneeketten. Zumindest noch nicht. Das hier war ihr erstes Studienjahr an der CU Boulder, und sie hatte eigentlich nie vorgehabt, sich weiter vom Campus weg zu wagen als bis zu Ralphie’s Thriftway. Sie erinnerte sich daran, wie sie letzten Monat von dort zurückgekommen war – leicht angetrunken und mit einem Haufen von Leuten aus ihrem Studentenwohnheim, die sie kaum kannte. Und als einer von denen sie fragte (auch wenn es ihm im Grunde scheißegal gewesen sein dürfte), wo sie ihre Weihnachtsferien verbringen würde, hatte ihm Darby gleich mal klargemacht, dass schon höhere Gewalt nötig wäre, um sie dazu zu bewegen, nach Hause, nach Utah, zu fahren.

Und ganz offenbar war der liebe Gott ganz Ohr gewesen, denn er hatte ihre Mutter mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium gesegnet.

Gestern hatte sie es erfahren.

Per SMS.

SCHRAPP-SCHRAPP. Der verbogene Scheibenwischer klatschte wieder gegen das Glas, aber die Schneeflocken waren trocken genug und die Geschwindigkeit des Wagens reichte aus, um die Windschutzscheibe frei zu halten. Das eigentliche Problem war der zunehmende Schnee auf der Straße. Die gelben Fahrspurmarkierungen waren bereits unter einigen Zentimetern frischem Weiß verschwunden, und Darby spürte, wie das Chassis ihres Civic von Zeit zu Zeit die Oberfläche streifte. Es kam immer wieder vor, wie ein feuchtes Husten, jedes Mal ein bisschen schlimmer. Beim letzten Mal hatte sie gespürt, wie das Lenkrad unter ihren klammernden Fingern vibrierte. Noch zwei Zentimeter, und sie säße hier oben fest, knapp dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, und das mit einem Tank, der bloß noch zu einem Viertel voll war, ohne Handyempfang und nur in der Gesellschaft ihrer beunruhigenden Gedanken.

Und der schmachtenden Stimme von Bing Crosby, der gerade den letzten Refrain sang, als Darby einen warmen Schluck Red Bull aus der Dose nahm.

SCHRAPP-SCHRAPP.

Die ganze Fahrt war so verlaufen – in einem Nebel aus Müdigkeit, durch schier endlose Kilometer Vorgebirge und mit Gestrüpp bedeckte Ebenen. Keine Zeit, um anzuhalten. Das Einzige, was sie heute in fester Form zu sich genommen hatte, war Ibuprofen. Als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte, die Schreibtischleuchte in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim auszuschalten, war sie schon zu weit weg gewesen, um umzukehren. Sie schmeckte Magensäure in ihrem Mund. Hörte Schoolyard Heroes und My Chemical Romance in Dauerschleife auf ihrem nun fast leeren iPhone. Grüne Anzeigetafeln mit verblasster Fast-Food-Werbung zogen vorüber. Boulder war gegen Mittag in ihrem Rückspiegel verschwunden. Dann auch die neblige Silhouette von Denver. Und schließlich – hinter einer Wand aus fallenden Schneeflocken – auch das kleine Gypsum.

SCHRAPP-SCHRAPP.

Die letzten Töne von Bing Crosbys »White Christmas« verklangen, aber das nächste Weihnachtslied wartete bereits in der Schlange. Sie hatte alle mindestens schon zweimal gehört.

Der Honda bockte und zog kräftig nach links. Red Bull spritzte auf ihren Schoß. Das Lenkrad erstarrte in ihrem Griff, und sie kämpfte eine Sekunde lang mit einem Flattern im Magen dagegen an (Gegenlenken! Gegenlenken!), bevor sie den Wagen wieder unter Kontrolle brachte, wobei sie sich immer weiter den Berg hinauf bewegte, dabei aber an Tempo verlor. Und an Bodenhaftung.

»Nein, nein, nein.« Darby gab Gas.

Die Allwetterreifen verloren im Schnee immer wieder ihren Grip, wodurch der Wagen heftig ins Schlingern geriet. Zischender Dampf stieg von der Motorhaube auf.

»Komm schon, Blue …«

SCHRAPP-SCHRAPP.

Sie hatte den Wagen zu Highschool-Zeiten bekommen und ihn damals Blue getauft. Ein federleichter Tritt aufs Gaspedal, der dazu dienen sollte, wieder ein Gespür für die Traktion der Reifen zu bekommen, ließ im Rückspiegel zwei Schneefontänen aufspritzen, von den Rückleuchten in ein kräftiges Rot getaucht. Dann war ein rasselndes Geräusch zu vernehmen – Blues Unterboden schrammte erneut über die Schneeoberfläche. Der Wagen mühte sich ab, geriet erneut ins Schleudern, mehr Boot als Auto und dann –

SCHRAPP!

Das linke Wischerblatt riss ab und wirbelte davon.

Das Herz rutschte ihr in die Hose. »Scheiße!«

Die entgegenkommenden Schneeflocken blieben jetzt an der linken Seite der Windschutzscheibe kleben und sammelten sich rasch auf dem nun der Witterung schutzlos ausgelieferten Glas. Sie hatte zu viel Tempo verloren. Und ihre Sicht auf die State Route Seven hatte sich innerhalb von Sekunden in einen Tunnelblick verwandelt. Darby versetzte dem Lenkrad einen Schlag. Die Hupe gab ein Blöken von sich, das niemand hörte.

Mit einem Schaudern wurde ihr bewusst, dass Menschen auf diese Weise zu Tode kamen. Wenn man in einsamen Gegenden draußen von einem Schneesturm erwischt wurde und einem das Benzin ausging, saß man in der Falle. Man erfror.

Darby setzte die Red-Bull-Dose an die Lippen. Leer.

Sie schaltete das Radio aus. Wann hatte sie eigentlich heute zum letzten Mal ein Fahrzeug gesehen? Wie viele Kilometer war das her? Sie wusste noch, dass es ein orangefarbener Schneepflug mit dem Schriftzug CDOT – Colorado Department of Transportation – auf der Tür gewesen war, der auf der rechten Spur entlangfuhr und dabei einen Schwall von Eisstückchen zur Seite spritzte. Das war vor einer Stunde oder so gewesen. Als die Sonne noch geschienen hatte.

Nun glich sie nur noch einer grauen Laterne, die hinter zerklüfteten Bergspitzen verschwand, während der Himmel das Purpur eines Blutergusses annahm. Vom Frost überzogene Tannen verwandelten sich in gezackte Silhouetten. Das Tiefland verdunkelte sich zu Schattenseen. Laut der Anzeigetafel an der Shell-Tankstelle, an der sie vor knapp fünfzig Kilometern vorbeigefahren war, betrug die Außentemperatur minus fünfzehn Grad. Inzwischen war es vermutlich noch kälter geworden.

Plötzlich erblickte sie ein halb im Schnee verschwundenes grünes Schild in einer Böschung auf der rechten Seite. Im Licht der dreckigen Scheinwerfer des Honda kam es langsam auf sie zu: 365 TAGESEITDEMLETZTENTÖDLICHENUNFALL.

