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Hans Herbjørnsrud erzählt in seinem Roman fünf Geschichten über die Magie des Alltäglichen, die gekennzeichnet von Leidenschaft, Visionen und merkwürdigen Begegnungen die Grenze zwischen Realität und Phantasie zu verwischen vermögen. -
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Seitenzahl: 371
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Erzählungen
Aus dem Norwegischen vonUlrich Sonnenberg
Saga
Es eilt. Mir läuft die Zeit davon. Ich muss mich sputen. Ich stehe im Morgengrauen auf, ziehe den rot melierten Laufdress und die neuen Cross-Schuhe an, esse am Küchentisch zwei Scheiben Knäckebrot und trinke ein Glas Orangensaft, bevor ich den ovalen Joggingstein in die rechte Hand nehme und über den Hofplatz trabe; um 6:04:13 laufe ich den Traktorweg über das Feld auf den Wald zu.
Ich muss mich beeilen, um diese Geschichte zu schreiben. Ich muss bald hier raus. Heute Abend kommen meine Schwiegertochter Ting Ting und mein Enkel Man Lok zu Besuch. Anna wird sie um 20:45 Uhr am Busbahnhof abholen, sie sollen hier in meinem Arbeitszimmer im Backhaus wohnen. Bis sie kommen, muss meine Geschichte fertig sein. Es eilt. Ich muss raus. Die Zeit ist knapp. Ich laufe und schreibe und laufe.
6:04:53, die Uhr zeigt 6:04:53, ich biege von der Treckerspur ab, hebe beide Arme vors Gesicht und kämpfe mich durch das dichte Fichtengehölz hinunter zu dem Bach. An der Böschung vor dem Biberdamm bleibe ich einen Augenblick stehen, verschnaufe und beiße mir auf die Zungenspitze.
Es eilt. Mir bleibt doch nur der heutige Tag für meine Geschichte. Ich habe am Telefon gehört, dass Man Lok inzwischen ein Zweibeiner geworden ist und in Oslo über den Fußboden wackelt. Sie müssen den Hörer auf den Boden gelegt haben, denn die taumeligen Schritte unseres Enkelkindes dröhnten mir direkt ins Ohr. Es eilt, ich breite die Arme aus und balanciere vorsichtig über den Biberdamm; über dem blanken Wasserspiegel des Weihers, den Joggingstein in der geballten Faust und mit gespreizten Fingern über dem Durcheinander aus Zweigen und Ästen am Fuß der Böschung. Bei jedem meiner Schritte zeigen sich leichte Wellen auf dem reglosen Wasser des Tümpels. Der schwere Joggingstein in meiner Faust hält mich aufrecht.
Dann bin ich auf der anderen Seite und laufe den Pfad durch den Erlenwald bis zur Heddøla. 6:06:13, ich folge dem Weg flussaufwärts und laufe jetzt immer schneller, obwohl der Fluss reißender wird und ich gegen den Strom laufe. Mou, keiwai und gwei, murmele ich. Sie haben mir erzählt, dass Man Lok ein chinesisches Bilderbuch bekommen hat und die Wörter seiner Eltern nachzuahmen versucht, während er sich die Bilder ansieht. Er kann bereits drei Wörter Chinesisch, haben sie gesagt und mir erklärt, mou bedeutet niemand, keiwai heißt merkwürdig und gwei ist ein Gespenst.
Gegen den Strom zu laufen ist wie gegen den Wind zu laufen, ich verkürze die Schrittlänge, laufe an den Pfosten vorbei, die von der alten Hängebrücke noch stehen, und um 6:08:05 hüpfe ich von Stein zu Stein über die Mündung eines rieselnden Bachs und springe auf die breite Kiesbank, die sich entlang der Heddøla bis Grenehølen erstreckt. Mou, keiwai, gwei: Ich murmele ein Wort bei jedem Schritt, den ich auf den Kies setze: niemand, merkwürdig, Gespenst. Die Luft spült mir den Mund, der Kies knirscht und brennt unter den Füßen, und in meinen Ohren höre ich die durchdringenden Schritte von Man Lok auf dem Fußboden in Oslo. Schnell, es eilt, Man Lok entwickelt sich zu einem prächtigen Burschen, haben sie gesagt. Mou, keiwai und gwei, murmele ich wie eine Beschwörungsformel, wobei die Wörter unter den Schuhsohlen knirschen, und hetze im Gegenwind des Stromes vorwärts.
6:11:42, bei Grenehølen drehe ich um, nehme den Joggingstein in die linke Hand und laufe mit der Strömung zurück. Der Fluss fletscht die Zähne und schnappt nach den Steinen, während er rasch über den Grund fließt, der Strom wirbelt schneller als die Zeit, unmöglich, mit ihm Schritt zu halten. Trotzdem ist es einfacher, im Sog des Flusses zu laufen, ich gehe in lange Schritte über, berühre den Boden nur kurz mit den Ballen und drücke die Beine durch, dass es in den Kniekehlen zieht. Das Wasser schießt an mir, der ich laufe, vorbei und zieht mich mit, und schon bald gerate ich in einen paradiesischen Rausch und laufe Hand in Hand mit der fließenden Zeit.
6:17:47 wache ich auf und sehe auf die Uhr. Ich stehe auf der Böschung vor dem Biberdamm. Schwarzglänzend liegt der aufgestaute Fluss vor mir, er ist über die Ufer getreten. Der Biber hat einen Fluss gefangen. Der Strom rennt gegen den Damm an. Mittendrin ragt ein entrindeter Espenast aus dem Lehm. Knochigweiß leuchtet der Ast und zittert unter dem Druck, zittert. Ich beiße mir auf die Zungenspitze, breite die Arme aus und tänzele über den Damm. Mou, keiwai und gwei: Bei jedem Schritt flüstere ich ein Wort, und die Worte lassen das aufgehaltene Wasser unter meinen Füßen vibrieren.
Dann bin ich auf der anderen Seite und werde durch das Fichtengehölz gepeitscht, gelange auf die Treckerspur und lasse mich vom Schlussspurt aufsaugen, wobei die Beine wie bei einem Tausendfüßler unter mir wirbeln. Um 6:18:15 stehe ich wieder auf dem Hof, atme aus und schaue auf die Uhr.
Ich setze Kaffee auf, bevor ich mich umziehe und ein paar Scheiben Brot esse. Dann schmiere ich mir Pausenbrote und fülle die größte Thermoskanne. 6:36:58. Anna ist noch nicht aufgestanden, als ich mit Proviant und Kaffee für den ganzen Tag hinüber ins Backhaus gehe, die Gardinen im Arbeitszimmer zuziehe und den Computer einschalte. Um 6:39:44 beginne ich, an meiner Geschichte zu schreiben.
