Die Chimäre - Silben der Macht - Martin Alexander - E-Book

Die Chimäre - Silben der Macht E-Book

Martin Alexander

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Beschreibung

Ezra sieht aus wie eine gewöhnliche junge Frau, doch der Schein trügt. Zunehmend entwickelt sie besondere Fähigkeiten: Sie ist unmenschlich schnell und zäh, und ihre Sinne schärfen sich. Die Menschen im Dorf meiden sie, und als Inquisitoren der Sonnenkirche auf sie aufmerksam werden, muss Ezra fliehen. Auf ihrer Flucht findet sie heraus, dass sie tatsächlich etwas Besonderes ist: eine Chimäre. Das Ergebnis eines magischen Experiments der drei Türme. Von da an beherrscht Ezra nur noch ein Gedanke: sich an ihren Schöpfern zu rächen und ihren Fluch zu lösen ...

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG: EIN URTEIL IM DUNKELN

1: ZU GAST BEI EINEM MENSCHENFRESSER

2: SPUREN IM SAND

3: HUNDE, DIE BELLEN …

4: EINSAM WÄHRT AM LÄNGSTEN

5: ÜBER DEN DÄCHERN UND IN DEN GASSEN

6: KATZ UND MAUS UND EIN STELLDICHEIN

7: MIT STAUB UND SCHWERT

8: VON ZAUBERERN UND ZÄNKERN

9: REDEN IST SILBER, REITEN IST GOLD

10: FÜNF FINGER, EINE HAND

11: VON MÄUSEN UND SALZMENSCHEN

12: AUGE UM AUGE

13: ENTDECKUNGEN

14: DIE ERSTE SILBE

15: TOTER WURM UND ZARTE BANDE

16: HARPYIENBLUT

17: HARPYIENFLUG

18: HARPYIENFALL

19: DIE ZWEITE SILBE

20: IM NETZ DER SPINNE

21: DIE GRÜNEN SCHWESTERN

22: DIE DRITTE SILBE

23: ABSCHIED

EPILOG: WIEDERSEHEN

ANHANG I: VOM LAUFE DER SECHS SONNEN

ANHANG II: VOM EWIGEN BERG UNDDER GREMLINSCHEN ANOMALIE

DANKSAGUNG

MARTIN ALEXANDER

DIECHIMÄRESILBEN DER MACHT

ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Sabine Biskup, KölnKartenillustration: Markus Weber, Guter Punkt, MünchenTitelillustration: © Camille KuoUmschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2352-8

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Rebecca

PROLOGEIN URTEIL IM DUNKELN

FESTE EULENSTEIN, PURPURSONNE, IM JAHR 7 NACH DEM UNTERGANG

»Ezra Biestweib, geboren in Märesch am Fuße des Tahlat!«, hallte Berolfs Stimme durch das Verlies. »Ist das Euer Name?«

Aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Daraufhin trat der Kommandant der Feste Eulenstein näher an die schmale Grube heran. Für einen Mann seines Ranges waren seine Schritte bemerkenswert zögerlich. Die beiden anderen Anwesenden, sein Adjutant Fenthaim und der klumpfüßige Kerkermeister, rührten sich indes nicht vom Fleck. Fast hatte es den Anschein, sie fürchteten sich davor, dass etwas aus dem schwarzen Loch herausspringen könnte. Dabei war es von außen betrachtet nichts Besonderes; wie jede andere Zelle stank es nach Pisse und Dreck.

Berolf blieb stehen und zog die Handschuhe aus. Feine Eiskristalle rieselten zu Boden, als er sie in den Gürtel steckte. Grimmig schnaubend rieb er sich die Finger. Für gewöhnlich mied er den Kerker, aber an einem Purpurwintertag wie diesem war es der wärmste Ort in der ganzen Festung. Hinter ihm röchelte der Schließer in kurzen Atemzügen. Die jahrelange Arbeit in dem feuchten Gewölbe hatte auf der Lunge des Mannes Spuren hinterlassen. Nur ab und zu wurde das nasse Keuchen von dem Knistern der Schriftrolle unterbrochen, die sein Adjutant nervös umklammerte.

Das Geräusch erinnerte Berolf an seine Pflicht. Es war so weit. Er glättete seinen Waffenrock und fuhr nachdenklich über die Fibel, die seinen Mantel zusammenhielt. Seine Fingerspitzen prickelten bei der Berührung des kalten Metalls. Die schwertförmige Eisenspange war das Abzeichen seines Standes. Er war ein Ritter der Langen Wacht, einer der zwölf Orden, die im Erbfolgekrieg für Haus Steinershag gekämpft, doch verloren hatten. Als Ordensritter war er ein treuer Diener Herzfeldens und, seit die Fürsten Frieden geschlossen hatten, auch ein Untertan des Voxanten von Oktanien – gezwungenermaßen.

Voxant! Wenn Berolf diesen Titel schon hörte, kam ihm die Galle hoch. Verfluchte Æstaryaner! Wie konnte man nur auf die Idee kommen, seinen Herrscher zu wählen? Das wäre gerade so, als würde man sich seine Eltern aussuchen. Nein, ein König war von höheren Mächten auserkoren, geweiht im Lichte des Sonnenvaters. Früher hatte es eine kaiserliche Familie gegeben, imperiale Dynastien. Doch mit Kendorian V. hatte das Geschlecht derer von Venizar seinen letzten Erben verloren, und das Royum war untergegangen. Ertrunken in Blut und Stahl und Intrigen.

Noch einmal berührte Berolf die eiserne Spange. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe von fast drei Ellen auf. Was er nun tun musste, war nichts weiter als eine Amtshandlung. Doch weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten hatte er diesen Teil seiner Pflicht genossen. Er hatte nie Gefallen daran gefunden, mit Worten zu töten. Ein Stück Stahl in den Leib eines Mannes zu bohren und ihm beim Sterben in die Augen zu blicken war blutiger, aber wenigstens ehrlich.

Und in diesem Fall handelte es sich noch nicht einmal um einen Mann, sondern um ein Weibsbild. Hätte sich das dumme Ding nicht anderswo aufgreifen lassen können? Warum ausgerechnet hier, in seinem Revier, mitten im Nirgendwo?

»Hatte die Frau irgendetwas von Belang bei sich?«, fragte Berolf unwirsch.

»Nur diese beiden Klingen.« Sein Adjutant Fenthaim deutete auf eine Streckbank, auf der ein Messer und ein Kurzschwert mit einem obszönen Griffstück lagen. Das Heft hatte die Form einer Harpyie mit prallen Brüsten. »Ach ja, und das hier«, fügte er hinzu und reichte dem Kommandanten ein klebriges Fläschchen.

Berolf roch an der kleinen Flasche und stellte sie angewidert beiseite. »Igitt, was ist das?«

»Granatapfelsirup«, antwortete Fenthaim stolz. »Der Onkel meiner Verlobten hat eine Plantage, unten im Land der Dreizehnten Stunde. Letztes Jahr hat er uns eine ganze Kiste geschickt. Sehr gut für Soßen, vor allem zu Wild.«

»Wo steckt eigentlich der Denunziant?«, fragte Berolf. Er war nicht hier unten, um sich Familiengeschichten anzuhören oder Rezepte auszutauschen. Angestrengt starrte er in die finstere Grube, ohne auch nur das Geringste zu erkennen.

»Als ich ihn heute Morgen befragen wollte, war er nicht mehr in der Burgschenke«, erwiderte Fenthaim kleinlaut. »Er ist über Nacht verschwunden, Herr Kommandant. Spurlos.«

»Wie kann er spurlos verschwunden sein? War das Tor nicht geschlossen und bewacht?«

»Doch, Herr Kommandant«, gab Fenthaim zu und blickte zu Boden. »Er muss es auf anderem Weg aus der Festung geschafft haben. Und er hat noch nicht einmal das Kopfgeld eingestrichen«, ergänzte er nach einer kurzen Weile. »Aber bei dem Schneegestöber da draußen wird er bestimmt nicht weit kommen. Weiß der Aschenmann, was ihn geritten hat.«

»Tausend Gulden, was für ein Narr«, murmelte der Kerkermeister und gab dabei ein merkwürdiges Gurgeln von sich.

Berolf war sich nicht sicher, ob der Klumpfuß lachte oder hustete. Er hoffte nur, dass was auch immer er hatte, nicht ansteckend war.

»Warum sollten wir so einem dahergelaufenen Kerl überhaupt Glauben schenken, wenn er nicht mal den Mumm hat auszusagen?« Der Zweifel in Berolfs Stimme war nicht zu überhören.

»Das Siegel des Steckbriefs ist echt, Herr Kommandant. Und die Frau … Ihr hättet sie sehen sollen, als die Soldaten sie festgenommen haben.«

Ein Knurren unterbrach Fenthaims Ausführungen. Es kam aus der Grube, kurz und kehlig. Und so leise das Geräusch auch war, es ging den Männern durch Mark und Bein.

Auf einen Schlag waren Berolfs Bedenken ausgelöscht. Mit einer knappen Geste winkte er seinen Adjutanten heran. »Reicht mir den Steckbrief, Fenthaim. Und du«, fuhr er an den Kerkermeister gewandt fort, »leuchte hinab! Ich will diesem Biestweib in die Augen sehen, wenn ich das Urteil verlese.«

Fenthaim zauderte für einen Moment, aber schließlich siegte sein Pflichtbewusstsein. Gehorsam trat er vor und reichte dem Kommandanten die Schriftrolle. Scheinbar gleichgültig schlurfte auch der alte Schließer heran, doch die Fackel in seiner Hand zitterte.