Die Zahl war wahrscheinlich aufgrund des Schneesturms nicht mehr ganz aktuell, aber es war schon irgendwie unheimlich: genau ein Jahr. Ein etwas finsterer Jahrestag. Das Ganze kam ihr ebenso morbide vor wie ihr etwas ausgefallenes Hobby, das Abpausen von Grabstein-Inschriften.

Nun tauchte ein weiteres Schild auf.

RASTSTÄTTE 1 Meile.

Wenn man eine Raststätte in Colorado kennt, kennt man sie alle.

Ein längliches Gebäude mit Besucherbereich, Toiletten, möglicherweise einem Lebensmittelladen oder einem Coffeeshop inmitten von windgebeugten Tannen und rauen Felswänden. Ein nackter Fahnenmast. Eine trommelähnliche Scheibe aus einem uralten Baumstamm. Dazu in diesem Fall eine Gruppe von Bronzestatuen, bis zur Taille im Schnee verschwunden – vom Steuerzahler finanzierte Kunst, mit der man irgendeinen Doktor oder Pionier aus der Gegend ehrt. Und ein Parkplatz mit einer Handvoll Fahrzeugen – andere gestrandete Autofahrer wie Darby selbst, die auf die Ankunft des Schneepflugs warteten.

Sie war seit Boulder an Dutzenden von Raststätten vorbeigefahren. Einige waren größer gewesen, die meisten ansprechender, aber keine so einsam gelegen wie diese. Doch das Schicksal hatte offenbar ausgerechnet die hier für sie ausgesucht.

MÜDE? stand auf einem blauen Schild zu lesen. KOSTENLOSERKAFFEEWARTETDRINNENAUFSIE.

Und noch ein neueres Schild. Mit dem gestanzten Adler der Homeland Security aus den Zeiten der Bush-Ära: SIEHSTDUWAS, MELDEES!

Ein letztes dann am Ende der Abfahrt – dieses Mal in T-Form –, das Lkw und Wohnmobile nach links und Pkw nach rechts wies.

Darby hätte es beinahe über den Haufen gefahren.

Sie konnte durch den Schnee auf ihrer Windschutzscheibe inzwischen fast gar nichts mehr sehen, denn ihr rechter Scheibenwischer gab nun ebenfalls den Geist auf. Also ließ sie die Seitenscheibe hinunter und wischte mit der Handfläche eine kreisförmige Fläche frei. Es war, als würde man beim Steuern durch ein Periskop schauen. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, einen Parkplatz zu suchen – die aufgemalten Linien und die Bordsteine würden vermutlich erst im März wieder zum Vorschein kommen. Stattdessen stellte sie Blue einfach dicht neben einem grauen Lieferwagen ab und schaltete Motor und Scheinwerfer aus.

Stille umfing sie.

Ihre Hände zitterten immer noch. Restadrenalin von der ersten Rutschpartie. Sie ballte sie zu Fäusten, erst die Rechte, dann die Linke (einatmen, bis fünf zählen, ausatmen), und sah zu, wie weitere Schneeflocken auf ihrer Windschutzscheibe landeten. Der Kreis, den sie frei gewischt hatte, war innerhalb von zehn Sekunden wieder verschwunden. Nach dreißig Sekunden befand sie sich unter einer dichten, dunkler werdenden, eisigen Schneedecke und sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie es nicht bis morgen Mittag nach Provo in Utah schaffen würde. Um diese optimistische Ankunftszeit einzuhalten, hätte sie noch vor Mitternacht vor dem Schneesturm den Backbone Pass überqueren müssen, um gegen drei Uhr morgens in Vernal zu sein und dort ein kleines Nickerchen zu machen. Nun war es bereits acht. Selbst wenn sie weder eine Schlaf- noch eine Toilettenpause einlegen würde, konnte sie es unmöglich schaffen, vor der ersten Operation mit ihrer Mutter zu sprechen. Dieses Zeitfenster war definitiv geschlossen, wie ein weiterer Bergpass laut ihrer Nachrichten-App.

Dann also nach der OP.

Nun war es in ihrem Honda stockfinster. Schnee pappte an sämtlichen Fenstern, und sie kam sich vor wie in einer arktischen Höhle. Ein Blick auf ihr iPhone – sie blinzelte im Schein des Displays – zeigte ihr kein Netz und nur noch neun Prozent Akkuleistung an. Die letzte Textnachricht war noch geöffnet. Sie hatte sie zum ersten Mal auf dem Highway irgendwo in der Nähe von Gypsum gelesen, als sie gerade mit über 130 Sachen einen vereisten Damm überquerte und das kleine Display in ihrer Hand zitterte: Im Moment ist sie okay.

Im Moment. Das war ein beängstigendes Kriterium. Und nicht einmal der beängstigendste Teil.

Darbys ältere Schwester Devon dachte in Emoticons. Ihre Nachrichten und Posts auf Twitter waren allergisch gegen Zeichensetzung und oftmals nicht mehr als ein Wortschwall auf der Suche nach einem zusammenhängenden Gedanken. Aber dieses Mal war es anders. Devon hatte sich die Zeit genommen, okay auszuschreiben und den Satz mit einem Punkt zu beenden, und diese kleinen Details hatten sich in Darbys Magen eingenistet wie ein Geschwür. Es war nichts Greifbares, aber ein Hinweis darauf, dass was auch immer im Utah Valley Hospital vor sich ging, alles andere als okay war, sich aber nicht mit Hilfe der Tastatur ausdrücken ließ.

Nur fünf blöde Worte.

Im Moment ist sie okay.

Und nun hing Darby, die Zweitgeborene und ewige Versagerin, auf einer Raststätte kurz unter dem Gipfel des Backbone Pass fest, weil sie versucht hatte, sich in den Rockies ein Wettrennen mit Snowmageddon zu liefern, und jetzt als Verliererin dastand: viele Kilometer oberhalb des Meeresspiegels, eingeschneit in einem 94er Honda Civic mit kaputten Scheibenwischern, einem fast toten Handy und einer rätselhaften Textnachricht, die ihr nicht aus dem Kopf ging.

Im Moment ist sie okay. Was zum Teufel auch immer das heißen mochte.

Als Mädchen hatte der Tod sie fasziniert. Da sie noch keinen geliebten Menschen verloren hatte, war er etwas Abstraktes für sie, etwas, das sie erkundete, wie ein Tourist einen unbekannten Ort. Und so war das Abpausen von Grabsteinen ein Hobby von ihr geworden: Sie klebte Reispapier auf einen Grabstein und rieb mit Kohle- oder Wachsstift darüber hinweg, um einen detaillierten Abdruck zu erhalten. Diese Abdrücke waren wunderschön. Ihre Privatsammlung umfasste Hunderte, einige davon gerahmt. Darunter waren Grabsteine von unbekannten Personen ebenso wie von Berühmtheiten. Letztes Jahr war sie in Denver über einen Zaun geklettert, um Buffalo Bills Grabstein abzupausen. Später hatte sie geglaubt, dass diese kleine Macke, diese jugendliche Begeisterung für den Tod, sie besser auf den Moment vorbereiten würde, wenn er tatsächlich einmal in ihr Leben trat.

Dies war nicht der Fall.