Es drängt, und damit die Zeit mir nicht davonläuft, fange ich an, die Joggingtour, die gerade hinter mir liegt, herunterzutippen. Es beginnt daher mit der Atemlosigkeit, denn nur acht Minuten, nachdem ich aufgestanden bin, bin ich über den Hofplatz getrabt und auf dem Traktorweg auf den Wald zugelaufen. Ich laufe und schreibe und laufe, und bei jedem Schritt hüpft ein Buchstabe auf den weißen Bildschirm, wie ein Fußabdruck im Neuschnee. Als ich im Morgengrauen lief, war das Gras zwischen den Reifenspuren grün. Jetzt, nur eine halbe Stunde später, laufe ich in einer anderen Jahreszeit über schneebedeckte Felder, und im Fichtengehölz bürsten die Bäume den eben auf mich herabgerieselten Schnee ab.
Die Böschung, ich bleibe an der Böschung stehen, schnappe nach Luft, beiße mir auf die Zungenspitze und schaue über den schwarzen Wasserspiegel zwischen den weißen Ufern. Der Damm glänzt eisig. Der entrindete Espenast in der Mitte ragt glasig in die Luft. Es eilt, und ich breite die Arme aus und tänzele über den Rand des blockierten Stromes. Mou, kei...
... waiiiiiiiiii!, schreie ich, als ich in das fremde Wort strauchele und der Joggingstein ins Wasser fällt. Einen Augenblick schwanke ich und rudere mit den Armen. Dann verliere ich das Gleichgewicht, taumele seitwärts und falle der Länge nach in den Weiher. Der Aufprall schlägt weiße Funken auf der schwarzen Oberfläche, das Wasser trifft mich wie der Stoß einer Hochspannungsleitung, der sämtliche Sinne betäubt. Als ich endlich wieder zu mir komme, spüre ich, wie ich in einen Brunnen ohne Grund sinke, versinke.
Milder, nach und nach wird die Dunkelheit um mich herum milder, bald ist es tropisch heiß, und ich höre schlurfende Schritte um mich herum. Es kommt jemand, jemand ist in dieser blinden Dunkelheit, in die ich hineinfalle, unterwegs. Die Luft ist voller erstickter Atemzüge. Vorhänge rascheln. Zeltbahnen flattern im Wind. Holzgefäße klappern. Tiere stampfen. Tief in der Dunkelheit höre ich ein Geräusch wie von einem Teppichklopfer oder Stockschlägen auf Fell und Knochen. Hat da gerade ein Esel geschrien, oder war es ein Kamel, das ebenso klingt? Ich weiß es nicht. Wo bin ich? Wann bin ich? Dumpfe, wie mit Erde bedeckte Stimmen flüstern Worte, die ich weder begreife noch verstehe. Jemand streicht mir sanft über die Stirn. Ich liege stumm auf einem Lager aus Dunkelheit, das hinunter ins Dunkle sinkt, und höre schleppende Schritte und Stimmen, die eifrig tuscheln.
Yio sii ueo, was sagen sie? Keine Ahnung, ich weiß nicht, wann und wo ich bin. Eine Stimme stößt einen schrillen Schrei aus. Rasch wird sie von aufgebrachten Mündern niedergezischt. Reden sie über mich? Fragen sie sich, was sie mit mir anstellen sollen, hier, wo ich liege? Bestimmt bin ich ein Fremder, ein Eindringling in ihr Wo und Wann. Das Teppichklopfen oder die Stockschläge sind jetzt deutlicher zu hören. Vielleicht überlegen sie, wer auf mich losgehen soll. Stimmen murmeln düster in der Dunkelheit. Vielleicht wagen sie nicht, mir etwas zu tun, da ich zu den Lebenden gehöre.
Ja, ich bin in die Geschichte gefallen, die ich schreibe, während die Zeit über den Biberdamm hinweg weiterlief, hinüber auf den Weg entlang der Heddøla. Ich horche und schreibe und horche auf die Geräusche, die ich in der Dunkelheit höre. Die flatternden Zeltbahnen. Die raschelnden Schritte. Die löchrigen Stimmen, die Unverständliches murmeln und hier und da ein unfreiwilliges Schnaufen und Räuspern von sich geben. Die Dunkelheit riecht nach Tierkot und verbranntem Haar. Ich schreibe, gieße Kaffee ein, esse von den Pausenbroten und schreibe über meine Erlebnisse in der lebendigen Dunkelheit um mich herum.
Endlich, endlich bin ich fertig. Es gibt nichts mehr zu schreiben. Meine Geschichte ist beendet. Langsam steige ich zur Oberfläche des hellen Computerschirms auf. Rasch überfliege ich die Geschichte und lese hier und da einen Abschnitt. Doch, es sieht gar nicht so schlecht aus. Ob sie trägt, müssen andere entscheiden.
Ich speichere die Datei auf eine neue Diskette, beklebe sie mit einem Etikett, schalte den Computer aus und stehe steif von meinem Schreibtisch auf. Als ich die Gardine zurückziehe, stelle ich fest, dass es bereits dunkel ist. Ich habe also bis in den späten Abend geschrieben. Die Fenster im Hauptgebäude sind erleuchtet. Sicher ist Anna von ihrer Arbeit bereits nach Hause gekommen.
Ich nenne die Geschichte »Während die Zeit läuft«, schreibe den Titel, meinen vollen Namen und das Datum, 15. September 2001, auf die Diskette und nehme sie mit, als ich aus dem Backhaus über den Hof zum Hauptgebäude gehe.
Die Hoflampe brennt nicht. Und die Außentür ist verschlossen. Merkwürdig, gewöhnlich schließen wir die Türen nie ab, wenn wir auf dem Hof sind. Ich klopfe und rufe: Anna! Anna! Mir geht durch den Kopf, dass es vermutlich das erste Mal ist, dass ich vor unserem Haus stehe und klopfe. Ich klopfe noch einmal und rufe Annas Namen. Aber sie öffnet mir nicht.
Ich warte eine Weile. Nein, kein Laut. Ich lege die Diskette auf die Treppe und rüttele mit beiden Händen an der Türklinke. Da von innen immer noch kein Laut zu hören ist, klopfe ich kräftiger, bis das Türglas klirrt.
Dann höre ich das Öffnen der Wohnzimmertür im ersten Stock und eilige Schritte im Treppenhaus. Die Hoflampe wird eingeschaltet, es knarrt im Schloss, und die Haustür springt auf.
Im Türrahmen steht ein fremder Mann und sieht sich um. Er hat schwarzes halblanges Haar und ist mit einem grünen Seidenhemd und einer weiten grauen Leinenhose bekleidet. Ein teigrundes Gesicht mit markanten Wangenknochen, einer stumpfen Nase und schmalen, beinahe zusammengekniffenen Augen. An den Füßen trägt er große unförmige Schilfpantoffeln. Er ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, möglicherweise etwas älter. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.
»Guten Abend«, sage ich. »Ich wohne auf diesem Hof. Sind Sie vielleicht zu Besuch hier? Ich bin Annas Mann, verstehen Sie?«
Der Fremde antwortet nicht. Sein Kopf dreht sich von einer Seite zur anderen, ohne dass der Blick an irgendetwas hängenbleibt. Dann tritt er über die Türschwelle, bleibt stehen und schaut über den Hof. Einen Augenblick sieht er mir direkt in die Augen, bevor er an ihnen vorbei oder durch sie hindurch auf die Scheune starrt.
