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Aufgewachsen in den Favelas von Rio kennt Pia den täglichen Kampf ums Überleben und plant einen Coup, um an Geld zu kommen. Dabei geht so ziemlich alles schief und mehr als das: Pia wird plötzlich in eine winterliche mittelalterliche Welt katapultiert. Nur langsam fügt sich das verwirrende Puzzle: Pia ist in WeißWald gelandet. Einst herrschte hier Krieg zwischen Elfen und Menschen, der mit dem Verschwinden der Elfen und einer Prophezeiung endete. Prinzessin Gaylen wird wiederkehren und mit ihr die Kraft des alten Elfenzaubers. Eine Prophezeiung, die für Pia alles verändert, denn schließlich ist sie es, die man in WeißWald einfach nur Gaylen nennt
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Seitenzahl: 1074
I. Buch
© VERLAG CARL UEBERREUTER
Einhundertfünfzig Jahre«, seufzte Pia. »Und nichts hat sich geändert.«
Sie bekam keine Antwort – und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch nicht damit gerechnet –, sondern nur ein nachdenkliches Stirnrunzeln und einen dümmlich-fragenden Blick aus einem runden Mondgesicht, das gute drei Handspannen über ihr schwebte, von stoppelkurz geschnittenem schwarzem Haar und einer mindestens fünfmal gebrochenen und breit geschlagenen Nase beherrscht wurde und auch darüber hinaus ungefähr genauso intelligent, verständnisvoll und sanftmütig aussah wie der nahezu perfekt gerundete Vollmond, der trotz der eigentlich noch frühen Stunde bereits am Himmel stand.
Schließlich machte Jesus (der im Übrigen nicht Jesus hieß, aber kaum jemand hatte es nach einem auch nur flüchtigen Blick auf seine gewaltigen schwieligen Fäuste jemals gewagt, ihn darauf hinzuweisen) ein noch fragenderes Gesicht und rang sich immerhin zu einem genuschelten »Hä?« durch.
Irgendwie gelang es Pia, weder die Augen zu verdrehen, noch zu laut zu seufzen, sondern sogar so etwas wie ein (mühsames) Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen. »Einhundertfünfzig Jahre«, wiederholte sie und brachte dabei das Kunststück fertig, nicht allzu genervt zu klingen. »So lange gibt es die Favelas schon. Mindestens. Vielleicht auch schon viel länger. Und nichts hat sich seither verändert. Ich meine: Sieh es dir doch an! Denk dir die Satellitenschüsseln von den Dächern weg, und das alles sieht aus wie vor zweihundert Jahren.«
Sie unterstrich ihre Worte mit einer ebenso weit ausholenden wie übertrieben deutenden Geste über die graue und rostig rote Landschaft aus Holz, Wellblech und Satellitenschüsseln der unterschiedlichsten Ausführung und Größe, die sich unter und hinter ihnen erstreckte, so weit sie sehen konnte … was ungefähr einen Kilometer bedeutete, vielleicht anderthalb. Alles, was dahinter lag, war unter einem schmutzig grauen Nebel aus Smog und hochgewirbeltem Straßenstaub verborgen. Aber Pia wusste, dass sich die Favelas tatsächlich so weit in diese Richtung ausdehnten, wie das Auge reichte … oder doch zumindest bis zu den Bergen, die westlich der Stadt eine natürliche Barriere bildeten. Wahrscheinlich, überlegte sie, hätten sie auch längst dieses Hindernis überwuchert und verschlungen, wäre das Gebirge nicht karstig und steil genug gewesen, um selbst einer Bergziege Kopfzerbrechen zu bereiten. So versuchten sie unentwegt, in die andere Richtung vorzudringen, was zu einem seit Jahrzehnten andauernden Guerillakrieg zwischen den Favelas und den angrenzenden Teilen der Stadt führte, deren Einwohner sich für etwas Besseres hielten.
Im Augenblick tobte nicht einmal weit entfernt eine weitere Schlacht in diesem nur scheinbar ungleichen Krieg. Lediglich einen Steinwurf hinter Jesus und ihr waren ganze drei der Ehrfurcht gebietenden Kriegsmaschinen der anständigen Bürger Rio de Janeiros aufgefahren, flankiert von einer Kohorte ihrer besten Krieger. Man hätte es auch anders ausdrücken können: gut zwei oder drei Dutzend Bauarbeiter mit gelben, roten und blauen Helmen – deren unterschiedliche Farben etwas bedeuten mochten oder auch nicht –, über denen sich die Schaufeln von drei riesigen Baggern erhoben, bereit, sich mit ihren gewaltigen Stahlzähnen in die aus Wellblech und morschem Holz errichteten Gebäude zu fressen, die es gewagt hatten, die imaginäre Grenzlinie zwischen dem Elendsviertel und der anständigen Leuten vorbehaltenen Seite der Straße zu überschreiten. Am Ausgang dieser Schlacht gab es nicht den geringsten Zweifel, da machte sich Pia nichts vor. Morgen, spätestens übermorgen (wenn nichts dazwischenkam, die Arbeiter oder die Müllabfuhr oder die städtischen Wasserwerke nicht streikten, es morgen nicht zu heiß oder zu kalt war, oder einer von tausend anderen denkbaren Umständen eintrat, um die Arbeiten wieder einmal lahmzulegen) würde nichts mehr von dem halben Hundert ärmlicher Hütten übrig sein, die es gewagt hatten, sich im anständigen Teil der Stadt breitzumachen. Und wenn ihre Bewohner dumm genug waren, sich zu heftig zur Wehr zu setzen oder zu laut zu protestieren, dann von etlichen von ihnen wohl auch nichts.
Aber Pia wusste auch, dass dieser Eindruck täuschte. Die Favelas mochten jede einzelne Schlacht in diesem ungleichen Kampf verlieren, doch der Krieg selbst endete nie. Dafür waren die Elendsviertel zu groß, die Stadt zu erbarmungslos und ihre anständigen Bewohner zu unanständig. Pia war – wie viele ihrer Freunde und Verwandten – in den Favelas geboren und aufgewachsen, aber sie kannte auch genug, die auf der anderen Seite der Straße auf die Welt gekommen und irgendwie doch durch die immer größer werdenden Maschen des Netzes gefallen waren, mit dem sich die gutbürgerlichen Einwohner Rios vor den Massen der Armen und Ungebildeten schützten.
»Hundertfünfzig Jahre?« Jesus ließ eine Kaugummiblase platzen und versuchte ein noch nachdenklicheres Gesicht zu machen.
Es sah ziemlich dämlich aus, fand Pia. Außerdem hatte sie im allerersten Moment Mühe, seinen Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Erst dann wurde ihr klar, dass er auf ihre eigene Bemerkung von gerade anspielte. Entweder, dachte sie, sie hatte nicht annähernd so lange über den Sinn des Lebens, die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Geschichte der Favelas im Besonderen nachgedacht, wie sie geglaubt hatte, oder ihre Bemerkung hatte so lange gebraucht, um an die kümmerlichen Reste von Jesus’ Intellekt zu dringen.
Wahrscheinlich Letzteres.
Jesus sah sie fragend an, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Fingernagel am Kopf und wartete vergeblich auf irgendeine Reaktion, bevor er schließlich fortfuhr: »Ist die Stadt überhaupt schon so alt?«
Die ehrliche Antwort wäre gewesen: Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber selbstverständlich hätte sie das nie zugegeben. Sie nickte und machte das gewichtigste Gesicht, das sie zustande brachte.
»Vielleicht«, behauptete sie. »Aber niemand weiß genau, wie alt wirklich.« Das war glatt gelogen, wie sie sehr wohl wusste, hinderte sie jedoch nicht daran, auch noch hinzuzufügen: »Und niemand weiß, was zuerst da war: die Stadt oder die Favelas.« Was vermutlich genauso falsch war. Aber es klang gut.
Jesus zeigte sich jedenfalls gebührend beeindruckt, schüttelte nach einer weiteren Sekunde trotzdem den Kopf und deutete in den Himmel hinauf. »Das hat sich geändert«, sagte er.
Womit er natürlich ebenfalls recht hatte. Trotzdem sah Pia ihn nur beinahe finster an und dachte auch gar nicht daran, in die Richtung zu blicken, in die sein ausgestreckter Zeigefinger wies. Obwohl der Tag fast zu Ende war, hatte die Sonne noch viel Kraft, und sie hatte wenig Lust, sich die Augen zu verblitzen … und noch weniger Lust, direkt ins Kameraobjektiv einer Drohne zu lächeln. Schon vor einer geraumen Weile war herausgekommen, dass die meisten davon nichts als billige Attrappen und nur allerhöchstens jede zehnte tatsächlich mit einer Kamera bestückt war (von denen wiederum allerhöchstens die Hälfte auch wirklich funktionierte. Rios Stadtväter gingen zwar mit der Zeit und waren mächtig stolz auf ihr Hightech-Spielzeug, das ihnen helfen sollte, die Straßen unserer schönen Stadt noch sicherer zu machen, aber sie waren auch mindestens genauso geizig und hatten irgendeinen ostasiatischen Schrott gekauft, der vorn und hinten nicht funktionierte), aber sie legte nun wirklich keinen Wert darauf, ihr Konterfei in irgendeiner elektronischen Datei der Polizeibehörde verewigt zu wissen.
