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Die Ereignisse überschlagen sich. Kedos ist verschwunden, aber ist er auch gebannt? Die Seelenwächter begeben sich auf die Suche nach dem Dämon, während Akil, Jess und Jaydee erst einmal zu sich kommen müssen. Die Trauer um Ben hängt schwer im Raum, Jess beichtet Jaydee von ihren Visionen, doch sie spürt, wie sich gleichzeitig eine Wand zwischen ihr und ihm aufbaut. Jaydee ringt weiterhin um seinen Verstand. Die Mächte wirken stärker denn je in ihm. Auf wen hört er am Ende? Dies ist der 33. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
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Seitenzahl: 174
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel3
2. Kapitel11
3. Kapitel24
4. Kapitel31
5. Kapitel41
6. Kapitel52
7. Kapitel62
8. Kapitel73
9. Kapitel78
10. Kapitel90
11. Kapitel98
12. Kapitel113
13. Kapitel122
14. Kapitel127
15. Kapitel136
16. Kapitel144
Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«157
Die Fortsetzung der Seelenwächter:158
Impressum159
Die Chroniken der Seelenwächter
Ist Liebe genug?
Von Nicole Böhm
William trat aus dem Zelt und streckte seine müden Glieder. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel färbte sich bereits hellblau. Die Luft roch klar und rein, die Vögel zwitscherten, eine Brise wehte sanft durch die Bäume und ließ das Geäst rascheln. Das Wasser des Sees wirkte ruhig, nur kleinere Wellen schwappten ans Ufer.
So friedvoll. So still.
Als wäre es nie anders gewesen. Als hätten er, Anna und die Dowanhowee gestern Nacht nicht einen der gefährlichsten Dämonen eingesperrt und unschädlich gemacht.
Nachdem Kedos gebannt worden war, hatte lange Zeit niemand sprechen oder sich bewegen können. Nach und nach nur war der Hass von den Dowanhowee abgefallen. Männer und Frauen waren zusammengesackt. Vor Erschöpfung, vor Trauer, vor Freude. Viele hatten geweint, mussten sich trösten lassen, um überhaupt zu begreifen, dass es vorüber war. Sie hatten so viel Leid über die Menschen gebracht, so viel gemordet. So viel Blut klebte an ihren Händen und auf ihrer Seele. Die Mitglieder jener Familien, die Kedos als Erste hörig geworden waren, hatten am längsten gebraucht. Noch immer vernahm William aus den Zelten Schluchzer. Es würde wohl dauern, bis alle sich regeneriert hatten.
Er sah sich im Lager um, das sie heute Nacht provisorisch errichtet hatten. Viele hatten im Freien geschlafen oder im Schutz der Bäume, manche waren schon auf den Beinen, sattelten Pferde, verteilten Essen. Das Volk fand sich neu zusammen. Sie mussten erst lernen, miteinander zu leben, statt gegeneinander zu kämpfen.
»Es wird Zeit brauchen«, sagte Oyisha und kam auf William zu. Er stemmte sich auf eine Holzkrücke, um sein verletztes Bein zu schonen; erstaunlich, wie schnell diese Verletzung heilte.
»Die habt ihr«, antwortete William. Vor den Dowanhowee lagen die nächsten Jahrtausende voller Frieden und im Einklang mit der Natur. Und irgendwann würden sie auf die wenigen Personen dezimiert werden, die William in der Gegenwart kannte.
Die dann sogar ins Exil gingen, weil sie das Geheimnis um die Seelenwächter gelüftet hatten.
William seufzte lang und tief und wünschte, er könnte mehr tun oder sagen, um den Dowanhowee zu helfen. Vielleicht könnte er verhindern, dass das Volk sich in alle Himmelsrichtungen verstreute.
Oyisha kam näher und legte eine Hand auf Williams Schulter. »Alles kommt, wie es kommen muss, das solltest du gelernt haben in der Zeit bei uns.«
»Ich habe noch viel mehr als das gelernt.« Er sah dem alten Mann fest in die Augen und spürte Wärme in sich aufsteigen. William war dankbar für diese Erfahrung und froh darüber, dass er den Weg gegangen war. Es war unabdingbar gewesen, genauso wie Ilai es sich vorgestellt hatte. Williams Aufgabe hier war so viel größer geworden als er selbst. Er war über sich hinausgewachsen, genau wie sein Element, das weiterhin sanft in seinen Adern pochte. Die Magie des Feuers brodelte in ihm. Neben Anna im Arm zu halten war das eine der schönsten Empfindungen seines Lebens.
