Die Christliche Lehre - Leo N. Tolstoi - E-Book

Die Christliche Lehre E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Der vorliegende Band erschließt zwei unterschiedliche katechetische (religionspädagogische) Schriften Leo N. Tolstois. In einem Brief vom 6. November 1877 schreibt der Dichter: "Vor ein paar Tagen war ich in einer Stunde dabei, als ein Priester Kindern den 'Katechismus' lehrte. Das war alles so widerlich. Es war so offensichtlich, dass die klugen Kinder diese Worte nicht nur nicht glauben konnten, sie konnten gar nicht anders, als sie zu verachten, deshalb wollte ich den Versuch wagen, in Form eines Katechismus das auszudrücken, was ich glaube". Zu jenem Zeitpunkt steht der Verfasser der Kirche noch nahe, betont jedoch: "Es gibt nur ein wahres Glaubenswissen, nämlich jenes, das allen Menschen gemeinsam ist". Der christliche Glaube sei "in dem Maße wahr, wie er das in die Herzen der Menschen offenbarte Glaubenswissen offenlegt". Zwei Jahrzehnte später beendet Tolstoi die Arbeit an dem kleinen Werk "Die Christliche Lehre" (1894-1897), das er in einer vorläufigen Fassung zur Veröffentlichung freigibt. Die zweite in dieser Neuedition enthaltene katechetische Schrift ist das Buch "Die christliche Lehre, dargelegt für Kinder" (1908). Es geht darin um die Bibelarbeit mit den Evangelien, jedoch nicht immer wortgetreu. Jesus lehrt: "Es gibt nur einen Tempel Gottes, das sind die Herzen der Menschen, wenn sie einander lieben." Simon Petrus imponiert mit einem gleichsam tolstojanischen Christus-Bekenntnis: "Meiner Meinung nach lehrst du, dass der Geist Gottes in jedem Menschen lebt und dass deshalb jeder Mensch ein Sohn Gottes sei." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 10 (Signatur TFb_A010) Herausgegeben von Peter Bürger Editionsmitarbeit: Ingrid von Heiseler & Katrin Warnatzsch

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Tolstoi-Friedensbibliothek

Reihe A | Band 10

Herausgegeben von

Peter Bürger

Editionsmitarbeit:

Ingrid von Heiseler,

Katrin Warnatzsch

Übersetzungen der Bücher

‚Christianskoe učenie‘ (1894-97) und

‚Učenie Christa, izložennoe dlja detej‘ (1908)

Mit einem Anhang

über Erziehung und Bildung

Tolstoi Friedensbibliothek

TFb_A010

Inhalt

Vorbemerkungen des Herausgebers

D

IE CHRISTLICHE

L

EHRE

(

Christianskoe učenie, 1894-1897)

Leo N. Tolstoi

Ausschließlich autorisierte und vom Verfasser revidierte deutsche Ausgabe, herausgegeben von Dr. Eugen Heinrich Schmitt [1898]

Vorrede (V. Tschertkoff)

Die christliche Lehre

Gedanken über Gott

Aus Tolstois Tagebuch

D

IE

L

EHRE

C

HRISTI

,

DARGESTELLT FÜR

K

INDER

(

Učenie Christa, izložennoe dlja detej, 1908)

Leo N. Tolstoi

Einzige autorisierte Übersetzung aus dem Original-Manuskript von Dr. A. Škarvan (1909)

Vorwort des Herausgebers

Vorwort [des Verfassers]

Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder

Anhang

Ü

BER RELIGIÖSE

E

RZIEHUNG

| 1899

Leo N. Tolstoi

Ediert von Willy Lüdtke (1929)

Ü

BER

B

ILDUNG UND

E

RZIEHUNG

| 1887-1901

Leo N. Tolstoi

Deutsch von Dr. Nathan Syrkin (1902)

A

US DEM

L

ESEZYKLUS FÜR ALLE

T

AGE

(Krug čtenija, 1904-1906)

Von Leo Tolstoi ausgewählte und selbst verfasste Texte

Bibliographie zu den beiden dargebotenen katechetischen Schriften Tolstois

Übersetzungen von pädagogischen und religionspädagogisch bedeutsamen Schriften Tolstois für eine deutschsprachige Leserschaft

Ausgewählte Literatur zu Leo N. Tolstois religiösen Schriften

VORBEMERKUNGEN DESHERAUSGEBERS

Die für die Reihe A unserer Tolstoi-Friedensbibliothek ausgewählten Werke vermitteln u. a. LEO TOLSTOIS persönliches Glaubensbekenntnis, seine Kritik der kirchlichen Dogmatik und Auszüge seiner Bibelarbeit. Die beiden im vorliegenden Band enthaltenen Schriften sind ebenfalls einer tradierten Gattung des religiösen bzw. theologischen Schrifttums zuzuordnen, der sogenannten ‚Katechetik‘ (Religionspädagogik).