Pia verscheuchte sowohl diesen wie auch etliche andere, womöglich noch unangenehmere Gedanken und machte eine auffordernde Geste zu den Baggern hin. Es wurde Zeit. Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen (was auch daran lag, dass sie keine besaß), aber das war ohnehin nicht nötig. Nebst einigen anderen nützlichen Talenten verfügte sie über die Fähigkeit, stets beinahe auf die Minute genau sagen zu können, wie spät es war. Im Augenblick wartete sie darauf, dass der Vorarbeiter dort drüben seine Leute in den Feierabend schickte und seine letzte Runde über die Baustelle drehte, um sich davon zu überzeugen, dass alles seine Ordnung hatte, und alles kostbare Werkzeug entweder sicher weggeschlossen oder in einem Betonkübel untergebracht war, den er später an einem Drahtseil zwanzig Meter in die Höhe hieven würde; eine Vorsichtsmaßnahme, die so alt war wie die Geschichte der Baustellen, Kräne und Diebe und die noch nie wirklich funktioniert hatte – was unzählige Generationen von Bauarbeitern natürlich nicht daran gehindert hatte, sie zu praktizieren, und ebenso viele Generationen von Dieben nicht, sie auszunützen.
Pia interessierte sie nicht. Ebenso wenig wie jenes Werkzeug, das der Polier in ein paar Minuten in luftige Höhen befördern würde … auch wenn das Zeug zweifellos einen gewissen Wert besaß. Vor ein paar Monaten noch hätte es sie interessiert. Gutes Werkzeug ließ sich leicht verkaufen, und wenn man sich nicht allzu dämlich anstellte, brachte es auch einen guten Preis.
Aber diese Zeiten waren vorbei. Heute waren Jesus und sie hinter etwas sehr viel Wertvollerem her. Und das Allerbeste daran: Die Sache war nicht einmal illegal. Oder doch, wenn man es genau nahm, eigentlich schon. Aber kein Hahn würde danach krähen.
»Wir sollten hier nicht so rumstehen«, sagte Jesus und ließ nicht nur eine weitere Kaugummiblase platzen, sondern rammte auch beide Fäuste in die Taschen des maßgeschneiderten Sommeranzugs, den er trug. »Wir fallen auf.«
Pia warf ihm einen schrägen Blick zu und sparte sich darüber hinaus jeden Kommentar. Dass Jesus sich Sorgen darum machte, nicht aufzufallen, war löblich … oder wäre es, wäre Jesus nicht einen Fingerbreit größer als zwei Meter, drei Zentner schwer (sehr wenig davon war überflüssiges Fett) und ungefähr so attraktiv wie Quasimodos hässlicher Zwillingsbruder gewesen. Und als wäre das allein nicht schon schlimm genug, hatte er eine ziemliche Vorliebe für ebenso teure wie geschmacklose Klamotten entwickelt, der er mit stetig wachsender Begeisterung frönte, seit ihre Geschäfte besser liefen. Im Moment trug er einen blütenweißen Sommeranzug und einen dazu passenden weißen Hut, den er keck in den Nacken geschoben hatte, ein schwarzes Hemd unter einer silberfarbenen Krawatte und auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe mit weißen Gamaschen. In diesem Aufzug fiel er einfach immer auf, ganz egal, was sie auch taten und wo sie waren.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Pia, wieso sie eigentlich immer noch mit diesem gutmütigen Riesen zusammen war und all seine kleinen (und ein paar ziemlich große) Macken duldete. Und nicht zum ersten Mal beantwortete sie ihre eigene Frage mit denselben Worten: Weil Jesus eben Jesus war und sie nur zusammen wirklich funktionierten.
Pia sah sich unschlüssig um und deutete dann auf eine schäbige Cantina auf der anderen Straßenseite. »Gehen wir dorthin. Sie machen gleich Feierabend. Bis dahin spendiere ich dir ein Bier.«
Jesus murmelte irgendeine Antwort und warf der Drohne einen misstrauischen Blick zu, schloss sich Pia darüber hinaus aber kommentarlos an. Die Cantina bestand aus einem einzigen kleinen Raum mit gefliesten Wänden, einer schäbigen Theke und einem halben Dutzend nicht minder schäbiger quadratischer Tische, an denen sich jeweils vier Stühle drängelten, die zumindest aus der Hälfte der ärmlichen Hütten auf der anderen Straßenseite rausgeflogen wären. Unter der Decke drehte sich der obligatorische Ventilator, obwohl es sich hier drinnen alles andere als warm anfühlte, und sie waren die einzigen Gäste. In wenigen Minuten schon würde sich das vermutlich ändern, wenn überall auf den Baustellen und in den kleinen Hinterhofwerkstätten und -fabriken ringsum Feierabend gemacht wurde, aber im Augenblick hatten sie freie Sitzwahl. Pia war sich allerdings nicht ganz sicher, ob sie willkommen waren. Der Wirt, der unglaublicherweise noch fetter war als Jesus, aber nur knapp halb so groß, musterte sie ebenso finster wie wortlos hinter der schmuddeligen Theke hervor, wagte es aber angesichts von Jesus’ Wrestler-Statur nicht, auch nur ein einziges Wort zu sagen, sondern wienerte nur verbissen mit einem schmutzigen Tuch an einem noch schmutzigeren Tequilaglas herum. Pia hätte beim besten Willen nicht sagen können, was er womit noch schmutziger machte.
Sie sah sich kurz und aufmerksam um, entdeckte keinen Platz, der ihr zusagte, und schnappte sich kommentarlos zwei Stühle, um sie auf den Bürgersteig draußen vor der Tür zu tragen. Jesus verfuhr auf dieselbe Weise mit einem der wackeligen Tische, und der Wirt brachte ihnen wortlos zwei Flaschen Bier und strich ebenso schweigend die Handvoll Münzen ein, die Pia ihm reichte. Sie verzichtete darauf, ihm Trinkgeld zu geben, wahrscheinlich hatte er keins erwartet. Es war auch egal. Das hier würde ganz bestimmt nicht zu ihrem Stammlokal werden.
Immerhin hatten sie eine gute Aussicht. Die Baustelle lag auf der anderen Straßenseite, nicht direkt gegenüber, aber auch nicht so weit entfernt, dass sie sich zu auffällig verrenken mussten, um sie im Auge zu behalten. Pia lauschte in sich hinein, kam zu dem Schluss, dass es bis zum Feierabend allerhöchstens noch fünf Minuten sein konnten, und stellte erwartungsgemäß fest, dass die Anzahl verschiedenfarbiger Schutzhelme dort drüben schon deutlich abgenommen hatte. Noch allerhöchstens zehn Minuten, und der Betonkübel würde in die Höhe entschweben, und kurz darauf würde der Vorarbeiter als Letzter die Baustelle verlassen und das Tor mit einem Vorhängeschloss sichern, das älter war als Jesus und sie zusammen und nicht einmal ein Kind aufhalten konnte.
»Und du bist sicher, dass sie kommen?«, fragte Jesus.
Pia nippte an ihrem Bier und stellte die Flasche mit leicht angewidertem Gesicht auf den Tisch zurück. Das Zeug war lauwarm und hatte nicht nur die Farbe von Pferdepisse, sondern schmeckte auch so. Gut, dass sie kein Trinkgeld gegeben hatte.
»Sie kommen immer nach einer Woche und einem Tag«, antwortete sie. »Das vorletzte Mal waren sie am Montag vor zwei Wochen hier. Das letzte Mal am vergangenen Dienstag. Und heute ist Mittwoch.«
Jesus nippte nun seinerseits am Bier und legte angestrengt die Stirn in Falten, um diesem komplizierten Gedankengang zu folgen. Pia hätte ihre Beweiskette ohne Mühe noch zwei oder drei weitere Wochen in die Vergangenheit zurück fortsetzen können – so lange beobachtete sie die Baustelle und den toten Briefkasten jetzt schon –, aber sie sparte sich die Mühe. Wozu auch? Die simple Wahrheit war: Sie wusste, dass der Kurier kommen würde.
Jesus nuckelte weiter an seinem Bier – Pia entging keineswegs, dass er nur einen winzigen Schluck genommen hatte, kaum genug, um seine Lippen zu benetzen –, sah nach oben und machte ein demonstrativ finsteres Gesicht, und diesmal tat sie ihm den Gefallen, ebenfalls den Kopf in den Nacken zu legen und in die lodernde rote Glut des beginnenden Sonnenuntergangs zu blinzeln.