»So pass doch auf«, fuhr ihn Berolf an, »oder willst du mir die Haare ansengen?«

Der Kerkermeister senkte die Flamme, und zum ersten Mal fiel Licht in die Grube. Das Loch war weder besonders breit noch lang, dafür aber fast viereinhalb Schritt tief. Rostige Eisendornen zierten den Rand, und ein schmieriger Film überzog die Felswände. Der Ölstein, auf dem große Teile der Feste standen, war so glitschig, dass er selbst für geschickte Kletterer unbezwingbar war.

Von hier oben wirkte das Weib alles andere als Furcht einflößend. Zusammengekauert hockte sie auf dem blanken Stein. Vollkommen nackt. Mit spitzen Schultern und sehnigem Leib. Berolfs Blick wanderte über den Boden, die ölig glänzende Wand hinauf, zurück zu dem Schriftstück, das er in Händen hielt. Er hatte noch nicht zu lesen begonnen, da überkam ihn plötzlich ein kalter Schauer, das ungute Gefühl, gerade etwas übersehen zu haben …

»Leuchte noch mal nach unten«, drängte er den Kerkermeister. »Na los, mach schon!«

Erneut tanzte das Licht der Fackel über den Felsboden. Und dann sah er es: Gleich zu Füßen der Frau lagen tote Ratten – sieben an der Zahl. Ihre Kadaver bildeten einen fein säuberlich angeordneten Kreis. Berolf zog sich der Magen zusammen, und das nicht nur wegen der unheiligen Ziffer. Um die Tiere mit bloßer Hand zu fangen, musste man schnell sein. Fast unmenschlich schnell. Schon der kleinste Lichtschimmer genügte für gewöhnlich, damit die scheuen Nager Reißaus nahmen.

Als ob sie seine Unruhe spürte, legte die Frau den Kopf in den Nacken und starrte ihn an. Ihre Augen glommen in einem blassen Gelb. Berolf musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen. Doch er hielt ihrem Blick stand. Von so einem Biestweib würde er sich nicht ins Knochental jagen lassen! Er atmete zweimal tief durch, dann hatte er sich wieder gefasst – schneller als seine Begleiter. Selbst der hartgesottene Kerkermeister wirkte mit einem Mal wie ein junges Bübchen. Um ihn zu beruhigen, legte Berolf die Hand auf seine Schulter und wartete bis das Flackern der Fackel nachließ.

Dann rollte er das brüchige Pergament in seinen Händen auseinander und überflog den Inhalt. Die stümperhafte Kohlezeichnung hatte nur grobe Ähnlichkeit mit dem Weib in der Grube. Der Steckbrief war bereits vor einigen Jahren in Bardenfeld ausgestellt worden, von einem gewissen Freiherrn Rychart von Markensil, der sich als letzten Statthalter des Fürsten von Athanor bezeichnete. Es gab viele Legenden, die sich um den Fall des Hauses Thelius rankten. Das Schwefelfürstengeschlecht war kurz nach dem Erbfolgekrieg ausgestorben. Es hieß, alle Mitglieder der Familie seien am Blauen Samt erstickt, dem geheimnisvollen Gift, dessen Rezeptur nur sie selbst gekannt hatten.

Berolf vertrieb die Gedanken mit einem lauten Räuspern und begann, den Steckbrief zu verlesen: »Im Namen von Fürst Vaaran aus dem Hause E’Kyl, Voxant von Oktanien, Einiger des zerfallenen Reiches und einzig wahrer Herrscher unter den Sechs Sonnen, wird hiermit befohlen, das Biestweib Ezra aus dem Weiler Märesch im Fürstentum Rukkenschwing festzuhalten und der Obrigkeit zu übergeben. Die Schandgeburt des Teebauern Dokar und seiner zweiten Frau Hialda hat sich unzähliger Verbrechen und Missetaten schuldig gemacht: der Unzucht mit Vertretern der Sonnenkirche, der Rädelsführerschaft beim Chimären-Aufstand von Aschenbelt, des dutzendfachen Kinderraubes und des Mordes an Fürst Emerald Thelius von Athanor sowie der allgemeinen Mordlust und Niedertracht. Zu bestrafen ist sie mit dem Tode.« Berolf hielt inne und rollte das Pergament zusammen. Dann reckte er es wie ein Zepter in die Höhe und verkündete mit fester Stimme das Urteil: »Ezra Biestweib, am nächsten Morgen bei Aufgang der Purpursonne werdet Ihr hängen! Ein letzter Wunsch wird Euch nicht gewä…«

»Halt!«, schallte es plötzlich durch das Gewölbe.

Berolf fuhr herum. Fenthaim und der Kerkermeister ebenso. Es war Bruder Ukaris, der die Urteilsverkündung störte. Der Sonnenpriester der Feste Eulenstein torkelte hastig auf sie zu. Dabei gab er ein groteskes Bild ab: Seine dürren Storchenbeine ragten unter der viel zu kurzen Kutte hervor, und die bunte Kordel schleifte ungebunden über den Boden. Hatte man nicht schon am schwankenden Gang erkannt, dass Ukaris, wie so oft, betrunken war, so hatte man nun, als er näher kam, Gewissheit. Der Kirchenmann stank nach Wein, und sein Gewand war ebenso rotfleckig wie seine Wangen.

Berolf kniff die Augen zusammen, was ihn noch bedrohlicher wirken ließ. Dies schien den Priester jedoch nicht zu beeindrucken, denn er machte keine Anstalten umzukehren.

Fenthaim warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Geht zurück in Eure Kapelle und kümmert Euch um Eure Belange!«

»Soll er ruhig näher kommen«, witzelte der Kerkermeister. »Wenn er in die Grube fällt, hätte der Mundschenk eine Plage weniger.«

Berolf tat so, als hätte er die Respektlosigkeit überhört. Trotz all seiner Verfehlungen war Bruder Ukaris immer noch ein Priester der Sonnenkirche, der einzigen Instanz in Royum, die die zerstrittenen Fürstentümer im Glauben verband. »Sagt, was Ihr zu sagen habt, Hochwürden. Und schreit es nicht gleich durch die ganze Festung.«

»Verzeiht, Herr Kommandant«, lallte Ukaris. »Aber diese Sache ist durchaus mein Belang.«

Berolf machte ein ungläubiges Gesicht.

»Das Weib darf nicht gehenkt werden«, fuhr der Priester eindringlich fort. »Es muss auf dem Scheiterhaufen brennen, geläutert durch Flammen!«

»Und was verleitet Euch zu diesem … Urteil?«

»Ihr denkt wohl, ich bin nicht ganz bei Sinnen«, schnaubte der Priester. »Ist Euch an dem Steckbrief denn nichts aufgefallen?«

Berolf wendete das Pergament und warf seinem Adjutanten einen fragenden Blick zu. Der zuckte jedoch nur ratlos mit den Schultern.

»Das Siegelwachs«, erklärte Ukaris schließlich, »es ist in den Farben der Sechs Sonnen gehalten. Das bedeutet, nur ein Sonnenrichter darf die Todesstrafe ausführen. Sonst wird der Geist des Weibes keine Ruhe finden und uns heimsuchen.«

»Bei dem Schneesturm erreichen uns noch nicht einmal Boten oder Jäger auf Burg Eulenstein«, protestierte Fenthaim. »Wie sollen wir da einen Sonnenrichter herholen?«

»Dann muss die Hinrichtung eben bis zur Schneeschmelze aufgeschoben werden«, erwiderte der Priester ungerührt.

Berolf knirschte mit den Zähnen. »Das Urteil ist verkündet. Man sollte niemanden länger als eine Nacht auf seinen Tod warten lassen.«

Ukaris sah ihn mit dem Anflug eines Lächelns an. »Der Tod kann warten, mein guter Herr Kommandant, das Leben nicht.«

1ZU GAST BEI EINEM MENSCHENFRESSER

17 JAHRE SPÄTERUNTER DEM EWIGEN BERG, JUNGE BLUTSONNE, JAHR 24 N.D.U.

Unter dem Berg in Nebenstollen 719 herrschte absolute Finsternis. Doch das störte die beiden kleinen Gestalten nicht. Sie kannten sich hier aus wie in ihrer Westentasche, auch wenn sie ein solches Kleidungsstück gar nicht besaßen. Šurr und Ekšamad waren Enthüller. Sie gehörten der Kaste der Kristallgremlins an, deren Aufgabe es seit jeher war, die Marmorchroniken freizulegen – Inschriften, die der Sonnenvater zu Anbeginn der Zeit in den Fels des Ewigen Berges gebrannt hatte. Die Tafeln enthielten das tagtägliche Schicksal jeder beseelten Kreatur mit Ausnahme der Enthüller selbst. Ohne ihre nimmermüde Arbeit bliebe die Welt stehen. Aber wehe, wenn sie einmal zu schnell gruben. Dann kam es an der Oberfläche zu den fürchterlichsten Katastrophen: Saurer Regen ertränkte Mensch und Vieh, und Zeitenstürme verwüsteten das Land.

Heute waren die beiden Gremlins jedoch nicht im Dienst. Sie waren auf eigene Faust unterwegs, und davon sollte besser niemand etwas mitbekommen – vor allem nicht die Zänker, die im Namen der Sonnenkirche durch die Gänge schlichen und nach faulenzenden Enthüllern Ausschau hielten. Mit ihren wizkirglani, von den Menschen nur abfällig Hackstöcke genannt, tasteten sich Šurr und Ekšamad klopfend durch die unterirdische Schwärze. An ihrem Kopfende verfügten die knapp einen Schritt langen Eisenstäbe über einen gehärteten Dorn, der einen spitzen Winkel bildete. Der wizkirglan war das Insigne der Enthüller. Darüber hinaus diente er als Spitzhacke, Stemmeisen und zur Not auch als Waffe gegen Felsenwürmer und anderes Geschmeiß. Im Augenblick nutzten die beiden ihre Hackstöcke jedoch lediglich als Schrittzähler.