»Guten Abend«, sage ich noch einmal und strecke die Hand aus.
Der Mann scheint mich weder zu hören noch zu sehen, denn in diesem Moment entdeckt er die Diskette, die ich auf die Treppe gelegt habe. Er bückt sich, hebt die Diskette auf und bleibt stehen, während er sie hin und her dreht. Als er liest, was ich auf den Aufkleber geschrieben habe, schüttelt er den Kopf und zuckt die Achseln. Noch einmal liest er Titel, Autorennamen und Datum der Diskette. Dann tritt er mit erhobenem Kopf vor und schaut neugierig über den Hof zur Scheunenauffahrt.
Eine Frauenstimme ruft irgendetwas im Treppenhaus. Der Mann dreht sich zur Tür um.
»Keiwai«, sagt er.
Wieder ruft die Frau irgendetwas. Sie hat eine hohe, helle Stimme.
»Mou«, antwortet er.
»Keiwai?«, ruft die Frau oben im Treppenhaus.
»Gwei«, antwortet der Mann, tritt in die Diele und schließt die Tür hinter sich. Die Diskette zwischen seinen beiden Fingern ist das Letzte, was ich sehe, bevor die Tür zufällt. Das Schloss knarrt.
Im Haus höre ich aufgeregte Stimmen und Schritte, die die Treppe hinaufgehen.
Ich bleibe auf dem Hofplatz stehen, und die Außenlampe scheint durch mich hindurch.
Als ich im Winter 1976 die Heimvolkshochschule Sagaheim in Sør-Trøndelag verließ, um hier in Heddal den Erbhof zu übernehmen, nahm ich im Möbelwagen ein Skelett und ein Anatomiebuch mit.
Es hatte sich so ergeben, dass ich an einem stürmischen Februartag kurz vor der Abreise den Auftrag bekam, in der Lehrmittelkammer des alten Gebäudes eine Auswahl der erhaltenswerten Materialien zu treffen. Das Gebäude, in dem Sagaheim seit Gründung der Schule 1898 untergebracht war, sollte abgerissen werden, und wir Lehrer nutzten einen der Samstage, an denen die Schüler nach Hause fuhren, um die Gegenstände, die aufbewahrt werden sollten, auszusortieren und in das nagelneue Unterrichtsgebäude zu transportieren. Der Rest würde in einer Wolke aus aufwirbelndem Staub unter Holzbalken und splitternden Paneelen begraben werden, wenn der Bulldozer das ungeheure Gespensterschloss mit all seinen verzierten Erkern und Balkonen im Schweizer Stil zertrümmerte. Der Abriss begann einige Monate nach unserer Abreise, zur gleichen Zeit, als daheim unser hinfälliger Altenteiler John Deere den ganzen Tag o-beinig über die Felder humpelte, pflügte, eggte, säte und unter bronchialem Dieselschnaufen seines Auspuffrohrs die Frühjahrsarbeit erledigte.
Meine Aufgabe war es also, die Lehrmittelkammer zu durchforsten, allerdings muss man den Raum, den man auf dem weitläufigen Dachboden zwischen zwei Querbalken unter den Dachsparren eingerichtet hatte, wohl eher als einen Verschlag aus ungehobelten Brettern bezeichnen. Die Sparren glichen den Rippen eines gewaltigen Brustkastens, und der Dachboden atmete das Wetter ein, heulte und stöhnte in den Windböen und pumpte sich die Lunge voll mit eiskalter Luft an diesem wutschnaubenden Februartag, so dass der undichte Verschlag kalt und klamm wie ein Hatschi! war. Der elektrische Heizstrahler half überhaupt nicht, daher trug ich einen dicken Mantel und stieß Sprechblasen voller Nebelsätze und anderem diffusen Gerede aus, als ich in Pechnahtstiefeln über die lockeren Bodenbretter stapfte.
Die Arbeit ging rasch von der Hand, da die Objekte mit Etiketten nummeriert und bezeichnet waren, wie man sie auch für Einmachgläser verwendet, und die Sammlung nach den einzelnen Fächern sortiert war: Physik, Chemie, Geographie, Biologie und Geologie. In einem Glasschrank fand sich eine in Spiritus eingelegte stockbesoffene Kreuzotter, eine ausgestopfte Riesenralle, ein ausgesprochen lebendig wirkendes Hermelin und einige andere präparierte Tiere und Vögel, an die ich mich nicht mehr erinnere. Aber ich entsinne mich, dass auf einem der Regale der Schädel eines Vielfraßes und das Skelett eines größeren Fisches lagen, dem man den vertrockneten Kopf offenbar wieder aufgesetzt hatte, damit sein glühender, quellender Blick wie aus gehämmertem Kupfer der Nachwelt erhalten blieb. Die nackte Gräte des Fisches verzweigte sich in haarfeine Knochen und glich einer Bonsaibirke, die man mit ihrem bleichrindigen Stamm und den ebenso weißen Zweigen gerade an einem Berghang gefällt hatte. Ein Biber, der keinen Platz mehr in den Regalen gefunden hatte, saß auf dem Schrank und nagte an einem Espenzweig, unbeirrbar. Die Schnurrhaare des Hermelins zitterten hellwach, und ich hatte den Eindruck, dass seine Augen in kristalliner Furcht glasig schimmerten, wenn ich auf den nachgebenden Bodenbrettern auf und ab ging, die unter meinen Stiefeln mit einem warnenden Klatschen krachten, als würde der Biber auf dem Schrank mit dem Schwanz auf die Wasseroberfläche eines Gebirgsbaches einschlagen. Einzelne Bretter knirschten in ihren rostigen Nägeln, wenn sie unter dem Tritt der Stiefel zusammenzuckten, und mir schien das kratzende Geräusch der Nägel dem Schrei der Riesenralle so unglaublich ähnlich, dass ich mich zumindest einmal umdrehen und den Vogel anstarren musste.
Der größte Teil der Physik- und Chemiesammlung stammte aus dem frühen 20. Jahrhundert, und sonderlich viel blieb nicht übrig, nachdem ich die Gläser mit den unterschiedlichsten Stoffen in Pulverform gesichtet hatte. Die Schalenwaagen wurden gewogen und für zu leicht befunden. Die Deziliterbecher, Literkannen und Meterstöcke maßen auch nicht mehr zeitgemäß und wurden ausgesondert. Dasselbe passierte mit dem Thermometer, das sich in der falschen Jahreszeit befand.