Auf einmal brannte das Mal an seiner Brust stärker. William hielt die Luft an. Bilder flackerten unklar in ihm hoch, gepaart mit dem Gefühl von Vertrautheit und Heimat. Er sah plötzlich Kedos vor sich, wie er in einer großen Halle kämpfte und zurückgedrängt wurde. Jemand erhob den Stab, so wie sie es selbst in der Nacht zuvor getan hatten, um den Dämon zu fangen. Die Worte, die ihn einsperrten, wurden gesprochen, die Energie wurde entfesselt. William sah es ganz deutlich vor sich. Es war fast das gleiche Ereignis, wie es gestern bei ihnen stattgefunden hatte, aber nicht in ihrer Zeit.
Er sah wieder in die Zukunft.
»Will?«, fragte Anna und kam ebenfalls aus dem Zelt.
William blickte zum See und lief einfach los. Anna und Oyisha folgten ihm dichtauf. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, genau an der Stelle, an der sie gestern Kedos‘ Körper dem Element übergeben hatten.
Wellen schlugen gegen das Ufer, der See geriet in Unruhe. Kalako und Tiriak hielten ihre Bögen bereit und spannten Pfeile ein; nur für den Fall, dass Kedos gleich aus den Fluten sprang und sie erneut angriff.
»Komm schon«, flüsterte William. Er wusste nicht, was er tun sollte, falls der Dämon zurückkehrte. Vielleicht hätten sie diesem Ritual nicht einfach so vertrauen sollen. »Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte er.
»Was meinst du?«, fragte Anna.
»Magie. Eine der wichtigsten Regeln lautet, dass man keine Rituale durchführen soll, von denen man nicht alles weiß. Wir haben uns blind darauf verlassen, dass diese Zeichnungen uns helfen würden, aber wir hatten keine Beweise dafür.« Nur weil ein paar Schattendämonen sie verschont hatten, weil Meda ihnen gesagt hatte, sie sollten dorthin gehen, hieß das doch nicht, dass sie auf ihrer Seite gestanden hatten, oder? »Was, wenn wir Kedos stärker gemacht haben? Die Schattendämonen sind immerhin seine Geschöpfe gewesen.«
»Hast du denn das Gefühl?«
Er fasste sich wieder an die Brust und schüttelte den Kopf.
»Wir haben unsere Elemente dadurch zurückbekommen und die Armbänder, warum also sollte dieses Ritual schädlich gewesen sein?«, fragte Anna.
»Ich weiß nicht, vielleicht bin ich nur paranoid und … Achtung!« Eine gewaltige Explosion entlud sich aus der Mitte des Sees. Eine Fontäne spritzte auf, gefolgt von einem grellen Licht und einem entsetzlichen Brüllen, das alles erschütterte. William warf sich mit Anna zu Boden, es war reiner Reflex, sich schützend über sie zu rollen. Das Wasser traf sie alle. Es schoss mit derartiger Gewalt auf sie nieder, dass es auch Kalako und Tiriak von den Füßen riss. Oyisha konnte sich weiter hoch auf die Böschung retten, ehe er getroffen wurde.
»Geht es allen gut?«, rief er.
William wurde von dem nassen Element bedeckt und biss die Zähne zusammen. Er hatte Wasser noch nie gemocht und würde es wohl auch nie.
Ihn fröstelte, als er sich langsam aufrichtete. Der See zog sich zurück, schwappte noch ein paar Mal gegen das Ufer, doch er beruhigte sich zusehends. Kalako und Tiriak richteten sich auf. Sie waren alle patschnass geworden.
»Was ist das?«, fragte Tiriak und deutete auf die Stelle, an der die Fontäne eben hochgeschossen war.
»Da schwimmt jemand!«, rief Kalako und warf den Bogen weg. »Eine Frau!«
»Was?«, rief William. Die beiden Männer sprangen schon in den See und schwammen zu ihr. William wollte ihnen nach, doch Anna hielt ihn zurück, weil sie genau wusste, dass er nicht gut im Wasser war.
»Sie haben es im Griff«, sagte sie.