„Die christliche Lehre“ | 1894-1897

Nach einer tiefen Lebenskrise hatte sich TOLSTOI noch vor seinem 50. Geburtstag für eine Zeitraum von weniger als zwei Jahren (wieder) enger an das orthodoxe Kirchentum gebunden. In diese Phase fällt sein erster Versuch, einen ‚Christlichen Katechismus‘ zu verfassen. Er schreibt darüber in einem Brief an NIKOLAJ STRACHOW vom 6. November 1877: „Vor ein paar Tagen war ich in einer Stunde dabei, als ein Priester Kindern den ‚Katechismus‘ lehrte. Das war alles so widerlich. Es war so offensichtlich, dass die klugen Kinder diese Worte nicht nur nicht glauben konnten, sie konnten gar nicht anders, als sie zu verachten, deshalb wollte ich den Versuch wagen, in Form eines Katechismus das auszudrücken, was ich glaube, und das habe ich getan. Dieser Versuch hat mir gezeigt, wie schwierig das für mich ist oder, wie ich befürchte, völlig unmöglich. Und das stimmt mich traurig und bedrückt mich.“1 – Der besagte Versuch beginnt mit einem unmissverständlichen kirchlichen Bekenntnis: „Ich glaube an die eine wahre, heilige Kirche, die in den Herzen aller Menschen und auf der ganzen Welt lebt und ihren Ausdruck im Wissen um das Gute findet, das in mir und in allen Menschen und im menschlichen Leben vorhanden ist. Ausdrücklich bekenne ich mich zum Glauben an die Christliche Lehre der orthodoxen Kirche …“. Es folgt dann im ‚Frage und Antwort‘-Schema der „rechtgläubige Katechismus“ als „Unterweisung im wahren Glauben für jeden Menschen allgemein und jeden rechtgläubigen Christen insbesondere, die seinem Seelenheil dient“. Die Betonung der Kirchlichkeit steht außer Zweifel, doch sie zielt nicht auf eine die Menschen spaltende Religionsform: „Frage. Gibt es ein einziges wahres (allen Menschen gemeinsames) Glaubenswissen? Antwort. Dieses Wissen existiert im Herzen der Menschen. Dasjenige Wissen, das alle Menschen gemeinsam haben, ist das wahre Glaubenswissen. – Frage. Sind die buddhistische, jüdische, christliche, mohammedanische Ausdrucksform des Glaubens wahr oder unwahr? Antwort. Es gibt nur ein wahres Glaubenswissen, nämlich jenes, das allen Menschen gemeinsam ist und das Gott in den Herzen der Menschen offenbart hat, und deshalb ist an allen Ausdrucksformen des Glaubens das wahr, was sie gemeinsam haben. Die äußeren Merkmale der Religionen sind dagegen nur Besonderheiten, die von historischen und geografischen Bedingungen abhängen, welche nicht zum Glaubenswissen, sondern zum Vernunftwissen gehören.“ Der christliche Glaube „ist in dem Maße wahr, wie er das in die Herzen der Menschen offenbarte Glaubenswissen offenlegt“. Die christliche Kirche verhält sich „zur gemeinsamen Kirche Gottes“ wie „das Besondere zum Allgemeinen“: als „eine [!] der Formen der universalen Kirche“. Nicht „im Geist“, aber „im Buchstaben“ ist sie fehlbar: „Der Geist stimmt immer mit dem Glaubenswissen im Herzen überein. Der Buchstabe dagegen ist ein Werkzeug der Überlieferung.“ – Der Text lässt bereits erahnen, dass das Arrangement des Verfassers mit der ‚Orthodoxie‘ nicht von allzu langer Dauer sein wird.

Zwischen 1894 und 1897 – also zwei Jahrzehnte später – versucht LEO TOLSTOI noch einmal, einen ‚Katechismus‘ niederzuschreiben. Obwohl das Ergebnis ihn selbst noch nicht zufriedenstellt, gibt er die Schrift „Die christliche Lehre“ (Christianskoe učenie, 1894-1897) zur Veröffentlichung frei: „Gewiss, ich halte diese Schrift für unvollendet und weit davon entfernt, die Forderungen zu erfüllen, die ich selbst vor zwanzig Jahren an sie stellte. Aber ich erkannte, dass ich nicht Zeit haben werde, sie zu vollenden, sie zu dem Grade der Klarheit zu bringen, den ich wünschte; und doch denke ich, dass auch bei der gegenwärtigen Form in ihr einiges Nützliche für die Menschen zu finden wäre. Drucken Sie und veröffentlichen Sie sie daher so wie sie ist, und wenn Gott will und ich von anderer Arbeit frei sein werde und noch die Kraft dazu besitze, so will ich zu dieser Schrift zurückkehren und will bestrebt sein, sie deutlicher, klarer und kürzer zu machen“ (→S. 15-16).

Der deutschen Ausgabe sind noch „Gedanken über Gott“ (Mysli o boge, 1898) und Auszüge „Aus Tolstois Tagebuch“ beigegeben.

Die „Christliche Lehre“ vermittelt TOLSTOIS Verständnis des Glaubens – nunmehr allerdings nicht mehr mit einer kirchlichen Bindung der Katechismus-Schrift wie noch 1877. Gleich zwei von drei Abteilungen der dargebotenen deutschen Übersetzung sind als Katechismus zur Morallehre gestaltet (‚Sünden‘, ‚Fallstricke‘). TOLSTOI kennt keine Strafpredigt und schon gar nicht so etwas wie Höllenqualen für Sünder. Doch seine Belehrungen zu den ‚Sünden‘ („Hindernisse der Offenbarung der Liebe“) enthalten bedenkliche Ansichten. Die „geschlechtliche Sünde“, um nur ein besonders trauriges Beispiel zu nennen, bestehe darin, „dass man sich durch den geschlechtlichen Trieb Vergnügen bereitet“ und z. B. „in geschlechtlichen Verkehr“ eintritt, „nicht zum Behufe der Fortpflanzung seines Geschlechtes, sondern um sein persönliches Wohlsein zu steigern“. – Solche Anschauungen finden heute hoffentlich ebenso wenig Beifall wie L. N. TOLSTOIS Ausführungen zur „Frauenfrage“ (→S. 79-81).

Zu den Sünden im gesellschaftlich-staatlichen Bereich zählen der „ungerechte Besitz von Grund und Boden und von Produktionsmitteln“ sowie eine „Legalisation von Gewalttat, Mord, Krieg“.

„Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder“ | 1908

Das ein Jahrzehnt später veröffentlichte Werk „Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder“ (Učenie Christa, izložennoe dlja detej. 1908) ist der – nur auf die Evangelien bezogenen – Bibelarbeit mit Kindern gewidmet. In diesem ‚Religionsunterricht‘ vermittelt LEO TOLSTOI einen Jesus im Sinne seiner religionsphilosophischen Auslegung. Der Prophet Jesaja wird so zitiert: „Das Haus Gottes ist nicht der Tempel in Jerusalem, sondern die ganze Welt der Menschen Gottes.“ Jesus lehrt: „Es gibt nur einen Tempel Gottes, das sind die Herzen der Menschen, wenn sie einander lieben.“ Er betont, man solle nicht ihm, sondern Gott glauben: „Würde man euch sagen, dass ich der Messias bin, so würdet ihr mir, dem Menschen, glauben, ihr glaubt aber nicht dem Vater, der sowohl in mir als auch in euch ist. Dem Vater allein aber muss man glauben.“ Simon Petrus bekennt keineswegs „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (Mt. 16, 16b), sondern gibt kund: „Meiner Meinung nach lehrst du, dass der Geist Gottes in jedem Menschen lebt und dass deshalb jeder Mensch ein Sohn Gottes sei.“ Jesus verkündet keine Belohnungsreligion: „Nicht das ist der Glaube, dass man an eine Belohnung glaubt, sondern, dass man deutlich verstehe, worin das Leben besteht. Wenn du deutlich verstehst, dass dein Leben im Geiste Gottes beruht, so wirst du keinen Lohn erwarten.“

Das Urteil über die „selbsterwählten rechtgläubigen Lehrer“, die „mittels äußerer Zeremonien und Schwüre“ ihre Stellung sichern, fällt vernichtend aus: „Liebe, Barmherzigkeit, Wahrheit, vernachlässigen sie ganz. Es ist ihnen nur darum zu tun, äußerlich dem Gesetze anzuhängen und andere äußerlich an das Gesetz zu binden. Und deshalb sind sie wie die getünchten Gräber: äußerlich scheinen sie rein, inwendig aber sind sie ein Greuel. – Auch die Heiligen und die Märtyrer ehren sie äußerlich. Eigentlich aber sind sie selbst diejenigen, die die Heiligen mordeten und quälten. Sie waren von jeher und sind auch jetzt die Feinde alles Guten. Von ihnen stammt alles Böse in der Welt, denn sie unterdrücken das Gute und nennen das Böse gut.“

Die religiösen Autoritäten sind mit Blick auf Jesu Botschaft alarmiert: „Wenn aber alle seine Lehre annehmen werden, dass alle Menschen die Söhne eines Vaters und alle miteinander Brüder sind, dass unser jüdisches Volk nichts Besonderes unter den übrigen Völkern ist, so werden die Römer kommen und uns unterjochen, und es wird kein jüdisches Reich mehr geben.“ Auch die Jünger wissen TOLSTOI zufolge, dass Jesus „keinen Unterschied zwischen Juden und anderen Völkern“ macht.

Jesus sagt voraus, dass man seine Botschaft verfälschen wird: „Man wird noch lange mit meiner Lehre die Menschen betrügen und es wird Kriege und Aufstände deswegen geben.“ Beim letzten Abendmahl legt er seinen Jüngern ans Herz: „Streitet nicht über meine Lehre, sondern, wie ich den Pharisäern sagte, tut, was ich tue. Ein neues Gebot gebe ich euch: Wie ich euch stets und bis zu Ende alle geliebt habe, so sollt ihr euch auch stets und bis zu Ende untereinander und alle Menschen lieben.“ „Das Leben besteht darin, dass man sich immer mehr und mehr der Vollkommenheit Gottes nähere. Das ist der Weg. Ich gehe ihn, und ihr kennt diesen Weg.“

Der Ausblick auf die bevorstehende Verfolgung ist nicht mit der Ankündigung einer wundersamen ‚Auferstehung von den Toten‘ verbunden: „Ich werde sterben, und die weltlichen Menschen werden mich nicht sehen, aber mein Geist wird nicht sterben, und ihr werdet leben durch ihn. Und dann werdet ihr verstehen, dass ich im Vater lebe und der Vater in mir.“ Die Geschichte der Zuspitzung eines tödlichen Konflikts und der Passion erstreckt sich über dreizehn von 52 Kapiteln: „Hier in Jerusalem wollte ich alle Menschen vereinigen, so dass alle Menschen hier einander lieben und einander dienen sollen, aber die Leute hier verstehen nur die Lehrer des Guten zu morden.“ Jesus erläutert gegenüber Pilatus sein Königtum so: „Ich lehre die Menschen die Wahrheit des Himmelreiches. Und wer in der Wahrheit lebt, der ist ein König.“

TOLSTOI selbst schrieb im Vorwort zu diesem Büchlein 1908: „Ich glaube, dass das kapitelweise Lesen desselben, begleitet von den durch die Lektüre erweckten Erklärungen über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Anwendung der ewigen Wahrheiten dieser Lehre im Leben, nur günstig auf die Kinder wirken muss, die nach den Worten Christi für die Lehre vom Reiche Gottes besonders empfänglich sind.“ Der Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe meinte hingegen: „Es hat diese Bearbeitung vor allem den Zweck, ein Leitfaden für die führenden Lehrer (und hier stehen an erster Stelle die Eltern selbst) zu sein, die auf dem Wege der Verinnerlichung der religiösen Weltanschauung die Veredlung des Gemüts der Kinder zu fördern berufen wären.“

Tolstoi als Religionspädagoge?