Jesus hatte keineswegs den malerischen Sonnenuntergang bewundert. Die Drohne war noch da, ein flacher Diskus mit Rändern, die sich scharf wie mit einem Skalpell gezogen gegen das rote Licht des Abendhimmels abhoben, reglos in zehn oder zwölf Metern über ihnen in der Luft schwebend. Je nachdem, wie der Wind stand, konnte man das leise Summen des Rotors hören, der das fliegende Spionageauge in der Schwebe hielt, und im Zentrum des schwarzen Ovals blinkte ein winziges rotes Licht, das die Aufnahmebereitschaft der Kamera anzeigte. Ein beeindruckender Anblick, auch ein bisschen einschüchternd (genau das sollte er sein), aber Pia wusste es besser. Im Grunde war dieses technische Schreckgespenst nicht mehr als ein fliegender Ventilator, der in billiges Plastik gehüllt und mit einer Kameraattrappe ausgestattet worden war. Ein Fake. Die Zeitungen behaupteten, die Kriminalitätsrate auf den Straßen wäre seit Einführung der Drohnen um mehr als zwanzig Prozent zurückgegangen, doch Pia bezweifelte das. Und selbst wenn: Die Zauberworte steckten in dieser Behauptung ja schon drin. Auf den Straßen. Glaubten diese Dummköpfe tatsächlich, dass all die bösen Jungs und Mädchen schlagartig ehrlich geworden waren, nur weil sie Angst hatten, von einer fliegenden Kamera beobachtet zu werden?
Pia verlagerte ihre Aufmerksamkeit von der summenden Plastikscheibe weg, bedachte den ganz besonders bösen Jungen an ihrem Tisch mit einem nachdenklichen Blick und kam zu dem Schluss: nein. Ganz bestimmt nicht.
Jesus musste ihren Blick bemerkt – und anscheinend falsch gedeutet – haben, denn er starrte sie plötzlich ganz besonders finster an, und Pia zerbrach sich hastig den Kopf nach einer flapsigen Bemerkung, um die Situation irgendwie zu entspannen. Erst dann bemerkte sie den Schatten, der sich zwischen ihnen auf die zerschrammte Resopalplatte des Tisches legte, und damit auch ihren Irrtum.
Sie wusste, wer es war, noch bevor sie aufblickte; ein weiteres Talent, das ihr – wenn auch nur manchmal – zur Verfügung stand. Und auf das sie in diesem Moment auch liebend gerne verzichtet hätte.
Ebenso wie auf den Kerl, der den Schatten warf.
»Na, wenn das keine Überraschung ist«, griente Comandante Hernandez. »Da dreht man, nichts Böses ahnend, seine Runden, und wen trifft man? Eine gute alte Freundin, die man schon lange nicht mehr gesehen hat.«
Pia sagte gar nichts dazu – was vermutlich die einzig mögliche Reaktion war, die Situation nicht sofort eskalieren zu lassen –, und zu ihrer Erleichterung war auch Jesus klug genug, die Klappe zu halten und den Comandante nur finster anzustarren … was Hernandez sichtlich amüsierte. Er strahlte Jesus mit seinen perfekt gebleichten Pferdezähnen an und schnippte mit den Fingern, und Pia wäre nicht weiter überrascht gewesen, wenn wie aus dem Nichts ein halbes Dutzend Milícia aufgetaucht wäre, um sie in Ketten zu legen. Stattdessen erschien der Wirt und brachte einen dritten Stuhl und eine weitere Flasche Bier. Pia registrierte beiläufig, dass es sich um eine andere Marke handelte als die, die er Jesus und ihr gegeben hatte.
Hernandez wartete, bis sich der Fettwanst wieder getrollt hatte, drehte den Stuhl um und ließ sich rittlings darauf nieder. Sein Blick wanderte aufmerksam zwischen ihren Gesichtern hin und her, während er einen großen Schluck aus seiner Bierflasche nahm und sich anschließend genießerisch mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr. Irgendjemand, dachte Pia, sollte diesem Blödmann einmal sagen, was für ein miserabler Schauspieler er doch war.
»Was für eine Überraschung«, setzte Hernandez noch einmal an, als er endlich begriff, dass weder Jesus noch sie ihm den Gefallen tun würden, das Gespräch von sich aus zu eröffnen und ihm womöglich einen Vorwand zu liefern, sie auf der Stelle zu verhaften … wofür im Zweifelsfall schon ein Guten Abend ausgereicht hätte. »Ist eine Weile her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht wahr, Piaschätzchen? Wann genau war das noch mal? Vor zwei Monaten?«
Sie spürte zwar, dass es ihr gelang, aber es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, ruhig den Kopf zu schütteln und ihn zu verbessern: »Drei, Comandante.«
Was nicht die Wahrheit war. Vor gut drei Monaten hatten Jesus und sie Hernandez zusammen das letzte Mal getroffen, das stimmte, aber es war gerade einmal sieben Wochen her, dass sie sich morgens aus einem schmierigen Hotelzimmer geschlichen und dabei ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel geschickt hatte, dass das schmatzende Schnarchen hinter ihr nicht abbrach und Hernandez etwa aufwachte und sie zwang, noch einmal in sein Bett zurückzukommen. Sie hatte Jesus nichts davon erzählt, und Gott möge verhüten, dass er es jemals erfuhr. Er würde Hernandez auf der Stelle umbringen.
Für einen halben, aber sehr schlimmen Atemzug war sie fast sicher, dass Hernandez sie korrigieren und eine entsprechend anzügliche Bemerkung machen würde, doch dann sah er Jesus an und schien zu demselben Schluss zu kommen wie sie. Er hob nur die Schultern und murmelte irgendetwas, das sich wie: Wie die Zeit doch vergeht oder so ähnlich anhörte, dann zauberte er wieder das Pferdegrinsen auf sein Gesicht und nahm einen weiteren Schluck Bier. »Wie gesagt: was für eine angenehme Überraschung. Aber ich bin auch ein bisschen erstaunt. Hast du dich verlaufen?«
Pia blickte nur fragend.
»Du bist auf der falschen Straßenseite«, fuhr Hernandez lächelnd fort.
»Auf der falschen Straßenseite?«
Hernandez rutschte halb auf seinem Stuhl um und sah gerade einen Moment zu lange zur Baustelle hin, bevor er sich wieder zu Jesus und ihr umdrehte und einen weiteren Schluck Bier trank. »Auf der falschen Straßenseite«, bestätigte er. Die Hand mit der inzwischen geleerten Flasche deutete auf die Front aus windschiefen Wellblech- und Holzhütten fünfzehn Meter entfernt. »Ich dachte immer, dass ihr euch nur dort drüben richtig wohlfühlt.«
Gut, er wollte sie provozieren. Aber dazu gehörte schon ein bisschen mehr. Pia lächelte nur.
»Und was genau führt euch in den anständigen Teil der Stadt?«, stichelte Hernandez weiter.
Wenn das hier der anständige Teil der Stadt ist, was tust du dann hier?, dachte Pia. Äußerlich völlig ungerührt antwortete sie: »Nichts Besonderes. Vielleicht einmal sehen, wie der anständige Teil der Bevölkerung lebt.«
Hernandez lachte, aber es klang nicht mehr ganz echt. »Touché«, sagte er. Dann erlosch sein Grinsen wie abgeschaltet. »Ich hoffe doch, ihr seid nicht hergekommen, um Ärger zu machen, Kleines. Es würde mir wirklich leidtun, wenn ich deinen Freund und dich verhaften müsste.«
»Keine Sorge, Comandante«, antwortete Pia. »Wir wollten nur ein bisschen spazieren gehen, das ist alles.«
Hernandez sah ein weiteres Mal zur Baustelle hin. Die Anzahl der bunten Schutzhelme hatte weiter abgenommen, aber ein paar Unverdrossene werkelten offensichtlich immer noch vor sich hin. Das Maschendrahttor stand noch auf, und an der Baggerschaufel hing auch noch kein Betonkübel.
»Also, dann reden wir Klartext, Kleines«, fuhr er schließlich fort, und plötzlich klang er ganz und gar nicht mehr freundlich oder auch nur neutral. »Was genau habt ihr hier zu suchen?«
»Nichts«, antwortete Pia. »Wirklich, Comandante, wir sind … nur so hier. Wir wollten in Ruhe ein Bier trinken, das ist alles.«
Wenn Hernandez die Spitze überhaupt zur Kenntnis nahm, ignorierte er sie. »Du bist schon ein paarmal nur so hier gesehen worden, Pia. Und jetzt erzähl mir nicht, dass ihr nur herkommt, weil das Bier hier so gut ist.«
Pia hob nur die Schultern.
»Auch gut.« Hernandez klang ein bisschen verärgert. »Ich weiß noch nicht, was genau ihr hier wollt, Schätzchen, aber ich würde es wirklich vorziehen, wenn ich gar nicht erst in die Verlegenheit käme, es herausfinden zu müssen. Ich behalte dich im Auge.«
Das tat er genau genommen schon die ganze Zeit. Während er sprach, war sein Blick ununterbrochen über ihren Körper gestrichen, hatte sie auf eine Art begutachtet und taxiert, die ihr mit jeder Sekunde unangenehmer wurde. Vielleicht, weil dieser Blick sie daran erinnerte, dass es noch nicht so lange her war, als seine Hände sie auf dieselbe Weise betatscht hatten. Und nicht nur das.
»Wir haben wirklich nichts Verbotenes im Sinn, Comandante«, sagte sie nur noch einmal. »Außer vielleicht …«
»Außer vielleicht?« Hernandez’ Augen wurden schmal.