Klick, klack. Klick, klack.

Langsam, aber sicher näherten sie sich ihrem Ziel. 2096 Schritte in den Stollen hinein und dann an der linken Wand klopfen. So hatte die Anweisung ihres mysteriösen Auftraggebers gelautet. Wenn der Ewige Berg tatsächlich ein Herz hatte, dann war man hier wohl am weitesten davon entfernt.

»2011«, krächzte Šurr.

Ekšamad antwortete mit einem nasalen »2012«. Dann griff er in seinen Beutel, holte etwas Leuchtsand hervor und warf ihn zu Boden. Zischend glühten die Körner auf und verblassten sogleich wieder, doch das kurze Gleißen machte die Augen der Gremlins so empfindlich, dass sie noch für gut hundert Schritte in der Dunkelheit sehen konnten.

Die beiden Enthüller hätten unterschiedlicher kaum sein können. Zwar waren ihnen die katzenhaften Gesichtszüge, die graufleckige Haut und die vierfingrigen Hände gemein, doch damit endete ihre Ähnlichkeit auch schon. Ekšamad war von ungewöhnlich hohem Wuchs, und seine Stimme schnarrte nur so leicht, dass er im Halbdunkel glatt als ein zu kurz geratener Mensch durchgehen konnte. Sein Mund war nicht mehr als ein schmaler Schlitz, und seine Fledermausohren wurden von schwarzen Haarbüscheln geziert. Šurr hingegen ging gebeugt, und das nicht wegen seines hohen Alters, sondern wegen eines Stapels dünner Marmortafeln, die er auf den Rücken geschnallt trug. Auch er wies für einen Gremlin eine Besonderheit auf – seine Ohren waren gänzlich unbehaart.

»Die Dinger sind verflucht schwer«, schimpfte er und leckte sich über die bräunlich verfärbten Lippen. Dann griff er nach einem Fläschchen, das in seinem Gürtel steckte.

»Ich hätte dir geholfen, aber du wolltest ja nicht«, entgegnete Ekšamad beleidigt.

»Zu zweit tragen sich die Platten noch bescheidener«, schnaufte Šurr und stapfte weiter. »Vor allem in dem Gang hier.« Ohne anzuhalten hatte er die Phiole geöffnet und einen Schluck von der klebrig braunen Flüssigkeit genommen. Mit einem wohligen Seufzer verstaute er die Flasche wieder und beschleunigte seinen Schritt.

Klick,klack. Klick,klack.

Die Wände des schmalen Tunnels waren mit Schicksalszeichen übersät. Hinter ihnen verbargen sich die Geschichten von Bettlern und Königen. Die geschwungenen Glyphen ergaben die aberwitzigsten Muster, die förmlich zu tanzen begannen, wenn man sie zu lange anstarrte. Wo eine Inschrift aufhörte und die nächste begann, war für ein ungeübtes Auge kaum festzustellen.

»Ich sage dir, Ekš: Schritt 2096 ist entweder die alte Jungfer, die ihren Hefeteig zweimal ansetzen musste, weil er beim ersten Mal nicht aufgegangen ist, oder der Hirte, dem eine Ziege in sein bestes Stück gebissen hat, als er hinter einem Busch pinkeln war.«

»Tja, das Schicksal hält nicht für jeden etwas Großes bereit«, erwiderte Ekšamad trocken. »Aber ich glaube, du hast unrecht. Bei Schritt 2096 müsste der fette Oger auf uns warten, der an einem Taubenknochen erstickt ist.«

»Kann auch sein«, murrte Šurr. »Wir werden ohnehin nie erfahren, was davor oder danach in ihren Leben geschehen ist. Oder hast du je von einem Gremlin gehört, der mehrere Tafeln derselben Person enthüllt hätte?«

Ekšamad schwieg. Sie kannten beide die Antwort.

»Und genau das ist unsere Chance«, stellte Šurr schließlich fest.

»Ich weiß nicht«, murmelte Ekš und zuckte die Schultern. »Mir ist die Sache nicht ganz geheuer.«

»Hast du dich denn nie gefragt, warum unsere Schicksale die einzigen sind, die nicht an den Felswänden stehen?« Šurr fuchtelte wild mit dem Hackstock herum, um seine Ausführung zu untermalen. »So hält man uns hier unten gefangen! Für die da oben existieren wir gar nicht. Verstehst du nicht? Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen! Wenn wir ein ganzes Menschenleben offenlegen, dann wären wir sicher die ersten Enthüller, die in den Marmorchroniken erwähnt werden. Und dann, mein Lieber, können wir den Berg als freie Gremlins verlassen.«

»Was sollen wir denn da draußen?«, gab Ekš zu bedenken. »Dieses Royum klingt wie eine feindliche Welt. Seuchen, Kriege und, nicht zu vergessen, Ziegen, die sich von Weichteilen ernähren.«

»Freiheit! Wie wär’s denn damit?«, entgegnete Šurr energisch. »Oder habe ich mich so sehr in dir getäuscht? Ich dachte, du wärst anders als die anderen. Ich dachte, du bist einer, der auch über den Tunnelrand hinausblickt. Sonst hätte ich dich gar nicht unter meine Fittiche genommen. Willst du etwa dein ganzes Leben hier unten verbringen? Tagein, tagaus Steine klopfen und die Schicksale von irgendwelchen Fremden freilegen?«

»N-Nein«, stotterte Ekšamad. »Aber woher willst du wissen, dass es auf diese Weise wirklich klappt? Dass dann unser Schicksal plötzlich in den Chroniken steht?«

»Weil ich es weiß, darum!«, blaffte Šurr ihn an.

Ekšamad blieb stehen. »Und das soll mich überzeugen? Du behauptest einfach, wir wären unser eigener Herr, wenn wir das ganze Schicksal einer einzelnen Person enthüllen?«

»Ja«, antwortete Šurr knapp.

Ekš schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Bei den Sechs Sonnen, was macht dich nur so sicher?«

»Meine Liebe«, murmelte Šurr vor sich hin.

»Deine Liebe?«

Der alte Gremlin nickte kaum merklich.

Ekš sah ihn entgeistert an. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Liebste hast … oder … hattest?«

»Hat es dich nie gewundert, dass ein Gremlin meines Alters nie den Bund eingegangen ist?«

»Na ja, ich dachte halt immer, du wärst ein komischer Kauz«, gab Ekšamad offen zu.

»Danke für die Blumen«, ätzte Šurr, doch schon im nächsten Augenblick hatte seine Stimme einen sanfteren Ton angenommen. »Meine süße Oglo hatte immer davon geträumt, einmal ein ganzes Menschenleben zu enthüllen – von der Wiege bis zum Sterbebett. Sie hat geglaubt, danach könnte sie frei unter den Sechs Sonnen wandeln … Jahrzehnte ist das her … Hab sie nie für voll genommen, es als Träumerei abgetan … Und eines Tages war sie weg …«

»Weil sie ein Schicksal entschlüsselt hat?«, platzte es aus Ekš heraus.

»Davon gehe ich aus.«

»Oder, weil ihr etwas zugestoßen ist?«

»Dann hätte ich sie gefunden«, erwiderte Šurr. »Ich habe sie sonatelang gesucht.«

Daran wagte Ekš nicht zu zweifeln. Schweigend trotteten sie weiter durch den Stollen, vorbei an unzähligen Schicksalen, die in den Fels des Berges gebrannt waren.

Klick, klack.

Klick, klack.

Nachdenklich fuhr Ekš mit der Hand über das Gestein. Er spürte die Inschriften unter seinen Fingern entlanggleiten. Viele davon hatte er selbst freigelegt – Ausschnitte aus den Leben der verschiedensten Leute. Die Bäckerin … der Ziegenhirte … der Oger!

»So, da wären wir«, flüsterte er und deutete auf die verschlungenen Inschriften zu seiner Linken. »Und übrigens hatte ich recht: Es ist der verfressene Oger.«

»Na, dann klopf mal«, sagte Šurr und lachte heiser. »Wollen wir nur hoffen, dass uns nicht der Menschenfresser höchstpersönlich aufmacht.«

»Ein Oger wäre mir allemal lieber, als dieses Tauscherpack. Kaum zu glauben, dass du mit einer von ihnen ins Geschäft gekommen bist. Was die Menschen über uns denken müssen, wenn sie nur mit der Sorte Gremlins zu tun haben?«

»Das kann uns doch egal sein, Ekš. Also los, klopf schon an«, forderte Šurr seinen jüngeren Freund zum zweiten Mal auf. »Ich kann die Platten nicht ewig halten.«

Doch Ekšamad zögerte. »Was wir hier vorhaben«, raunte er, »verstößt so ziemlich gegen jede Regel, die es im Ewigen Berg gibt.« Dann tippte er auf seinen Außendaumen und begann aufzuzählen: »Punkt eins: Wenn wir die Schicksalstafeln für Gold verkaufen, sind wir keinen Deut besser als unsere Tauscher-Vettern.«

»Ach was, mach dir keinen Kopf«, schnurrte Šurr. »Nur, weil die Sonnenkirche den Handel mit den Platten verbietet? Die feinen Herren machen doch selbst die Hand auf, wenn der Preis stimmt. Sonne predigen und im Schatten faulenzen, darin waren die Pfaffen schon immer gut.«