Die im Anhang des vorliegenden Bandes dargebotenen Übersetzungen zu pädagogischen Ausführungen TOLSTOIS und zu einem Tagesblatt aus dem Lesezyklus für alle Tage (Krug čtenija, 1904-1906) vermitteln folgende Anschauung: „Religionsunterricht ist die Grundlage der Erziehung.“ Diese Unterweisung soll „mit dem Aufklärungsgrad der Menschen ohne Unterschied der Nationalität und Lebenslage in Übereinstimmung“ stehen und kann „weder der Katholizismus, noch die Orthodoxie, noch der Protestantismus, noch der Mohamedanismus, noch das Judentum oder der Buddhismus sein“. Als Grundlage der Erziehung wünscht sich TOLSTOI stattdessen „die christliche Lehre in ihrer einfachsten und vernünftigsten Ausdrucksform“ (gemeint ist zweifellos seine eigene Form der Vermittlung).

Die Kampfansage an den kirchlichen Religionsunterricht, den er als Vergewaltigung der Kinder versteht, erfolgt an einigen Stellen mit unvorstellbarer Militanz. Selbst eine „vollständige Gleichgültigkeit der Kinder den religiösen Fragen gegenüber“ sei „dem vollendetsten hebräisch-kirchlichen Unterricht bei weitem vorzuziehen“. Zeitweilig rückte die Kritik an Klerikalismus, Bibelfundamentalismus2 und Kirchentum ins Zentrum aller Überlegungen. TOLSTOI konnte sogar schreiben: „Zuerst hielt ich die bösen Menschen für die Ursache des Übels, alsdann die schlechte, soziale Ordnung, alsdann die Gewalt, welche diese Ordnung erhält, alsdann die Anteilnahme der Menschen an dem Heer, alsdann den Mangel der Religion bei den Menschen, und nunmehr bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß die Wurzel aller Übel die [falsche] religiöse Erziehung ist.“

Gegenstand der Bildung sollen nur solche „Wissenschaften“ sein, die „dem Kriterium der menschlichen Verbrüderung“ genügen, somit „kosmopolitisch und allen Menschen zugänglich“ sind. Die Theologie scheidet hier genauso aus wie die Rechtswissenschaften. Erwünscht ist hingegen die Entstehung einer neuen „Sprachwissenschaft – gemäß dem Kriterium der Menschenverbrüderung“.

Die angestrebte religiöse Unterweisung ohne jegliche Vergewaltigung verlangt von den Erziehenden, niemals etwas zu vermitteln oder vorzuspiegeln, was mit der eigenen Persönlichkeit nicht übereinstimmt, und ihrerseits die Kinder als Lehrende zu sehen: „Ich kenne keine einzige Handlung der Erziehung, welche nicht die Selbsterziehung enthält. … Alle Schwierigkeiten der Erziehung kommen davon, dass die Eltern nicht nur ihre Fehler nicht gut machen, sondern dieselben nicht einmal zugeben, bei ihren Kindern dagegen die Fehler wohl sehen. Darin liegt die ganze Schwierigkeit und der ganze Kampf mit den Kindern. Die Kinder sind moralisch viel entwickelter als die Erwachsenen … Die Erziehung der andern ist darum in der Selbsterziehung enthalten, die nun auch alles ist.“ Es ist „die Kindererziehung nur die Selbstvervollkommung …, zu welcher niemand soviel beiträgt, wie die Kinder selbst.“

TOLSTOI war der Überzeugung, dass es „viel wichtiger ist, einen lebendigen aufgeklärten Menschen in die Welt zu schicken, als hundert Schriften“. Seine beiden in diesem Band neu edierten katechetischen Versuche – „Die christliche Lehre“ (1897) und „Die Lehre Christi dargestellt für Kinder“ (1908) – stehen nicht im Mittelpunkt seines religiösen Schriftenkreises. Als Pionier einer anderen ‚Religionspädagogik‘ – im Sinne etwa des im deutschen Sprachraum wirkungsgeschichtlich so bedeutsamen HUBERTUS HALBFAS (1932-2022) – kann LEO N. TOLSTOI trotzdem gesehen werden – nämlich aufgrund jener Lesewerke, mit denen er in seinem letzten Lebensjahrzehnt unter Durchbrechung aller Kultur- und Religionsschranken ein ‚Menschen- und Welthaus‘ der Weisheit zu vermitteln versuchte3: Gedanken weiser Männer (Mysli mudrych ljudej na každyj den’, 1903); Lesezyklus für alle Tage (Krug čtenija, zuerst 1904-1906); Der Weg des Lebens (Put’ žizni, 1910).

pb

1 Hier zitiert nach: Martin GEORGE / Jens HERTH / Christian MÜNCH / Ulrich SCHMID (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 47. – Vgl. ebd., S. 47-51 die Übersetzung des Fragments „Christlicher Katechismus“ (Christianskij katichizis, 1877) durch Olga Radetzkaja, nach der in diesem Abschnitt zitiert wird.

2 Tolstoi wendet sich gegen die Vermittlung von „grausamen Legenden“ (Altes Testament) und eines strafenden ‚Prinzips‘, welches „nichts anderes“ sei „als ein gewisses persönliches, borniertes und furchtbares böses Wesen – der hebräische Gott“. Zur besseren Einordnung solcher – geradezu ‚marcionitischen‘ – Ausführungen Tolstois vgl. z. B. Rainer GOLDT: Judentum. In: M. George / J. Herlth / Chr. Münch / U. Schmid (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker [2014]. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 557-570.

3 Vgl. im vorliegenden Band die bibliographische Übersicht →S. 196-197.

Die christliche Lehre

(Christianskoe učenie, 1894-1897)

Leo N. Tolstoi

Ausschließlich autorisierte und vom Verfasser revidierte deutsche Ausgabe.