Pia deutete ein Schulterzucken an und tat so, als müsse sie nach den richtigen Worten suchen. »Hier wird eine Menge gebaut«, sagte sie schließlich. »Viel Arbeit. Vielleicht suchen sie ja noch Leute. Jesus könnte einen Job gebrauchen. Das Leben ist teuer geworden.«
Hernandez riss die Augen auf und wirkte für einen Moment ehrlich verblüfft. »Jesus?« Sein Blick tastete über die breiten Schultern des Puerto Ricaners und dann ein wenig länger und aufmerksamer über dessen maßgeschneiderten blütenweißen Anzug. Hinter seiner Stirn nahm deutlich sichtbar eine Frage Gestalt an, die er jedoch nicht aussprach.
»Natürlich nicht so«, sagte Pia. »Wir wollten erst einmal sehen, was so geht.«
»Sehen, was so geht«, wiederholte Hernandez mit sonderbarer Betonung. Er lächelte nicht. Selbst seine Pferdezähne schienen ein bisschen kleiner geworden zu sein und an Glanz verloren zu haben. »Du solltest wirklich nicht versuchen, mich auf den Arm zu nehmen, Pia. Das ist nicht nett. Ich bin dein Freund, auch wenn du das nicht glaubst. Und mit guten Freunden sollte man es sich besser nicht verscherzen.«
»Aber ich wollte Sie wirklich nicht …«
»Ich habe euch gewarnt.« Hernandez stand auf und knallte die Bierflasche unnötig hart auf den Tisch. »Bleibt ruhig noch ein bisschen hier und genießt die schöne Aussicht, aber tut nichts, was ihr bereuen müsstet. Ich behalte euch im Auge.«
Und damit ging er. Jesus blickte ihm stirnrunzelnd nach, aber auch so finster, wie selbst Pia es selten bei ihm gesehen hatte. Waren die Blicke und die stumme Kommunikation zwischen Hernandez und ihr zu deutlich gewesen? Pia war sich sicher, dass er kurz davor stand, Hernandez zu folgen und etwas zu tun, was er tatsächlich bereuen würde … aber längst nicht so sehr wie der Comandante. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er vielleicht wusste, was zwischen ihnen vorgefallen war, verneinte diese Frage aber, als Jesus erneut an seinem Bier nippte und dann stirnrunzelnd und mehr an sich selbst als zu ihr gewandt murmelte: »Was war denn das für ein Auftritt?«
Sie konnte auch jetzt nur die Schultern heben. Hernandez war immer für Überraschungen gut – meistens für unangenehme –, aber diesen Auftritt verstand auch sie nicht. Wenn der Comandante irgendetwas ganz bestimmt nicht war, dann subtil.
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Wahrscheinlich nichts. Vielleicht wollte er sich nur ein bisschen wichtigmachen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr ganz und gar nicht danach zumute war. »Du kennst ihn doch. Wahrscheinlich hat ihn seine Frau gestern Abend nicht rangelassen, und jetzt sucht er jemanden, an dem er seine schlechte Laune auslassen kann.«
Jesus blickte nur noch zweifelnder, und Pia war klar, wie dünn dieser Erklärungsversuch klang. Hernandez war ein Widerling und ein korruptes Schwein, wie es im Buche stand, aber er tat niemals etwas ohne Grund … auch wenn es ihr manchmal schwerfiel, seinen kruden Gedankengängen zu folgen.
Ahnte – oder wusste! – er vielleicht, warum sie wirklich hier waren?
Kaum, entschied sie. Und selbst wenn … warum sollte er sie dann warnen?
»Vielleicht weiß er ja Bescheid«, sinnierte Jesus. Seit wann konnte er eigentlich ihre Gedanken lesen?
»Dann weiß er mehr als wir«, witzelte Pia. Zumindest was Jesus anging, entsprach das ja sogar der Wahrheit. Nicht zum ersten Mal meldete sich ihr schlechtes Gewissen, und nicht zum ersten Mal brachte sie es mit einer ärgerlichen Anstrengung zum Schweigen.
»Gefällt mir trotzdem nicht«, beharrte Jesus. »Vielleicht sollten wir es ja lassen. Wenigstens für heute.« Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Wir können ja nächsten Donnerstag wiederkommen.«
Jetzt war Pia ehrlich überrascht, wenn auch nur kurz. Dennoch schüttelte sie den Kopf. »Er hat keine Ahnung«, beharrte sie. »Warum sollte er uns warnen, wenn er weiß, was wir vorhaben?«
Jesus nahm den Hut ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das stoppelige Haar, dann schüttelte er noch einmal den Kopf, was ungewöhnlich genug war. Eigentlich konnte Pia sich nicht erinnern, dass er ihr jemals mehr als einmal widersprochen hatte. Vielleicht wäre sie wirklich gut beraten, diesmal auf ihn zu hören.
»Nein«, sagte sie, widerstrebend und mit dem unguten Gefühl, einen schweren Fehler zu machen.
Jesus setzte seinen Hut wieder auf und sah mit steinernem Gesicht zur Baustelle hin.
Über ihnen summte die Drohne, zitterte plötzlich sacht, wie von einer Windböe getroffen, die es gar nicht gab, und kletterte dann ein Stück in die Höhe. Gleichzeitig glitt sie weiter auf die Straße hinaus und verharrte dann wie unschlüssig einen Moment auf der Stelle, bevor sie plötzlich beschleunigte und sich der Baustelle näherte, wo sie wieder anhielt. Zwei oder drei behelmte Köpfe hoben sich, aber die Männer verloren das Interesse an dem mechanischen Spion rasch wieder. Pia fand ihre Reaktion gleichermaßen verständlich wie irritierend. Als die Stadtverwaltung die Überwachungsdrohnen vor einem halben Jahr mit großem Pomp und Pressegewitter eingeführt hatte, war ein Aufschrei der Empörung durch ganz Rio de Janeiro gegangen, das komplette Programm, von zynischen Kommentaren im Frühstücksfernsehen bis hin zu aufgebrachten Menschenansammlungen mit Plakaten auf der Straße, und zumindest ein paar Tage hatte es tatsächlich so ausgesehen, als hätte die Obrigkeit den Bogen endgültig überspannt.
Jetzt schien sich niemand mehr für die eklatante Missachtung der Privatsphäre zu interessieren. Die wenigen Arbeiter, die sich noch auf der Baustelle befanden, gingen unverändert ihren Tätigkeiten nach und sahen nicht einmal mehr auf, als sich der fliegende Teller senkte und dann kaum fünf oder sechs Meter über ihren Köpfen erneut zum Stillstand kam. So viel zu gerechter Empörung und dem Zorn der Volksseele, dachte sie spöttisch.
Pia wollte gerade wieder wegsehen, als ihr eine Bewegung ein gutes Stück über der Drohne auffiel: ein winziger Punkt, der näher kam und sich gleichzeitig teilte. Sie runzelte die Stirn und sah genauer hin. Es waren zwei Vögel, schwarz und ziemlich groß, das konnte sie trotz der enormen Entfernung erkennen, und sie verhielten sich … ungewöhnlich. Sie konnte nicht einmal genau sagen, was sie an ihrem Verhalten so irritierte, doch es war da, und aus dem Gefühl von Verwirrung wurde plötzlich ein sachtes, aber nagendes Unbehagen. Pia erkannte die Vögel jetzt, was es nicht besser machte, sondern ihrer Verwirrung eher noch neue Nahrung gab. Es waren Raben.
Raben? Hier? Mitten in der Stadt? Das war wirklich seltsam.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Jesus noch einmal.
»Die Raben?«
»Dieses Scheißding.« Jesus deutete auf die Drohne und runzelte wie beiläufig die Stirn; als hätte er die beiden schwarzen Vögel überhaupt erst in diesem Moment bemerkt und versuche sich darüber klar zu werden, ob ihr Auftauchen irgendetwas bedeutete, und wenn ja, was. »Vielleicht wissen sie Bescheid.«
Pia hätte es sich leicht machen können. Ein einziges entschiedenes Wort hätte gereicht, um Jesus zum Schweigen zu bringen, ganz egal, ob seine Befürchtungen nun ausgeräumt waren oder nicht. Aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er zwar seine liebe Mühe hatte, zwei und zwei zusammenzuzählen, dafür aber über die feinen Instinkte eines Raubtieres verfügte. Er konnte Gefahr wittern. Und er irrte sich selten.
Manchmal aber eben doch.
»Wir warten einfach eine Weile ab«, schlug sie vor, »und entscheiden dann. Einverstanden?«
Jesus nickte. Widerwillig.
»He, ich meine das ernst«, sagte Pia. »Wir bleiben einfach hier sitzen und sehen, was passiert, und wenn du dann immer noch das Gefühl hast, dass irgendwas nicht stimmt, dann gehen wir nach Hause und machen uns einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher. Du entscheidest.«
Jesus sagte auch dazu nichts, sondern wirkte eher noch unzufriedener, protestierte nun aber nicht mehr, sondern nippte wieder an seinem Bier. Sein Anblick bereitete Pia plötzlich fast Unbehagen, denn sie wusste nur zu gut, warum er nicht noch einmal lauter protestierte. Gewiss nicht, weil sie ihn überzeugt hatte. Fast schon ein bisschen schuldbewusst wandte sie den Blick ab und sah wieder zur Baustelle hin. Die Anzahl der Schutzhelme hatte noch einmal abgenommen – drei blaue und ein gelber sowie ein schwarzer Haarschopf, dessen Besitzer sich anscheinend nicht darum scherte, was die Gewerkschaft verlangte, und auch keine Angst hatte, dass ihm der Himmel auf den Kopf fiel – und sie hatte den entscheidenden Moment verpasst: Das gezahnte Eisenmaul des größten Baggers bewegte sich langsam in die Höhe und zog dabei ein kurzes Drahtseil mit sich, an dem ein rostiger Eisenkübel pendelte. Die Drohne hatte weiter an Höhe verloren, berührte fast die Baggerschaufel und stieg dann wieder nach oben, um schließlich leicht wackelig davonzufliegen. Wo waren die beiden Raben?