Von dem Gestell mit den alten, ausgefransten Bildtafeln, die in Naturkunde und Bibelgeschichte eingesetzt wurden, suchte ich zwei lebendige Szenerien aus, laut Etikett hatte die Schule sie 1906 angeschafft. Eine der Tafeln zeigte Kain, der Abel vor dem Opferaltar mit dem Kieferknochen eines Esels erschlägt, die andere Josef, der bis zur Hüfte im Wasser steht und die Hände bittend zu den Köpfen der Brüder hinaufstreckt, die wie elf schwarze Sterne am hellen Himmel hoch über ihm den Brunnenrand umringen. Außerdem nahm ich eine Anatomietafel des menschlichen Skeletts und die Abbildung eines gehäuteten männlichen Körpers mit, auf der gezeigt wurde, wie die Sehnen und Bänder das Fleisch am Knochengerüst festzurren und den Körper mit Streifen einwickeln, die mich gleichermaßen an Leichentücher wie Babywindeln erinnerten.
Nur wenige Landkarten stimmten noch mit den politischen Landesgrenzen von 1976 überein, und ich opferte sie alle den Bulldozern. Allerdings rettete ich die ausgestopften Säugetiere und Vögel und schenkte ihnen ein längeres Leben, indem ich sie in eine Ausstellungsvitrine vor den Kunst- und Handarbeitssaal im Neubau sperrte. Auch der gefräßige Biber verlor seine Freiheit und wurde in der Vitrine gefangen gesetzt, wo er weiterhin an seinem ewig währenden Espenzweig nagte. In tausend Jahren hätte dieser Biber sicher nicht mehr geschafft, als den Stock zu entrinden, der dann noch immer knochig weiß schimmern würde.
In einem mannshohen Mahagonischrank ganz hinten im Verschlag stand ein Skelett, das ich schon einige Male gesehen hatte. Doch als ich an diesem Tag an dem Schrank vorbeistapfte, hatte ich den Eindruck, das trockene Rasseln der Knochen zu hören. Es hieß, ein Medizinstudent, der 1918 ab dem Herbst an der Schule hospitierte, hätte das Skelett aus der Universität von Oslo mitgebracht. Und als er in jenem Jahr Mitte Dezember an der Spanischen Grippe starb, blieb das Skelett aus irgendeinem Grund an der Schule. Auf dem Etikett stand: »Knochengerüst eines achtunddreißig jährigen Bauern aus dem Numedal, das Zeitliche gesegnet im August 1835. Gehörte Sjur Loftsgard, den vor Weihnachten 1918 die Epidemie dahinraffte.«
Ja, Sjur war der Name des Medizinstudenten, und es gab durchaus Geschichten über ihn, die den mageren Informationen auf dem Etikett etwas Fleisch auf die Rippen geben konnten. Sjur kam vermutlich nicht nur aus dem gleichen Ort, sondern auch von dem gleichen Hof wie der Numedalbauer, ja, es handelte sich angeblich sogar um das Gerippe seines Großvaters, wie einige vermuteten. Es hieß, dass er möglicherweise deshalb so durcheinander und fahrig reagierte, sobald die Rede auf das Skelett kam. Man hatte mir auch erzählt, dass Sjur der Erstgeborene gewesen sei und sich vorgenommen habe, nach Beendigung seines Medizinstudiums den Erbhof zu übernehmen und sich in seinem Heimatort als Distriktarzt niederzulassen. In der letzten Phase seines Lebens soll er sogar mit seinem Gerippe ins Bett gegangen sein, wie der ehemalige Hausmeister der Schule mir anvertraut hatte. Er schlug den Blick dabei nieder, wobei sein Glasauge mich eisig anstarrte. Verstehst du, sein Großvater trug auch den Namen Sjur, sagte er, ohne dass ich begriff, was ich verstehen sollte.
Nun ja, der alte Hausmeister wusste viel, aber noch mehr konnten mir zwei ehemalige Schüler aus dem Ort erzählen. Beide waren neunundsiebzig Jahre alt und hatten damals Unterricht in Norwegisch, Geschichte und Anatomie bei dem Studenten. Seit ihrer Zeit auf der Heimvolkshochschule hatten sie als Holzarbeiter im Wald gearbeitet, und dieses mühselige Leben mit Bogensäge und Axt in metertiefen Schneewehen und an schwindelheißen Julitagen hatte ihre Körper windschief gemacht und seine Spuren hinterlassen. Ich traf die beiden im Altenheim des Ortes. Der eine saß im Rollstuhl, und wenn er versuchte, sich an 1918 und den Aufenthalt in Sagaheim zu entsinnen, zogen sich tiefe Runzeln über die leberfleckige Stirn, wie bei einem frisch gehäufelten Kartoffelacker mit vielen Furchen, und seine Nase glich auch noch einem alten Pflug mit zwei breiten Scharen und einer langen Spitze bis hin zu den Augenbrauen. Allerdings war die Arbeit bereits getan, denn der Pflug stand nun quer zu den Runzeln am Rand des Ackers.
Die beiden Alten erzählten, dass der Mann, dessen Haut, Bart und Haare die Knochen des Skeletts ehemals polsterten und schmückten, Opfer eines Brudermords in einer der oberen Ansiedlungen im Numedal, im Uvdal, geworden sei. Sjur hatte ihnen alles darüber erzählt. Oben auf dem Schädel konnte man einen Spalt von einer Beilklinge erkennen, schmal wie der Schlitz eines Sparschweins. Ich versuchte es mit einem Fünfkronenstück, es ließ sich durch die Öffnung drücken und klimperte in der leeren Hirnschale.
Zwei Brüder, so erfuhr ich, hatten jeder einen angesehenen Hof in demselben Flecken besessen, und eines schönen Tages, während sie auf dem Höhenzug die Grenze zwischen ihren Viehweiden markierten, gerieten sie in Streit über einen Grenzstein. Bald gab ein Wort das andere, und die Wortgefechte gingen in Axthiebe über. Es wurde ein kurzer, wortkarger Kampf, als die Klingen der Äxte begannen, mit ihren schneidenden Stimmen zu sprechen. Der Mörder versenkte die Leiche in einem kleinen See, doch als er allein zum Dorf zurückkehrte und keine Rechenschaft über seinen Bruder ablegen konnte, begannen die Leute Unrat zu ahnen. Sie bemerkten, dass sein Arm zitterte und bebte, als er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr, und bei jedem Wort, das er stotternd hervorbrachte, verkrampften sich seine Halssehnen, als würde er seinen Durst an einem Bierfass löschen. Und doch kamen seine Worte so merkwürdig sanft wie der Januarregen. »Ich bin nicht meines Bruders Hüter«, soll er gesagt und sich im ersten Stock des Wohnhauses ins Gästezimmer eingeschlossen haben. Man hörte, wie er dort drinnen mit vielen wilden und unbekannten Stimmen heulte und brummte.
Schließlich fand sich eine Truppe von Leuten, die auf den Hochweiden ausschwärmten, wo die Brüder den Grenzverlauf abgesteckt hatten. Drei Tage lang durchkämmten die Nachbarn Gestrüpp und Gebüsch, drangen in eine verlassene Bärenhöhle ein, wateten durch die Weidesenke und zogen an langen Leinen befestigte Eisenhaken durch Flüsse und Seen, aber der Vermisste schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Die Haken holten lediglich Seerosenwurzeln an die Oberfläche, so schleimig wie Aale. Sie riefen und lauschten. Das Echo verspottete ihre Rufe. Rasteten sie, hörten sie die himmelhohe Stille des Almgebiets.