Sie saß noch eine Weile in ihrem dunklen Wagen und las immer wieder Devons Worte. Dann kam ihr in den Sinn, dass sie bloß abermals anfangen würde zu weinen, wenn sie allein mit ihren Gedanken in diesem kalten Auto bliebe. Und sie hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden weiß Gott schon genug Tränen vergossen. Sie durfte keinesfalls ihren Mut verlieren. Musste aus ihren trüben Gedanken raus. Sonst erginge es ihr wie Blue, der in diesem schweren Schneefall, meilenweit entfernt von menschlicher Hilfe, stecken blieb und darunter begraben wurde. Das würde sie auf keinen Fall zulassen.

Einatmen. Bis fünf zählen. Ausatmen.

Und los.

Sie steckte ihr iPhone ein, schnallte sich ab, zog eine Windjacke über ihren »Boulder Art Walk«-Hoodie und hoffte, dass diese schäbige Raststätte außer dem angepriesenen kostenlosen Kaffee auch WLAN hatte.

Nachdem sie die Raststätte betreten hatte, sprach sie gleich einen Mann darauf an, der durch den kleinen Eingangsbereich schlenderte. Der zeigte nur auf ein billig laminiertes Schild an der Wand: Wir bieten unseren Gästen WLAN – ermöglicht durch die Partnerschaft des CDOT mit RoadConnect!

Der Typ blieb hinter ihr stehen. »Vorsicht! Die stellen das in Rechnung.«

»Egal. Ich zahle.«

»Die Preise sind ziemlich heftig.«

»Ich werde trotzdem zahlen.«

»Da steht’s.« Er streckte den Finger aus. »3,95 Dollar alle zehn Minuten …«

»Ich muss nur jemanden anrufen.«

»Langer Anruf?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn’s länger als zwanzig Minuten dauern sollte, wär’s vielleicht günstiger, den Monatspass von RoadConnect zu kaufen, das wären dann bloß zehn Dollar für …«

»Verdammte Scheiße, Mann, ist echt kein Problem!«

Darby hatte diesen Fremden, den sie erst jetzt, im sterilen Licht der Neonlampen, genauer betrachtete, eigentlich gar nicht anschnauzen wollen. Er war Ende fünfzig, trug eine gelbe Carhartt-Jacke, einen Ohrring und einen silbernen Ziegenbart. Wie ein traurig dreinblickender Pirat. Sie rief sich in Erinnerung, dass er vermutlich selbst hier gestrandet war und nur zu helfen versuchte.

Ihr iPhone fand das Funknetzwerk ohnehin nicht. Sie scrollte mit dem Daumen, wartete darauf, dass es auftauchte.

Aber es tat sich nichts.

Der Typ kehrte wieder zu seinem Platz zurück. »Schicksal, was?«

Sie ignorierte ihn.

Tagsüber war dieser Laden wohl ein funktionierendes Café, aber jetzt erinnerte er sie an einen Busbahnhof nach Feierabend: viel zu hell und leer. Der Kaffeestand (Espresso Peak) war hinter einem Rollgitter weggeschlossen. Dahinter befanden sich zwei gewerbliche Kaffeemaschinen mit Analogknöpfen und geschwärzten Abtropfschalen. Alte Backwaren. Die Karte auf der Wandtafel beinhaltete einige überteuerte Schickimicki-Getränke.

Der Besucherbereich bestand aus einem einzigen Raum, einem langen Rechteck, das dem Dachrücken folgte, mit öffentlichen Toiletten im hinteren Teil. Holzstühle, ein großer Tisch und Bänke entlang der Wände. Ganz in der Nähe befanden sich ein Snackautomat und ein Regal mit Touristenbroschüren. Der Raum fühlte sich beengt und riesig zugleich an, und es roch stark nach Lysol.

Und was den versprochenen Gratiskaffee betraf: Auf dem Steintresen befanden sich ein Stapel Plastikbecher, Papierservietten und zwei Pumpkannen, die von dem Gitter bewacht wurden. Auf einer stand KAFFEE, auf der anderen KAKAU.

Einer der Staatsdiener hier scheint eine Rechtschreibschwäche zu haben.

Darby bemerkte, dass der Mörtelzwischen den Steinen auf Knöchelhöhe gerissen war und einer der Steine sich gelockert hatte. Ein Tritt würde genügen, und er fiele heraus. Das irritierte einen kleinen, zwanghaften Teil ihres Gehirns. Wie das Bedürfnis, an einem Niednagel zu knibbeln.

Sie vernahm außerdem ein leises summendes Geräusch, wie das Surren von Heuschreckenflügeln, und sie fragte sich, ob die Raststätte mit Notstromversorgung lief. Das könnte das WLAN möglicherweise zurückgesetzt haben. Sie wandte sich erneut an den Fremden mit dem Bärtchen. »Haben Sie hier irgendwo ein Münztelefon gesehen?«

Der Mann schaute zu ihr auf – ach, immer noch da? – und schüttelte den Kopf.

»Bekommen Sie ein Handy-Signal?«, erkundigte sie sich.

»Schon seit White Bend nicht mehr.«

Das Herz wurde ihr schwer. Laut der Regionalkarte an der Wand hieß diese Raststätte Wanapa (was sie dem örtlichen Paiute-Stamm zu verdanken hatte und grob übersetzt »Kleiner Teufel« bedeutete). Zehn Meilen talabwärts befand sich die Stadt White Bend. Und heute, am Vorabend von Snowmageddon oder der Snowpocalypse oder von Snowzilla oder wie auch immer Meteorologen es bezeichneten, hätte White Bend genauso gut auf dem Mond liegen können –

»Ich hatte draußen ein Handysignal«, erklang plötzlich eine zweite Männerstimme.

Hinter ihr.

Darby drehte sich um. Der Typ lehnte an der Eingangstür mit einer Hand am Knauf. Sie musste beim Hereinkommen an ihm vorbeimarschiert sein (wie konnte ich ihn übersehen?). Er war groß, breitschultrig, ungefähr ein oder zwei Jahre älter als sie. Er hätte mit seiner geschniegelten Mähne, der grünen North-Face-Jacke und seinem sorglosen Lächeln einer der Typen aus der Alpha-Sig-Verbindung sein können, mit denen ihre Mitbewohnerin abhing. »Allerdings bloß ein Balken und auch nur für ein paar Minuten«, fügte er hinzu. »Mein Anbieter ist T-Mobile.«

»Meiner auch. Wo?«

»Hinten bei den Statuen.«

Sie nickte, hoffte, dass der Akku ihres Handys noch für einen Anruf reichen würde. »Weißt du, oder wissen vielleicht Sie«, sagte sie an den anderen Mann gewandt, »wann die Schneepflüge eintreffen werden?«

Beide schüttelten den Kopf. Darby gefiel es nicht, zwischen ihnen zu stehen. Sie musste dauernd den Kopf drehen.

»Der Notsendebetrieb scheint gestört zu sein«, sagte der Ältere der beiden und deutete auf ein altes Radio aus den Neunzigern für UKW und Mittelwelle, das auf dem Tresen vor sich hin summte. Das war also die Quelle des Insektengeräuschs, das sie gehört hatte. Es befand sich hinter dem Sicherheitsgitter. »Als ich hier ankam, hat es noch Verkehrsfunk und ESA-Zeugs in einer dreißigsekündigen Dauerschleife gebracht«, fügte er hinzu. »Aber jetzt ist tote Hose. Vielleicht ist der Sender mit Schnee bedeckt.«

Darby griff durch das Gitter und richtete die Antenne auf, woraufhin das Summen die Tonhöhe änderte. »Immer noch besser als Bing Crosby.«

»Wer ist Bing Crosby?«, fragte der jüngere Mann.