Pia suchte einen Moment aufmerksam nach ihnen, ohne sie zu entdecken, kam zu dem Schluss, ihren Abflug wohl auch irgendwie verpasst zu haben, und registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Der Wirt kam zurück und hatte zwei weitere Flaschen Bier in der Hand. Pia schüttelte den Kopf, als er sie auf den Tisch stellen wollte.
»Bringen Sie uns die Sorte, die der Comandante trinkt«, sagte sie.
Der Fettsack machte ein beleidigtes Gesicht, trollte sich und kehrte nach einem Moment mit zwei anderen (kalten) Flaschen zurück, und er wartete auch nicht darauf, bezahlt zu werden; so wenig, wie er von Hernandez Geld genommen hatte. Pia fragte sich, ob es nur vorauseilender Gehorsam war, weil sie mit Hernandez gesprochen hatten, oder ob der Comandante ihm vielleicht entsprechende Anweisungen gegeben hatte. Und was eigentlich schlimmer war.
Wie erwartet begann sich die Cantina nun rasch zu füllen. Niemand tat es ihnen gleich und kam heraus auf die Straße, aber aus den umliegenden Geschäften und Werkstätten tauchten die ersten Gäste auf, um sich ein Feierabendbier zu gönnen, und dazu zwei oder drei Schutzhelme von der Baustelle. Pia verpasste auch den Moment, in dem der Vorarbeiter die Baustelle verließ und das Tor hinter sich abschloss, aber das machte nichts. Hinter dem einzigen Fenster der kleinen Bretterbude, die sich zwischen achtlos abgestellten Fahrzeugen, Schuttcontainern und Kübeln voller Schaufeln, Hacken und anderen Werkzeugen verbarg, tauchte ein blassgelber Schimmer auf, den sie bei den herrschenden Lichtverhältnissen eigentlich gar nicht sehen konnte. Aber sie wusste, dass er da war. Alles war genau so, wie es sein sollte. In einer halben Stunde würde es endgültig dunkel und das Licht der altmodischen Petroleumlampe deutlicher werden, eine weitere halbe Stunde darauf – nachdem er seine erste Runde gedreht hatte – würde sich der siebzig Jahre alte Nachtwächter aufs Ohr hauen und bis Mitternacht durchschlafen wie ein Baby.
Alles war, wie es sein sollte.
Wieso hatte sie dann nur das Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte?
Die Sonne war auf die Sekunde pünktlich untergegangen, und mit der Dunkelheit war Wind aufgekommen, der Pia gehörig auf die Nerven ging.
Er war warm genug, um sich wie eine sanft streichelnde Hand auf dem Gesicht anzufühlen, und es war nicht der typische Geruch der Favelas, den er mit sich trug, der sie so gestört hätte: eine schwer in Worte zu fassende Mischung aus rußenden Brikett- und Holzkohlefeuern, moderndem Wasser und faulendem Holz, aus zu vielen Menschen auf zu wenig Raum, die sich zu selten wuschen, aus Schwarzbrennereien und Benzin und den tausend anderen Aromen, die den typischen Geruch der Favelas ausmachten (mancher hätte ihn als den Gestank einer bewohnten Müllkippe bezeichnet; aber der Letzte, der das laut in ihrer Hörweite getan hatte, hatte Bekanntschaft mit Jesus’ Fäusten gemacht), oder die Ahnung von Kälte, die er von den verschneiten Berggipfeln im Westen mit sich brachte. All das kannte und liebte Pia, denn es war einfach Teil der letzten zwanzig (und somit beinahe aller) Jahre ihres Lebens. Sie nahm es nicht einmal mehr wirklich zur Kenntnis.
Was sie nervös machte, das waren die Geräusche. Der Wind wehte nicht beständig – und schon gar nicht beständig aus einer Richtung –, sondern hüpfte ununterbrochen hin und her, brach manchmal ganz ab, um sie dann aus der entgegengesetzten Richtung und mit doppelter Kraft wieder anzuspringen, und er brachte tausend unterschiedliche Geräusche und Laute mit sich: das Raunen und Wispern der Favelas auf der anderen Straßenseite, den fernen Verkehrslärm der Stadt, Gelächter und Gezänk, das Heulen der landenden und startenden Flugzeuge – Boten aus einer fremden, ihr unverständlichen und von ihr ungeliebten Welt, die manchmal so tief über die Dächer der Stadt hinwegglitten, dass man meinte, ihre Flügelspitzen mit den ausgestreckten Armen berühren zu können –, Musikfetzen und das Weinen eines Kindes und Fragmente unzähliger anderer Laute. Nichts davon hatte Bestand oder dauerte auch nur lange genug an, um es eindeutig zu identifizieren, und das war es, was an ihren Nerven zerrte. Sie hatte das Gefühl, einem Radio zuzuhören, dessen Empfänger mit dem Laufrad eines ganz besonders nervösen Hamsters verbunden war.
Pia war immer – zu Recht – stolz auf ihr scharfes Gehör gewesen. In einer Umgebung, die sie auch nur einigermaßen kannte, vermochte sie sich normalerweise binnen weniger Sekunden selbst mit geschlossenen Augen zurechtzufinden, doch jetzt fühlte sie sich eines ihrer wichtigsten Sinne beraubt, beinahe wie verkrüppelt.
Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst.
Im Moment trug der Wind die Geräusche der Cantina heran, in der sie noch eine gute Stunde gesessen und Bier auf des Comandantes Kosten getrunken hatten – wahrscheinlicher auf die des Wirtes, was ihr aber ziemlich gleichgültig war. Etliche der Einkehrer waren geblieben, und aus einem Feierabendbier waren deren viele geworden, und sicher auch der eine oder andere Cachaça. Vor Minuten erst hatte es dort drüben hörbar geklirrt, und dem Geräusch von zerbrechendem Glas war ein Schatten gefolgt, der aus der offen stehenden Tür geflogen und auf den Gehweg gestürzt war, wo er einen Moment benommen liegen blieb, bevor er sich aufrappelte und betrunken davontorkelte. Die Schlägerei, auf die sie mit angehaltenem Atem gewartet hatte, war jedoch nicht ausgebrochen. Immerhin etwas.
Sie sollten trotzdem nicht hier sein.
Pia brachte die mahnende Stimme in sich mit einer bewussten Anstrengung zum Verstummen und konzentrierte sich wieder auf das Baustellengelände. Das ruhig brennende Licht der Petroleumlampe war im gleichen Maße heller geworden, in dem das Rot des Sonnenuntergangs verblasst war, und vor einer halben Stunde hatte der greise Nachtwächter seine letzte Runde für heute gedreht und schlief vermutlich schon. Alles so pünktlich, wie sie es erwartet hatte.
Wer nicht pünktlich war, war die Streife.
Der Wagen hätte schon vor gut zehn Minuten auftauchen sollen, aber bis jetzt war keine Spur von ihm zu sehen, und Pias Nervosität und das schlechte Gefühl in ihr stiegen mit jeder Sekunde, die verging. Vielleicht hätte sie auf Jesus hören und die ganze Aktion um eine Woche und einen Tag verschieben sollen.
Ein gedämpftes Scharren drang in ihre Gedanken, ein Geräusch, das weder besonders laut noch in irgendeiner Weise alarmierend war, aber einfach nicht hierhergehörte. Dass sich der Wind in diesem Augenblick wieder einmal drehte und es ihr auf diese Weise zusätzlich schwer machte, die Richtung zu bestimmen, aus der es gekommen war, beunruhigte sie zusätzlich. Sie hasste es, wenn irgendetwas geschah, von dem sie nicht genau wusste, was es bedeutete.
Sie ging das Risiko ein und trat einen Schritt aus dem schwarzen Schlagschatten heraus, den Jesus und sie sich schon vor Tagen als perfektes Versteck erwählt hatten, um nach der Ursache des Geräusches Ausschau zu halten, und auch das war nicht nur ungewöhnlich genug für sie, sondern hätte ihr ganzes Vorhaben um ein Haar zum Scheitern gebracht, noch bevor es überhaupt richtig begonnen hatte, denn genau in diesem Moment tauchte ein Scheinwerferpaar am anderen Ende der Straße auf und kam so schnell näher, dass Jesus sie gerade noch packen und grob unter den Torbogen zurückzerren konnte. Er tat ihr dabei ziemlich weh, aber Pia verbiss sich jeden Schmerzenslaut und sah mit klopfendem Herzen zu dem näher kommenden Scheinwerferpaar hin.