Kalako und Tiriak kamen rasch an die Stelle; die Frau war wieder untergegangen, Tiriak tauchte nach ihr. William hielt weiter Ausschau. Das Brüllen, das eben aus dem See gekommen war, schien noch in den Bäumen nachzuhängen, sonst passierte nichts mehr.
Auf einmal schoss Tiriak wieder nach oben und hielt sie in den Armen. Kalako half ihm, sie ans Ufer zu bringen. William und Anna traten näher, erst jetzt erkannte er Details. Sie trug Kleidung, die nicht in diese Zeit passte: Stiefel, Jeans, ein Shirt.
William zog das Kreuz, das er am Hals trug, hervor und küsste es. »Beim heiligen Vater«, sagte er leise, auch Anna kam neben ihn und starrte die Frau an, die Tiriak auf seine Arme hob und aus dem See trug.
»Das ist Payden!«, rief Anna.
Tiriak brachte sie mit Leichtigkeit an Land und bettete sie vorsichtig an der Böschung ins Gras.
»Ihr kennt sie?«, fragte er.
»Ja. Sie kommt aus unserer … Heimat«, sagte William und beugte sich über sie. Payden atmete keuchend und schwer, ihre Haut war verbrannt, sie roch nach Feuer, als hätte sie eben in einem Flammenmeer gebadet. »Sie braucht Wasser und Medizin.« Er strich ihr die Haare aus der Stirn, ihre Kleidung war an vielen Stellen zerrissen, die Wunden waren zum Teil tief, sie bluteten noch. Payden hatte zahlreiche blaue und violette Flecken. Als William sie an der Seite streifte, atmete sie zischend ein und stöhnte vor Schmerz.
»Als wäre sie mit etwas zusammengestoßen«, sagte Anna.
»Etwas Gewaltigem.«
»Ich trage sie ins Lager«, sagte Tiriak.
William konnte das natürlich auch, aber Tiriak beugte sich schon über sie und hob sie hoch. Kalako eilte voraus, rief ein paar Leute zusammen, damit sie Wasser und Medizin brachten. Payden stöhnte leise, ihre Lider flatterten, doch bevor sie etwas sagen konnte, klappten sie schon wieder zu.
Oyisha trat zwischen Anna und William und sah den dreien hinterher. »Sie ist eine von uns.«
»Wie meinst du das?«, fragte William.
»Sie gehört zu unserer Familie.«
»Zu den Niakajahey?«
Oyisha nickte, legte eine Hand auf sein Herz, atmete einmal tief ein und aus und folgte dann den anderen ins Lager. William drehte sich zu Anna und sah sie fragend an.
»Was soll das? Warum ist Payden hier?«
»Keine Ahnung, aber möglicherweise hat es wirklich was mit Kedos in unserer Zeit zu tun. Vielleicht konnten sie ihn fangen.«
»Was nicht erklärt, warum Payden in der Vergangenheit auftaucht.«
»Es sei denn, Kedos war in der Gegenwart nur so zu bannen, indem er zurückgeschickt wurde. Payden könnte in die Schusslinie geraten sein.«
»Du meinst, es ging gar nicht darum, ihn in der Gegenwart einzusperren, sondern ihn wieder in die Vergangenheit zu schicken?«
Sie zuckte mit den Schultern, mehr als spekulieren konnten sie nicht. Sie liefen ebenfalls zurück zum Lager. Hoffentlich konnte Payden ein paar Antworten bieten. »Was meinte Oyisha eben, dass Payden zu ihrer Familie gehört?«, fragte Anna.
»Sie stammt von Damia ab. Das hatte sie mir erzählt. Payden hatte ein Buch daheim, in dem alle Stammbäume aufgelistet waren. Als der Eid gebrochen wurde, der das Geheimnis um die Seelenwächter lüftete, erschien Damias Name in dem Buch und Payden konnte ihre Familie zurückführen.«
»Sie sieht anders aus, ist dir das aufgefallen?«
»Ja, mehr wie eine Dowanhowee.«
»Das muss an diesem Serum liegen, das Ananka ihnen allen gegeben hat, um das Ritual überhaupt ausführen zu können, das Kedos erweckte.«
William blickte zum Lager, eine kleine Traube hatte sich um Payden gebildet. Niaka und Kalako kümmerten sich rührend um sie, versorgten bereits ihre Wunden, eine ältere Frau setzte das Gebräu zur Heilung auf und sang ein leises Lied dabei. Die Dowanhowee halfen, ohne nachzufragen. Sie gaben ihre ureigene Magie an andere weiter. Uneigennützig und offen. William war froh, dass das Volk zurück zu seinem Ursprung gefunden hatte.