»Einer von den Beatles«, erwiderte der Ältere.

»Ach so.«

Irgendwie machte das den Älteren sympathisch, und Darby bedauerte es, dass sie ihn wegen des WLAN so angefahren hatte.

»Ich kenne mich mit Musik nicht so gut aus«, gestand der Jüngere.

»Offensichtlich.«

Sie bemerkte ein abgewetztes Kartenspiel, das auf dem großen Tisch lag. Vielleicht eine kleine Runde Texas Hold’em als Zeitvertreib für zwei Fremde, die der Schneesturm zusammengeführt hatte.

Von hinten ertönte eine Toilettenspülung.

Drei Fremde, verbesserte sie sich.

Sie schob ihr Handy wieder in die Tasche ihrer Jeans und bemerkte dabei, dass beide Männer sie immer noch anstarrten. Einer von vorn und einer von hinten.

»Ich bin Ed«, sagte der Ältere.

»Ashley«, sagte der Jüngere.

Darby verzichtete darauf, ihren Namen zu nennen, schob die Eingangstür mit dem Ellenbogen auf, trat in die Kälte hinaus und stopfte ihre Hände in die Jackentaschen. Bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie noch, wie der ältere Mann zu dem jüngeren sagte: »Ashley? Das ist doch ein Mädchenname.«

Der Jüngere stöhnte. »Nein, nicht nur …«

Dann schloss sich die Tür.

Draußen war es dunkel geworden. Die Sonne hatte sich verzogen. Herabfallende Schneeflocken glitzerten orange in der einzigen Außenbeleuchtung des Besucherbereichs, die in einer großen Schale über dem Eingang hing. Snowmageddon schien für den Moment nachgelassen zu haben. Vor der Kulisse der hereinbrechenden Nacht konnte sie die Umrisse entfernter Gipfel erkennen.

Sie zog den Reißverschluss ihrer Windjacke bis zum Hals hoch und fröstelte.

Die kleine Versammlung von Statuen, von der der jüngere Typ – Ashley – gesprochen hatte, befand sich im südlichen Teil des Raststättengeländes, vorbei am Fahnenmast und dem Picknickbereich. In der Nähe der Abfahrt, die sie benutzt hatte. Von hier aus vermochte sie die Statuen kaum zu sehen. Es waren bloß halb im Schnee vergrabene Formen.

»Hey.«

Sie drehte sich um.

Schon wieder Ashley. Er ließ die Tür hinter sich zufallen und kam mit hohen Schritten durch den Schnee auf sie zu. »Da ist so eine Stelle, eine ganz bestimmte Stelle, wo man stehen muss. Das war der einzige Punkt, wo ich ein Netz hatte. Und auch bloß einen Balken. Vermutlich könntest du wenigstens eine Textnachricht senden.«

»Das reicht mir schon.«

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke in die Höhe. »Ich zeig dir die Stelle.«

Sie folgten den Spuren, die er im Schnee hinterlassen hatte. Sie waren bereits zur Hälfte wieder mit einigen Zentimetern frischem Schnee gefüllt, und Darby fragte sich im Stillen, wie lange er wohl schon hier festsaß.

Als sie sich weiter vom Gebäude entfernten, fiel ihr auf, dass sich dieser Rastplatz an einem Abgrund befand. Hinter der Rückwand, wo die Toiletten waren, markierten vom Wind verformte Baumkronen einen steilen Abhang. Sie konnte nicht einmal genau erkennen, wo er begann, da die Schneedecke verbarg, wo es senkrecht hinunterging. Ein falscher Schritt könnte tödlich sein. Das Pflanzenreich hier oben war nicht weniger feindselig – die kräftigen Winde hatten die Douglasfichten in groteske Formen mit gezackten, starren Zweigen verwandelt.

»Danke«, sagte Darby.

Ashley hörte sie nicht. Sie taumelten mit ausgestreckten Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, durch hüfthohen Schnee, der hier, abseits des Weges, tiefer war. Ihre Converse-Turnschuhe waren bereits völlig durchgeweicht, ihre Zehen taub.

»Du willst also Ashley genannt werden?«, erkundigte sie sich.

»Ja.«

»Nicht Ash?«

»Wieso sollte ich?«

»War bloß ’ne Frage.«

Sie schaute noch einmal zurück zum Besucherbereich und erblickte im bernsteinfarbenen Schein des einzigen Fensters eine Gestalt, die sie durch die vereiste Scheibe beobachtete. Sie konnte nicht erkennen, ob es sich um den älteren Mann, Ed, handelte oder die Person, die sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.

»Ashley ist nicht nur ein Frauenname«, sagte er, während sie durch den Schnee stapften. »Er ist durchaus für einen Mann geeignet.«

»Oh, absolut.«

»Wie zum Beispiel Ashley Wilkes aus Vom Winde verweht.«

»Genau. Daran hatte ich auch gerade gedacht«, erwiderte Darby. Es fühlte sich gut an, ihn ein wenig zu verarschen. Aber der misstrauische Teil ihres Gehirns, den sie nie ganz abzuschalten vermochte, wunderte sich: Den alten Schinken kennst du, aber du hast keine Ahnung, wer die Beatles sind?

»Oder Ashley Johnson«, sagte er. »Der weltberühmte Rugby-Spieler.«

»Den hast du dir doch gerade ausgedacht, oder?«

»Hab ich nicht.« Er zeigte in die Ferne. »Hey, man kann sogar Melanie’s Peak sehen!«

»Was?«

»Melanie’s Peak.« Er wirkte ein wenig verlegen. »Tut mir leid, ich sitze schon eine ganze Weile hier fest und habe so ziemlich alles an Touristenbroschüren gelesen, was sie hier so rumliegen haben. Siehst du den hohen Berg da drüben? Das ist Melanie’s Peak. Irgendein Kerl hat ihn nach seiner Frau benannt.«

»Wie nett von ihm.«

»Na ja, wenn man bedenkt, wie eisig und unwirtlich es da oben ist, war es vielleicht nicht ganz so nett gemeint.«

Darby gab ein Kichern von sich.

Sie waren an den Statuen angekommen, an denen Eiszapfen hingen. Es handelte sich um eine ganze Gruppe. Irgendwo unter dem Schnee versteckt befand sich mit Sicherheit eine Tafel, auf der zu lesen stand, was das Ganze zu bedeuten hatte. Die Skulpturen sollten offenbar Kinder darstellen, die herumliefen, sprangen, spielten. In Bronze gegossen und mit Eis überzogen.

Ashley deutete auf eine von ihnen, die einen Baseballschläger schwang. »Da drüben bei dem kleinen Sportler.«

»Hier?«

»Ja. Da hatte ich ein Netz.«

»Danke.«

»Soll ich …« Er zögerte, hatte die Hände in seine Taschen gestopft. »Wär’s dir lieber, wenn ich in der Nähe bliebe?«

Stille.