Es war die Streife. Pia erkannte das charakteristische Quietschen des ausgeleierten Keilriemens, noch bevor der Wagen zehn Meter entfernt anhielt und das von den Häuserwänden reflektierte Streulicht der Scheinwerfer die Karosserie beleuchtete. Die beiden Beamten stiegen gleichzeitig aus und ließen nicht nur die Türen offen stehen, sondern auch den Motor laufen – eines der ungeschriebenen Gesetze, an die sich hier jedermann hielt, lautete, dass niemand einen Polizeiwagen stahl – und näherten sich dem Tor im Maschendrahtzaun. Eine Taschenlampe flammte auf und strich über das rostige Drahtgeflecht, um schließlich an dem uralten Vorhängeschloss hängen zu bleiben.
Pia runzelte die Stirn. Normalerweise ließen es die Männer bei einer flüchtigen Inspektion bewenden, und sie hätte eher darauf gewettet, dass sie es heute noch kürzer machten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen – mittlerweile waren sie eine gute Viertelstunde zu spät –, aber nun griff einer von ihnen in die Tasche, und sie hörte das Klimpern eines Schlüsselbundes.
Also gut, dachte sie, wenn der Bursche jetzt das Schloss aufsperrte, um die Baustelle zum ersten Mal gründlich zu inspizieren, dann würde sie auf Jesus (und ihre eigene innere Stimme) hören und abbrechen.
Die Hand mit dem Schlüsselbund kam wieder aus der Tasche, und Pia setzte dazu an, Jesus im Flüsterton ihre Entscheidung mitzuteilen. In diesem Moment summte das Celular des zweiten Mannes. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu melden, sondern klappte das Gerät wortlos auf und hielt es schweigend für wenige Sekunden ans Ohr, dann steckte er es wieder ein und gab seinem Begleiter aus der gleichen Bewegung heraus ein Zeichen, kehrtzumachen. Nur einen Moment später knallten die Türen zu, und der Wagen jagte mit kreischenden Reifen los. Kurz bevor er das Ende der Straße erreichte und abbog, begann das Blaulicht auf seinem Dach zu flackern.
»Was war das denn?«, murmelte Jesus.
»Glück?«, schlug Pia vor.
Jesus schwieg, und sie wusste auch, warum. Das hatte er nicht gemeint.
Sie ließ vorsichtshalber noch eine weitere Minute verstreichen, dann warf sie einen sichernden Blick nach rechts und links und trat aus ihrem Versteck in den Schatten heraus. Der Wind drehte sich und trug Musik und Gesprächsfetzen aus der Cantina an ihr Ohr, und für einen winzigen Augenblick hatte sie einen Eindruck von schattenhafter Bewegung über sich, aber sie ging trotzdem mit so schnellen Schritten weiter, wie sie es gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, streckte die Arme nach oben und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über das Tor. Die altersschwache Konstruktion zitterte leicht unter ihrem Gewicht; dann ächzte sie hörbar und bog sich ein Stück weit durch, als Jesus ihr auf dieselbe Weise folgte. Nicht einmal dreißig Sekunden nachdem sie ihr Versteck verlassen hatten, schmiegten sie sich nebeneinander in den Schatten eines der großen Baufahrzeuge und wurden erneut vollkommen unsichtbar.
Und jetzt hieß es warten. Wenn alles so ablief wie die letzten drei Mal, als sie die Übergabe beobachtet hatten, dann würde der Kurier irgendwann innerhalb der nächsten Stunde auftauchen; eine lange Zeit, wenn man wartete, und eine Ewigkeit, wenn man darauf wartete, dass etwas schiefging.
Pia runzelte abermals die Stirn, verwirrt über ihre eigenen Gedanken. Während sie reglos und bewusst flach atmend in der Dunkelheit kauerte, Jesus’ Wärme und das beruhigende Wissen um seine bloße Gegenwart genoss und ihren Blick dabei über die Landschaft aus Schatten und ineinanderfließenden Umrissen und unheimlichen … Dingen vor sich tasten ließ, gestand sie sich ein, dass sie ganz genau das tat: Sie wartete darauf, dass etwas schiefging.
Das war neu. Und es war sehr beunruhigend.
Pia hatte nach dem dritten oder vierten Mal, als sie mit Jesus zusammen unterwegs gewesen war, aufgehört zu zählen. Sie hatten eine stattliche Anzahl Dinger zusammen gedreht, etliche klein, manche größer, und einige ihrer nächtlichen Raubzüge hatten sie sogar auf die Titelseite der Lokalzeitung gebracht (einer geradewegs in Hernandez’ Bett, aber das war auch der einzige Ausreißer in einer langen Erfolgsgeschichte gewesen, und außer dem Comandante und ihr selbst wusste niemand etwas davon). Doch eines hatte sie nie getan: gezweifelt. Sie hatte stets gewusst, wann eine Sache Aussicht auf Erfolg hatte und wann nicht, und prinzipiell die Finger von Letzterem gelassen.
Beging sie heute ihren ersten wirklichen Fehler?
Die Antwort, wie sie sich bekümmert eingestand, lautete ganz eindeutig vielleicht, und ein Vielleicht war von einem klaren Nein eigentlich zu weit entfernt, um akzeptabel zu sein. Was zum Teufel also tat sie hier?
Wieder hörte sie ein Geräusch; dasselbe gleichzeitig metallisch wie irgendwie … lebendig wirkende Scharren, das sie schon einmal vernommen und als so sonderbar unpassend für diesen Moment empfunden hatte, und diesmal war es zu deutlich, um es als bloße Einbildung abzutun. Und außerdem kam es ganz eindeutig von oben.
Pia sah so erschrocken auf, dass auch Jesus neben ihr zusammenfuhr und sie spüren konnte, wie er sich anspannte. Ihr Blick suchte den Himmel ab, der selbst jetzt, lange nach Dunkelwerden, noch nach dem erstickenden Smog des Tages aussah, und während sie es tat, lief ihre Fantasie zwar nicht unbedingt Amok, gaukelte ihr aber dennoch die verrücktesten Dinge vor, und nicht wenige davon waren flach und rund und hatten ein winziges rot glühendes Auge in der Mitte.
Es konnte nicht die Drohne sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Die Dinger flogen nicht nachts. Seit sie in den ersten Nächten gleich reihenweise gegen Wände, Dächer, Stromleitungen und Antennenmasten geprallt und ebenfalls reihenweise abgestürzt waren und sich herausgestellt hatte, dass die preiswerten chinesischen Infrarot-Augen noch weniger funktionierten als der Rest, kehrten die fliegenden Spitzel pünktlich mit Einbruch der Dämmerung in ihre Garagen zurück. Außerdem durfte es nicht die Drohne sein, ganz einfach deshalb, weil Jesus und sie dann gründlich im Arsch wären.
Sie war es auch nicht, aber es war Jesus, der die Ursache des Geräusches entdeckte und sie mit einer entsprechenden Geste darauf aufmerksam machte.
Der Rabe saß nahezu direkt über ihnen auf einem der stählernen Baggerzähne, und obwohl er sich nur als schwarze Silhouette gegen den Nachthimmel abhob und Pia seine Augen nicht erkennen konnte, spürte sie ganz deutlich, dass er Jesus und sie anstarrte.
Nein. Sie verbesserte sich in Gedanken.
Nicht Jesus und sie.
Sie.
Sie versuchte zwar, sich selbst davon zu überzeugen, dass dieser Gedanke nichts als blühender Unsinn war, aber er blieb hartnäckig, und er löste ein eisiges Frösteln der Furcht aus, das auf Millionen dürren Insektenbeinen über ihren Rücken lief. Der Rabe war riesig, mindestens einen Meter groß, wenn nicht mehr, und er saß nicht einfach nur so da, sondern beobachtete sie aus wachen, unsichtbaren Augen.
Jesus berührte sie erneut an der Schulter und deutete nach links. Dort saß der zweite Rabe, so schwarz und stumm wie der erste und sogar noch größer. Und auch er starrte sie an.
»Was sind das für Viecher?«, murmelte Jesus, und Pia hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung und ohne das mindeste Zögern antworten:
»Eiranns Raben.«
»Wie?«, fragte Jesus.
»Ähm …irgendwelche Raben eben«, antwortete Pia. Eiranns Raben? Wie kam sie auf dieses Wort? Sie war sicher, es noch nie zuvor gehört zu haben, aber es klang ungemein vertraut und einfach … passend. Eine Spur lauter und mit dem (verunglückten) Versuch eines Lachens fügte sie hinzu: »Wahrscheinlich haben sich die beiden nur verflogen und wissen jetzt nicht mehr, wie sie nach Hause kommen. Pass bloß auf, dass sie dich nicht für eine fette Ratte halten.«
Jesus schenkte ihr einen schrägen Blick und setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment klimperte es vorne am Tor, und für eine halbe Sekunde blitzte der Strahl einer Taschenlampe auf, um gleich wieder zu erlöschen. Jesus erstarrte zur Salzsäule, und auch Pia drängte sich enger an ihn, während sie versuchte, noch weiter in den Schatten zurückzuweichen und gänzlich unsichtbar zu werden. Sie vergaß die Raben. Oder versuchte es wenigstens.
Die Taschenlampe blitzte noch einmal – länger – auf, und das Klimpern wiederholte sich und wurde dann zum metallischen Rasseln einer Kette. Das Tor schwang auf, und zwei, dann drei schattenhafte Gestalten huschten hindurch und kamen lautlos näher.