Herausgegeben von Dr. Eugen Heinrich Schmitt4[1898]

VORREDE

Die Herausgabe dieses Buches wurde vom Autor nicht in der vorliegenden Form beabsichtigt. Nachdem er zwei Jahre daran gearbeitet, legte Leo Tolstoi, unbefriedigt von der Ausdrucksweise, das Buch beiseite, in der Hoffnung, daraus nach einiger Zeit mit frischer Kraft zurückzukommen. Da aber andere Arbeiten ihn in Anspruch nahmen und er die Möglichkeit einer endgültigen Ausarbeitung dieser Schrift nicht so bald absehen konnte, so gab er mir mit folgenden Worten die Erlaubnis, sie in der gegenwärtigen Form zu veröffentlichen:

„Gewiß, ich halte diese Schrift für unvollendet und weit davon entfernt, die Forderungen zu erfüllen, die ich selbst vor zwanzig Jahren an sie stellte. Aber ich erkannte, daß ich nicht Zeit haben werde, sie zu vollenden, sie zu dem Grade der Klarheit zu bringen, den ich wünschte; und doch denke ich, daß auch bei der gegenwärtigen Form in ihr einiges Nützliche für die Menschen zu finden wäre. Drucken Sie und veröffentlichen Sie sie daher so wie sie ist, und wenn Gott will und ich von anderer Arbeit frei sein werde und noch die Kraft dazu besitze, so will ich zu dieser Schrift zurückkehren und will bestrebt sein, sie deutlicher, klarer und kürzer zu machen.“

Der Leser möge daher, die unvollendete Form der Darstellung in Betracht ziehend, solche Sätze, die etwa nicht vollkommen klar sind, in dem Sinne erfassen, der der allgemeinen Idee und dem Geiste des ganzen Buches am nächsten steht.

Ich würde andererseits dem Leser aufrichtigen Dank wissen, wenn er auf Ungenauigkeiten und unklare Sätze des Textes aufmerksam machen würde, und es würde mich freuen, für die nächste Ausgabe für irgend welche derartige Verbesserungen die Zustimmung des Verfassers zu gewinnen.

Purleigh Essex, April 1898.

V. Tschertkoff.

4 Textquelle | Graf Leo TOLSTOI: Die christliche Lehre. Ausschließlich autorisierte und vom Verfasser revidierte deutsche Ausgabe. Herausgegeben von Dr. Eugen Heinrich Schmitt. Berlin: Hugo Steinitz Verlag [1898]. [166 Seiten; Inhalt: Vorrede von V. Tschertkoff S. 7-8, Die christliche Lehre S. 7-112, Gedanken über Gott S. 113-147, Aus Tolstois Tagebuch S. 149-165.] [Enthält keine detaillierten Angaben zur Urheberschaft der Übersetzungen ins Deutsche; beteiligt: Albert Škarvan].

Die christliche Lehre

Einleitung

Ich hatte mein fünfzigstes Lebensjahr erreicht, als ich noch immer dachte, daß das Leben des Menschen, das den Zeitraum zwischen seiner Geburt und seinem Tode ausfüllt, sein ganzes Leben sei, und daß daher das Ziel des Menschen sein Glück in diesem sterblichen Leben sei. So suchte ich denn dies Glück zu erlangen. Aber je länger ich das versuchte, desto klarer wurde es mir, daß dieses Glück nicht existiere und nicht existieren könne. Das Glück, das ich suchte, konnte ich nicht gewinnen, denn sobald ich es erlangte, hörte es auf, Glück zu sein.

Andererseits steigerten sich die Widerwärtigkeiten, und die Gewißheit des Todes wurde mir immer klarer und klarer. Und ich begriff, daß nach diesem sinnlosen und unglücklichen Leben nichts meiner harrte, als Leiden, Krankheit, Alter und Vernichtung. Ich fragte mich selbst: Warum dies? Und ich konnte keine Antwort finden und verzweifelte.

Das was manche Leute sagten und wovon ich mich selbst manchmal zu überzeugen suchte, daß nämlich der Mensch das Glück nicht für sich allein, sondern für Andere, für seinen Nächsten, für alle Menschen erstreben solle, konnte mich nicht befriedigen. Vorerst, weil ich aufrichtig nicht im selben Maße das Glück für andere ersehnen konnte, wie für mich selbst, und zweitens und hauptsächlich deswegen nicht, weil die andern gerade wie ich selbst dem Unglück und dem Tode verfallen sind, weshalb auch alle meine Bemühungen für das Glück der andern als zwecklos erscheinen mußten.

Ich verzweifelte. Ich glaubte, daß meine Verzweiflung daher kam, daß ich ein besonderer Mensch wäre, während andere wüßten, wozu sie leben, und so der Verzweiflung entgingen. Ich begann daher, andere zu beobachten; aber auch diese wußten ebensowenig wie ich selbst, wozu sie lebten. Manche versuchten in dem ziellosen Zirkel des Lebens diese Unwissenheit zu verbergen; andere suchten sich selbst und andere zu überreden, daß sie an die verschiedenen Religionen glaubten, die man ihnen in der Kindheit beigebracht hatte, an welche Religionen man aber nicht glauben konnte, da sie dem Verstande widersprechen. Von diesen letzteren, so schien es mir, behaupteten viele bloß, zu glauben, während sie im Grunde des Herzens keinen Glauben hegten.

Ich konnte diesen Zirkel des Lebens nicht mehr mitmachen, denn keine äußerliche Beschäftigung mehr konnte das Problem vor mir verbergen. Ich konnte nicht mehr an die Religion meiner Kindheit glauben, die sich mir von selbst auflöste als ich die intellektuelle Reife erreicht hatte.