»Also, wenn du willst, dann …«

»Nein.« Darby schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. »Ist nicht nötig. Danke.«

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Es ist nämlich arschkalt hier draußen.«

Er warf ihr ein ungezwungenes Grinsen zu, machte sich auf den Rückweg zu den orangefarbenen Lichtern und winkte dabei über seine Schulter zurück. »Viel Spaß mit den Albtraumkindern.«

»Werde ich haben.«

Sie hatte gar nicht bemerkt, wie verstörend die Statuen waren, bis sie allein mit ihnen zurückblieb. Den Kindern fehlten Stücke. Ein Kunststil, der ihr nicht fremd war: Der Bildhauer hatte unbearbeitete Bronzebrocken benutzt und diese mit merkwürdigen kontraintuitiven Schweißverbindungen zusammenfügt, die Nähte und Lücken hinterließen, und in der Dunkelheit ergänzte ihre Fantasie noch das Blut. Der Junge zu ihrer Linken mit dem Baseballschläger hatte einen frei liegenden Brustkasten. Andere winkten mit spindeldürren, verstümmelten Armen, an denen an verschiedenen Stellen das Fleisch fehlte. Wie eine Ansammlung von Opfern eines Pitbull-Angriffs, fast bis auf den Knochen abgekaut.

Wie hatte Ashley sie genannt? Albtraumkinder.

Er war fünf, sechs Meter entfernt, seine Silhouette hob sich vom orangefarbenen Licht des Rastplatzes ab, als sie sich umdrehte und ihm nachrief: »Hey. Warte.«

Er blickte sich um.

»Darby«, sagte sie. »Mein Name ist Darby.«

Er lächelte.

Danke, dass du mir geholfen hast, wollte sie hinzufügen. Dich mir gegenüber, einer völlig Fremden, so anständig benommen hast. Die Worte waren in ihrem Kopf, aber sie konnte sie nicht aussprechen. Sie wandten beide die Blicke ab, und der Moment war vorbei …

Danke, Ashley –

Er ging weiter.

Blieb dann aber noch einmal stehen und sagte: »Du weißt schon, dass Darby ein Männername ist, oder?«

Sie lachte.

Sah zu, wie er verschwand, ehe sie sich gegen den Baseballschläger der Statue lehnte, der mitten im Schwung erstarrt war, und ihr iPhone in die Höhe reckte, in die herabfallenden Schneeflocken hinein. Sie blinzelte, betrachtete die obere linke Ecke des Displays.

Kein Netz.

Sie wartete allein im Dunkeln. In der rechten Ecke war der Akku auf sechs Prozent gesunken. Ihr Ladegerät befand sich in einer Steckdose im Studentenwohnheim. Gut dreihundert Kilometer entfernt.

»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte, lieber Gott …«

Immer noch kein Netz. Sie las erneut die Nachricht von ihrer Schwester und atmete dabei durch ihre klappernden Zähne. Im Moment ist sie okay.

Okay ist das schlimmste Wort, das es gibt. Ohne einen Kontext ist es ein totales Unding. Okay konnte bedeuten, dass es ihrer Mutter Maya besser ging. Es konnte aber ebenso bedeuten, dass es ihr schlechter ging. Und es konnte bedeuten, dass sie … na ja, eben einfach okay war.

Es heißt ja immer, dass Bauchspeicheldrüsenkrebs einen rasch umbringt, weil der Tod nach der Diagnose oft innerhalb von Wochen oder sogar Tagen eintritt, aber das stimmt nicht. Es dauert Jahre, bis man daran stirbt. Dieser Krebs verursacht im Frühstadium noch keine Beschwerden, vermehrt sich unbemerkt in seinem Wirt und offenbart sich erst durch Gelbsucht oder Bauchschmerzen, wenn es bereits zu spät ist. Es war eine erschreckende Vorstellung, dass ihre Mutter diesen Krebs bereits in sich getragen hatte, als Darby noch die Highschool besuchte. Er da gewesen war, als sie sie wegen der abgeschnittenen Klamotten-Etiketten von Sears in ihrer Tasche belogen hatte. Er da gewesen war, als sie in einer Sonntagnacht um drei Uhr morgens, benebelt von schlechtem Ecstasy, mit einem grünen Leuchtarmband am Handgelenk, zu Hause ankam und ihre Mutter auf der Veranda in Tränen ausgebrochen war und sie als miese kleine Schlampe bezeichnet hatte. Diese unsichtbare Kreatur hatte die ganze Zeit auf ihrer Schulter gehockt und gelauscht, während ihre Mutter langsam starb, ohne dass es einem von ihnen bewusst gewesen war.

Sie hatten zuletzt an Thanksgiving miteinander telefoniert. Über eine Stunde voller Wortgefechte, aber die letzten Sekunden waren Darby im Gedächtnis geblieben.

Sie erinnerte sich noch daran, wie sie zu ihrer Mutter gesagt hatte: Du bist der Grund, warum Dad uns verlassen hat. Und wenn ich hätte wählen dürfen, hätte ich ihn gewählt. Ohne eine Sekunde zu zögern.

Ohne eine verdammte Sekunde zu zögern, Maya.

Sie wischte sich die Tränen, die bereits auf ihrer Haut zu gefrieren begannen, mit dem Daumen weg. Atmete in der schneidenden Luft tief durch. In diesem Augenblick bereiteten sie ihre Mutter im Utah Valley Hospital für die anstehende Operation vor, und Darby saß hier in dieser heruntergekommenen Raststätte in den Rockies fest.

Und sie wusste, dass sie nicht genug Benzin im Tank hatte, um Blue hier für längere Zeit im Leerlauf stehen zu lassen. In der Raststätte gab es wenigstens Heizung und Strom. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit Ed und Ashley und demjenigen, der dort auf der Toilette gewesen war, unterhalten müssen. Sie stellte sich vor, wie sie alle – ein Haufen Fremder in einem Schneesturm, die wie die Goldgräber und die Siedler in vergangenen Jahrhunderten in diesen Bergen gemeinsam Zuflucht gesucht hatten – wässrigen Kaffee schlürften, Lagerfeuergeschichten miteinander teilten und dem Radio lauschten, um irgendwelche verzerrten oder verstümmelten Hinweise zu erhalten, wann die Schneepflüge eintrafen. Vielleicht würde sie ein paar neue Facebook-Freunde finden und lernen, wie man Poker spielt.

Oder vielleicht würde sie sich auch in ihren Honda setzen, um dort zu erfrieren.

Beide Varianten waren gleichermaßen verlockend.

Sie warf einen Blick auf die Statue, die ihr am nächsten stand. »Das wird eine lange Nacht werden, meine Süßen.« Dann noch einen letzten Blick auf ihr iPhone, auch wenn sie inzwischen jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, was den Handy-Empfang an Ashleys Zauberstelle anging. Sie verschwendete hier draußen nur ihren Akku und holte sich Frostbeulen.

»Eine höllisch lange Nacht.«

Sie machte sich auf den Rückweg zum Wanapa-Gebäude, spürte, dass sich wieder mal eine Migräne bei ihr ankündigte. Snowmageddon hatte erneut zugelegt, die Berge mit windgepeitschten Schneeflocken verschleiert. Eine heftige Windbö, die die Tannen zum Ächzen brachte, fuhr ihr in den Rücken, presste ihr die Jacke an den Körper. Sie zählte beim Gehen unbewusst die Wagen auf dem Parkplatz: drei plus ihr Honda. Ein grauer Transporter, ein roter Pick-up und ein unbekanntes Fahrzeug, alle halb unter einer verwehten weißen Decke begraben.