Sogleich schnellten Ekšamads Zeige- und Ringfinger in die Höhe. »Punkt zwei und drei: Wer soll denn unsere Arbeit erledigen, wenn wir unserer eigenen Suche nachgehen?«, fragte er naserümpfend – gerade so, als ob der Gedanke, etwas für sich selbst zu tun, unanständig wäre. »Und vor allem: Was, wenn uns die Zänker erwischen?«

»Genau dafür brauchen wir ja das Gold«, ächzte Šurr unter der Last der Platten. »Um unseren Ersatz zu bezahlen und um die Aufpasser zu bestechen, damit sie uns nicht auf die Pelle rücken.«

Ekš kaute auf seiner ledrigen Unterlippe. Er war nicht glücklich, denn ihm gingen langsam die Argumente aus, die gegen ihr – besonders für Kristallgremlins – geradezu verboten selbstsüchtiges Unterfangen sprachen. Schließlich hob er zaghaft den Innendaumen. Er war am Ende seiner Aufzählung angekommen. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass der Geheimgang wirklich hier liegt. Sicher haben sich die Tauscher bei ihren Berechnungen vertan. Was verstehen die schon vom Bergbau?«

»Mehr als du denkst«, schnaufte Šurr, der kurz davor war, die Geduld zu verlieren. »Aber wir werden es nur herausfinden, wenn du auch endlich klopfst! Und kein falsches Wort an unseren Auftraggeber«, fügte er zischend hinzu. »Für ihn soll es so aussehen, als ob wir nur an Gold interessiert wären.«

Ekšamad nickte resigniert. Dann tippte er mit dem Hackstock gegen die Wand. Obwohl er den Kopf des wizkirglan vorsichtshalber mit einem Tuch umwickelt hatte, dröhnte es laut durch den Tunnel. Für einen Moment beschlich ihn das Gefühl, der Berg wolle sie verraten. Was, wenn die Zänker unbestechlich waren? Mit den Tafeln weit ab von ihrer Ausgrabungsstätte erwischt zu werden, wäre schon schlimm genug; doch wenn herauskäme, dass sie mit Tauschern gemeinsame Sache machten, dann würde man sie lebendig einmauern. So verlangte es der Kodex der Sonnenwächter: Keine Tafel – egal, ob bereits ausgegraben oder noch verhüllt – durfte den Ewigen Berg verlassen.

Erschrocken hüpfte er zurück, als plötzlich Stein auf Stein knirschte. Die Platte mit der Oger-Inschrift schwang langsam auf und gab den Blick in einen finsteren Geheimgang frei. Der Menschenfresser hatte zum Essen geladen …

Ekš sah Šurr fragend an. »Und jetzt?«

»Gehen wir hinein«, keuchte der alte Enthüller und stolperte auf die Öffnung im Fels zu.

»Warte, ich nehme dir die Tafeln ab«, rief ihm Ekšamad hinterher.

»Zum letzten Mal: Du sollst mir nicht helfen! Du brauchst deinen Rücken noch ein Weilchen länger als ich.« Wie um sich selbst Lügen zu strafen, ächzte Šurr unter dem Gewicht der Platten laut auf.

Ekšamad schüttelte den Kopf. »Warum er mich überhaupt mitgenommen hat, ist mir ein Rätsel«, grummelte er leise vor sich hin.

Er hatte sich gerade dazu durchgerungen, seinem Freund in den Tunnel zu folgen, als ihm – wie aus dem Nichts – eine zierliche Gestalt den Weg versperrte. Verdutzt starrte Ekš in das Gesicht einer Gremlin-Frau. Den weinroten Haaren nach, die ihre Ohrspitzen zierten, gehörte sie zum Tauschervolk.

»Und wen haben wir hierrr?«, schnurrte sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen.

Ekš trat einen Schritt zurück. Doch was er als Nächstes sah, beunruhigte ihn noch mehr. In ihrer linken Hand hielt die Tauscherin eine Kerze, die so weit heruntergebrannt war, dass sich das Wachs wie ein Mantel um ihre Finger legte. Ihre Rechte ruhte indes auf dem Knauf eines breiten Stoßdolchs. Mit ihr war sicher nicht gut Raupen pulen, dachte Ekš. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Von den zwielichtigen Tauschern hatte er bislang nur in den Marmorchroniken gelesen. Und dennoch, stellte er verwirrt fest, fühlte er sich gar nicht so unwohl in der Gegenwart dieser Gremlin-Frau. Unauffällig schnuppernd sog er ihren Duft ein. Ein Geruch von zertretenen Käfern stieg ihm in die Nase. Herrlich, geradezu betörend nussig!

»Kann er sprechen?«, neckte sie ihn und tippte mit den Fingernägeln auf ihre Klinge.

»Ja-a!«, brachte Ekš mit Mühe hervor und deutete auf Šurr, der sich bereits durch den schmalen Gang zwängte. »Ich gehöre zu ihm.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Herr Šurr einen Begleiter angekündigt hätte«, bemerkte die Tauscherin argwöhnisch. »Aber wenn du schon mal dabei bist, hättest du ihm wenigstens beim Tragen helfen können.«

Ekšamad holte schon Luft, doch noch bevor er sich erklären konnte, machte die Tauscherin auf dem Absatz kehrt. Leichtfüßig tänzelte sie an Šurr vorbei und drang tiefer in den Tunnel vor. »Folgt mir«, trieb sie die beiden Enthüller an. »Meister Sunay wird sich freuen, Euch kennenzulernen.«

»Aber was ist mit der Tür?«, wollte Ekšamad wissen.

»Die schließt von selbst«, rief sie ihm über die Schulter zu und eilte weiter.

Die Gremlins hatten erst wenige Schritte zurückgelegt, da hörten sie hinter sich in der Tat ein steinernes Knirschen. Was Geheimtüren betraf, waren die Tauscher offensichtlich geschickter, als Ekš es ihnen zugetraut hatte. Ob es noch weitere verborgene Zugänge gab? Hoffentlich nicht! Nicht auszumalen, wenn sich noch mehr von diesen Gaunern im Ewigen Berg herumtrieben.

Vorsichtig folgten sie dem verwinkelten Gang, der nur spärlich durch das Kerzenlicht erhellt wurde. Vor allem Šurr hatte dabei seine liebe Mühe. So kunstfertig er die Tafeln auch auf dem Rücken balancierte, stieß er dennoch bei jedem zweiten Schritt an die Wände. Und dann kippte er plötzlich zur Seite und war verschwunden! Nur ein lautes Poltern war zu hören, als die Platten zu Boden fielen.

»Šurr!« Ekšamads Stimme überschlug sich vor Sorge.

»Alles in Ordnung!«, erklang postwendend die Antwort, wenn auch etwas gedämpft.

Ein paar Schritte weiter sah Ekš, was passiert war: Šurr war in eine Vertiefung in der Wand gestolpert und hatte sich in einer grauen Decke verfangen, die der Nische als Vorhang gedient haben musste. Eine Strohmatte und eine Schale mit Essensresten deuteten darauf hin, dass die Ecke als Schlafplatz oder Wachtposten genutzt worden war.

»Ts, ts, ts«, hisste die Tauscherin kopfschüttelnd. »Einen Sonat lang habe ich hier auf euch gewartet und bin fast versauert. Aber bitte sehr, die Herren Enthüller, machen Sie es sich ruhig bequem, der eine liegt ja schon! Wenn’s recht ist, werde ich jetzt Meister Sunay holen.« Sie funkelte sie aus purpurnen Augen an und fügte, nicht ohne Genugtuung, hinzu: »Allerdings kann das auch ein bisschen dauern.«

Keine drei Atemzüge später war sie samt Kerze verschwunden. In der Dunkelheit hörte Ekšamad, wie sich Šurr wild strampelnd von der Decke befreite. Dann herrschte Stille. Bedrückende Stille. Sie waren noch immer tief unter der Erde. Trotzdem war ihm sofort klar, dass sie sich nicht mehr im Ewigen Berg befanden. Der Fels fühlte sich anders an – poröser, leichter. Fast meinte er zu spüren, wie sich diese Leichtigkeit auf ihn übertrug. Aus Angst, er könnte davonschweben, griff er nach den Marmortafeln. Seine Hände suchten Halt und fanden Šurrs Finger, die sich ebenfalls um eine der Platten krampften. Ihm schien es ähnlich zu ergehen.

»Es ist so still hier«, flüsterte er in die Dunkelheit.

»Jetzt nicht mehr«, schnarrte Šurr abweisend, »du redest ja.«

Ekš war sich sicher, dass der alte Gremlin verschnaufen wollte, aber es gab eine Frage, die ihm einfach zu sehr auf der Zunge brannte. »Das Fräulein … Wie heißt sie denn?«

»Fräulein?«, schnaubte Šurr amüsiert. »Das Fräulein ist eine Tauscherin, und wie sie heißt, weiß ich nicht. Vorgestellt hat sie sich mir als Inǰi.«

»Inǰi«, flüsterte Ekšamad und seufzte selig.

»Du hast wohl zu viel am Salzstein geleckt«, grunzte Šurr ihn an. »Halt ja deine sechs Sinne beisammen. Du wirst sie noch brauchen.«

»Natürlich«, versicherte Ekš ihm rasch. »Bei solch unflätigen Wesen muss man auf der Hut sein!«

»Gut, dass du das auch so siehst. Und jetzt gönn einem alten Enthüller mal eine Pause.«

Eine gefühlte Ewigkeit später sahen sie ein unstetes Licht auf sich zukommen. Inǰi war zurückgekehrt. Mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete sie ihnen, ihr zu folgen. Ekš griff nach einer der Schicksalstafeln, doch Šurrs Hackstock sauste auf seine Finger herab.