Wenn sie in der Dämmerung auf die Alm zurückkehrten, glitzerten weiße Wiesenkuhschellen in der Luft wie flitzende Felchen im Flussstrom. Dann ergoss sich der Abend über die Heide und verschleierte den Tag. Über der Almhütte füllte sich der Himmel mit blinkenden Glasscherben. Auf der Wiese schnappte die Dunkelheit unter Wacholderbüschen und Krüppelbirken nach Luft. Erst wenn die Männer die enge Kate betreten hatten, wurden sie langsam ruhiger. Die Paraffinlampe brannte. Sie aßen und tranken. Mächtige Blockhausbalken umklammerten sie mit ihren Fingern, Schulter an Schulter saßen sie da, als wären sie zwischen geschlossenen Handflächen in einem Hohlraum verborgen. Die Flamme flackerte an der Wand. Sie redeten wenig. Dann blies der Schlaf sie aus.
Als die Suche am dritten Tag eingestellt wurde, hatte der Trupp zumindest den grinsenden Schädel, das Rückgrat, eine silberne Gürtelspange, einen kostbaren Brustschmuck und einige wenige Knochenreste der Tochter eines Großbauern gefunden, von der das ganze Dorf wusste, dass ein Bergtroll sie eines Nachts, an einem Samstag vor nicht allzu langer Zeit, aus ihrem Haus in Gråbergnuten in den Berg gelockt hatte. Für die Männer sah es so aus, als hätte der Troll das Mädchen mit Haut und Haar verschlungen, um sich dann zu übergeben und die Knochen auszuspucken, hieß es. Was sie zunächst für ein unverdautes Garnbündel ihrer hüftlangen Haare gehalten hatten, erwies sich bei näherem Hinsehen allerdings als Eulengewölle.
Am sechsten Tag nach dem Grenzgang der Brüder trieb der Körper des Mordopfers auf der Wasseroberfläche des kleinen Sees. Aufgequollen lag er in der kräftigen Sonne, unter einer blauschwarzen Gewitterwolke krächzend schreiender Raben. Die Kuhmagd, die den toten Körper entdeckte, hielt ihn im ersten Augenblick für ein Kalb mit Blähmagen.
Vier Mann trugen den aufgequollenen Kadaver an einem späten Augustabend auf einer Bahre ins Dorf. Und es hieß, der Körper leuchtete in einem grünlichen Lichtschein, wie ein Irrlicht über vergrabenen Silberschätzen im Moor oder wie Phosphor, der in tiefer Dunkelheit um geschäftige Fische flackert. Er leuchtete sich selbst heim in der schwarzen Nacht, sagte man. Auf dem steinigen Feldweg bergab kam es zu keinem Fehltritt der Träger. So kräftig leuchtete der Körper, obwohl man ihm Kleider angezogen hatte. Über den Gesichtern der beiden letzten Männer zuckte ein grünlicher Schein von Nordlichtflammen. Die Träger gingen barhäuptig, wie es der Brauch war. Ihre Kehlen waren wie zugeschnürt und verkrampften sich, wenn sie das ein oder andere notwendige Wort herauspressten. Der Tote war bei allen beliebt gewesen. Lange spitze Nadeln durchzogen den Nachthimmel, der ihnen zerkratzt vorkam, wenn sie den Kopf hoben.
Als die Träger an der Kirche vorbeigingen, fingen die Glocken mitten in der Nacht mit schweren Schlägen an zu läuten, als wollte der Himmel mit blitzenden Donnerkeilen Berge aus Eisen und Kupfer spalten. Entlang des Weges zum Hof richtete sich das Mädesüß auf und leuchtete entsetzensbleich im Schein des Toten. Im Kuhstall muhte und im Pferdestall wieherte es, und die Schafe in der Einfriedung blökten, als die Träger den Hof betraten. Der Lichtschein des Toten flackerte und glühte so unheimlich im Luftzug, dass sie es aufgrund der Brandgefahr nicht wagten, die Bahre ins Haus zu tragen, sondern über Nacht auf dem Hof stehen ließen. Und ich hörte, dass sie entdeckten, wie der Lichtschimmer Nachtmotten anzog und Fledermäuse die Bahre umschwirrten, als hätte man winzige flatternde schwarze Zauberbücher in die Luft geworfen, ein schwarzes Zauberbuch nach dem anderen, das in der undurchdringlichen Dunkelheit dort draußen aufloderte.
Als der Bruder sich weigerte, den Mord zu gestehen, schickte der zuständige Lehnsmann den Kadaver zur Obduktion an die Universität von Christiania, denn er hoffte, dass eine anatomische Untersuchung der Leiche den Fall aufklären würde. Nach den Untersuchungen sollte das Skelett in der Sammlung der medizinischen Fakultät bleiben und in den Anatomievorlesungen gezeigt werden, bis also der bereits erwähnte Student Sjur die Überreste seines Großvaters 1918 mit nach Sagaheim nahm, mehr als achtzig Jahre nach dem Mord. Die beiden Alten erwähnten auch, dass Sjur aus der Fakultät noch ein uraltes Anatomielehrbuch mitgenommen hatte. Das Buch war kreuz und quer mit einer Schnur umwickelt und mit einem Doppelknoten und zwei Schleifen zugebunden, die an die durchsichtigen Flügel einer Libelle erinnerten.
Die beiden ehemaligen Schüler erzählten, dass Henrik Wergeland, unser wichtigster Lyriker seit Generationen, anwesend war, als der Körper des Numedalbauern Ende August 1835 geöffnet und in Augenschein genommen wurde. Das konnte durchaus stimmen, denn als es Wergeland nicht gelang, ein Pastorat zu bekommen, nicht einmal das kleinste und unbedeutendste des Landes, begann er 1834 in all seiner unbändigen Schaffenslust mit einem Medizinstudium. Es existieren mehrere verlässliche Zeugenaussagen, dass er in den zwei Jahren seines Studiums an Obduktionen teilgenommen hatte. Soweit ich es verstand, muss ihn die Leichenöffnung des von einer Axt erschlagenen Numedalers in besonderer Weise bewegt haben.