Sie entschied sich unterwegs ohne jeden Grund, über den Parkplatz zurückzugehen, vorbei an den dort festsitzenden Wagen. Später würde sie sich noch des Öfteren an diese gedankenlose Entscheidung erinnern und sich fragen, wie anders ihre Nacht wohl verlaufen wäre, wenn sie einfach wieder Ashleys Fußspuren gefolgt wäre.

Sie ging an der Fahrzeugreihe vorbei.

Zuerst kam der rote Truck. Sandsäcke auf der Ladefläche, aufgezogene Schneeketten. Im Vergleich zu den anderen Wagen türmte sich weniger Schnee auf ihm, was bedeutete, dass er noch nicht so lange hier stand. Schätzungsweise nicht länger als eine halbe Stunde.

Vom zweiten Wagen war nichts mehr zu erkennen. Er war völlig unter dem Schnee begraben. Sie vermochte nicht einmal zu sagen, welche Farbe er hatte. Darunter hätte sich auch genauso gut ein Müllcontainer befinden können. Irgendetwas Großes und Kastenförmiges. Er stand von den vieren schon am längsten hier.

Nummer drei war Blue, ihr zuverlässiger Honda Civic. Der Wagen, mit dem sie fahren gelernt hatte, der Wagen, den sie zum College mitgenommen hatte, der Wagen, in dem sie ihre Jungfräulichkeit verloren hatte (allerdings nicht alles zur selben Zeit). Der abgerissene linke Scheibenwischer war wohl in irgendeiner verschneiten Böschung anderthalb Kilometer den Highway runter verschwunden. Sie hatte Glück gehabt, es bis hierher zu schaffen.

Am Ende stand noch ein grauer Transporter.

Darby entschied sich, hier zwischen den parkenden Autos abzukürzen und den Fußweg zum Eingang des Gebäudes zu nehmen, der rund fünfzehn Meter entfernt war. Dabei beabsichtigte sie, sich an den Türen ihres eigenen Wagens abzustützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während sie zwischen ihm und dem Transporter hindurchging.

Auf der Seite des grauen Wagens prangte ein orangefarbener Cartoon-Fuchs, der Nick Wilde aus Zootopia glich. Er hielt eine Nagelpistole wie ein Geheimagent seine Waffe und machte Werbung für irgendeine Art von Bau- oder Reparaturservice. Der Name der Firma war mit Schnee bedeckt, aber ihr Slogan lautete: WIRBRINGENZUENDE, WASWIRBEGONNENHABEN. Der Transporter hatte zwei Heckfenster. Das rechte war mit einem Handtuch verhängt. Das linke war frei, und darin spiegelte sich in dem Moment, als Darby daran vorbeiging, ein schmaler Streifen Laternenlicht. Sie erblickte etwas Bleiches in dem Lieferwagen.

Eine Hand.

Eine kleine, puppenähnliche Hand.

Sie blieb abrupt stehen. Hielt erschrocken die Luft an.

Diese kleine Hand umklammerte eine Art Gitter hinter dem vereisten Glas – weiße Finger, die einer nach dem anderen vorsichtig auf diese unkoordinierte Weise losließen, wie es ein Kind tut, bei dem die Feinmotorik noch nicht vollkommen entwickelt ist –, und dann wurde sie mit einem Mal in die Dunkelheit zurückgezogen und verschwand aus dem Blickfeld. Das Ganze geschah in drei, höchstens vier Sekunden und ließ Darby sprachlos zurück.

Unmöglich.

Im Inneren war es ruhig. Nichts regte sich mehr.

Sie schlich näher heran, legte die Handkanten gegen die Scheibe und spähte hinein. Ihre Augenlider flatterten kurz vor dem kalten Glas. Kaum wahrnehmbar in der Finsternis, in der Nähe, wo die winzige Hand verschwunden war, konnte sie etwas Sichelförmiges ausmachen, eine schwer zu erkennende Spiegelung im schummrigen Laternenlicht. Es war ein kreisförmiges Schloss, das eine Gitterkonstruktion aus Metallstäben zusammenhielt, die die Kinderhand umklammert hatte. Als befände sich das Kind in einem Käfig.

Dann atmete Darby aus, was ein Fehler war, denn das Glas trübte sich durch ihren Atem. Aber sie hatte es gesehen. Daran bestand kein Zweifel.

Sie trat von dem Wagen zurück, hinterließ dabei einen Handabdruck an der Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schlug immer schneller.

Jemand hat ein Kind in diesem Wagen eingesperrt.

20:17 Uhr

Darby ging zurück zum Gebäude.

Ashley blickte auf, als sie hereinkam. »Hat’s geklappt?«

Sie gab ihm keine Antwort.

Er saß an dem Holztisch und spielte Karten mit Ed. Eine Frau war auch mit dabei – offenbar Eds Ehefrau, denn sie saß neben ihm. Sie war eine bieder wirkende Mitvierzigern mit schwarzem Topfschnitt und zerknittertem gelbem Anorak, die mit einem Spiel auf ihrem Tablet beschäftigt war, bei dem sie Blasen zum Platzen brachte. Sie musste diejenige sein, die auf der Toilette gewesen war.

Darby zählte drei mögliche Verdächtige: den gesprächigen Ashley, Ed mit den traurigen Augen und Eds spießige Frau. Also wem gehörte der graue Transporter?

Mein Gott, da ist ein Kind in diesem Wagen.

In einem Käfig eingesperrt.

Es traf sie aufs Neue. Ein Geschmack von rohen Austern machte sich in ihrem Mund breit. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Eigentlich musste sie sich hinsetzen, schreckte aber davor zurück.

Einer von diesen drei Leuten hat es getan –

»Achten Sie darauf, dass die Tür auch wirklich zu ist«, sagte Ed.

Und dann setzten sie ihr Kartenspiel fort, als wäre nichts geschehen. Ashley betrachtete das Blatt in seiner Hand und warf Ed einen Seitenblick zu. »Herz-Vier?«

»Ziehen Sie eine. Pik-Zwei?«

»Nö.«

Da stimmte noch etwas anderes nicht. Die Rechnung ging nicht auf. Außer ihrem eigenen Wagen befanden sich drei weitere auf dem Parkplatz. Drei Verdächtige waren hier. Ed und seine Frau reisten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gemeinsam, richtig? Also musste sich noch eine vierte Person in der Raststätte befinden. Aber wo?

Ihr Blick wanderte von Ashley zu Ed und weiter zu Eds Frau, dann suchend durch den ganzen Raum, während ihr Herz von einer panischen Angst ergriffen wurde. Wo sonst könnte –

Mit einem Mal spürte sie warmen Atem in ihrem Nacken. Hinter ihr stand jemand.

»Kreuzbube.«

»Eine ziehen.«

Darby stand regungslos da. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, ihre Haut kribbelte, und es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie wollte sich umdrehen, konnte es aber nicht. Ihr Körper weigerte sich, sich zu bewegen.