Je eindringlicher ich die Sache betrachtete, desto fester wurde ich überzeugt, daß keine feststehende Wahrheit in dieser Religion war, daß die Grundlage ihres Erkenntnisses vielfach die Heuchelei und Verkäuflichkeit der Betrüger einerseits, die Verstandesschwäche, Halsstarrigkeit und Furcht der Betrogenen andererseits war.

Abgesehen von den inneren Widersprüchen dieser Lehren, von der Grausamkeit des Glaubens an einen Gott, der die Menschen mit ewigen Qualen straft, trat meinem Vorstande [sic] [Verstande] schon die Erkenntnis entgegen, daß neben der griechisch-orthodoxen Christenlehre, die behauptet, die einzig wahre zu sein, noch eine zweite, die römisch-katholische existiert, eine dritte, die lutherische, eine vierte, die einer Sekte; alle diese im Widerspruch miteinander und alle behauptend, daß sie die einzig wahre Lehre verkündeten. Und ich wußte, daß neben diesen christlichen Lehren auch nichtchristliche existierten: der Buddhismus, Brahmanismus, Mohammedanismus, Confucianismus und andere, die alle behaupteten, daß sie allein wahr, die anderen dagegen Irrlehren wären.

Ich konnte weder zu der Religion meiner Kindheit zurückkehren, noch irgend eine dieser von anderen Völkern angenommenen Lehren bekennen, denn in ihnen allen waren dieselben Widersprüche wahrzunehmen, dieselben Wundergeschichten, die gleiche Verwerfung der anderen Religionen und vor allem jene Forderung des blinden Glaubens an die Lehre.

Nachdem ich mich so überzeugt hatte, daß ich die Lösung meiner Schwierigkeiten und die Linderung meiner Leiden in den existierenden Religionen nicht finden konnte, steigerte sich meine Verzweiflung so, daß ich an der Schwelle des Selbstmordes stand.

An diesem Punkt kam mir Erlösung, und diese Erlösung vollzog sich folgendermaßen: Von meiner Kindheit an hatte ich die unbestimmte Idee mir bewahrt, daß im Evangelium die Antwort auf meine Frage enthalten sei. Aus diesen Lehren des Evangeliums fühlte ich trotz aller Mißdeutungen der Lehren der christlichen Kirchen die Wahrheit heraus, und schließlich mit einer letzten Anstrengung alle Erklärungen verwerfend, begann ich das Evangelium zu lesen und zu studieren und in seinen Sinn einzudringen. Je tiefer ich in den Sinn dieses Buches eindrang, desto klarer wurde mir etwas neues, vollständig verschieden von dem, was die christlichen Kirchen lehrten, das aber das Problem meines Lebens löste.

Schließlich wurde mir diese Lösung vollständig deutlich, ja völlig unzweifelhaft, erstens weil sie mit meiner Vernunft und mit meinem Herzen vollständig in Übereinstimmung war, und zweitens, weil ich sah, als ich diese Lösung begriff, daß sie nicht bloß ausschließlich meine Erklärung des Evangeliums war, wie es scheinen mochte, noch auch die ausschließliche Offenbarung Christi, sondern die wahre Lösung des Problemes, wie sie in mehr oder minder entfalteter Form von all den Besten unter den Menschen ebenso vor als auch nach der Abfassung des Evangeliums geboten worden war, – eine Reihenfolge, die sich von Moses, Jesajas, Confucius, den älteren Griechen, Buddha, Sokrates bis zu Pascal, Spinoza, Fichte, Feuerbach und all den Unbeachteten und Unbekannten erstreckt, die, ohne Glaubenslehren zu verkünden, über den Sinn des Lebens nachgedacht und darüber ihre Gedanken aufrichtig ausgesprochen hatten. So stand ich, als ich die im Evangelium enthaltene Wahrheit erlernte, nicht allein, sondern wußte mich eins mit den besten Menschen der Vergangenheit und Gegenwart. Ich befestigte mich in dieser Wahrheit und in ihrem Frieden, und habe seitdem zwanzig Jahre in Heiterkeit durchlebt, und mit Heiterkeit sehe ich meinem Tode entgegen.

Diese Lösung des Sinnes des Lebens, die mich mit Ruhe und Lebensfreude erfüllte, wünsche ich den Menschen mitzuteilen.

Meinem Alter und dem Stande meiner Gesundheit nach stehe ich mit einem Fuße im Grabe, und weltliche Rücksichten haben keine Bedeutung mehr für mich. Ich weiß, daß diese Darlegung meiner religiösen Überzeugung weder meinen weltlichen Vorteil noch meinen Ruf fördern, sondern im Gegenteil sowohl die Ungläubigen, die litterarische Werke von mir erwarten und nicht theologische Abhandlungen, als auch jene Gläubigen, die wegen meiner religiösen Schriften ungehalten sind, wider mich erbittern und erzürnen und mich in ihren Augen noch mehr diskreditieren wird. Außerdem war diese Schrift ursprünglich bestimmt, erst nach meinem Tode veröffentlicht zu werden. So, daß ich zu dem, was ich thue, nicht durch irgend welche Wünsche nach Gewinn noch durch weltliche Rücksichten bewegt wurde, sondern einzig durch die Furcht bewogen wurde, etwas zu versäumen, wozu mich der berufen hat, der mich in diese Welt gesandt und zu dem zurückzukehren ich jede Stunde gewärtig bin.