Die beiden Neunundsiebzigjährigen im Altenheim berichteten, Wergeland habe ein Gedicht mit dem Titel »Kain und Abel« geschrieben, und dieses Gedicht handele unter anderem davon, wie die Leiche des Bauern aus dem Numedal im Anatomiesaal der Universität aufgeschnitten wurde. Sie erzählten, dass Sjur seinen Schülern die erste Hälfte des Gedichts in seiner letzten Unterrichtsstunde vorgelesen hatte, wenige Tage bevor er starb. Aber er hätte es sicherlich nicht gewagt, uns den Schluss vorzulesen, sagte einer der beiden. Nein, das hätte er bestimmt nicht, sagte der andere. Denn die zweite Hälfte dieses Gedichts ist hellsichtig und blickt weit, nein, weiter als weit in die Zukunft hinein, sagte der Erste. Ja, zumindest hat Sjur uns das erzählt, bevor er zu lesen anfing, sagte der andere. Möglicherweise hat das Gedicht auch ein Auge auf uns, so wie wir jetzt hier sitzen, sagte der Erste. Nein, es blickt sicher noch weiter voraus, sagte der andere. Bestimmt, denn Sjur erzählte, dass es ein weitsichtiges Gedicht sei, das über unsere Köpfe blicken und direkt in die Jahrtausende schauen würde, sagte der Erste. Und er behauptete, dass das Gedicht schlicht und einfach lebensgefährlich sei, sagte der andere. Ja, Sjur hatte ja alles gelesen, was auf den Blättern stand, sagte der Erste. Und daher erging es ihm auch so, wie es ihm ergehen musste, sagte der andere. Wergeland war anders, sagte der Erste. Ist, sagte der andere, er ist anders. Und bleibt, sagte der Erste, er bleibt anders.
Jedes Mal, wenn die beiden Alten über Wergelands Gedicht sprachen, breitete sich eine feierliche und andächtige Stimmung aus. Ich glaube, daran kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ihre Hände wurden lebhaft, und die steifen, gichtigen Finger fingen an, in der Luft zu klimpern. Ihre Worte berührten mich. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie mir, wie sie dort vor mir saßen – malträtiert vom Leben und Zeugen eines besonderen Ereignisses in ihrer Jugend –, mit einem Mal so großäugig und kindlich vorkamen, dass sich die Runzeln in ihrem Gesicht glätteten und die Wangen weich und weißgolden wurden, wie eine dünne Schicht Haut auf der Sahne vom vorigen Tag.
Sjur hatte eine ganze Schulstunde darauf verwendet, ihnen klarzumachen, wovon das Gedicht handelte und wie es entstanden war. Er leitete die nächste Stunde damit ein, dass er den Knoten öffnete und das alte Anatomiebuch aufschlug. Ganz hinten, zwischen Text und Einband, steckten eine Reihe loser Blätter. Sjur zog sie heraus und hob die erste Seite vor den Schülern in die Luft. Sie sahen, dass die Seite von Buchstaben und Zeichen übersät war, die sich auf der Rückseite des Blattes zu Mustern ordneten wie Eisenspäne über einem Magneten.
Hier ist das Gedicht, von dem ich euch erzählt habe, hatte Sjur gesagt. Es wurde im Winter 1836 von Wergelands eigener Hand geschrieben. Das Gedicht steht nicht in seinen Gesammelten Werken. Es wurde niemals gedruckt. Ich bin der Einzige, der es gelesen hat. Ihr werdet die Ersten sein, die es zu hören bekommen. Aber ich breche mitten im Gedicht ab. Mehr als sieben der vierzehn Seiten wage ich nicht zu lesen. Dieses Gedicht hat zu viel gesehen. Die letzten sieben Seiten starren ohne Augenlider in eine Zukunft, die zu erblicken niemand von uns stark genug ist. Das Gedicht würde uns blenden und erblinden lassen. So unnachsichtig ist es. Wergeland wollte nicht, dass »Kain und Abel« von irgendjemandem gelesen wird. Er selbst hatte eine furchtbare Angst vor seinem eigenen Gedicht. Ja, er wurde regelrecht krank und musste das Bett hüten. Das Gedicht streckte ihn nieder, zapfte ihm seinen Lebenssaft ab und saugte ihm das Mark aus. Zwei schwere Sommermonate lag der robuste Wergeland wie ein Scheintoter auf dem Leichenbett und nahm die Welt um sich herum kaum mehr wahr. Seine Augen waren zwei ausgebrannte Kohlestücke in einem Schneemanngesicht. So gespenstisch blieb die zweite Hälfte des Gedichts für seinen Verfasser. So gespenstisch wäre es auch für uns. »Kain und Abel« ist ein Fremder in unserer Zeit. Wir ertragen es nicht. Die Welt ist noch zu jung und zu unerfahren für dieses Gedicht. Es ist weit entfernt in den verzweifelten und entlegenen Jahrtausenden zu Hause, in die unsere Gedanken nicht reichen, versteht ihr.
Das Skelett, erfuhr ich, stand neben ihm vor der Wandtafel, als der Student Sjur den Schülern die erste Hälfte von »Kain und Abel« vorlas. Sjurs teerschwarze Mähne und der dunkle Anzug wurden eins mit der schwarzen Tafel, so dass sein Gesicht plötzlich schmal und kreidebleich wie ein weißer Aal hervortrat und alle Blicke auf sich zog. Das Gerippe, das neben ihm stand, hätte auch ein Skelett sein können, das jemand mit Kreide an die Tafel gemalt hatte, sagte einer der beiden Greise. Der Ständer hob den Knochenmann ein wenig über den Boden, so dass das Skelett fast genauso groß war wie der Student, es war schon ein sehr seltsames Bild, wie sie Schulter an Schulter über die Schülergruppe blickten, sagte der andere Neunundsiebzigjährige. Beeindruckend, aber doch nicht erschreckend, sagte der Erste. Ich fand, sie sahen sich ähnlich, sagte der andere. Tja, so wird’s wohl gewesen sein, sagte der Erste. Sjurs dunkelbraune Augen befanden sich auf der Höhe der schwarzen Augenhöhlen des Skeletts, und die Blicke der Schüler wanderten unruhig von einem Kopf zum anderen.
Wie sich herausstellen sollte, wurde es Sjurs letzte Unterrichtsstunde in Sagaheim. Er hustete und nieste gleichzeitig, ein erster Hinweis auf die Spanische Grippe, die ihn nur wenige Tage später ins Grab bringen sollte. Das Taschentuch, das er häufig hervorzog, war vom Nasenblut rot gesprenkelt. Schweiß stand ihm auf der Stirn, die Augen loderten, und nach jedem Hustenanfall schnellte das Fieber hoch und zeichnete rote Streifen auf die wachsbleichen Wangen. Sein Gesicht war ebenso rot gestreift wie die weißen Blumen dort, sagte der eine der beiden Alten und wies auf eine Geranie, die über dem Fensterbrett hing und deren Blüten dünne blutrote Streifen auf den kalkweißen Kronblättern hatten. Aber obwohl Sjur sich die Seele aus dem Leib hustete, gelang es ihm, mit seiner von der Krankheit inzwischen krähenheiseren Stimme Wergelands Gedicht vorzutragen.
Als der Student die erste Hälfte des Gedichts gelesen hatte, faltete er die Blätter zusammen, steckte sie wieder in das Anatomiebuch, umwickelte es mit der Schnur und band den Flügelknoten. Dann räusperte er sich, dankte den Schülern mit einer klareren Stimme für ihre Aufmerksamkeit und verließ rasch das Klassenzimmer. Sie sahen ihn nie wieder.