»Au!«, entfuhr es dem jungen Enthüller. »Ich wollte nur helfen.«

Der ältere Gremlin schüttelte jedoch tadelnd den Kopf. Dann stemmte er die Platten in die Höhe und lud sie sich umständlich auf den Rücken.

»Na los!«, zischte er. »Hinterher!«

Und so folgten sie Inǰi – brav wie zwei kleine Entlein. Nach einer Weile machte der grob behauene Gang einen Knick nach links. Šurr musste sich ständig vorsehen, nicht mit den Tafeln gegen die niedrigen Balken zu stoßen. So notdürftig, wie der Stollen angelegt war, glich es ohnehin einem Wunder, dass er noch nicht eingestürzt war. Als sich der Tunnel abermals nach links wand, rechneten die beiden Enthüller schon damit, wieder im Ewigen Berg anzukommen, doch stattdessen standen sie plötzlich vor einer Tür. Ihr Holz war so frisch, dass sie sogar noch die Sägespäne riechen konnten. Beiläufig wischte Ekš über die raue Oberfläche und leckte sich die Finger ab. Köstlich! Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass die Menschen Bäcker bestraften, die ihr Brot mit Sägemehl streckten. Was für Banausen!

Es knallte laut, als Inǰi mit ihrer beringten Hand an der Tür klopfte. Obwohl niemand antwortete, trat sie ein. Šurr und Ekšamad verschlug es die Sprache. Vor ihnen lag der behaglichste Raum, den sie je gesehen hatten. Für menschliche Maßstäbe mochte die Einrichtung der Kammer geschmacklos erscheinen; für die beiden Gremlins war es jedoch ein Paradies an Formen und Farben. An den Wänden hingen verblasste Teppiche und schüttere Tierfelle. Von der Decke baumelten Gebinde aus Federn, und überall waren dicke Talgkerzen aufgestellt, die wie missgebildete Kinder aussahen. In einer Ecke stapelten sich Kisten mit Grubenwerkzeug und allerlei nützlichem Gerümpel; in einer anderen befand sich eine gemütlich anmutende Pritsche aus schwarz-weißem Holz. Aus einem undichten Fass trat eine zähe Flüssigkeit aus, und in der Mitte der Kammer plätscherte ein bläulich schimmernder Salzkristallbrunnen. Daneben stand ein ausgestopfter Sumpfdrachen. Das Untier war viel zu klein, um bedrohlich zu wirken, aber seine Krallen waren schneckenförmig gebogen, als ob sie immer noch wüchsen. Auf dem flachen Rücken seines sechsbeinigen Leibes lag die Schicksalstafel, die Šurr schon vor einiger Zeit abgeliefert hatte. Nur von ihrem Auftraggeber selbst fehlte jede Spur.

»Kommt rein«, forderte Inǰi sie beiläufig auf, während sie sich die Hände in dem Salzbrunnen wusch. »Meister Sunay wird bald hier sein.«

Staunend folgten sie ihrer Einladung. Šurr stöhnte erleichtert, sichtlich froh darüber, die Platten endlich ablegen zu können. Sie hatten noch nicht annähernd alle Einzelheiten des Raumes in sich aufgesogen, da wurde einer der Wandteppiche – darauf eine düstere Turmruine – beiseitegeschoben, und Sunay stolperte herein. Sein Atem ging stoßweise. Über Tage musste gerade ein wahrer Wolkenbruch niedergehen, denn sein nachtblauer Mantel tropfte ohne Unterlass. Dennoch machte der Mann keine Anstalten, sich des nassen Stoffes zu entledigen, und auch mit Begrüßungen hielt er sich nicht auf.

»Nicht mal ein ganzer Sonat und ihr habt schon die nächste Tafel gefunden?«, keuchte er ungläubig.

»Eine?«, schnaubte Šurr und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein halbes Dutzend haben wir dabei.«

»Die zeitlich auch noch sehr dicht beisammenliegen«, ergänzte Ekšamad stolz.

»Das ist mit Gold kaum aufzuwiegen«, befand Sunay und zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. »Wie habt ihr das bloß angestellt?«

»Nun«, erwiderte Šurr zufrieden, »das muss leider unser Berufsgeheimnis bleiben. Sonst wären wir unser Gold nicht wert.«

Sunay nickte anerkennend. Dann begab er sich zu den Tafeln und ging in die Hocke. »Mit welcher fange ich an?«, fragte er die Enthüller.

Šurr deutete schweigend auf die oberste Platte. Sofort griff Sunay nach ihr und betrachtete sie im blauen Licht des Salzbrunnens.

Es war höchst erstaunlich, dass er die Inschrift entziffern konnte, dachte Ekšamad. Dazu gehörte nicht nur das Wissen um die alten Zeichen, sondern auch ein starker Wille. Andernfalls konnten einem die Glyphen die Sinne vernebeln, oder sie fingen den Verstand ein und gaben ihn nie wieder frei. Ihr Auftraggeber war in der Tat kein gewöhnlicher Mann. Anscheinend wusste er ihnen Wissen zu entlocken.

»Ja, das sind die richtigen Tafeln«, hauchte er schließlich erleichtert.

Ekšamad musterte den Mann voller Neugier. Er versuchte, einen Blick unter seine Kapuze zu erhaschen, doch alles, was er erkennen konnte, war eine blasse Nasenspitze. Das Gesicht blieb in Schatten verborgen. Ein leises Räuspern riss ihn aus seinen Beobachtungen.

»Meister Sunay, da ist noch etwas«, begann Šurr vorsichtig. »Ihr sagtet, Ihr wollt möglichst alles über diese Frau erfahren.«

»Hm.«

»Diese Platten hier ausfindig zu machen, war schwer genug«, erklärte Šurr mit ruhiger Stimme. »Aber weitere zu finden … Das ist wie eine Nadel in allen Heuhaufen Royums zu suchen. Das Labyrinth unter dem Ewigen Berg ist weitläufiger als alle Fleete und Reichsstraßen zusammen. Und die Tafeln sind beileibe nicht in der richtigen Reihenfolge in den Fels gebrannt – weder alphabetisch noch chronologisch. Ihr müsst wissen, die Marmorchroniken kennen keine Ordnung außer ihre eigene.«

Šurr gab einen erschreckend guten Tauscher ab, musste Ekš anerkennen. Für einen Augenblick war er sich jedoch nicht sicher, ob ihr Auftraggeber ihm überhaupt zugehört hatte. Doch dann wandte sich Sunay zu ihnen um.

»Glaubt mir, wenn ich könnte, würde ich selbst in die Stollen kriechen und jeden einzelnen verfluchten Stein umdrehen. Nur sind wir Menschen nicht dafür gemacht, die Last des Berges zu ertragen.«

Sunay ließ seine Worte verklingen, während er abwesend mit einem Samtbeutel spielte, der an einer Kette um seinen Hals hing. Plötzlich meinte Ekš, in der Ferne ein sanftes Rauschen zu vernehmen – wie von einem Ozean. Eine seltsame Sehnsucht ergriff Besitz von seinem Herzen … das Gefühl hielt kurz an … und war schlagartig vorüber. Sunay hatte das Beutelchen in seiner Faust verschwinden lassen, und das Rauschen war wieder erstorben.

»Also, wie viel mehr Gold wollt Ihr?«, fragte er schließlich.

»Kein Gold«, erwiderte Šurr und hob beschwichtigend die Hände. »Zumindest nicht viel. Wir würden gerne Abschriften von den Tafeln anfertigen und sie in dem Geheimgang lagern.«

»Abschriften?« In Sunays Stimme lag mehr Erschöpfung als Argwohn. »Ich weiß zwar nicht, was ihr damit anfangen wollt, aber da ihr sie ohnehin gelesen habt, soll es mir egal sein. Ob ihr die Abschriften hier verstecken dürft, müsst ihr allerdings mit Inǰi besprechen. Sie und ihre Leute haben den Stollen gegraben.«

Ekš und Šurr warfen sich verzagte Blicke zu. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt – mit der Tauscherin Geschäfte machen zu müssen. Die Gremlin-Frau schnurrte indes zufrieden.

»Ein Jammer, dass eure Schicksale nicht in den Marmorchroniken stehen. Das wäre wirklich ein Moment für die Ewigkeit: Zwei schüchterne Kristall-Männlein bitten eine Tauscherin um einen Gefallen.«

Šurr knurrte vor sich hin, und Ekš hätte ihr am liebsten eine schlagfertige Antwort um die Ohren gehauen, doch ihm fiel beim besten Willen keine ein. Sunay hatte sich indessen längst von ihnen abgewandt. Er kniete in der Pfütze, die sein triefender Mantel hinterlassen hatte, und war vollkommen in die Bruchstücke der Schicksalstafeln vertieft, die ihm die Geschichte einer ganz besonderen jungen Frau enthüllten …

2SPUREN IM SAND

23 JAHRE ZUVORTAHLAT-GEBIRGE, JUNGE GOLDSONNE, JAHR 1 N.D.U.

Gegen Ende Ondril, wenn die Junge Goldsonne zu verblassen begann und der letzte Schnee auf den Gipfeln längst geschmolzen und in reißenden Bächen in die Täler geflossen war, dann waren die Höhenpässe des Tahlat ein todbringender Landstrich – karger als die Große Salzmeerwüste und staubiger als die Hochebene von A’Un. Ezra wusste das. Sie war hier aufgewachsen, zwischen steilen Felsen und rostbraunen Flechten. Märesch, dachte sie zähneknirschend. Siebzehn Sonnenläufe hatte sie in der Einsamkeit dieses rukkenschwingschen Bergdorfes verbracht, bis die bewaffneten Männer gekommen waren, um sie zu holen. Bereitwillig hatte der Dorfälteste sie ausgeliefert. Ezra wusste nicht, wer sie waren oder wer sie geschickt hatte, aber sie hatten nichts Gutes mit ihr vorgehabt. Das hatten sie ihr nicht sagen müssen, das hatte sie ihnen angesehen. Und nun lag sie hier, blutend und allein. Ihr Tod würde nicht der einer leichtsinnigen Wanderin sein, die zu wenig Wasser in ihren Trinkschlauch gefüllt hatte. Sie würde verbrennen oder verbluten. Je nachdem, ob sie es in den Schatten schaffte oder nicht. Sie wollte sich aufsetzen, doch ihre Glieder waren bleiern schwer. Reglos blieb sie im Staub der Bergstraße liegen.