Er steht genau hinter mir.

Atmete ihr in den Nacken. Es war ein kräftiger Hauch, der ihr Haar anhob, ihre nackte Haut kitzelte und an ihrem Ohr vorbeistrich. Irgendwie wusste sie bereits, dass der vierte Reisende ein Mann war – Frauen atmeten einfach nicht auf diese Weise. Er stand weniger als einen halben Meter hinter ihr. Nahe genug, um ihren Rücken zu berühren oder ihr von hinten die Hand um die Kehle zu legen.

Sie wünschte, sie könnte sich umdrehen und dieser vierten Person ins Gesicht sehen, wer auch immer sie sein mochte, aber dieser Moment fühlte sich so merkwürdig an, alles schien irgendwie dahinzuschweben. Ganz so, als versuche sie, in einem Albtraum einen Schlag zu landen.

Dreh dich um, mahnte sie sich. Dreh dich sofort um.

Vor ihr ging das Kartenspiel weiter. »Herzdame?«

»Aha! Da haben Sie Glück. Bitte schön.«

»Karo-Neun?«

»Nö.«

Hinter ihr setzte der Atem für ein paar Sekunden aus – lange genug, dass sie für einen kurzen Moment die Hoffnung hatte, sich das alles nur eingebildet zu haben –, und dann hörte sie, wie vernehmlich Luft eingesogen wurde. Mundatmung. Wie sie so dastand, ohne ein Wort herauszubringen, wurde Darby klar, dass es ihr wieder passiert war. Sie hatte den Raum betreten, ohne einen Blick nach links zu werfen.

Verdammt, Darby, dreh dich einfach um.

Schau ihm ins Gesicht.

Und endlich gelang es ihr.

Eine langsame Körperdrehung, ganz beiläufig, mit einer Handfläche nach oben, als folge sie lediglich Eds Aufforderung, sicherzustellen, dass die Tür geschlossen war. Und dann stand sie dem Mann gegenüber.

Mann war vielleicht ein wenig übertrieben. Er war groß, spindeldürr und ließ die Schultern hängen. Sie schätzte ihn auf höchstens neunzehn. Im Profil glich er einem Nagetier, sein Gesicht war mit Akne überzogen, er hatte einen Überbiss, und sein Kinn, das von Pfirsichflaum umhüllt war, ließ jegliche Kontur vermissen. Er trug eine Deadpool-Beanie und eine himmelblaue Skijacke. Seine Schultern waren nass von geschmolzenem Schnee, als wäre auch er gerade draußen gewesen. Winzige haselnussfarbene Pupillen, die mit ihrem dümmlichen Ausdruck denen eines Nagetiers glichen, starrten sie an, also erwiderte sie seinen Blick und schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln.

Der Moment war rasch dahin, als sie seinen Atem roch, der nach Milchschokolade und der erdigen Säure von Kautabak stank. Als er plötzlich ohne Vorwarnung den Arm hob, zuckte Darby zusammen. Doch er griff lediglich an ihr vorbei und drückte die Tür zu. Sie rastete mit dem Klicken eines Schließriegels ein.

»Danke«, sagte Ed und wandte sich wieder Ashley zu. »Herz-Ass?«

»Nö.«

Darby wandte den Blick ab und ließ den Mann an der Tür stehen. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Ihre Schritte kamen ihr ungewöhnlich laut vor. Sie ballte beide Hände zu Fäusten, um ihr Zittern zu verbergen, und trat zu den anderen an den Tisch. Sie zog einen Stuhl zwischen Ashley und dem älteren Ehepaar zu sich heran. Die Holzbeine schrammten über die Fliesen.

Ashley bleckte die Zähne angesichts des unangenehmen Geräuschs. »Ah, Herz-Neun.«

»Scheiße.«

Eds Frau versetzte ihrem Mann einen Klaps auf den Ellenbogen. »Pass auf, was du sagst!«

Darby wusste, dass der Typ mit dem Rattengesicht sie immer noch mit seinen kleinen, begriffsstutzigen Augen beobachtete, sie studierte. Und sie bemerkte, dass sie steif dasaß – zu steif –, also lümmelte sie sich ein wenig in den Stuhl und tat so, als würde sie mit ihrem iPhone herumspielen. Zog ihre Knie bis zur Tischkante hoch. Sie schauspielerte jetzt, bloß eine Kunststudentin mit zu viel Koffein im Blut, einem Honda voller Grabstein-Radierungen und einem fast leeren Handy-Akku, die wie alle anderen hier am Rande der Zivilisation gestrandet war. Eine harmlose Studentin an der CU Boulder.

Er verharrte an der Tür. Beobachtete sie immer noch.

Darby begann sich Sorgen zu machen. Konnte er etwas wissen? Hatte er vielleicht aus dem nach Westen gehenden Fenster geschaut und gesehen, wie sie in seinen Lieferwagen gespäht hatte? Möglicherweise hatte er auch ihre Fußspuren gesehen. Oder aber ihr Benehmen hatte sie in der Sekunde verraten, als sie mit ihren blank liegenden Nerven und ihrem wild pochenden Herzen in die Lobby hereingetaumelt war. Für gewöhnlich war sie eine gute Lügnerin. Aber heute Abend nicht. Nicht jetzt.

Sie versuchte eine einfache Erklärung für das zu finden, was sie gesehen hatte – zum Beispiel, dass das bislang nicht erwähnte Kind von einem dieser Menschen hier gerade ein Nickerchen hinten im Lieferwagen machte. Das wäre doch plausibel, nicht wahr? Kam doch gewiss andauernd vor. Dafür waren Raststätten ja schließlich da. Um zu rasten und sich auszuruhen.

Aber das erklärte nicht das Schloss. Oder die Gitterstäbe, die die Hand umklammert hatte. Oder, jetzt wo sie darüber nachdachte, die verhängten Heckfenster, um damit das, was drinnen war, zu verbergen. Richtig?

Oder war das eine Überreaktion von ihr?

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ihre Gedanken wurden immer wirrer. Das Koffeinhoch ließ nach. Sie benötigte dringend einen Kaffee.

Apropos Überreaktion: Darby hatte draußen bereits mehrfach versucht, die 911 für den Notruf zu wählen, was ihr aber in Ermangelung eines Handysignals nicht gelungen war. Auch nicht an dieser Zauberstelle in der Nähe der Albtraumkinder, die Ashley ihr beschrieben hatte. Sie hatte sogar versucht, eine Textnachricht an die 9-1-1 zu senden, weil sie einmal irgendwo gelesen hatte, dass Textdateien nur einen Bruchteil der erforderlichen Bandbreite benötigten und die beste Möglichkeit darstellten, in Funklöchern Hilfe zu rufen. Aber auch das hatte nicht funktioniert: Kindesentführung grauer Lieferwagen Kennzeichen VBH9045 State Route 7 Wanapa-Raststätte schicken Sie Polizei.

Diese Textnachricht, die als KONNTENICHTVERSENDETWERDEN markiert war, war immer noch offen. Sie schloss sie vorsichtshalber, für den Fall, dass Rattengesicht ihr über die Schulter sah.