Das Skelett hatte er am Katheter stehen lassen, kreideweiß hob es sich von der schwarzen Tafel ab. Die Schüler blieben noch eine Weile sitzen und versuchten, sich zu beruhigen, während das Gedicht sich wie ein Bleigewicht in ihnen senkte. Das Gerippe stand da wie ein Lehrer und verschaffte sich mit strengem Blick Respekt. Wenn sie wollten, konnten die Schüler dem Tod in die Augen sehen, aber sie schlugen die Blicke nieder und starrten auf ihre Pulte, und eine lange Zeit herrschte Grabesstille. Es war so leise, dass ich nichts anderes hörte als meine eigenen Atemzüge, sagte einer der beiden Alten. Endlich stand der für die Ordnung in der Klasse zuständige Schüler auf, ging nach vorn, umfasste das Skelett vorsichtig mit beiden Händen und trug es in das Internatszimmer, in dem Sjur wohnte. Die anderen blieben an ihren Pulten sitzen, schweigend und nachdenklich. Etwas war geschehen, aber wir wussten nicht, was, sagte der Greis im Rollstuhl. Dann läutete der Rektor mit der Schulglocke im Hof. Es klang wie der hohle schleppende Klang einer Beerdigungsglocke, und sofort stoben die Schüler wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm auf und stürmten zur Tür, erzählten sie.
Wir haben ja lediglich die Hälfte des Gedichts »Kain und Abel« gehört, sagten die Alten, und dieser Teil handelt vor allem von dem Brudermord und der Obduktion des Mordopfers aus dem Numedal. Sjur brach seine Lesung in dem Moment ab, als Wergeland sich während einer Anatomievorlesung das Skelett ansieht und gleichzeitig an seinem Gedicht schreibt. Und genau das hat uns vermutlich so beeindruckt: dass wir mit dem Gerippe allein blieben, das Wergeland in seinem Gedicht beschreibt. Er hatte die Leiche ja selbst mit zerschnitten und zerteilt, und nachdem sie einige Tage in einer Wanne mit Lösungsmitteln lag, hatte Wergeland jeden Knochen von Muskel- und Fettgeweberesten sauber gescheuert und geschabt. Dabei befreite er das Skelett von verfaultem Fleisch, so wie ein Bildhauer eine leibhaftige Gestalt aus einem leblosen toten Marmorblock schlägt. In seinem Gedicht vergleicht Wergeland das Gerippe immer wieder mit einer Skulptur und die Knochen mit dem unterschiedlichsten Marmorzierrat. Die Öffnung der Leiche und die Reinigung des Gerippes werden im Gedicht detailliert beschrieben, und die Worte, die wir gerade gehört hatten, wogten noch wie ein luftig-leichter Flor um das Skelett, das vor der Tafel stand. Das Gerippe war in Wergelands Worte gekleidet. Wir saßen stocksteif da und hatten das Gefühl, auf die Marmorskulptur eines Menschen zu starren.
Wie in den meisten Gedichten Wergelands jagte ein Bild das nächste, sagten die Alten. Als Sjur ihnen das Gedicht vorlas, schien es, als blättere er in einem Buch über einen Kunstmaler, in dem der gedruckte Text lediglich ein Drittel der Seiten füllt. Die Illustrationen traten über die Ufer, als wollten sie das Geschriebene überschwemmen, sagte der Erste. Ein Motiv diente als Sprungbrett für das nächste und übernächste und überübernächste, sagte der andere. Ja, das Gedicht sprang sozusagen von Bild zu Bild, wie jemand, der mit dunklen Erklärungen von Stein zu Stein über ein trübes, sumpfiges Gelände hüpft, sagte der Erste. Die Wörter waren stets bereit, ja geradezu auf dem Sprung zu ständig neuen und überraschenden Blickwinkeln, sagte der andere.
»›Kain und Abel‹ muss eines der gewaltigsten Gedichte Wergelands sein, denn ich erinnere mich an die Lesung, als wäre es gestern gewesen«, sagte der Alte im Rollstuhl. »Vermutlich ist noch nie ein Gerippe auf eine schönere Weise geehrt worden. Ich entsinne mich, dass Wergeland das Skelett in dem Gedicht als den marmorweißen Schatten unseres Körpers bezeichnet, und er sagt, dass dieser Schattenbruder in uns leuchten wird wie Alabaster, selbst nach Tausenden und Abertausenden von Jahren. Und dann beschreibt er die Rippenbögen als zwei nebeneinanderstehende Harfen und die Farbe des Schädels als fahlgelben Quarz, er nennt es Jaspis. Und die Hüftbeine würden an zum Flug ausgebreitete Flügel von Schmetterlingen erinnern. Und die Wirbel des Rückgrates an versteinerte Lilienknospen.«
»Ja, daran erinnere ich mich auch«, warf der andere Neunundsiebzigjährige ein. »Und bevor Sjur aufhörte zu lesen, daran entsinne ich mich auch noch, erkennt Wergeland im Rückgrat einen weißen Brunnenaal. In einer Art Erscheinung sieht er, wie dieser knöchern weiße Aal tief im Innern des Menschen in stockfinsterer Dunkelheit schwimmt. In dem Gedicht steht, soweit ich mich erinnere, dass die Schwärze den Aal strahlend weiß gewaschen hat und er in der Dunkelheit leuchtet. Ja, aber der genaue Wortlaut fällt mir nicht mehr ein, wie du dir denken kannst. Aber die Bilder sehe ich noch immer ganz genau vor mir. Das Rückgrat schlängelt sich wie ein weißer Aal auf dem Grund eines Brunnens, so ungefähr hieß es in dem Gedicht. Der Aal windet sich gefügig und folgt all unseren Bewegungen, stand da. Und wenn ich die Augen schließe, sehe ich diesen Brunnenaal, wie er sich tief in der Dunkelheit in mir schlängelt. Ja, ich sehe es ganz deutlich. Unser Rückgrat mit einem weißen Brunnenaal zu vergleichen ist schon merkwürdig, nicht nur eigenartig. Aber das liegt wohl daran, dass der Vergleich so verblüffend ist, zumindest kann ich mich nach all den Jahren noch sehr gut an diesen Aal erinnern. Oder weil ich damals noch jung und empfänglich war. Oder weil es der todkranke Sjur war, der das Gedicht in seiner letzten Unterrichtsstunde bei uns vorlas. Wenn ich in den Sommern danach im Fluss kraulte und an den tiefen Stellen tauchte, habe ich mir oft vorgestellt, dass mein Rückgrat ein solcher weißer Aal wäre, der sich in meinem Körper und auf dem Grund des Flusses windet. Und ich meine auch noch im Gedächtnis zu haben, dass das Gedicht über eine weiße Flamme sprach, die tief in der Dunkelheit in uns flackert und leuchtet.«
»Ja, daran erinnere ich mich auch«, sagte der andere Greis. »Sjur beendete seine Lesung genau an der Stelle, an der das Gedicht diese weiße Flamme erwähnt, die ständig, die ganze Zeit über in uns brennt, ohne dass jemand sie sehen kann.«
»Nur der Tod kann die Flamme sichtbar werden lassen.«
»Aber darüber stand nichts im Gedicht«, sagte der andere.