Ein leichter Wind wehte über den Pass und spielte in ihren sandblonden Haaren. Und mit einem Mal roch sie goldgelbe Sommerwiesen, hörte Bienen summen, wie sie träge über einem Meer von Disteln und Mohnblumen schwebten. Die Erinnerung an unbeschwerte Tage, von denen es früher endlos viele und in letzter Zeit zu wenige gegeben hatte, wurde lebendig. Doch sie hielt nicht lange an, Ezras Schädel brummte einfach zu sehr. Sie fasste sich an die Schläfe und betrachtete ihre Hand. Blut klebte an ihren Fingern. Was sollte es sein: Verbrennen oder Verbluten?

Ezra erhob sich … aber ihr Körper blieb zurück, und mit ihm die Schmerzen. Alles war plötzlich ganz leicht. Sie spürte, wie sie sich – ohne es zu wollen – von sich selbst entfernte, beinahe so, als ob sie schwebte. Erschrocken blickte sie zurück. Seltsam gekrümmt lag sie am Straßenrand, die Stirn glatt, die Haut an den Wangen rosig. Die weit auseinanderstehenden Augen waren aufgerissen, doch sie starrten ins Leere und das goldgelbe Funkeln in ihnen war erloschen. Über ihrer linken Braue klaffte eine Wunde, ihr Haar war blutbenetzt. Ein einfaches Hirtenkleid bedeckte ihren drahtigen Leib und die langen Glieder. Der Stoff war besudelt und zerrissen – nicht erst seit heute. Ein tiefer Schnitt verlief längs über ihren rechten Schenkel, und ein Bolzen steckte ihr mitten in der Brust. Ihre rechte Faust hatte sie um ein scharfes Messer geballt – eine Klinge, wie sie zum Häuten von Tieren benutzt wurde.

Indes hielt Ezra auf eine Höhle hinter einem Felsen zu, wie magisch angezogen von der erlösenden Dunkelheit. Ein toter Mann lehnte am Eingang. Seine Kehle war aufgeschlitzt. Eine Armbrust lag neben ihm auf dem Weg. Aus dem Augenwinkel sah sie die leblosen Körper von zwei weiteren Männern und einem Hund. Irgendwo in der Ferne brüllte ein verängstigtes Maultier. Was war hier geschehen? Sie versuchte sich zu erinnern, doch die Bilder zogen nur wie Fetzen an ihr vorüber. Die Männer hatten sie bedrängt und sie fesseln wollen. Sie hatte sich gewehrt. Einem der Kerle hatte sie ein Messer aus dem Gürtel gerissen, und dann war alles ganz schnell gegangen. Das Ergebnis sah sie zu ihren Füßen. Ihr wurde schwindlig. Alles um sie herum begann zu verschwimmen, und plötzlich bemerkte sie, dass der Felsen und die Höhle hinter ihr lagen. Ezra schwebte wieder über ihrem leblosen Körper. Sie hatte sich im Kreis bewegt, sie war zurückgekommen. Verbrennen oder Verbluten?, hallte es in ihrem Kopf. Dann wurde es dunkel um sie.

Ezra erwachte zu dem Quietschen von Wagenrädern. Das Geräusch war noch weit entfernt, doch es kam näher. Sie hörte keinen Hufschlag und auch keine Stimmen. Ein einzelner Wanderer also mit einem Handkarren, vermutete sie. Sie sandte ein Stoßgebet zum Sonnenvater, dass der Reisende ihr wohlgesonnen sein würde. Denn Fremden durfte man nicht trauen. Das hatte ihre Mutter ihr eingebläut. Da sie nur Zugezogene waren, hatte das sogar für die Dorfbewohner gegolten und auch für ihren eigenen Stiefvater. Der Allsehende habe ihn selig.

Mühsam hob Ezra den Kopf, und kurz darauf sah sie, wie ein dürrer Mann um die Wegbiegung gestapft kam. Leicht gebeugt zog er einen Wagen hinter sich her, auf dessen Ladefläche Krüge, Kisten und Körbe vor sich hin rumpelten. Zum Schutz gegen die Goldsonne hatte er sich ein Stück Stoff um den Kopf gebunden. Das Tuch war ihm so tief in die Stirn gerutscht, dass es sogar eins seiner Augen bedeckte. Dies schien ihn jedoch nicht weiter zu stören. Der Fremde hatte den Blick zu Boden gerichtet. Anscheinend suchte er nach einem möglichst ebenen Weg für den Karren. Als er die Toten endlich bemerkte, war er kaum mehr als zwölf Schritte von ihnen entfernt. Abrupt blieb er stehen. Die Krüge auf dem Wagen schepperten noch einmal, dann herrschte Stille. Unsicher sah sich der Mann um.

Erst jetzt bemerkte Ezra, dass das Tuch in Wahrheit als Augenklappe diente. Der Fremde war einäugig. Mit seiner Hakennase und dem dünnen Haarkranz sah er aus wie ein Geier, der nach Kadavern Ausschau hielt. Nachdem er sich sicher schien, allein zu sein, kam er vorsichtig näher und ging auf den ersten Toten zu. Ezra kniff die Augen zusammen und blieb ruhig liegen; sie hielt es für klüger, sich totzustellen, bis sie abwägen konnte, ob er mit den anderen Kerlen unter einer Decke steckte. Im Zweifelsfall ließ sie ihn lieber seines Weges ziehen … Verstohlen beobachtete sie den Mann dabei, wie er sich bückte und dem Toten ein loses Blatt aus dem Hosenbund zog. Eilig überflog er das Papier, nur um es gleich darauf zu zerreißen und die Schnipsel in den Wind zu werfen. Ein paar blieben zu Ezras Linken liegen.

Der Fremde hatte sich inzwischen darangemacht, den Geldbeutel vom Gürtel des Mannes zu lösen. Prüfend wog er ihn in der Hand, dann fischte er zwei Münzen heraus und drückte sie ihm auf die geschlossenen Lider. Herzlos schien der Mann also nicht zu sein, dachte Ezra. Gleiches wiederholte er bei den beiden anderen Toten – jedoch nicht ohne anschließend die Säckel in einer seiner Taschen verschwinden zu lassen. Als Letztes kam er zu ihr.

Gerade noch rechtzeitig schloss Ezra die Augen. Sie hatte keine Geldkatze, also konnte sie für ihn auch nicht von Interesse sein. Zumindest hoffte sie, dass er nur auf Gold aus war. Sie hörte, wie er sich zu ihr hinabbeugte. Bitterer Atem schlug ihr entgegen – nicht unangenehm, eher wie Kräutertee, der zu lange gezogen hatte.

»Armes Ding«, flüsterte er und strich ihr sanft über das Haar. Doch plötzlich wich er zurück. »Beim Sonnenvater, sie atmet noch!«

Mit letzter Kraft fuhr Ezra hoch und drückte dem Fremden das Messer an die Kehle. »Lass mich ja in Ruhe«, fauchte sie.

»Na … natürlich«, stammelte er. »Ich wollte nur nach dir sehen … ich kann dich in dein Dorf zurückbringen.«

»Nein!«, brüllte Ezra mit rauer Kehle. Blut sickerte aus ihrer Pfeilwunde. »Bloß nicht zurück! Die haben mich verkauft!« Sie wollte ihn von sich stoßen, doch ihre Kräfte verließen sie. Ihr Arm sank schlaff zu Boden, und das Messer glitt ihr aus der Hand.

»Schon gut«, beruhigte der Mann sie und rieb sich den Hals. »Verkauft? An Kopfgeldjäger? Du wirst doch nichts ausgefressen haben, oder?«

Ezra schüttelte langsam den Kopf. Obwohl sie unendlich müde war, traute sie sich nicht, den Mann aus den Augen zu lassen. Zumindest schien er ihr den Wutausbruch nicht übel zu nehmen, denn er legte die Stirn in Falten und beäugte ihre Verletzungen mit sorgenvoller Miene. »Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben. Lass mich dich wenigstens mit zum Goldenen Greif nehmen. Das ist ein Gasthof, keine drei Stunden von hier.«

Jetzt, da sie ihn aus der Nähe betrachten konnte, schätzte Ezra ihn kaum älter als dreißig Sonnenläufe. Wortlos legte sie sich wieder zu Boden. Der Fremde stand derweil auf und ging zu seinem Karren. Er schien irgendetwas zu suchen, denn sie hörte, wie er in den Säcken und Körben herumwühlte.

»Ich müsste dir eigentlich den Pfeil rausziehen«, rief er ihr zu. »Aber das will ich nicht hier auf der Straße machen, sonst blutest du mir noch zu Tode.«

Kurz darauf kam er zurück. Ezras Augen weiteten sich. Er hielt ein Wurzelmännchen in der Hand – eine Alraune. Sie hatte ihre Mutter einmal darüber reden hören … im Flüsterton. Gleich darauf hatte sie sich bekreist, denn dieser Pflanze bedienten sich angeblich nur Hexen und Vetteln, um ihr Teufelswerk zu vollbringen. Der Fremde hockte sich in aller Seelenruhe neben sie.