Drei? Nicht dass es nötig gewesen wäre, aber Pias ungutes Gefühl bekam noch mehr neue Nahrung. Bisher waren sie immer zu zweit gewesen, der Kurier meistens allein hereingekommen, sein Begleiter als Wache vorn am Tor zurückgeblieben. Wieso zum Teufel waren sie heute zu dritt?
Pia tröstete sich damit, dass sie schließlich niemand dazu zwang, mehr zu tun, als in ihrem Versteck zu sitzen und zuzusehen. Einer der Schatten blieb auch tatsächlich am Tor zurück, das er hinter sich schloss, drehte sich um und behielt die Straße im Auge, während die beiden anderen näher kamen. Die Taschenlampe flammte abermals auf und blieb diesmal an, und der zitternde Lichtstrahl huschte über den Boden, kletterte am Ausleger des Baggers empor und strich über den aufgehängten Betonkübel, um dann eine plötzliche, ruckhafte Bewegung nach rechts zu machen und einen gefiederten schwarzen Dämon aus der Dunkelheit zu reißen. Pia korrigierte ihre Einschätzung, die Größe des Rabens betreffend, noch einmal ein gutes Stück nach oben – wäre sie ein Adler gewesen, dann hätte sie es sich vermutlich zweimal überlegt, sich mit einem Gegner wie diesem anzulegen –, und auch das Verhalten des Vogels blieb sonderbar. Jedes andere Tier an seiner Stelle wäre spätestens jetzt davongeflogen. Der Rabe hingegen legte den Kopf auf die Seite und starrte in das Licht der Taschenlampe, ohne auch nur zu blinzeln. Er gab keinen Laut von sich.
Eine raue Stimme sagte etwas, das Pia nicht verstand, und ein noch raueres Lachen antwortete darauf. Der Lichtstrahl ließ den Raben für einen Moment los und kam dann zurück, strich diesmal aber nur über das rostige Eisen der stählernen Drachenzähne. Der Rabe war verschwunden, und das war beinahe noch unheimlicher.
Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie hatten im Moment wirklich andere Probleme als schwarze Riesenvögel, deren Navisystem durcheinandergekommen war. Eines davon war zumindest in derselben Farbe gekleidet und stand mit verschränkten Armen vor dem Tor. Sie mussten improvisieren.
Oder auch nicht, denn als sie sich zu Jesus umdrehen wollte, war er nicht mehr da. Pia hatte nicht einmal gemerkt, dass er aufgestanden und davongeschlichen war.
Der Lichtstrahl kehrte zu seinem ursprünglichen Ziel zurück, tastete misstrauisch über das rostige Metall des Kübels und dann noch aufmerksamer über das Drahtseil, an dem er aufgehängt war; ein guter Meter rostige Trosse, und somit nicht nur doppelt so lang wie an einem der anderen sieben Tage, sondern auch das vereinbarte Zeichen, dass die Lieferung an Ort und Stelle war. Pia spannte sich innerlich. Was sollte sie tun? Wo war Jesus?
Die Frage blieb vorerst unbeantwortet, aber zu dem ersten Lichtstrahl gesellte sich ein zweiter, der den Ausleger herunterwanderte und einige Sekunden wie ziellos umhertastete, bis er an einem Schaltkasten mit drei auffälligen Knöpfen hängen blieb. Der Mann ging hin, betätigte den obersten Knopf, und der Kübel setzte sich mit einem asthmatischen Ächzen in Bewegung und kletterte weiter in die Höhe, bevor er seinen Fehler korrigierte und das Kabel in umgekehrter Richtung abspulte. Pia fragte sich zum zweiten Mal, wo Jesus war. Sie hasste es, zu improvisieren, aber das bedeutete nicht, dass sie es nicht konnte. Es wäre jedoch hilfreich, zu wissen, ob sie Jesus in ihren improvisierten Plan B mit einbeziehen könnte …
Der Betonkübel berührte mit einem hohlen Dröhnen den Boden, und das Geräusch übertönte den anderen, seufzenden Laut, der vom Tor herüberwehte. Als Pia hinsah, schien sich dort nichts verändert zu haben; allenfalls, dass der Posten dort jetzt einen weißen Anzug trug statt eines schwarzen. Nun richteten sich beide Taschenlampen auf den Metallkübel, den der Mann mit der Fernsteuerung so zu Boden gelassen hatte, dass er den halb aufgeweichten Morast so gerade eben berührte. Sein Kumpan fing an, ihn hin und her zu schaukeln, bis er zu kippen begann und nur deshalb nicht umfiel, weil der andere das Drahtseil in diesem Moment wieder straffer zog. Der Kübel stand jetzt so schräg, dass der Kurier halbwegs bequem hineingreifen und den Deckel des doppelten Bodens öffnen konnte.
Pia seufzte. Sie wären heute Abend gar nicht hier, und alles wäre sehr viel einfacher und ungefährlicher gewesen, wenn es Jesus und ihr gelungen wäre, das verborgene Fach zu öffnen. Sie hatten es versucht, mehr als einmal, aber der Mechanismus war so kompliziert, dass sie ihn wohl höchstens mit einem Schneidbrenner aufbekommen hätten, und das wäre selbst hier mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben.
Zwei, drei, schließlich ein halbes Dutzend durchsichtiger, mit braunem Klebeband umwickelter Plastikbeutel fielen aus dem Fach, jeder ein gutes Pfund schwer, schätzte Pia. Gut doppelt so viel wie die fünf Mal zuvor, als sie die Übergabe beobachtet hatte … was bedeutete, dass die Männer wohl auch die doppelte Summe in das Geheimfach legen würden. Kein Wunder, dass sie Verstärkung mitgebracht hatten. Vielleicht war sie doch gut beraten gewesen, nicht auf ihre innere Stimme zu hören und alles abzublasen, sondern zu improvisieren. Wie es aussah, gab es heute die doppelte Beute.
Sie wartete, bis der Bursche die Drogenpäckchen an seinen Begleiter weitergegeben hatte, der sie in einen schmucklosen Leinenbeutel stopfte, den er über der rechten Schulter trug, griff unter die Jacke und trat im gleichen Moment aus ihrem Versteck heraus, in dem der Bursche noch einmal in seinen Beutel griff und zwei weitere in Plastik eingewickelte Päckchen hervorzog, die allerdings kein weißes Pulver enthielten, sondern sorgsam gebündelte Geldscheine. Im buchstäblich letzten Augenblick, bevor sie sichtbar wurde, zog sie beide Hände aus den Taschen. In der linken hielt sie eine weiße Karnevalsmaske mit nur angedeuteten menschlichen Zügen, die sie sich vor das Gesicht hielt, in der anderen einen plumpen Revolver mit einem vollkommen überdimensionierten Schalldämpfer. Der Schalldämpfer funktionierte schon lange nicht mehr, und die Trommel war mit Platzpatronen geladen, aber das wussten die beiden ja nicht.
»Spar dir die Mühe«, sagte sie ruhig. »Leg das Geld einfach wieder in die Tasche und stell sie vorsichtig ab.«
Beide Männer reagierten ganz genau so, wie sie es erwartet hatte: Der am Kübel fuhr wie von der berühmten Tarantel gestochen herum und griff unter seine Jacke, während der andere mitten in der Bewegung erstarrte und dann ganz langsam die Hände hob; er war ihr nahe genug, um nicht nur die unheimliche Karnevalsmaske deutlich erkennen zu können, sondern auch die Mündung des Schalldämpfers, die direkt auf sein Gesicht wies.
»Du kannst mich jetzt wahrscheinlich erschießen«, sagte Pia, an den anderen gewandt, jedoch ohne den Burschen vor sich aus den Augen zu lassen, »aber dann bleibt mir immer noch Zeit genug, um deinen Kumpel umzulegen. Und auf diese Entfernung kann ich ihn gar nicht verfehlen.«
Ihre Stimme klang genauso verzerrt und dumpf unter der Plastikmaske hervor, wie sie es sich gewünscht hatte, und sie war von einer Ruhe und Selbstsicherheit erfüllt, die sie beinahe selbst überraschte. Sie hatte diesen Bluff nicht geplant und hätte es auch niemals. Typen, die völlig gewissenlos Menschen erschossen, kamen in Action-Filmen mindestens ebenso häufig wie in der Wirklichkeit selten vor, vor allem in einer Situation wie dieser: Der Kerl mit der Geldtasche stand schön brav in der Schusslinie seines Kumpels, sodass dessen Chancen, ihn zu treffen, fast genauso groß waren wie die, sie zu erwischen. Und selbst wenn nicht, musste er damit rechnen, dass sie seinen Freund erledigte und vielleicht sogar noch die Zeit fand, auf ihn zu schießen. Jetzt irgendetwas zu riskieren, wäre dumm.
Aber die Welt wimmelte von dummen Menschen, und vielleicht war der Kerl ja auch völlig durchgeknallt oder drehte einfach vor Angst durch. Verdammt, wieso hatten sie auch zu dritt kommen müssen! Alles wäre so viel einfacher gewesen, wenn sie nur zu zweit gewesen wären und Jesus direkt neben ihr gestanden hätte, ein Berg von einem Mann, der jeden potenziellen Gegner allein durch seine bloße Erscheinung einschüchterte!