Sie stellten einen Schutz gegen die Witterung um Payden auf, damit sie nicht in der Sonne lag, die aufgegangen war. William und Anna wollten sie nicht stören, aber er konnte kaum abwarten, mit ihr zu sprechen.
Ein Stück Heimat.
Sie war dort gewesen, sie konnte ihnen von Akil und den anderen erzählen! Sie würden endlich erfahren, was daheim passiert war.
Sein Blick glitt über den See, der nun wieder völlig ruhig die Sonne spiegelte.
Das Leuchten war weg, genau wie das Pochen in Williams Brust. Er strich noch mal mit den Fingern darüber und fragte sich, ob er von nun an öfter darüber Verbindungen würde aufbauen können – und zu was es ihn noch befähigen sollte.
Akil war noch nie in seinem Leben so erschöpft gewesen wie in diesem Moment. Seine Beine zitterten, sein Herz raste vor Anspannung. Die Wunden, die Kedos ihm zugefügt hatte, schlossen sich nur langsam, denn sein Körper war fix und fertig. Von seinem Geist ganz zu schweigen.
Doch es war vorbei.
Kedos war weg.
Akil sackte auf die Knie und ließ seine Waffen fallen. Die Stäbe klirrten auf dem Steinboden, das Geräusch hallte lange in der Stille nach. Niemand rührte sich, alle hatten innegehalten und das Schauspiel verfolgt, wie Kedos in einem Sog aus Energie verschwunden war.
»Payden«, sagte Emma. Obwohl sie flüsterte, donnerte ihre Stimme laut wie Posaunen. »Wo … Wo ist sie?«
Weg.
Sie war in dem Lichtkegel verschwunden, der um Kedos entstanden war. Akil hatte keine Ahnung, was das bedeutete, ob Payden das überlebt hatte, ob sie mit dem Dämon eingesperrt worden war, ob er doch noch mit ihr geflohen war und dem Ganzen hatte entkommen können. Der Gedanke schmerzte Akil mehr als alles andere. Er wusste nicht, ob er die Kraft hatte, sich wieder gegen Kedos zu stellen, weiterzukämpfen; in einer Schlacht, die so ausweglos schien.
Akil blickte sich um. Der Tempel war in Chaos gehüllt. Jess und Jaydee kamen langsam wieder zu sich. Sie hatten eine ordentliche Ladung Geröll abbekommen, schienen aber in Ordnung zu sein. Kendra war still geworden, Skyler weinte leise. Storm hielt sie im Arm und versuchte, sie zu trösten.
Akil war so müde.
So schrecklich müde.
Verluste. Tod. Terror. Hass.
Kedos hatte all das gebracht und dafür noch viel mehr genommen.
Aiden. Colin. Iman. Ben. All die anderen unschuldigen Seelen.
Vernichtet wegen ihm.
Akil spürte die Last all dessen auf seinen Schultern und glaubte, daran zu zerbersten. Er wollte schreien, davonlaufen, sich hinlegen, nie wieder aufstehen.
Eine kühle Hand legte sich auf seine Schulter. Er blickte hoch, es war Marysol. Sie nickte ihm aufmunternd zu, was wohl so viel heißen sollte wie: Wir haben es geschafft.
Aber hatten sie das wirklich?
»Wie können wir sicher sein?« Seine Stimme klang nicht mehr nach ihm. Sie war rau und dunkel.
Marysol schüttelte den Kopf und rieb sich über die Stirn. »Haley, Christin: Setzt Meldungen an andere Seelenwächter ab. Jeder soll nach Kedos Ausschau halten. Pascal und Storm: Ihr reitet zum See, wo er ursprünglich eingesperrt gewesen ist. Sucht die ganze Umgebung nach Hinweisen ab. Seht auch in Riverside nach. Es kann gut sein, dass er zurück in die Stadt geht und weiter Chaos stiftet, falls er noch frei ist. So was wie mit Ben darf nicht noch mal passieren.«
Alle Angesprochenen setzten sich in Bewegung und gingen ihren Aufgaben nach. Akil richtete sich mühevoll auf, doch seine Beine sackten unter ihm weg. Marysol packte seinen Arm, stützte ihn, zischte jedoch selbst vor Schmerz wegen der Verletzung an ihrer Seite.