»Was hast du vor?«

»Dir das Leben retten«, erklärte er beiläufig und schnappte sich das Messer, das sie fallen gelassen hatte. Mit ruhiger Hand schnitze er eine Kerbe in Kopf, Brust und Schenkel des Wurzelmännchens – genau dort, wo auch Ezras Wunden waren. Dann zog er eine Nadel aus seinem Kragen und stach sich in die Fingerkuppe, bis sein Lebenssaft hellrot hervorquoll. Tropfen für Tropfen füllte er die Löcher der Alraune. Schließlich lutschte er das Blut von seinem Finger ab und drückte Ezra die Wurzel in die Hand.

»Halt sie gut fest«, empfahl er ihr. »So es die barmherzige Kordelia will, wird sie deine Schmerzen lindern und die Blutungen stoppen.«

»Ich habe keine Schmerzen«, zischte Ezra widerspenstig und warf die Wurzel beiseite.

Ungerührt hob der Fremde die Alraune auf und pustete Staub und Dreck von ihr ab. »Es interessiert mich nicht, wen diese Männer gesucht haben«, sagte er. »Aber ich denke, es ist besser, wenn es nach einem Überfall aussieht.« Er musterte Ezra mit einem scheuen Lächeln. »Jeder hat eine zweite Chance verdient, meinst du nicht auch? Die Alraune ebenso wie du.« Dann erhob er sich, legte die Wurzel auf ihre Brust und ging.

Ezra hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren, und ließ die Alraune, wo sie war. Schon nach wenigen Herzschlägen fühlte sie sich seltsam benommen – benommen, aber wohl.

»Ich … ich heiße übrigens Odo«, drang die Stimme des Fremden zu ihr herüber. »Ich bin Färber … Färber und Apotheker … aus Bendrahim.«

Bendrahim – Fürstenstadt von Rukkenschwing. Allein beim Klang dieses Namens schossen ihr kindliche Bilder durch den Kopf. Überfüllte Gassen, Mitternachtsmärkte und Sandsteintürme, die bis in die Wolken reichten. Und über allem kreisten riesige Adler. Ihre Schatten tauchten ganze Stadtviertel in Dunkelheit, so erzählten es sich die Hirten in ihrem Dorf.

Ezra drehte den Kopf zur Seite. Stumm beobachtete sie, wie Odo den Toten die Stiefel auszog, ihnen die Waffen abnahm und alles auf einem Haufen zusammentrug. Als er damit fertig war, wickelte er die Sachen in einen Mantel und verstaute sie auf seinem Karren. Zuletzt griff er sich die Armbrust, lud sie mit zitternden Armen durch und verpasste den Leichen Bolzen um Bolzen. Nun sah es tatsächlich wie ein Raubüberfall aus.

»Die Männer müssen einen Esel dabeigehabt haben«, meinte Odo schließlich. Suchend blickte er sich um. »Ich glaube, ich habe vorhin einen gehört. Mal schauen, ob ich ihn finden kann. Ich bin gleich wieder da.«

Ezra erwiderte nichts und lauschte nur, wie er sich entfernte. Das Echo seiner Schritte hallte durch die Schlucht, immer leiser, bis es schließlich vom Rhythmus ihres Herzschlags übertönt wurde. Noch immer verspürte sie keinen Schmerz, aber das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass ihr übel wurde. Ächzend bewegte sie den Arm und griff in ihre Schürzentasche. Ihre Finger suchten und fanden eine leicht geöffnete Muschel. Die Meeresfrucht lag angenehm kühl in ihrer Hand. Der Anhänger war ein Andenken. Behutsam fuhr sie mit dem Daumen über den scharfkantigen Spalt und fast meinte sie, die Stimme ihrer Mutter zu hören.

Es ist nur eine alte Muschel, Ezra. Aber wer weiß, vielleicht hat sie vor langer Zeit einmal eine Perle geboren.

Ezra musste lächeln. Es war ein trauriges Lächeln. Im letzten Sommer war ihre Mutter gestorben – die Pocken hatten sie geholt. Nun ruhte sie unter einem Haufen Steine, in einem Dorf, in dem sie sich nie zu Hause gefühlt hatte, begraben neben einem Mann, den sie nie geliebt hatte. Ihre Heimat war das Meer gewesen. Ezra hatte es nie zu Gesicht bekommen. Manchmal träumte sie aber von endlosen Weiten, wo Himmel und Wasser am Horizont zu verschmelzen schienen.

Das Geräusch von Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Odo war zurückgekommen. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Nasenflügel bebten vor Anstrengung. In der Hand hielt er jedoch triumphierend die Zügel eines Maultiers.

»So wird es einfacher für uns. Warte, ich helfe dir rauf.«

»Nicht«, hauchte Ezra matt.

Doch zu spät. Odo war bereits in die Knie gegangen und hatte sie gepackt, um sie auf das Muli zu hieven. Das Tier schnaubte unruhig und machte einen Satz nach vorn. Mit einem »Brr« versuchte Odo es zu beruhigen, doch je näher er mit Ezra kam, desto wilder keilte es aus. Frustriert gab er auf.

»Verdammtes Vieh«, ächzte er und trat eine Staubwolke in Richtung des Tiers.

Ezra bekam kaum noch mit, wie er sie keuchend zu seinem Karren schleifte und auf die Ladefläche hievte. Nachdem er sie zwischen Krügen und Säcken abgelegt hatte, setzten sie sich in Bewegung. Langsam polterte der Wagen durch das trockene Bergland. Das störrische Grautier folgte kurz dahinter. Zwei Füße, zwei Räder und vier Hufe … Schritt für Schritt über die staubige Straße.

*

Ezra wachte auf. Unter ihrem Rücken knarzte der Karren. Die Räder des klapprigen Gefährts knirschten unermüdlich über den steinigen Weg und wirbelten Staub auf, der mit ihrem Schweiß vermengt einen rauen Film auf ihrer Haut bildete. Die Anspannung war von ihr abgefallen und hatte einem dumpfen Schmerz Platz gemacht. Bei jeder Unebenheit spürte sie ein Stechen in der Seite. Kein Wunder. Dort steckte immer noch der Bolzen, den der Kopfgeldjäger auf sie abgefeuert hatte. Sie versuchte, ihren Körper zwischen den Kisten zu verkeilen, die rings um sie herumstanden – immer in Erwartung der nächsten Erschütterung. Schon bald brannten ihre Muskeln.

Die Anstrengung kostete sie so viel Kraft, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, dass Odo zu ihr sprach. Beruhigend redete er auf sie ein, und das, obwohl sie die Augen fest geschlossen hatte. Vorsichtig blinzelnd öffnete sie die Lider. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt. Der Himmel über ihr schimmerte trübe. Die Wolken zogen in dünnen Fetzen vorüber, zu dünn, als dass sie auf Regen hoffen ließen. Aber warum gingen sie der Sonne entgegen? Brachte er sie doch ins Dorf zurück? Aus dem Augenwinkel konnte Ezra Odos Rücken erahnen. Tief nach vorn gebeugt zog er den Karren.

»Des Pflanzers Pech ist des Färbers Glück«, schnaufte er halblaut vor sich hin. »Ich komme gerade von der Velchior-Plantage … Vermutlich hast du nie von ihnen gehört, aber den Velchiors gehört ein gutes Stück Land zwischen den Bergen und dem Koin. Für Flachlandbauern hatten sie in den letzten Jahren ziemlich viel Glück. Keine Überschwemmungen, keine Plünderungen. Diese Saison hat es sie dafür umso übler erwischt. Ein Großteil der Saat war von Läusen befallen – nicht von den gewöhnlichen, sondern von Purpurläusen. Die sind besonders hartnäckig. Wenn einer wie ich auftaucht, der mit den Schädlingen etwas anfangen kann, dann kriegen die Bauern wenigstens noch ein paar Taler für die toten Pflanzen.«

Odo hielt für einen Augenblick inne und wuchtete den Karren über eine Bodenwelle. Gerade noch rechtzeitig spannte Ezra die Muskeln an, um den Stoß abzumildern. Schon mit dem nächsten Atemzug redete Odo weiter – ohne Punkt und Komma. Ob er sie in Sicherheit wiegen wollte? Ezra spähte durch halb geöffnete Lider gen Himmel und blickte in das Licht von zwei Sonnen. Das war unmöglich. Ihre Augen mussten ihr einen Streich spielen. Gingen sie nun zurück oder nicht?

»Und die Tagelöhner sind auch froh, wenn sie sich ein paar Münzen dazuverdienen können«, bemerkte Odo in nachdenklichem Ton. »Gibt ja kaum noch welche. Viel zu viele sind im Krieg geblieben. Waren fast nur Witwen und Waisen, die mir dieses Jahr geholfen haben – der Sonnenvater stehe ihnen bei. Bei der Arbeit kann ich jede Hand gebrauchen. Die Pflanzen müssen mit einem Brennnesselsud benetzt werden, und anschließend kämmt man die Läuse vorsichtig von Stängeln und Blättern. Das ist äußerst mühselig. Und es muss rasch geschehen, denn nur wenn die Läuse gerade Eier legen, strahlen sie in dem kräftigen Rot, das wir Färber verwenden können. Und wenn sie dann nicht schnell genug eingelegt werden, war alles umsonst – am besten benutzt man Haselnussöl, das ist zwar nicht billig, aber farbneutral. Daheim in Bendrahim, fülle ich das Öl dann in Flaschen ab und lasse es in der Gold- oder Blutsonne reifen, je nach gewünschtem Farbton. Für ein sanftes Rotbraun sollte man am besten gar kein Licht heranlassen …«

Ezra hob den Kopf und blickte sich um. Der Karren polterte plötzlich lauter, und die Felsen zogen rascher an ihr vorüber. Sie fuhren bergab, stellte sie benommen, aber erleichtert fest, weg vom Dorf. Odo schien sein Wort zu halten. Doch auf ihr Bauchgefühl wollte sie sich diesmal nicht verlassen. Ihr Instinkt hatte sie auch nicht vor den Kopfgeldjägern gewarnt. Ezra hatte keine Ahnung, was die Männer genau von ihr gewollt hatten. Sie hatten auf den Dorfältesten eingeredet und mit irgendwelchen Papieren herumgewedelt. Und ohne zu zögern hatte er sie an die Fremden ausgeliefert.