Aber der gefährliche Moment verging, ohne dass irgendjemand schoss, und die Mischung aus Schrecken, Überraschung und Beinahe-Panik im Gesicht des Burschen mit der Geldtasche verwandelte sich in etwas anderes. Es gefiel ihr nicht besonders, führte aber trotzdem dazu, dass sie unter ihrer Maske erleichtert aufatmete. Ganz langsam ließ er die Hand sinken, die das Geldpäckchen hielt, und Pia machte eine rasche, drohende Geste mit dem Revolver.
»Ich habe gesagt, du sollst dich nicht rühren!«
»Ganz genau hast du gesagt, dass ich das Geld wieder in die Tasche legen und sie dir geben soll«, antwortete er. Seine Stimme klang rau, aber auch sehr fest. Pia lauschte vergeblich auf Angst darin. Er sah die Waffe und war sich vermutlich auch darüber im Klaren, dass sie sie benutzen würde, wenn er irgendetwas Unbedachtes tat. Dennoch spürte sie nur Trotz in ihm.
»Stell sie hin«, sagte sie ruppig. Er gehorchte, und Pia fügte mit einem auffordernden Wedeln des Revolvers in ihrer rechten Hand hinzu: »Und jetzt sag deinem Freund, er soll die Waffe weglegen.«
»Und wenn nicht?«, fragte er. »Erschießt du mich dann?« Er beantwortete seine eigene Frage, indem er überzeugt den Kopf schüttelte. »Du siehst nicht aus wie jemand, der einen anderen einfach so umlegt. Ist nicht leicht, jemanden zu erschießen, weißt du? Schon gar nicht, wenn er mit erhobenen Händen vor dir steht.«
»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Pia. Sie senkte die Waffe, nur ein wenig und eigentlich hauptsächlich, weil sie so schwer war und sie nicht wollte, dass der Kerl sah, wie ihre Hand unter dem Gewicht langsam zu zittern begann. Für ihren Geschmack hatte er ohnehin schon viel zu viel gesehen. Sie hatte nicht vorgehabt, so lange mit den Kerlen zu reden. Wäre es nach ihrem ursprünglichen Plan gegangen, wären sie jetzt schon längst wieder weg, und die beiden Typen würden bis zum Hintern im Schlamm stecken.
»Ich erschieße dich nicht«, sagte sie noch einmal, »aber ich habe kein Problem damit, dir ins Knie zu schießen.«
Sie konnte ihrem Gegenüber ansehen, dass er diese Drohung ernst nahm. Er war ein dunkelhaariger, drahtiger Bursche Mitte zwanzig, der nicht einmal unsympathisch aussah und durchaus in ihr Beuteschema gepasst hätte, wären sie sich unter anderen Umständen begegnet – und hätte es Jesus nicht gegeben. Schade eigentlich.
»Geh einen Schritt zur Seite, und ich lege den Knirps um«, sagte sein Begleiter. »Das ist doch nur ein Kind!«
»Ein Kind mit einer Waffe«, erwiderte der Dunkelhaarige. Er schüttelte erneut den Kopf, was diesmal aber nicht Pia galt. »Lass den Quatsch. Das lohnt sich nicht.«
»Würde auch nicht funktionieren«, sagte eine dritte Stimme.
Pia ließ den Dunkelhaarigen nicht eine Sekunde aus den Augen, aber sie sah trotzdem, wie ein weißer Schemen hinter dem anderen Typen auftauchte, dann hörte sie ein Ächzen und ein knirschendes Geräusch, als würde ein nasses Holzscheit in einen Schraubstock gespannt. Der Dunkelhaarige wandte hastig den Kopf und sah ziemlich erschrocken aus, und auch Pia riskierte einen schnellen Blick. Allem Anschein nach hatte sie Jesus unterschätzt; oder doch zumindest sein Improvisationstalent. Der Bursche mit der Pistole hatte jedenfalls keine Pistole mehr, sondern hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien und umklammerte seine rechte Hand. Jesus’ linke Hand umklammerte seinen Nacken und sorgte dafür, dass er nicht auf dumme Ideen kam, mit der anderen drückte er eine Karnevalsmaske vor sein Gesicht, die wie Pias aussah, aber ungefähr doppelt so groß war.
»Tja, da haben wir euch wohl unterschätzt«, seufzte der Dunkelhaarige. In seiner Stimme war immer noch nicht die mindeste Spur von Furcht zu hören, was Pia ziemlich beunruhigend fand. Er hob die Schultern und versetzte dem Leinenbeutel einen Tritt, der ihn zielsicher durch den Morast bis vor Pias Füße schlittern ließ.
»Ich hoffe, ihr wisst, was ihr da tut, Freunde«, sagte er.
»Euch ausrauben?«, fragte Pia.
»Uns?« Der Dunkelhaarige lachte. »Wohl kaum. Ihr legt euch gerade mit den Leuten an, denen das Zeug hier gehört. Ich an eurer Stelle hätte nicht die Chuzpe. Ihr müsst entweder gewaltige Colhões haben, oder ihr sei total bescheuert.« Er legte den Kopf schräg und sah Pia aus kalt glitzernden Augen an, noch immer ohne eine Spur von Angst, aber auf eine plötzlich sehr nachdenkliche Art … als wäre ihm klar geworden, dass sie gar keine Colhões hatte. Pia fühlte sich unter ihrer Maske von Sekunde zu Sekunde unwohler. Das hier lief überhaupt nicht so, wie es sollte. Ihre Verkleidung war alles andere als perfekt, und sie war auch nicht dafür gedacht gewesen, länger als die Schrecksekunde zu halten, die sie ihren beiden potenziellen Opfern zugedacht hatten.
»Hör auf zu quatschen«, sagte sie ruppig. »Hast du eine Waffe?«
»Sicher.«
»Dann nimm sie heraus und leg sie auf den Boden. Ganz langsam.«
Der Bursche gehorchte und richtete sich dann unaufgefordert und mit erhobenen Händen wieder auf. Zu Pias Verwirrung lächelte er, als fände er die ganze Situation aus irgendeinem Grund äußerst amüsant.
»Was ist so komisch?«, fragte sie.
»Eigentlich nichts«, antwortete er. »Mein Boss wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn ich ihm erzähle, was passiert ist. Ehrlich gesagt, möchte ich nicht wirklich in meiner Haut stecken, wenn er es erfährt … aber noch sehr viel weniger in eurer.« Sein Lächeln erlosch. »Ihr seid tot, das ist dir doch klar, oder?«
»Ach? Ist das so?«
Der Dunkelhaarige antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem fragenden Blick an Jesus. »Was hast du mit Miguel gemacht? Lebt er noch?«
Jesus war klug genug, nicht laut zu antworten, sondern nur zu nicken, und der Dunkelhaarige drehte sich wieder ganz zu ihr herum. »Dann habt ihr noch eine Chance«, sagte er sehr ernst. »Packt eure Kanonen ein und verschwindet. Du hast mein Wort, dass wir euch nicht verfolgen. Und niemand wird erfahren, was hier gerade passiert ist.«
»Wie großzügig«, sagte Pia spöttisch. »Und warum sollte ich dir glauben?«
»Weil du anscheinend keine Ahnung hast, mit wem du dich da gerade anlegst, Kleiner«, erwiderte der Dunkelhaarige ernst. »Weder Miguel noch Antonio oder ich haben Lust, unserem Boss zu erklären, wie es zwei Amateuren wie euch gelungen ist, uns zu übertölpeln, und ihr beide wollt doch auch ganz bestimmt noch ein bisschen am Leben bleiben, oder? Also, warum tun wir nicht alle einfach so, als wäre das hier gar nicht passiert, und jeder kümmert sich wieder um seine eigenen Angelegenheiten?«
»Aber genau das tue ich doch gerade«, antwortete Pia. Sie wedelte auffordernd mit der mit Platzpatronen geladenen Waffe. »Geh ein paar Schritte zurück.« Eine letzte, sehr unangenehme Sekunde verstrich, in der der Trotz in den Augen ihres Gegenübers nicht nur die Furcht eindeutig überwog, sondern sie sich auch fast verzweifelt fragte, was sie eigentlich tun sollte, wenn er einfach stehen blieb. Mit Platzpatronen auf ihn schießen? Dann gewann – zu ihrer Erleichterung – die Vernunft doch die Oberhand. Der Dunkelhaarige ließ zwar die Arme ein gutes Stück sinken, machte aber gehorsam einen Schritt nach hinten, und dann noch einen, als sie ihre auffordernde Geste wiederholte. Jesus mobilisierte ein weiteres Prozent seiner Körperkräfte, um den anderen am Nacken in die Höhe zu ziehen. Der Anblick erinnerte Pia an eine Katze, die ein störrisches Junges trägt.
»Und noch ein Stückchen«, sagte Pia. »Nur Mut. Ist nicht sehr weit.«
Diesmal vergingen mehrere Sekunden, bis der Bursche begriff – und auch dann gehorchte er nicht sofort, sondern starrte sie nur aus großen Augen an. »Das ist nicht dein Ernst!«, krächzte er. Sein Blick irrte zwei- oder dreimal unstet zwischen dem schwarzen Schlund der Baugrube und der Maske vor ihrem Gesicht hin und her.