Ich bitte daher [daß] alle die, die das lesen und verstehen, was ich schrieb, ebenso wie ich, alle weltlichen Rücksichten beiseite setzend und nur das ewige Prinzip des Wahren und des Guten vor Augen haltend, durch das wir in diese Welt kamen, und aus der wir als leibliche Wesen ebenso bald verschwinden, ohne Voreiligkeit und Leidenschaft verstehen und beurteilen mögen, was ich sage, und im Falle sie nicht mit mir übereinstimmen, mich berichtigen wollen, nicht mit Verachtung und Haß, sondern mit Mitleid und Liebe. Im Falle sie aber mit mir übereinstimmen, so mögen sie sich entsinnen, daß, wenn ich Wahrheit spreche, diese Wahrheit nicht die meine, sondern Gottes Wahrheit ist, und nur zufällig ein Teil dieser Wahrheit mich durchdringt, so wie sie jeden von uns durchdringt, der die Wahrheit auffaßt und auch anderen mitteilt.

ERSTER TEIL. ALTE LEHREN UND DAS NEUE VERSTÄNDNIS DES LEBENS

I.Die alten Lehren

1. Von frühesten Zeiten her haben die Menschen das Elend, die Unsicherheit und die Sinnlosigkeit ihrer Existenz empfunden und haben Erlösung gesucht aus diesem Elend, dieser Unsicherheit und Sinnlosigkeit bei einem Gott oder bei Göttern, welche dieselben von den verschiedenen Beschwerden dieses Lebens befreien sollten in einem Leben, welches ihnen Wohlfahrt geben sollte, die sie in diesem Leben ersehnten, jedoch nicht erreichen konnten.

2. Es hat daher seit dem grauesten Altertum Lehrer bei den verschiedensten Völkern [gegeben], welche die Menschen über die Natur des Gottes oder der Götter unterrichteten, durch welche dieselben erlöst werden sollten und über die Mittel der Annäherung, um hier oder jenseits Belohnungen zu erlangen.

3. Manche dieser Lehren verkündeten, daß dieser Gott die Sonne wäre, personifiziert in verschiedenen Tieren; andere identifizierten diesen Gott mit Erde und Himmel; andere lehrten, daß Gott die Welt geschaffen habe, sich unter allen Völkern eines auserwählend, andere wieder, daß es viele Götter gäbe und daß dieselben an den menschlichen Angelegenheiten Anteil nehmen; wieder andere, daß Gott in menschlicher Form zur Erde herabgestiegen sei.

Und Wahrheit mit Irrtum vermengend, verlangten alle diese Lehrer von den Menschen nicht bloß die Enthaltung von gewissen Handlungen, die als böse betrachtet wurden und die Vollbringung von Handlungen, die als gute galten, sondern auch verschiedene Sakramente, Opfer, Gebete, von denen sie voraussetzten, daß sie ganz besonders die Wohlfahrt sowohl in dieser Welt wie in der andern zu versichern geeignet wären.

II.Das Ungenügende der alten Lehren

4. Aber je länger die Menschen lebten, desto weniger genügten diese Lehren den Bedürfnissen der menschlichen Seele.

5. Erstens, sahen die Menschen, daß sie trotz der Erfüllung der Gebote ihres Gottes oder ihrer Götter in dieser Welt die ersehnte Glückseligkeit nicht erlangten.

6. Zweitens, erschienen mit der Ausbreitung der Aufklärung diese Lehren über Gott und das künftige Leben mit den versprochenen Entschädigungen nicht in Übereinstimmung mit geklärteren Anschauungen über das Weltall und infolgedessen schwand das Vertrauen der Menschen in dieselben mehr und mehr.

7. Wenn die Menschen in früheren Zeiten ohne Schwierigkeit glauben konnten, daß Gott die Welt vor sechstausend Jahren geschaffen, daß die Erde der Mittelpunkt des Weltalls wäre; daß Gott, nachdem er zur Erde herabgestiegen, wieder in den Himmel aufgefahren ist und so weiter, so wurde ein solcher Glaube nun unmöglich, nachdem die Menschen bestimmt wußten, daß die Welt nicht sechstausend sondern hunderttausende von Jahren existiert hat, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls, sondern ein im Vergleich mit anderen Himmelskörpern kleiner Planet sei; daß es kein Unter der Erde geben könne, da diese eine Kugel ist, und da sie erkannten, daß es unmöglich ist, in den Himmel aufzufahren, weil es keinen Himmel gäbe und die Himmelswölbung nur für den Augenschein existiere.

8. Drittens und hauptsächlich wurde das Vertrauen der Menschen in diese verschiedenen Lehren untergraben durch den engeren gegenseitigen Verkehr, wo man in Erfahrung brachte, daß in jedem Lande die Religionslehrer ihre eigenen eigentümlichen Lehren als die einzig wahren predigten und die Wahrheit aller andern verneinten. Nachdem die Menschen dies entdeckten, schlossen sie natürlich, daß keine dieser Lehren wahrhafter war als die anderen und daß infolgedessen keine derselben als zweifellose und unfehlbare Wahrheit angenommen werden könne.

III.Die Notwendigkeit einer neuen, dem Grade der Aufklärung entsprechenden Lehre

9. Die Unerreichbarkeit des Glückes in diesem Leben, die Ausbreitung der Aufklärung unter den Menschen, der Verkehr, der die Kenntnis der religiösen Lehren verschiedener Völker verbreitete, verursachte, daß das Vertrauen in die hergebrachten Lehren immer mehr schwand.

10. Die Forderung nach der Lösung des Sinnes des Lebens wurde immer dringender und der Auflösung des Widerspruches zwischen dem Wunsche nach Glück und Leben einerseits und der steigenden Gewißheit des Elendes und des Todes andererseits.