Die Dörfler hatten sie seit dem Tod ihrer Mutter gemieden. Nicht, dass sie vorher viel mit ihr gesprochen hätten. Ezra war zwar hier geboren, doch sie blieb eine Fremde, die Tochter einer Zugezogenen. Als kleines Mädchen hatte sie mit den anderen Kindern herumgetollt. Beim Fangen und Verstecken war sie stets die Flinkste gewesen. Wie eine Bergziege war sie von Fels zu Fels gesprungen; stundenlang hatte sie reglos im Gebüsch liegen können, ohne dass die anderen sie jemals fanden. Aber als die Zeit gekommen war, auf den Feldern auszuhelfen oder ein Handwerk zu erlernen, da hatte man sie übergangen. Sie sei frei von Talenten, hatten die anderen behauptet. Die Suppen, die sie kochte, seien zu salzig und die Säume, die sie nähte, zu schief. Zugegebenermaßen liefen ihr selbst die trägsten Schafe davon, wenn sie sie hüten sollte. Oft verschlief Ezra den ganzen Tag und kam erst zur Dämmerung heraus, vor allem im Sommer. Sie liebte es, dann durch die Gegend zu streifen, ohne Ziel und ohne Pflichten. Die Leute hatten sie einen Faulpelz geschimpft und sich dennoch um sie gekümmert, nachdem ihre Mutter gestorben war – freilich nicht aus Nächstenliebe. Es war die Art ängstlicher Fürsorge, die man einem bissigen Hofhund entgegenbrachte. Frühmorgens hatten sie ihr Essensreste vor die Tür geworfen: trockenes Brot, kalte Grütze und manchmal auch einen braunen Apfel. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Mit knurrendem Magen war sie deshalb Nacht für Nacht in die Felsenkeller der Bauern eingestiegen und hatte sich an ihren Vorräten satt gegessen. Die Dörfler mussten es wissen oder zumindest ahnen, aber des Diebstahls hatte man sie nie bezichtigt.

Waren die Kopfgeldjäger etwa gekommen, um sie deswegen festzunehmen? Vielleicht war es so, dachte Ezra. Sie hatte davon gehört, dass man Dieben in Bendrahim die Hand abhackte. Und unterstanden die Dörfer des Tahlat nicht dem Fürsten von Rukkenschwing? Odo kam aus der Fürstenstadt, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Ezra wollte keine Hand verlieren, nicht mal einen Finger! Noch einmal würde sie nicht zu spät handeln. Sie musste fliehen. Muskel für Muskel löste sie die Anspannung und bereute es sogleich. Die nächste Unebenheit ließ den Karren holpern und versetzte ihr einen schmerzhaften Stoß. Blut quoll aus der Wunde in ihrer Brust. Sie konnte spüren, wie das hölzerne Geschoss gegen ihre Knochen rieb. Doch sie biss die Zähne zusammen. Odo sollte sie nicht hören.

»Für das Schwarz-Rot, mit dem die Handelsprinzen von Suu die Schleier ihrer Leibgarde färben lassen, müssen die Läuse mindestens zwölf Jahre eingelegt werden«, gab er schnaubend von sich.

Gut, er war immer noch in seine Litanei über sein Handwerk vertieft. Ezra wartete bis zum nächsten Schlagloch. Dann nutzte sie die Erschütterung und ließ sich lautlos vom Karren in den Straßenstaub gleiten – den linken Arm zum Schutze ausgestreckt, um nicht auf dem Bolzen zu landen.

Trotz aller Vorsicht schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Leib. Sie spürte Blut an ihrer Wade hinabrinnen. Der lange Schnitt an ihrem Schenkel musste wieder aufgeplatzt sein. Aus Reflex umgriff sie mit beiden Händen ihr Bein … und rammte sich dabei den Bolzen nur umso tiefer ins Fleisch. Ihr wurde übel vor Schmerzen. Grelle Flecken tanzten vor ihren Augen, als hätte sie zu lange in die Sonne gestarrt. Doch sie blieb bei Bewusstsein.

Hinter sich hörte sie einen entsetzten Aufschrei. »Oh verdammt!« Odo ließ den Karren stehen und kam herbeigelaufen. »Verzeih mir! Ich habe nicht aufgepasst. Dieser verdammte Weg ist einfach zu holprig!«

Das Gleißen über ihr wurde zu einem erträglichen Grau, in dessen Mitte sich der Schemen von Odos Körper abzeichnete. Sie spürte ein Kitzeln an den Füßen. Verfluchter Esel! Das Vieh nagte doch tatsächlich an ihren Strohschuhen.

»Sch, sch! Verschwinde!«, scheuchte Odo das Tier davon. Dann wandte er sich eilig Ezra zu. »Halt still! Ich muss deinen Schenkel abbinden, sonst verblutest du.«

Verbluten, dachte Ezra gleichgültig, damit hatte sie schon vor Stunden gerechnet. Sie blickte an sich herab. Tatsächlich strömte wieder mehr Blut aus ihren Wunden. Wie durch einen roten Schleier konnte sie erkennen, dass Odo sich die Augenbinde abnahm und dahinter eine wulstige Narbe zum Vorschein kam. Das Tuch wie eine Schlinge haltend, beugte er sich über sie. Wollte er sie nun fesseln, so wie die Kopfgeldjäger? Ansatzlos schlug sie nach ihm. Ihre Finger hinterließen rote Striemen auf seiner Wange.

Odo wich zurück, mehr vor Schreck als Schmerz, und starrte sie fassungslos an. »Mädchen, du bist im Fieberwahn. Du stirbst, wenn du dir nicht helfen lässt.«

Ezra versuchte zurückzuweichen und bleckte die Zähne. Was sollte sie tun? Alles um sie begann sich zu drehen. Sie war wütend. Auf die Dörfler, die Kopfgeldjäger und auf diesen Odo, auch wenn sie nicht wusste warum. »Nicht! Nicht zurück!«, fauchte sie mit letzter Kraft und brach zusammen.

»Nein, nicht zurück«, wiederholte Odo beruhigend und fing sie auf. »Das habe ich doch versprochen.«

Ezra hing hilflos in seinen Armen. Der raue Stoff seines Mantels rieb über ihre Haut wie Katzenzungen. Ein süßlicher Duft ging von ihm aus, der sie an Salbei erinnerte. Sie blickte auf und versuchte, in seinen Augen zu lesen – das eine graublau, das andere eine sternförmige Narbe. Falls er log, so konnte sie es nicht erkennen.

Behutsam lehnte er sie an einen Felsen und kniete sich neben sie. Dann schlang er das Tuch um ihren Schenkel und zurrte es fest, bis es tief ins Fleisch schnitt. Kraftlos ließ sie ihn gewähren. Ihr ganzes Bein pochte, aber die Blutung war auf einen Schlag versiegt.

»Gut«, seufzte er. »Und jetzt zum Bolzen, bevor er dir in die Lunge sticht.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zum Wagen. Er fluchte leise vor sich hin. Obwohl er ihr den Rücken zugekehrt hatte, konnte Ezra jedes seiner Worte klar und deutlich verstehen, beinahe so, als ob er ihr ins Ohr flüsterte. »Widerborstiges Ding. Der ganze Hokuspokus mit der Alraune war umsonst. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt …«

Es kümmerte Ezra nicht, was er dachte, und außerdem war widerborstiges Ding bei Weitem nicht das Schlimmste, was Leute über sie gesagt hatten.

Als Odo zurückkam, hielt er einen großen Krug in der Hand. »Ich hätte lieber bis zum Gasthof gewartet, aber wie es aussieht, bleibt uns keine Wahl. Der Pfeil muss raus, und die Wunde muss ausgebrannt werden«, erklärte er nüchtern und deutete auf das irdene Gefäß. »Brennnesselgeist, hoch konzentriert.«

Dann ging er in die Hocke und riss den Stoff ihres Kleides rund um den Bolzen auf.

»Hier«, sagte er und reichte ihr den Zipfel ihrer Schürze. »Da solltest du draufbeißen. Es wird wehtun.«

Ezra schüttelte störrisch den Kopf. Sie dachte nicht im Traum daran, auf dem dreckigen Stofffetzen herumzukauen.

»Wie du meinst, dann atme wenigstens aus, wenn ich es dir sage. Auf drei. Eins … Zwei … Drei!«

Ezra schnaufte zischend aus, und Odo zog den Bolzen mit einem Ruck aus ihrer Seite. Sie hatte das Gefühl, die Eingeweide würden ihr aus dem Leib gerissen, doch nur ein Stöhnen kam ihr über die Lippen. Ihre Muskeln zitterten, ihre Kiefer mahlten. Wie in Trance blickte sie an sich hinunter. Blut schäumte aus dem Loch in ihrer Brust. Der Bolzen lag nun neben ihr im Dreck, Fetzen ihres Fleisches hatten sich in den Widerhaken verfangen.