»Nein, das tat es wohl nicht.«
»Das Furchtbare aber ist, dass dieser Brunnenaal irgendwann einmal pechschwarz werden wird.«
»Und steif«, sagte der Erste, »vollkommen stocksteif und tot wie ein Stein.«
»Ja, das steht wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des Gedichts.«
»Unheimliche Geschöpfe werden entstehen«, sagte der Erste.
»Ja, und das Rückgrat wird sich bei ihnen zu einem aalschwarzen Schwanz auswachsen. Und dieser Schweif ist länger als die Füße. Wenn diese Geschöpfe vorwärtsgehen, wühlt der Schwanz die Erde hinter ihnen auf wie eine Pflugschar. Schon bald werden sie also auf allen vieren kriechen, weil es ihnen so leichter fallen wird voranzukommen. Wenn der Schwanz hoch in die Luft ragt, meine ich. Denn der ist hart wie eine Eisenstange und lässt sich nicht verbiegen. Da ist es von Vorteil, auf allen vieren zu kriechen, damit der Schwanz den Boden nicht aufwühlt.«
»Ja, Sjur erwähnte so etwas. Darum wagte er es nicht, uns den Rest vorzulesen«, sagte der andere.
»Nein, das ist wahrlich nicht angenehm«, sagte der Erste.
»Ich bin froh, dass ich bald achtzig werde und keine Kinder und Enkel hinterlasse«, sagte der andere.
»Tja, das kannst du wohl sagen«, sagte der Erste.
Ich saß vor den beiden Alten und hörte zu. Sie redeten, als gehörte das Gedicht ihnen, als hätten sie es sich zu eigen gemacht. Aber je mehr ich hörte, umso größere Bedeutung bekam das Skelett im Materialraum für mich, das konnte ich nicht leugnen. Nach dem Besuch im Altenheim schlich ich mich oft auf den Dachboden und öffnete die Tür des Mahagonischranks. So viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, wenn ich dort stand und das Knochengerüst betrachtete. Häufig nahm ich eine heftig blakende Sturmlaterne mit, schaltete die nackte Birne an der Decke aus und ließ das Licht der Lampe in die Hohlräume zwischen den Knochen fallen. Das Licht füllte die Augenhöhlen mit Funkeln, gaukelte Herz und Lunge im leeren Brustkasten vor, schuf breite Schultern und modellierte einen muskulösen Männerkörper, den ich schließlich in eine schimmernde Tracht kleidete. Und mit einem Mal stand dort im Schrank vor mir ein springlebendiger Numedalbauer aus dem 19. Jahrhundert, der ein grauweißes Gewand aus Fries trug. Seine glatte Gesichtshaut bestand aus Leder, das eindeutig echter Haut ähnelte. Aber auf der fahlen Schrankwand hinter dem Bauern sah ich, dass sein löchriger Schatten sich als spöttische Karikatur des stattlichen Mannes abzeichnete, den ich erschaffen hatte.
»Erschreckend, wie du an diesem Numedaler hängst«, sagte einer meiner Schüler nach einer Literaturstunde über Wergeland und den Brudermord im Uvdal zu mir. Ich hatte mich nicht beherrschen können, sondern das Skelett mitgenommen und präsentiert.
»Fandst du es nicht interessant?«, wollte ich wissen.
»Doch schon, aber wenn du von etwas besessen bist, hört sich halt alles spannend an bei dir.«
»Auch Lyrik kann spannend sein, meinst du?«
»Ja, und letzten Endes du auch.«
»Meinst du?«
»Ja, genau das meine ich«, erwiderte der Schüler.
Nun ja, es ist klar, dass ich mich etwas über die Maßen für das Gerippe begeisterte. Unendlich lange konnte ich vor dem Mahagonischrank stehen und grübeln. Das Skelett bedeutete mir jedes Mal etwas anderes und Größeres als nur ein Haufen klappernder Knochen. All diese Geschichten, die den Studenten überlebt hatten, bliesen so viel Leben in dieses Leblose, dass ich tatsächlich den Eindruck hatte, die flötenden Bitten um Gnade der hohlen Knochenpfeifen und das Flüstern des Blutes in diesem Etwas zu hören, das eher an einen Metallmenschen aus einem Meccano-Baukasten erinnerte als an die rasche Skizze eines Mannes durch einen Künstler. Längst wurde das Skelett mit Leben von meinem Leben beseelt, und gleichzeitig erweckte dieser Knochenmann mich zum Leben. Beide nahmen und gaben wir, symbiotisch. Meine Phantasie ließ ihn zu kräftigem Fleisch und saftigem Blut werden, sie tropfte quecksilbrige Unruhe in seine Augenhöhlen, sie ließ die Worte, die ich sprach, auf die Ambosse seiner Gehörgänge hämmern und stopfte die leere Hirnschale mit meinen Träumen voll, sie staffierte ihn mit handgewebten Kleidern aus und gab ihm ein düsteres Schicksal, aus dem mein Leben neues Leben saugen konnte.
Je heftiger mich das Gerippe in Bann zog, desto unbändiger trachtete ich nach dem Gedicht, das Wergeland nach der Obduktion schrieb. Sjur hatte in seiner letzten Stunde erzählt, dass »Kain und Abel« unveröffentlicht blieb. In dem Herbst, in dem Sjur an der Spanischen Grippe starb, erschienen die ersten Bände der Gesammelten Werke Wergelands. Die redaktionelle Arbeit an der ungeheuren Produktion, die der siebenunddreißigjährige Dichter hinterlassen hatte, nahm die gesamte Zeit zwischen den Weltkriegen in Anspruch – länger, als Wergeland selbst als Schriftsteller tätig war –, und die Ausgabe umfasste dreiundzwanzig breitrückige Bände, als sie 1940 endlich abgeschlossen wurde.
Ich nahm mir sämtliche Bände vor und begnügte mich nicht allein mit dem Inhaltsverzeichnis jedes einzelnen Buches, sondern prüfte Seite für Seite, um zu kontrollieren, ob sich »Kain und Abel« nicht unter einem anderen Titel verbarg oder in ein größeres Gedicht eingeflochten war. Die Prosa überflog ich nur, aber in der Lyrik fand ich auch bei flüchtiger Lektüre häufig eine Beute, nach der ich schnappte. Und als ich mit dem dreiundzwanzigsten Band begann, war ich noch ebenso eifrig wie zu Beginn, als ich mich auf den ersten gestürzt hatte.
Ich fand nichts. Weder in den Vorworten noch in den Texten oder den oft langatmigen Fußnoten entdeckte ich »Kain und Abel«. Nicht einen Schimmer, nicht einen Funken, nicht einen einzigen Hinweis auf das Gedicht sah ich auf diesen Tausenden und Abertausenden von Seiten, mit deren Sammlung und Redaktion zwei der wichtigsten Wergeland-Forscher