11. Der Mensch wünscht Wohlfahrt und sieht in derselben den Sinn des Lebens; doch je länger er lebt, desto klarer wird ihm, daß ein Wohlergehen für ihn unmöglich ist. Der Mensch wünscht Leben und die Fortsetzung des Lebens und sieht, daß sowohl er selbst wie alles, was ihn umgiebt, unausweichlicher Zerstörung und Vernichtung verfallen ist. Der Mensch besitzt Vernunft und sucht eine vernünftige Lösung der Erscheinungen des Lebens, findet aber keine vernünftige Lösung weder im eigenen Leben noch im Leben der anderen.

12. Während in älteren Zeiten das Bewußtsein dieses Widerspruches zwischen dem Wunsche nach Wohlfahrt und Dauer des Lebens und der Unvermeidlichkeit von Tod und Leid nur den hervorragendsten Geistern zugänglich war, einem Salomon, Buddha, Sokrates, Laotse und anderen, so wurde dies später eine allen offenbare Wahrheit, und mehr als je wurde eine Lösung dieses Widerspruches notwendig.

13. Und gerade zu der Zeit als die Lösung dieses Widerspruches zwischen dem Streben nach Wohlfahrt und Leben und des Bewußtseins der Unerreichlichkeit desselben so peinlich notwendig geworden war für die Menschen, wurde ihnen diese Lösung gegeben durch die christliche Lehre in ihrem wahren Sinne.

IV.Die Lösung des Widerspruches des Lebens und die Erklärung seines Sinnes, gegeben durch die christliche Lehre in ihrem wahren Sinne

14. Die alten Lehren versuchten den Widerspruch des menschlichen Lebens zu verhüllen durch die Behauptung eines Gott – Schöpfers, Erhalters und Erlösers; die christliche Lehre im Gegenteil zeigt dem Menschen diesen Widerspruch in seiner ganzen Stärke, zeigt, daß dieser Widerspruch bestehen müsse und leitet eben aus der Anerkennung dieses Widerspruches dessen Lösung ab. Dieser Widerspruch läßt sich im folgenden feststellen:

15. Es ist wahr, daß der Mensch der einen Seite nach ein Tier ist und nicht aufhören kann, Tier zu sein, so lange er im Fleische lebt, aber andererseits ist er ein geistiges Wesen, welches alle die Forderungen des Tieres im Menschen zurückweist.

16. Während des ersten Abschnittes seines Lebens lebt der Mensch ohne Selbstbewußtsein des Lebens, – hier lebt nicht er, sondern durch ihn lebt jene Lebensmacht, die in allem lebt was wir kennen.

17. Der Mensch beginnt sein eigenes Leben, wenn er zum Bewußtsein erwacht, daß er lebt. Er wird sich bewußt, wenn er erkennt, daß er Wohlfahrt für sich erstrebt und die anderen Wesen dasselbe erstreben. Diese Erkenntnis ergiebt sich ihm mit dem Erwachen seiner Vernunft.

18. Wenn er erkannt hat, daß er lebe und sein Wohlsein erstrebe und daß die andern Wesen dasselbe erstreben, entdeckt der Mensch notwendig, daß die Wohlfahrt, die er für sich als abgesondertes Wesen erstrebt, unerreichbar ist, und daß seiner anstatt dieser ersehnten Wohlfahrt unausbleiblich Leiden und Tod harre. Dieselben Mühseligkeiten harren aber auch aller anderen Wesen. So tritt hier ein Widerspruch hervor, für welchen der Mensch eine Lösung sucht, eine Lösung, die seinem Leben, wie es gegeben ist, einen vernünftigen Sinn giebt. Er wünscht, daß sein Leben sich entweder so fortsetze, wie es vor dem Erwachen der Vernunft war, das heißt rein tierisch, oder aber, daß es rein geistig werde.

19. Der Mensch wünscht, entweder ein Tier oder ein Engel zu werden, kann aber weder das eine noch das andere werden.

20. Und hier kommen wir zu der Lösung des Widerspruches, wie ihn die christliche Lehre bietet. Diese verkündet dem Menschen, daß er weder ein Tier noch ein Engel ist, sondern ein Engel, geboren aus einem Tiere, eine geistige Existenz, geboren aus einer tierischen, und daß unser ganzes Leben in dieser Welt nichts anderes ist als der Prozeß dieser Geburt.

V.Die Geburt des geistigen Wesens

21. So wie der Mensch zu vernünftigem Bewußtsein geboren ist, leuchtet ihm kraft dieses Bewußtseins ein, daß er seine Wohlfahrt erstrebe. Und indem dieses vernünftige Bewußtsein geboren wird in seinem abgesonderten Sein, so scheint es ihm, daß dieses Streben nach Wohlsein auf dieses abgesonderte Sein bezogen ist.

22. Aber dasselbe vernünftige Bewußtsein, demgemäß er sich selbst als abgesondertes Wesen erscheint, welches die eigene Wohlfahrt erstrebt, zeigt ihm, daß diese abgesonderte Existenz unvereinbar ist mit dem Streben nach Wohlfahrt und Leben, welches er mit derselben verbindet. Er sieht ein, daß dies abgesonderte Wesen weder das Wohlsein genießen, noch leben kann.

23. „Was also bildet das wahre Leben?“ fragt er sich selbst und er nimmt wahr, daß das wahre Leben weder in ihm selbst noch in den Wesen, die ihn umgeben, sich befinde, sondern einzig in dem, was nach Wohlfahrt strebt.

24. Und, nachdem er dies entdeckt, hört der Mensch auf, sein eigenes abgesondertes und sterbliches körperliches Wesen als sein Selbst zu betrachten, sondern betrachtet als sein Selbst dasjenige Wesen, welches untrennbar von den andern, geistig und daher auch unsterblich sich ihm durch sein vernünftiges Selbstbewußtsein enthüllt.

Dies ist die Geburt des neuen geistigen Wesens im Menschen.

VI.Worin besteht dieses im Menschen neugeborene Wesen?