Sie hatte auch versucht, die Hecktür des Lieferwagens zu öffnen (was wohl ein verhängnisvoller Fehler gewesen wäre, hätte das Fahrzeug eine Alarmanlage besessen), aber sie war verschlossen gewesen, wie es ja eigentlich auch sein sollte. Sie hatte noch eine Weile dort verbracht, erneut die Handkanten gegen die Scheibe gelegt und in die Dunkelheit gestarrt, mit den Knöcheln an die Scheibe geklopft, versucht, die kleine Gestalt dazu zu bringen, sich noch einmal zu bewegen. Aber ohne Erfolg. Es war stockdunkel im Inneren des Lieferwagens, und an den Hecktüren waren Decken und irgendwelcher Kram gestapelt. Sie hatte diese kleine Hand nur für ein paar Sekunden gesehen. Doch es hatte ausgereicht. Sie hatte sie sich nicht eingebildet.

Richtig?

Richtig.

»Pik-Ass?«

»Verflucht noch mal.«

»Also wirklich, Eddie …«

»Herrgott noch mal, Sandi, wir sind in diesem mit Steuergeldern finanzierten Scheißhaus in Colorado eingeschneit, und es ist beinahe Heiligabend. Ich stecke einen Zwanziger in meine Fluchkasse, wenn wir wieder zu Hause sind, okay?«

Die Frau mit dem Topfschnitt – offensichtlich Sandi – blickte Darby über den großen Tisch hinweg an, und ihre Lippen formten die lautlosen Worte: Tut mir leid. Ihr fehlte ein Schneidezahn. Die strassbesetzte Handtasche auf ihrem Schoß war mit dem Psalm 100,5 bestickt: DENNDERHERRISTFREUNDLICH, UNDSEINEGNADEWÄHRETEWIG.

Darby lächelte höflich. Ihr Zartgefühl kam mit ein bisschen Flucherei klar. Außerdem dachte Ashley immer noch, dass Bing Crosby einer von den Beatles war, und das machte Ed in ihren Augen zu einem netten Kerl.

Aber sie war sich darüber im Klaren, dass sie hier einen weiteren blinden Fleck schuf, genauso wie beim Betreten des Gebäudes, als sie es versäumt hatte, in den Ecken nachzusehen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Rattengesicht der Fahrer des grauen Transporters war. Doch das war lediglich eine Vermutung. Sie wusste, dass jeder hier der Entführer/Kinderschänder sein konnte. Jeder der vier Fremden, die hier in dieser Raststätte festsaßen, war in der Tat ein Verdächtiger.

Ashley? Der räumte jetzt gerade beim Kartenspiel ab. Er besaß diese Mischung aus Witz, Freundlichkeit und Optimismus, die ihn zu der Art von Charmeur machte, mit dem sie einmal, aber dann nie wieder ausgehen würde. Und er hatte etwas an sich, dem sie nicht traute. Sie vermochte es nicht genau zu benennen. Lag es an einer Eigenheit? Seiner Wortwahl? Irgendetwas fühlte sich falsch an. Sein Einsatz und seine Bemühungen wirkten gekünstelt – wie bei einem Verkäufer, der für die Kunden ein freundliches Gesicht aufsetzt, um dann im Pausenraum über sie herzuziehen.

Ed und Sandi? Die beiden waren nett, aber auch bei ihnen stimmte irgendetwas nicht. Es kam ihr gar nicht so vor, als wären sie verheiratet. Sie schienen sich nicht einmal besonders zu mögen.

Und Rattengesicht? Was den Typ betraf, so galt bei ihr schon jetzt Alarmstufe Gelb.

Alle hier waren schuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Darby musste jedem Einzelnen einen Wagen draußen zuordnen, um sicher zu sein. Und sie konnte dabei nicht einfach offen fragen, denn sonst wüsste der Entführer oder das gewalttätige Elternteil, dass sie ihm auf der Spur war. Sie musste diesen Leuten die Information vorsichtig entlocken. Zog in Erwägung, Ashley, Ed und Sandi zu fragen, wann sie hier eingetroffen waren, um dann aus der Schneemenge auf den Wagen draußen ihre Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber auch das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Andererseits: Was wäre, wenn sie zu lange wartete?

Der Entführer würde gewiss nicht länger als nötig hierbleiben. In dem Moment, in dem der Schneesturm vorüber war oder die Schneepflüge eintrafen, würde er oder/und sie zusehen, aus Colorado rauszukommen. Dann hätte Darby nichts weiter vorzuweisen als die Beschreibung des Verdächtigen und ein Autokennzeichen.

Ihr Handy gab in der Tasche ein Zwitschern von sich, was sie zusammenschrecken ließ. Nur noch fünf Prozent Restakku.

Ashley blickte sie über die schmuddeligen Karten in seiner Hand hinweg an. »Netz?«

»Was?«

»Hattest du draußen bei den Statuen ein Netz?«

Sie schüttelte den Kopf, begriff, dass dies eine Gelegenheit darstellte. Ihr eigenes Handy würde die Nacht nicht überstehen. Daher wäre das jetzt der passende Moment, sich zu erkundigen, ob jemand zufällig ein iPhone-Ladegerät dabeihatte, ohne dass es Fragen aufwarf.

Ashley schüttelte den Kopf, nachdem sie ihre Frage gestellt hatte. »Nein. Tut mir leid.«

»Ich auch nicht«, sagte Sandi, stupste Eds Ellenbogen an, und ihr Tonfall verwandelte sich von freundlich in giftig. »Was ist mit dir, Eddie? Hast du dein Ladegerät noch? Oder hast du das auch verpfändet?«

»Wir leben im 21. Jahrhundert«, erwiderte Ed. »Da verpfändet man keine Sachen mehr. Du verkaufst über Craigslist. Und es ist ja nicht meine Schuld, dass Apple so einen überteuerten Sch-«

»Pass auf, was du sagst, Ed …«

»Schund. Ich wollte überteuerten Schund sagen, Sandi.« Er klatschte seine Karten auf den Tisch und sah Ashley mit einem gezwungenen Grinsen an. »Mir ist mal ein iPhone in der Tasche kaputtgegangen, als ich mich ganz normal hingesetzt habe. Siebenhundert Dollar einfach so am …«

»Ed!!!«

»… am ABEND durch den Schornstein gejagt. Wie ihr seht, bin ich, trotz allem, was Sandi hier denkt, tatsächlich in der Lage, einen vollständigen Satz zu sprechen, ohne dabei zu einem …«

Ashley unterbrach seine Tirade: »Kreuz-Vier?«

»Scheiße!«

Sandi stieß einen Seufzer aus und brachte eine weitere Blase auf ihrem Tablet zum Platzen. »Vorsicht, junger Mann. Eddie hier wirft schon mal Tische um, wenn er verliert.«

»Es war ein Schachbrett«, stellte Ed klar. »Und es ist auch nur ein einziges Mal passiert.«

Ashley grinste und nahm die Kreuz-Vier.

»Weißt du, Eddie, wenn du diese Flucherei nicht in den Griff bekommst, wirst du nie mehr einen neuen Job finden.« Sandi hackte mit ihrem Daumennagel auf dem Bildschirm herum, und es ertönte ein Geräusch zum Zeichen, dass sie danebengetroffen hatte.

Ed zwang sich zu einem Lächeln. Er setzte an, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders.

Der Raum kühlte ab.