»Wir sind ganz schön lädiert«, sagte Akil.
»Ja.«
Naél kam mit zwei Flaschen Heilsirup und reichte sie Akil und Marysol. »Ich kümmere mich auch gleich um Kjell.«
»Danke«, sagte Marysol und nahm ihre Medizin entgegen, ohne davon zu trinken. Akil entkorkte das Zeug und schüttete es hinunter. Es tat gut, aber es war nicht genug. Er brauchte viel mehr Ruhe und vor allen Dingen sein Element. Akil musste zu seinem Kraftplatz.
Er machte sich von Marysol los und drehte sich zu Jaydee um, der sich die blutende Schulter hielt und genauso vor Anspannung bebte. Jess saß neben ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie hatte einige Schrammen im Gesicht; vermutlich von dem ganzen Gestein, das eben durch den Tempel geflogen war, als Kedos davongezogen worden war.
»Hey«, sagte Akil und lief zu den beiden. Jaydee blinzelte. Das stechende Silber des Jägers war abgeklungen, aber seine Augen wirkten noch entrückt. Und verwirrt. Er war noch nicht er selbst. Akil reichte beiden je eine Hand und half ihnen auf. Jess keuchte leise, als sie stand, Jaydee trat sofort einen Schritt zurück, als wollte er verhindern, dass Akil ihm zu nahe kam. Vermutlich überforderten ihn die Emotionen.
»Geht es?«, fragte Akil und fixierte ihn.
»Ich weiß es noch nicht. Gib mir einen Moment.«
»Und du?« Er sah zu Jess, die ihre Arme ausstreckte und über die Kratzer fuhr. »Nicht so schlimm, ich glaube, ich habe mir die Rippen geprellt, aber sonst ist alles gut.«
Er würde ihr später Heilenergie geben, im Moment war er zu ausgelaugt dafür. Jess musste einfach durchhalten.
»Ist er denn wirklich weg?«, fragte sie.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Also, ich spüre nichts mehr von ihm«, sagte Emma. »Du?«
»Nein«, sagte Valerian. »Seine Stimme schweigt.«
»Wie sieht es mit dir aus, Jay?«, fragte Akil.
Jaydee spannte die Schultern an und grub die Fingernägel in seine Handinnenflächen. »Nein, ich fühle ihn auch nicht mehr.«
Valerian bückte sich nach einem der Armreife und begutachtete ihn. »Unglaublich. Er vibriert sogar noch.«
»Wir räumen erst mal auf«, sagte Marysol. »Wir reiten zu mir, sortieren uns, kommen zu Kräften.«
»Ja«, sagte Akil und ließ die Luft aus der Lunge. Er blickte sich im Tempel um, der ebenso gelitten hatte wie sie alle. Die hintere Wand war eingerissen, genau wie die Vorderseite, durch die Kedos eingedrungen war. Der Wind pfiff quer durch die Halle und rauschte an den hohen Wänden vorbei. Der Tisch, an dem sie normalerweise ihre Sitzungen abhielten, war in zig Teile zertrümmert. Der Schaden war gewiss nicht so groß wie im Tempel der Wiedergeburt, dennoch würde es dauern, bis sie das restauriert hatten. Die heiligen Stätten der Seelenwächter brachen nach und nach weg.
»Was ist mit Ben?«, fragte Jaydee auf einmal und drehte sich zu Akil um. »Was meinte Marysol eben?«
»Was?« Akil schluckte schwer, denn er wollte dieses Thema nicht ansprechen. Es war weder der Ort noch die Zeit dafür, doch leider ließ Jaydee nicht locker.
»Ich sehe es dir an, dass etwas passiert ist. Außerdem schlug dein Herz schneller, als sie seinen Namen erwähnte. Was ist los?«
Akil schluckte. Seine Kehle wurde staubtrocken. Er blickte sich kurz um, die anderen gingen ihren Aufgaben nach, Marysol senkte den Kopf und zog sich zurück, damit er in Ruhe mit Jess und Jaydee darüber reden konnte.
»Wir sollten das später besprechen«, sagte er.
»Nein«, sagte Jaydee und trat näher. Seine Hand fing an zu zittern, er blähte die Nasenflügel und zog die Augenbrauen zusammen. »Es ist etwas Schlimmes passiert, hab ich recht?«
»Akil?«, fragte Jess und blickte zwischen Jaydee und ihm hin und her. »Ihr beunruhigt mich. Was ist los?«
»Scheiße«, sagte Akil, strich sich durch die Haare und kaute auf seiner Unterlippe herum.
»Er ist tot«, sagte Jaydee auf einmal. Er klang völlig gefühllos und kalt, aber Akil wusste, dass dies nur an der Oberfläche so war. Jaydee war ein Meister darin, seine Gefühle zu unterdrücken, bis sie schließlich explodierten. »Das ist es.«
»O mein Gott«, sagte Jess, schlug die Hand vor den Mund und taumelte zurück. »Sag, dass das nicht wahr ist.«
Die Zeit stand still. Akil schloss die Augen, Jess fing an zu schluchzen, Jaydee verharrte ruhig und starrte ihn an.
Ein Herzschlag.
Noch einer.
Noch einer.
Nie zuvor hatte Akil sich innerlich so leer und hohl gefühlt. Er war nur noch eine Hülle, so wie die Opfer der Schattendämonen. Sein Körper stand hier, aber seine Seele kehrte an einen Ort der Ruhe und des Trostes. Er wollte nicht länger hier sein, er wollte nicht noch mehr Schmerz ertragen.
Aber er musste.
Akil musste es, denn seine Freunde hatten ein Recht darauf, genauso zu trauern wie er.
»Es ist wahr«, sagte Jaydee leise. So war er am gefährlichsten. Wenn er ruhig wurde. Wenn er so wirkte, als könnte ihm nichts etwas anhaben.
Akil blickte ihn an und sah ihm fest in die Augen. Er wollte nicht derjenige sein, der Jaydees Verdacht bestätigte, er wollte auf einen besseren Zeitpunkt warten, aber bei Ahriman: Wann würde der jemals da sein?
Wann? Wie?
Also nickte er nur.
Seine Stimme kratzte, als er weitersprach: »Kedos hatte ihn unter seiner Kontrolle, Ben hat auf seine Kollegen gefeuert, die wiederum auf ihn schossen und er … Er ist im Krankenhaus gestorben.«
»Nein«, keuchte Jess. »Nein, nein, nein!«
»Leider ist es so.«
»Aber, d-das geht nicht!«, sagte sie. »Er kann nicht tot sein! Nicht Ben! Wir sind doch zusammen in diese Welt gekommen, wir sind Menschen! Wir sind … Freunde … Er kann auf sich aufpassen, er hat auf mich aufgepasst, er ist …«
Alle wurden ganz still. Jeder schien die Luft anzuhalten. Die Seelenwächter konnten mit dem Tod umgehen, aber alle hassten es.
Wieder etwas, wobei Kedos gewonnen hatte.
Dieser Drecksack hatte sie alle gepackt und ihnen die Eingeweide herausgerissen.
Jess weinte lauter, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und ließ ihrer Trauer freien Lauf. Akil wartete, ob Jaydee sie möglicherweise in die Arme nehmen wollte, aber er stand nur stocksteif da und presste die Lippen zusammen. Er und Ben hatten ein sehr spezielles Verhältnis gehabt. Sie waren zuerst vor allen anderen aufeinandergestoßen, hatten sich im Krankenhaus kennengelernt. Ben hatte nie vor Jaydee gekuscht, er hatte ihn genommen, wie er war und sie waren Freunde geworden.
»Jay …«, setzte Akil an, ohne eine Ahnung, was er überhaupt sagen sollte. Jaydee holte tief Luft, seine Augen wurden glasig, doch er wandte sich schon ab, noch ehe es jemand richtig sehen konnte. Jess krümmte sich, Akil hielt es nicht länger aus, er trat zu ihr und zog sie in seine Arme. Das ließ ihre Dämme komplett brechen. Sie wurde von einem Schluchzer nach dem anderen gepackt. Akil konnte nichts weiter tun, als sie festzuhalten und ihr Trost zu spenden, wo es keinen Trost gab.